D.O.C.-Agents 3: Sturmspur - Mara Laue - E-Book

D.O.C.-Agents 3: Sturmspur E-Book

Mara Laue

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Beschreibung

Als Afghanistan-Veteranin Lorna Summer auf die elterliche Pferderanch in Nebraska heimkehrt, findet sie das Anwesen von Stürmen und Unwettern verwüstet vor. Ihr Bruder Nelson will das Land verkaufen. Lorna kann das nur verhindern, wenn sie gemäß einer Bestimmung im Testament ihres Vaters vor Ablauf eines Jahres heiratet. Für Lorna ein entsetzlicher Gedanke und die Frist läuft obendrein in zwei Monaten aus. Pete Nightfire, Agent des Department of Occult Crimes, der das Phänomen der ungewöhnlichen Stürme lösen soll und sich bei Lorna als Wanderarbeiter verdingt, wäre der perfekte Scheinehemann. Sie ist fasziniert von dem gut- aussehenden Lakota-Indianer, der ihre Liebe zum Land spürbar teilt, und ihr schon einmal aus der Klemme ge- holfen hat. Doch Lorna hat nicht nur die persönlichen Konsequenzen dieses Arrangements unterschätzt, das schnell mehr ist als nur Schein, sondern auch Nelsons Gier und die der Person, für die er arbeitet. Sturmspur ist der dritte Band der Dark-Romance-Serie D.O.C.-Agents. Ebenfalls erschienen: Band 1 – Schattenspur Band 2 – Gefährliche Spur in Vorbereitung: Band 4 - Eisspur

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Seitenzahl: 412

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Mara Laue

D.O.C.-Agents 3: Sturmspur

Vorspann

 

Sturmspur

 

D.O.C. – Agents 3

 

 

 

Mara Laue

 

Impressum

 

Sturmspur

DOC-Agents 03

Mara Laue

 

© 2018 vss-verlag, 60389 Frankfurt

Covergestaltung: Sabrina Gleichmann

Korrektorat: Hermann Schladt

 

 

www.vss-verlag.de

1

 Bloomfield, Nebraska

 

Lorna Summer starrte aus dem Fenster des Trucks und war überzeugt, noch nie eine trostlosere Gegend gesehen zu haben. Selbst die afghanische Wüste und die Gebirgsregionen, in denen sie die vergangenen drei Jahre stationiert gewesen war, besaßen bei aller Kargheit eine zu Herzen gehende Schönheit und Majestät. Aber das hier …

Vertrocknetes, um nicht zu sagen von der Sonne verbranntes Gras, das so dröge wirkte, als würde es zu Staub zerfallen, wenn man es nur scharf ansah. Kaputte Koppelzäune, die nicht nur niedergedrückt, sondern deren Pfosten teilweise aus dem Boden gerissen und an anderen Stellen über dem Boden abgeknickt waren wie Streichhölzer. Zerbrochen, verstreut, als hätte die Hand eines Riesen sie zermalmt. Umgestürzte und entwurzelte Bäume, wohin Lorna blickte. Aufgerissene Erde, als hätte die Harke eines Titans sie umgepflügt. An anderen Stellen stand das Wasser wahrscheinlich schon seit Wochen und hatte sumpfigen Morast gebildet, in dem das Korn verfault war.

„Sind wir hier wirklich richtig?“, fragte sie den Fahrer, der sie in Bloomfield freundlicherweise mitgenommen hatte. Denn nichts, aber auch gar nichts hier kam ihr vertraut vor.

„Yep, Ma’am. Das alles gehört schon zur Summer Ranch. Sieht schlimm aus, ich weiß. Wir hatten aber auch in den vergangenen Monaten Stürme“, er schüttelte den Kopf, „so was hat noch kein Mensch erlebt.“ Er machte eine Handbewegung zu einem vertrockneten Hügel hin. „Unser Wetter war ja schon immer unberechenbar, und wir sind Tornados gewohnt, aber eine solche Trockenheit aus heiterem Himmel …“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Da ist ein richtiger Wüstensturm drübergefegt. Der hat sich so heiß wie Feuer angefühlt.“

Lorna war sich sicher, dass der Sturm nicht so heiß gewesen war, wie der Fahrer behauptete. Nicht einmal, wenn die Temperatur an jenem Tag Nebraskas bisherige Rekordmarke von 48 Grad Celsius überschritten haben sollte. Sie kannte die Wüste und ihre Temperaturen. So heiß wie dort war es in Bloomfield noch nie gewesen; konnte es aufgrund der klimatischen Bedingungen auch gar nicht werden.

„Und nur einen Tag später kam eine Sintflut, aber wieder an einem ganz anderen Ort“, fuhr der Fahrer fort. Er schüttelte zum dritten Mal den Kopf. „Das Wetter ist total verrückt. Die Summer Ranch bekommt jedes Mal das Schlimmste ab.“

Lorna wagte nicht sich auszumalen, wie das Haus aussehen musste, wenn hier schon alles zerstört war.

 

Immerhin stand es noch, als sie es eine halbe Stunde später erreichten. Zumindest stand da etwas, das dem Haus ähnlich sah, an das sie sich erinnerte. Das Haupthaus schien intakt zu sein, sah man von sichtbar ausgebesserten Stellen auf dem Dach und einem an einer Seite abgerissenen Teil des Verandadaches ab. Auch das Bunkhouse, in dem die Rancharbeiter wohnten, stand noch. Aber die Ställe … Lorna starrte fassungslos auf das Werk der Zerstörung.

Die Ställe, die dreihundert erstklassige Pferde beherbergt hatten, waren niedergebrannt. Es gab nur noch verkohlte Trümmer. Lediglich der Schuppen, in dem das Futter gelagert wurde, stand noch. Über allem lag Totenstille.

Lorna stieg aus und nahm ihren Gepäcksack, während sie den Blick nicht von dem wenden konnte, was ihr Zuhause war. Gewesen war.

„Sind Sie sicher, dass Sie bleiben wollen, Ma’am?“, fragte der Fahrer. „Ich kann Sie wieder mit in die Stadt nehmen, wenn Sie wollen.“

Lorna fand ihre Stimme wieder. „Nicht nötig. Danke.“

Der Mann blickte sie zweifelnd an. „Ich komm noch mal vorbei, wenn ich meine Ware ausgeliefert habe. Bis dahin können Sie’s sich ja überlegen.“

Lorna nickte. „Danke.“

Der Truck wendete auf dem Hof und fuhr davon. Sie sah sich um. Wind strich über das Land, aber das war auch das einzige Geräusch. Es unterstrich den Eindruck von Verlassenheit. Verdammt, sie hatte sich ihre Heimkehr anders vorgestellt. Vor allem stellte sich ihr die Frage, warum ihr Vater, ihr Bruder und die Rancharbeiter die Schäden nicht schon längst in Ordnung gebracht hatten. Dem Zustand der Trümmer nach zu urteilen, musste sich der Stallbrand vor Wochen ereignet haben, vielleicht sogar schon vor Monaten. Hoffentlich hatten die Pferde gerettet werden können. Aber wo waren sie?

Sie ging über die Veranda zur Haustür und drehte den Knauf. Die Tür war nicht verschlossen. Sie trat ein. Drinnen war es angenehm kühl. Obwohl sich Nebraskas Augusttemperaturen nicht annähernd mit denen in Afghanistan vergleichen ließen, begrüßte Lorna die Kühle. Es roch nach Staub, und ein Hauch von Brandgeruch lag immer noch in der Luft. Sie ging ins Wohnzimmer, das seltsam unbewohnt wirkte. Nirgends stand ein Trinkglas oder eine Tasse. Der Aschenbecher, in dem immer Asche und die Reste von ihres Vaters Zigarren lagen, war leer. In ihr keimte eine böse Vorahnung. Sie legte ihren Gepäcksack auf die lederbezogene Couch.

„Dad?“ Keine Antwort. „Nelson?“ Ebenfalls Stille.

Nicht einmal Henry schlug an, der jeden Besucher schon kommen hörte, wenn er noch Meilen entfernt war. Hinten im Haus klappte eine Tür, wo ihr Vater sein Arbeitszimmer hatte. Doch der Mann, der Sekunden später vor ihr stand, war nicht ihr Vater. Carl Schwartz, der altgediente Vorarbeiter, hatte sich verändert. Als Lorna vor anderthalb Jahren das letzte Mal hier zu Besuch gewesen war, hatte er mit seinen über sechzig Jahre dynamisch und kraftvoll gewirkt, aber jetzt schien er um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein, obwohl er immer noch drahtig war und sich aufrecht hielt. Nur seine wasserblauen Augen blickten noch so wach wie früher. Er sah Lorna mit einem Ausdruck an, als wäre sie ein Gespenst, erschrocken und fassungslos.

„Lorna? Himmel, Mädchen, da bist du ja endlich! Wir dachten schon, du wärst in Afghanistan gefallen.“ Er presste beide Hände an die Brust über dem Herzen. „Gott sei Dank, dass du zurück bist.“ Er kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und drückte sie an sich. Danach hielt er sie auf Armeslänge von sich und betrachtete sie von oben bis unten. „Lass dich ansehen. Alles okay? Ich hoffe, du bist auf Urlaub und nicht aus der Army ausgeschieden wegen Verletzung.“

„Nein, alles bestens. Ich habe zehn Wochen Urlaub und mir die auch redlich verdient.“

Er blickte an ihr vorbei, wo er durch die Glasscheibe der Haustür die Veranda sehen konnte. „Wo ist denn dein Mann?“

Lorna runzelte die Stirn. „Was denn für ein Mann? Carl, was ist hier los? Wo ist Dad?“

Er starrte sie an. Mit halb offenem Mund und einem Ausdruck im Gesicht, der zwischen Betroffenheit und Mitgefühl schwankte. „Hat Nelson dich nicht benachrichtigt?“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Was soll die Frage? Wir beide wissen doch genau, dass mein teurer Bruder der letzte Mensch auf der Welt ist, der mich jemals über irgendetwas freiwillig benachrichtigen würde. Welche Nachricht hätte er mir mitteilen sollen?“ Sie zeigte nach draußen. „Und warum hat Dad mir nichts von dem berichtet, was hier passiert ist?“

Carl deutete auf die Sitzecke im Wohnzimmer. „Du setzt dich besser.“

In ihr begannen, die Alarmglocken zu schrillen. „Carl, ich bin Soldatin, First Lieutenant bei den Green Berets, wie du weißt.“ Sie deutete an sich hinab, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass sie immer noch Uniform trug. „Glaub mir, ich muss mich nicht setzen, um negative Nachrichten zu verkraften. Also?“

Er schluckte. „Also … Dein Vater ist gestorben. Vor zehn Monaten.“

„Was?“ Sie glaubte, sich verhört zu haben. Das konnte doch unmöglich sein.

Carl nickte. „Es tut mir so leid, Lorna. Nelson wollte dich benachrichtigen und hat mir geschworen, dass er das auch getan hätte.“

Sie schnaufte. „Und das hast du ihm geglaubt?“

Carl zuckte mit den Schultern. „Ja. Weil es um euren Vater ging. Ich dachte, dass ihr in dem Fall eure Differenzen außen vor lasst.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Nachricht erhalten, keinen Brief, und angerufen hat mich mein sauberer Bruder auch nicht.“

Wofür er bezahlen würde, weil er ihr dadurch die Möglichkeit genommen hatte, von ihrem Vater Abschied zu nehmen. Sie ballte die Faust. Verdammt, sie hatte sich ihre Heimkehr wirklich anders vorgestellt. Nicht zu einer halb zerstörten Ranch und einem seit Monaten toten Vater. Dass ihr Dad tot war, erschien ihr unwirklich.

Klar, sie hatten kaum Kontakt zueinander gehabt. Der hatte sich auf Glückwunschkarten zu Geburtstagen und Weihnachten beschränkt. Dass im vergangenen Jahr keine Weihnachtskarte gekommen war, hatte sie der schlecht funktionierenden Post in Afghanistan zugeschrieben. Mehr als einmal waren Transporte mit Lebensmitteln und Post von Aufständischen attackiert, entführt und anschließend zerstört worden. Im Traum hätte sie sich nicht vorgestellt, dass der Grund für die fehlende Karte diesmal der Tod ihres Vaters sein könnte.

„Dad war doch kerngesund. Was ist passiert?“

„Er wurde erschossen. Eines Nachts waren die Pferde auf der Koppel unruhig. Dein Dad dachte, es wären wieder mal Kojoten und ging mit dem Gewehr und mit Henry hin, um nachzusehen. Wir haben nur die Schüsse gehört und dachten, er hätte ein paar von den Biestern erwischt. Als er nicht zurückkam, sind wir nachsehen gegangen und fanden seine Leiche und die von Henry.“

Das erklärte, warum der Hund sie nicht begrüßt hatte.

Carl klopfte ihr auf die Schulter. „Ich koch uns am besten einen Kaffee. Du willst dich vielleicht frisch machen. Es gibt eine Menge, das du erfahren musst.“

Lorna nickte, nahm ihren Gepäcksack und stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Ihr Zimmer war genau so, wie sie es verlassen hatte. Sie hatte am Morgen vor ihrer Abreise nach dem letzten Urlaub das Bettzeug weggeräumt und ihre Kleidung ordentlich in den Schrank gehängt. Dort hing sie immer noch, zusammen mit den Schnüren aus Zedernholzstücken, deren Duft die Motten vertrieb. Irgendwer musste das Zimmer ab und zu gereinigt haben, denn die Staubschicht in den Regalen und auf dem Schreibtisch war höchstens zwei Wochen alt.

Obwohl es ihr vertrautes Zimmer war, fühlte sie sich fremd. Das lag nicht nur daran, dass sie über ein Jahr nicht hier gewesen war. Das Bewusstsein, dass ihr Vater tot war und sich nirgends im Haus oder auf dem Gelände aufhielt und nie wieder durch die Eingangstür hereinkommen würde, veränderte alles. Zusätzlich zu der Zerstörung, die über die Ranch hereingebrochen war. Ohne Lorne Summer war die Summer Ranch – amputiert.

Lorna erinnerte sich nicht mehr an ihre Mutter. Sie war ein paar Wochen nach Nelsons Geburt an einer Embolie gestorben und seitdem nur noch ein Gesicht auf einer verblassenden Fotografie, die Lorna weggepackt hatte, als sie zum Militär gegangen war. In Bloomfield und Umgebung herrschten in manchen Dingen immer noch die alten Traditionen. Eine Ranch oder Farm ging an den ältesten Sohn, selbst wenn er eine ältere Schwester hatte, die ihm nicht nur das Wasser reichen konnte, sondern ihn in vielen Dingen in den Schatten stellte. Die noch dazu die weibliche Form von ihres Vaters Namen bekommen hatte als deutliches Zeichen dafür, dass sie der Erbe hätte sein sollen und Nelson leer ausgegangen wäre, wenn Lorna ein Junge gewesen wäre.

In all dem lag die Ursache für Nelsons Abneigung gegen sie. Lorna konnte besser reiten, besser schießen, besser jagen als er. Sie konnte auch besser mit den Pferden umgehen. Trotzdem war er der designierte Nachfolger, der die Ranch eines Tages übernehmen sollte. Lorna hatte sich anderweitig orientiert und eine Heimat beim Militär gefunden – gegen den Willen ihres Vaters, weshalb sich auch ihr bis dahin gutes Verhältnis stark abgekühlt hatte. Nach einem heftigen Streit über ihre Berufswahl hatte Lorna der Ranch den Rücken gekehrt und kam nur noch nach Hause, wenn sie längere Zeit Urlaub hatte.

Nachdem ihre Einheit ihren letzten Auftrag in Afghanistan erfüllt hatte, gab es den endlich mal wieder. Lorna hatte sich auf ihre Rückkehr gefreut und nicht im Traum damit gerechnet, buchstäblich vor den Trümmern ihres Zuhauses und ihrer Familie zu stehen. Und wieso hatte Carl vorhin nach ihrem Mann gefragt? Sie war nicht verheiratet und hatte nicht vor, das jemals zu sein.

Was nicht nur daran lag, dass sie dem Mann, mit dem sie es ausgehalten hätte, noch nicht begegnet war. Vielmehr einem, der es mit ihr ausgehalten hätte. Männer wollten von einer Frau gebraucht werden, wollten trotz aller Gleichberechtigung, dass es Dinge gab, die nur sie fertigbrachten, aber nicht ihre Frau. Lorna brauchte niemanden, sah man von teambedingten Dingen wie Rückendeckung im Einsatz ab. Sie konnte ebenso lange mit ebenso viel Gepäck marschieren wie jeder Mann, konnte Autos reparieren, Regale andübeln und sogar ein Haus bauen, wenn es hätte sein müssen.

Das wäre dann zwar ein kleines Blockhaus im alten Stil der Trapper und es hätte Wochen gedauert, aber sie hatte auch das schon gemacht, nachdem Nate Sings In The Rain, ihr Jugendfreund aus der Reservation der Santee Sioux, ihr das beigebracht hatte. Wenn man wusste, wie es gemacht wurde, konnte ein Mensch sogar allein die Baumstämme aufs Dach hieven, nämlich mit einer Rollrampe und Flaschenzügen.

Ob das Blockhaus von damals noch stand? Das Land der Reservation grenzte im Westen an ein Waldstück der Ranch. Dort hatten sie und Nate sich immer getroffen und das Haus gebaut, in dem sie schließlich miteinander ihren ersten Sex gehabt hatten. Nate war der einzige Mann, mit dem zu leben sie sich jemals hatte vorstellen können. Aber sie waren zu verschieden – er der Pazifist und Lehrer, sie die Kriegerin.

Lorna ging ins Bad, duschte und zog sich Jeans und ein Camouflage-T-Shirt an. Anschließend ging sie hinunter in die Küche, wo sie Carl mit Geschirr klappern hörte. Das Kochen hatte sonst immer Tony Gibson übernommen. Wo war der eigentlich? Und wo waren die anderen zwanzig Rancharbeiter?

Carl blickte ihr entgegen und schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. Er deutete mit einer Kopfbewegung zum langen Tisch an der einen Wand, wo alle immer gemeinsam ihre Mahlzeiten einnahmen. Die akkurat aufgestellten Stühle erweckten den Eindruck, als hätte dort lange Zeit niemand mehr gesessen. Carl hatte Kaffee, Becher und Teller auf den Tisch gestellt, aber nur für sie beide.

Sie setzte sich. „Wo sind die anderen?“, fragte sie, als er einen Bohneneintopf aus der Pfanne auf ihren Teller schaufelte.

„Weg. Nur Bob, Frank, Luke und ich sind noch geblieben.“ Er wiegte den Kopf. „Wer nimmt uns denn noch in unserem Alter.“

Wenigstens einige vertraute Menschen waren da. Während Carl ihr und Nelson das Reiten beigebracht hatte, war es Franks Aufgabe gewesen, sie Schießen zu lehren. Von Bob hatte zumindest Lorna das „Pferdeflüstern“ gelernt, und Luke Walking Tall hatte sie und Nate mit den Geheimnissen der Natur vertraut gemacht. Sie alle waren in Carls Alter.

„Ihr habt euch den Ruhestand schon längst verdient, Carl.“

„Hm.“ Er grunzte, schaufelte sich ebenfalls eine Portion Eintopf auf den Teller und schenkte Lorna und sich Kaffee ein. „Ohne uns ist die Ranch nicht mehr zu retten. Das ist sie vielleicht sowieso nicht mehr.“ Er setzte sich und blickte Lorna ernst an. „Tut mir leid, dass du das mit deinem Dad auf diese Weise erfahren musstest, Mädchen.“

„Ja, dafür werde ich Nelson köpfen“, entschied sie grimmig. „Wo steckt der Kerl eigentlich?“

Carl verzog das Gesicht. „Er hat sich in der Stadt einquartiert und die Ranch schon aufgegeben.“

„Was?“ Das schien ihr häufigstes Wort heute zu sein. Verdammt, sie war Soldatin und auf Selbstbeherrschung gedrillt. Sie sollte professionell reagieren und nicht wie ein Schulmädchen. Sie hatte schon eine verdammte Menge erlebt und etliche Kameraden an ihrer Seite fallen gesehen. Sie sollte nicht zimperlich sein. Aber so nahe ihr manche ihrer Kameraden auch standen und gestanden hatten, keiner von ihnen war ihr Vater gewesen oder war ihr emotional in anderer Weise nahegekommen.

Carl nickte. „Es ist eine Menge passiert, während du weg warst. Bloomfield könnte groß rauskommen.“

„Was hat das mit Nelsons Fahnenflucht zu tun?“

Lorna stocherte in ihrem Eintopf und hatte nicht den geringsten Appetit. Da Carl sich aber die Mühe gemacht hatte, ihn für sie aufzuwärmen, schob sie sich einen Löffel voll in den Mund. Definitiv nicht Tonys guter Eintopf, aber sie hatte schon erheblich Schlechteres gegessen.

„Alles“, antwortete Carl auf ihre Frage. „Und deines Vaters Tod könnte auch damit zu tun haben. Der Commander vom CIB hat den Fall persönlich untersucht. Du erinnerst dich doch noch an Ted Windstetter?“

Lorna nickte. Wie könnte sie Onkel Ted vergessen? Er war immerhin ihres Vaters bester Freund und ihr Taufpate gewesen und hatte es über die Jahre hinweg zum Rang eines Captains und schließlich zum Commander des CIB, des Criminal Investigative Bureau von Bloomfield gebracht. Es wunderte sie nicht, dass er den Tod ihres Vaters persönlich untersucht hatte.

„Also, vergangenen Sommer kam so ein Großstadttyp auf die Ranch und machte deinem Vater ein Angebot.“

„Für die Ranch?“, vergewisserte sich Lorna.

Carl nickte.

Sie schüttelte den Kopf. Sie hätte dem Großstadttyp gleich sagen können, dass das zwecklos war. Die Ranch gehörte den Summers seit über hundertfünfzig Jahren. Sie war das Herz der Familie und seit dem Tod ihrer Mutter auch das Herz ihres Vaters. Keine Summe konnte hoch genug sein, dass er sie dafür verkauft hätte.

„Muss dem Mann, er heißt Fuller, ziemlich wichtig sein“, fuhr Carl fort. „Er hat zwanzig Millionen dafür geboten.“

Was auf den ersten Blick eine ungeheure Summe zu sein schien, war bei näherer Betrachtung vergleichsweise wenig für ein knapp vierhundert Quadratmeilen umfassendes Grundstück mit Haus, Ställen, bestem Weide- und Ackerland und hochwertigen Zuchtpferden, von denen jedes einzelne schon mindestens hunderttausend Dollar wert war.

„Was will er mit dem Land?“

Carl grunzte. „Irgendwas Neumodisches, was die Touristen anzieht. Sagt er jedenfalls. Außerdem ist er hinter dem Zedernhain an der Westgrenze her. Den will er wohl abholzen. Komplett.“ Carl schob seinen Teller zurück, ohne den Eintopf darauf angerührt zu haben. Offenbar hatte ihm das Thema den Appetit verschlagen.

Zu Recht, denn der Zedernhain umfasste ein Gebiet von etwa tausend Acres. Er war in ganz Nebraska einmalig, denn er wuchs an einem Ort, der normalerweise für Zedern nicht geeignet war. Alle anderen Bäume seiner Art gab es ausschließlich Hunderte von Meilen weiter westlich in den Rocky Mountains. Ein Teil des Hains enthielt die ältesten Bäume der ganzen Gegend, die zusammen mit dem Ort, der sie umgab, den Santee heilig waren. Der Zedernhain war ein einmaliges Naturdenkmal. Allerdings betrug allein der Holzwert des Hains einige Millionen Dollar im zweistelligen Bereich.

Es gab einen alten Vertrag, den Paul Summer vor über hundert Jahren mit den Santee geschlossen hatte, bevor man ihnen das Reservationsgebiet zugewiesen hatte. Um den Hain zu schützen und ihn dem Zugriff der weißen Landräuber zu entziehen, hatte Paul vorgegeben, dass er ihm gehörte. Das hatte den Hain wahrscheinlich damals schon gerettet. Nachdem die Reservatsgrenzen festgelegt worden waren, hatte er den Santee den uneingeschränkten Zugang zu ihrem heiligen Ort garantiert, obwohl der Hain in seinem Besitz geblieben war. Jeder Summer, der die Ranch nach ihm besessen hatte, hatte sich an diese Zusage gehalten. Bis heute.

„Dein Vater hat natürlich abgelehnt“, fuhr Carl fort. „Drei Monate später war er tot, und zwar nur ein paar Tage, nachdem er ein zweites Angebot von Fuller abgelehnt hat. Ted Windstetter hat nicht den geringsten Anhaltspunkt, wer das gewesen sein könnte. Einige Spuren wiesen wohl ins Reservat, aber er glaubt nicht, dass die Santee etwas mit seinem Tod zu tun haben könnten.“

Das glaubte Lorna auch nicht. Zwischen den Santee und den Summers bestand seit der Gründung der Ranch eine unverbrüchliche Freundschaft, die die Indianerkriege und so manche andere Zerreißprobe überstanden hatte. Paul Summer war sogar mit einer Santee verheiratet gewesen.

„Du glaubst, dass dieser Fuller was mit Dads Tod zu tun hat?“, vergewisserte sie sich.

Carl wiegte den Kopf und trank einen Schluck Kaffee. Lorna zwang einen weiteren Bissen Eintopf in ihren Mund und Magen.

„Ich denke schon“, antwortete Carl. „Beweisen kann man natürlich nichts. Aber es wäre doch wirklich ein extremer Zufall, dass dein Dad zweimal ein Angebot von Fuller ablehnt und nur ein paar Tage nach dem zweiten Mal völlig grundlos von Unbekannten erschossen wird.“

Dem konnte sie nur zustimmen. An Zufälle glaubte sie grundsätzlich nicht; bis zum Beweis des Gegenteils. „Was ist mit Nelson?“

Carl verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. „Er hat deinen Vater dazu gedrängt, das Angebot anzunehmen. Du weißt ja, dass er sich nicht wirklich was aus der Ranch gemacht hat.“

Nur allzu gut. In dem Punkt war Nelson eine große Enttäuschung für ihren Vater gewesen. Lorna erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem ihr Vater ihr das zu verstehen gegeben hatte, nachdem er sich den erforderlichen Mut dazu mit einigen Gläsern Whiskey angetrunken hatte.

Du liebst das Land wie ich, Mädchen, hatte er gesagt. Und die Pferde. Und überhaupt alles hier. – Nelson … Der Rest des Satzes war nur ein tiefer Seufzer gewesen, der so voller Enttäuschung geklungen hatte, dass es Lorna verlegen gemacht hatte, Zeugin von ihres Vaters Schmerz zu sein. Hätte auf die Tradition scheißen sollen, hatte er gesagt, nachdem er einen weiteren Drink hinuntergekippt hatte. Hätte dir die Ranch geben sollen. Wäre besser gewesen. Er hatte den Kopf geschüttelt, war aufgestanden, in sein Zimmer gegangen und hatte das Thema nie wieder erwähnt.

Lorna musste sich nicht fragen, warum er trotzdem Nelson weiterhin als Haupterben der Ranch belassen hatte. Lorne Summer war ein Mann, der zu seinem Wort stand bis zum bitteren Ende. Selbst wenn er später bereute, es gegeben zu haben.

„Das war natürlich das Falscheste, was dein Bruder tun konnte“, fuhr Carl fort. „Dein Vater hat getobt, wie ich ihn noch nie habe toben sehen, und Nelson rausgeworfen. Seitdem wohnt der in der Stadt.“ Carl trank einen weiteren Schluck Kaffee. „Und dann kamen die Stürme und die Unwetter und haben Schäden angerichtet …“, Carl schüttelte den Kopf, „so was habe ich noch nicht erlebt. Vor allem auch, weil sie zu völlig untypischen Zeiten gekommen sind.“ Er zuckte mit den Schultern. „Kaum hatten wir die Schäden beseitigt, was eine verdammte Stange Geld gekostet hat, kamen die nächsten Stürme und machten alles wieder kaputt.“

Lorna überkam eine düstere Ahnung. „Die Versicherung …“

Carl schnaubte. „Die hat nur beim ersten Mal gezahlt. Kurz vor dem zweiten Mal hatte sie uns gekündigt. Keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich hat die erste Zahlung sie zu viel gekostet. Der nächste Tornado schlug zu, bevor wir einen neuen Vertrag mit einer anderen Versicherung abschließen konnten.“

Lorna ahnte, wie es weiterging. „Soll das heißen …“ Sie blickte Carl fragend an.

Er nickte. „Das soll heißen, Mädchen, dass dein Vater das Vermögen der Ranch nehmen musste, um die nächsten Schäden zu reparieren. Keine Woche später kam der nächste, noch schlimmere Tornado, gefolgt von einer Sintflut ohnegleichen. Dein Vater musste eine Hypothek aufnehmen, um die Reparaturen zu stemmen. Dann kam Fuller noch mal und machte ein Angebot.“

„Das Dad wieder ausgeschlagen hat.“ Lorna leerte ihre Kaffeetasse und schenkte sich nach.

„Wie es seine Art ist. War. Eine Woche später war er tot. Und Nelson wollte die Ranch sofort an Fuller verkaufen.“

Was er als der rechtmäßige Erbe hätte tun können. „Aber er hat es nicht getan?“

Carl grinste. Es wirkte boshaft. „Er konnte nicht. Dein Vater hatte unmittelbar nach Fullers letztem Angebot sein Testament geändert und dich als Alleinerbin der Ranch eingesetzt.“

„Was?“ Sie schüttelte den Kopf. Damit hatte sie nicht gerechnet. Das Testament – das ursprüngliche – machte Nelson zum Erben der Ranch. Lorna sollte ein kleines Stück Land bekommen, das im Nordwesten des Grundstücks lag und auf dem noch das erste Ranchhaus stand, das vor einigen Jahren modernisiert worden war. Dazu eine keineswegs unbescheidene Summe, die bereits auf einem Treuhandkonto lag, über das Lorna nach dem Tod ihres Vaters verfügen konnte. Außerdem hätte sie ein Viertel der Pferde erhalten oder Nelson hätte ihr deren Wert auszahlen müssen. Wenn ihr Vater sie als Alleinerbin eingesetzt hatte, bedeutete das, dass Nelson gar nichts bekam.

Carl blickte sie ernst an. „Die Sache hat allerdings einen Haken. Du erbst nur, wenn du die Ranch weiter bewirtschaftest und vor allem“, er räusperte sich, „wenn du innerhalb eines Jahres nach deines Vaters Tod heiratest.“ Er räusperte sich wieder. „Da du aber bis vorhin nichts davon wusstest, dass dein Vater überhaupt tot ist, gehe ich mal davon aus, dass du auch davon nichts weißt.“

Lorna schüttelte den Kopf und hatte das Gefühl, als ob man ihr mit einem Vorschlaghammer eins übergezogen hätte. Sie fühlte Wut in sich aufsteigen, und zwar sowohl auf ihren Vater wie auch auf ihren Bruder. Ihre Weigerung zu heiraten, war eine ständige Quelle von Streit zwischen ihr und ihrem Vater gewesen; ein Grund mit, warum sie zum Militär gegangen war, wo sie vor solchen Ansprüchen sicher war. Für ihren Vater war der Platz einer Frau zwar nicht zwangsläufig am Herd, aber er fürchtete, dass Lorna eine alte Jungfer und dadurch unglücklich werden könnte, wenn sie nicht mit spätestens fünfundzwanzig unter der Haube wäre. Dieses Verfalldatum hatte sie schon um fünf Jahre überschritten. Gerade weil er die Ranch ursprünglich Nelson vermacht hatte, wollte er seine Tochter glücklich und versorgt wissen.

Aber Lorna brauchte niemanden, der sie versorgte; sie sorgte verdammt gut für sich. Außerdem erwartete sie von einem Mann, dass er sie respektierte und ihr ihre Eigenständigkeit ließ. Vor allem, dass er kein Problem mit ihrer Militärkarriere hatte. Aber das brachten nicht mal ihre Kameraden fertig. Sobald das Zusammensein in der Freizeit etwas privater wurde, kamen die üblichen Machosprüche mitsamt Platzhirschgehabe.

Zugegeben, Lorna machte es den Männern nicht leicht. Sie war nicht der Typ fürs Flirten, war nicht weich, nicht anschmiegsam und erst recht nicht häuslich. Seit ihre Beziehung mit Nate eingeschlafen war, nachdem sie sich zum Militär gemeldet hatte, beschränkten sich ihre Beziehungen auf One-Night-Stands. Sie hatte sich auf ihre Ausbildung und ihre Karriere konzentriert. Eine Familie zu gründen, hätte dem nur im Weg gestanden. Allein der Gedanke, an einen Mann und eventuell Kinder gebunden zu sein, war derart erschreckend und entsetzlich, dass sie meilenweit bis zur Erschöpfung gerannt wäre, um dem zu entgehen.

„Und wenn ich nicht vor Ablauf dieser Frist heirate …“ Sie blickte Carl fragend an.

„Dann bekommt Nelson die Ranch. Unwiderruflich.“

„Das dachte ich mir.“ Sie staunte, wie eisig ihre Stimme geklungen hatte.

„Verdammt“, brummte Carl und schlug sich die Hand vor die Stirn. „Ich Idiot! Jetzt begreife ich, warum Nelson darauf bestanden hat, dass er dich vom Tod eures Vaters benachrichtigt und warum er es offensichtlich nicht getan und mir vorgelogen hat, er hätte es gemacht und du wüsstest Bescheid.“

Das war Lorna von Anfang an klar gewesen. „Genau. Er wollte damit verhindern, dass ich Dads Bedingungen erfülle, damit er die Ranch erbt und sie dann an diesen Fuller verkaufen kann. Dieser verdammt Dreckskerl!“ Sie ballte die Faust und hätte ihren Bruder wohl umgebracht, wenn er in diesem Moment vor ihr gestanden hätte.

Carl räusperte sich. „Du bist also nicht verheiratet?“, vergewisserte er sich.

Sie schüttelte den Kopf.

„Scheiße.“

Das konnte er laut sagen. „Wie viel Zeit bleibt mir noch? Ich meine, an welchem Tag genau ist Dad gestorben?“

„Am 20. Oktober.“

Heute war der 25. August. Damit blieben ihr noch sechsundfünfzig Tage Zeit – genau zwei Monate, um einen Mann zu finden und ihn zu heiraten. Unmöglich! Das bedeutete, dass Nelson, der Scheißkerl, gewonnen hatte. Lorna schob ihren Teller zurück und stützte den Kopf in beide Hände.

„Es tut mir leid, Lorna. Wenn ich gewusst hätte …“

Sie straffte sich reflexartig, als ihr bewusst wurde, welches Bild der Schwäche sie gerade abgab. „Schon gut, Carl. Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen.“

Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie das Unvermeidbare abwenden könnte. Sie würde alle Hebel in Bewegung setzen, um zu verhindern, dass Nelson die Ranch bekam und sie an diesen Fuller verkaufte. Sie blickte Carl an.

„Da die Unwetterschäden, wie ich auf dem Weg hierher gesehen habe, nicht repariert worden sind, gehe ich davon aus, dass kein Geld dafür da ist.“

Carl nickte. „Ich hätte die Pferde verkauft. Du weißt ja, dass ich als Verwalter Vollmacht habe. Hat dein Vater in seinem Testament bestätigt. In deiner Abwesenheit treffe ich die Entscheidungen. Jetzt gehört die Ranch dir. Zumindest, bis die Frist abgelaufen ist, innerhalb derer du heiraten musst. Bis dahin kannst du damit machen, was du willst, solange du sie nur weiter bewirtschaftest.“ Er räusperte sich. „Das dürfte aber nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge unmöglich sein. Als vor ein paar Wochen der Blitz in die Stallungen einschlug“, seine Augen schimmerten feucht, „sind fast alle Pferde in dem Feuer umgekommen. Wir haben nur elf retten können. Obendrein ist die Ernte verfault. So was hat es hier auch noch nie gegeben. Es ist, als ob sich der Teufel gegen uns verschworen hätte.“

Nur elf Pferde – von ursprünglich dreihundert; plus der Fohlen, die im vergangenen Jahr während ihrer Abwesenheit geboren worden waren. Die anderen – elend verbrannt. Wie entsetzlich!

Carl seufzte tief. „Die Jungs musste ich entlassen, weil wir ihren Lohn nicht mehr zahlen können. Die Hypothek, die dein Vater hat aufnehmen müssen, frisst fast alles auf. Die Löhne der Jungs, die noch da sind, musste ich auf ein Minimum reduzieren, das knapp über freier Kost und Logis liegt.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir aufgeben müssen. Selbst wenn du heiratest und die Ranch behältst, weiß ich nicht, wie du sie unter diesen Umständen halten könntest.“

Lorna saß vollkommen still und starrte auf den kaum berührten Eintopf, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Keiner war konkret greifbar. Sie spürte nur eine zunehmende Leere. Vielleicht wäre es so, wie die Dinge lagen, tatsächlich klug, das Angebot dieses Fullers anzunehmen, bevor er kein Interesse mehr an der Ranch hatte, weil sie durch die Zerstörung erheblich weniger wert und für seine Zwecke vielleicht sogar unbrauchbar geworden war. Sie hätte dann ausgesorgt.

Kaum hatte sie das gedacht, regte sich ihr Kampfgeist. Eine Schlacht war nicht verloren, solange sie nicht bis zum Ende ausgetragen worden war. Das Wort aufgeben hatte Lorna sowieso schon vor langer Zeit aus ihrem Wortschatz gestrichen. Vielleicht konnte sie Nelson seine Manipulation mit der nicht erfolgten Benachrichtigung nachweisen und einen Fristaufschub erreichen, der ihr genügend Zeit gab, einen Ehemann zu finden, mit dem sie wenigstens vorübergehend einige Zeit leben konnte. Ein Jahr, vielleicht auch zwei. Zu heiraten bedeutete schließlich nicht, dass Jahrzehnte später der Tod sie scheiden musste. Das ging mit einem Verwaltungsakt erheblich schneller. Wenn die Ranch trotzdem verkauft werden musste, dann wollte Lorna diejenige sein, die entschied, an wen. Aber zuerst …

Sie stand auf.

„Was hast du vor?“, fragte Carl, der ihrem Gesichtsausdruck wohl ansah, dass sie sich nicht in ihr Zimmer zurückziehen und sich dort dem heulenden Elend hingeben wollte.

„Ich fahre in die Stadt und mache Nelson fertig. Danach …“

Danach würde sie hoffentlich nicht im Gefängnis landen. Aber wenn doch, dann wäre es letztendlich auch egal.

 

*

 

Ihr Bruder hatte offensichtlich jemand anderen erwartet, als er mit einem Lächeln die Tür öffnete. Sein Lächeln verschwand und machte einem Ausdruck von Schrecken Platz, als er Lorna sah. Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern drosch ihm die Faust ins Gesicht und hörte befriedigt, wie seine Nase brach. Nelson ging mit einem Aufschrei zu Boden. Lorna packte ihn am Hemdkragen, riss ihn hoch und versetzte ihm einen Magenhaken.

„Du gottverdammter Mistkerl!“

Sie hatte noch eine Menge mehr sagen wollen, aber die Worte wurden von ihrer Wut erstickt. Sie schlug auf ihren Bruder ein und musste sich beherrschen, um ihn nicht totzuprügeln.

„Aufhören! Oder ich schieße!“

Die kalte Stimme ließ sie mit erhobener Faust innehalten. In der Tür, die zu schließen Lorna sich nicht die Mühe gemacht hatte, stand eine Frau und hielt eine Pistole in der Hand. Lorna analysierte innerhalb einer Sekunde die Situation. Der Gesichtsausdruck der Frau, ihre Körperhaltung, wie sie stand und vor allem, wie sie die Waffe hielt, sprachen deutlich dafür, dass sie wusste, wie man sie benutzte und dass sie keinesfalls unsicher oder ängstlich war.

Lorna zwang sich, ihren Körper zu entspannen. Sie ließ die Faust sinken und warf Nelson einen verächtlichen Blick zu.

„Das passt zu dir, dich hinter einer Frau mit einer Waffe verstecken, statt mit offenem Visier zu kämpfen. Feigling!“, spuckte sie ihm mit aller Verachtung, die sie aufbringen konnte, entgegen. „Dass du dir die Ranch mit allen Mitteln unter den Nageln reißen willst, kann ich sogar verstehen. Aber dass du mir Dads Tod verschwiegen hast und ich deshalb nicht mal zu seiner Beerdigung kommen konnte, das verzeihe ich dir nie.“

Nelson brachte es trotz der Schmerzen und der beginnenden Schwellungen in seinem Gesicht fertig, zu grinsen, wenn auch nur schwach. „Glaubst du, das interessiert mich? Außerdem kann ich nachweisen, dass ich unzählige Male versucht habe, dich anzurufen und dich nicht erreicht habe und dass ich dir etliche Briefe geschrieben habe. Ist nicht meine Schuld, wenn du dich nicht meldest.“

Die Art, wie er das sagte, verriet seine Lüge. Wenn die Frau – seine Freundin? Ehefrau? – nicht immer noch ihre Pistole auf Lorna gerichtet hätte, hätte sie erneut auf ihn eingeprügelt.

„Das macht auch keinen Unterschied, kleiner Bruder, denn ich bin schon seit einiger Zeit verlobt. Ich denke, ich werde meinen Verlobten unschwer dazu überreden können, unsere für nächstes Jahr geplante Hochzeit ein paar Monate vorzuverlegen.“

Sie stiefelte zur Tür. Die Frau mit der Waffe wich ihr routiniert aus, und zwar in einer Weise, dass Lorna ihr nicht die Waffe abnehmen konnte, die sie weiterhin auf sie gerichtet hielt, bis Lorna das Apartment verlassen hatte.

Verdammt, wieso hatte sie nicht ihren Mund gehalten? Zu behaupten, dass sie verlobt wäre, würde spätestens nach Ablauf der Frist auffliegen. Nelson würde dann doppelt triumphieren. Aber bis dahin würde er eine höllische Zeit haben und hoffentlich schlaflose Nächte, weil er befürchten musste, dass Lorna die Wahrheit gesagt hatte und er alles verlieren würde. Der Gedanke befriedigte sie wenigstens ein kleines bisschen.

Sie stieg in den Pick-up der Ranch und fuhr zur Kanzlei des Anwalts ihres Vaters. Vielleicht gab es im Testament irgendeine Klausel, mit der sie das Unvermeidliche abwenden könnte. Wenn nicht, musste ein Ehemann her. Bestimmt gab es irgendwo einen Mann, der sich darauf einlassen würde, sie zum Schein zu heiraten, auch wenn das total verrückt war.

Nate! Ihre Beziehung war damals nur eingeschlafen, weil Lorna Bloomfield verlassen hatte, nicht weil sie im Streit auseinandergegangen wären. Wenn sie ihm erklärte, worum es ging, würde er ihr bestimmt helfen. Also erst zum Anwalt, dann ins Reservat.

Doch für alle Fälle sollte sie sich einen Plan B überlegen.

 

*

 

Nelson richtete sich stöhnend auf, nachdem Lorna weg war, und fluchte. „Stehen Sie da nicht so rum“, schnauzte er die Frau an, die ihre Waffe einsteckte, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. „Helfen Sie mir!“

„Sie wissen doch, wo das Bad ist“, konterte sie ungerührt. „Ich nehme an, die rabiate Dame ist Ihre Schwester.“

„Ja.“

Er stand mühsam auf. Dass Lorna derart hart zuschlagen konnte, hatte er ihr nicht zugetraut. Andererseits hatte sie das schon als Kind verdammt gut gekonnt. Dazu die Militärausbildung … Jede Stelle, an der sie ihn getroffen hatte, tat höllisch weh. Besonders die gebrochene Nase.

„Sie ist also verlobt. Angeblich“, sagte Val Slade.

Das klang so kalt, dass Nelson ein Frösteln über den Rücken lief. Die Frau machte ihm Angst. Nicht nur, weil sie eiskalt war und keine Gefühle zu kennen schien, sie war auch verrückt. Eine Psychopathin. Und die Macht, die sie besaß … Er durfte nicht darüber nachdenken. Dass es so etwas geben konnte, hätte er nie für möglich gehalten. Das sollte verboten werden.

„Was wollen Sie eigentlich hier?“

„Mr. Fuller will Sie sehen, um mit Ihnen die Einzelheiten des Verkaufs durchzugehen. Aber nachdem Ihre Schwester nun hier ist …“ Sie blickte ihn kalt an. „Sie haben Mr. Fuller versichert, dass sie ihm nicht in die Quere kommt.“

„Davon war ich auch überzeugt. Ich konnte wirklich nicht ahnen, dass sie ausgerechnet jetzt auftaucht. Aber selbst wenn sie verlobt ist, dürfte das für Ihren Boss doch kein Hindernis sein. Oder?“

Nelson wartete ihre Antwort nicht ab, sondern ging ins Bad. Bevor er die Tür schloss, sah er, wie Val ihr Smartphone zur Hand nahm.

„Mr. Fuller, wir haben ein Problem“, hörte er sie sagen, ehe die geschlossene Tür weitere Worte ausblendete.

Für einen Moment packte ihn das schlechte Gewissen, als er daran dachte, auf welche Weise Fuller das Problem mit Lorna lösen würde. Aber gegen die zwanzig Millionen, die in wenigen Wochen ihm gehören würden, konnte selbst das schlechteste Gewissen nicht anstinken.

 

2

New York

 

Peta Yuhala tanzte. Seine Füße berührten die Holzbohlen des Dachgartens mal sanft, mal hart und trommelten einen Rhythmus, dessen Schwingungen nicht nur die Bohlen zum Vibrieren brachte, sondern auch die Luft. Wie die Kreise, die ein ins Wasser geworfener Stein auf der Oberfläche erzeugte, liefen sie über die Gewächse und verwoben sich mit ihrer Struktur, gingen darüber hinaus und flogen über den Dächern New Yorks dahin. Die Augusthitze brütete in den Straßenschluchten. Eine Abkühlung wäre dringend erforderlich, vor allem Regen für die Pflanzen und das Land.

Er dehnte seine Wahrnehmung aus und ließ sich von den Schwingungen seines Tanzes in die Ferne tragen und in die höheren Luftschichten. Sein Körper und sein Geist spürten das Wetter, als würde er mit den Händen ein Stück Stoff betasten. Er fühlte den Druck, die Zirkulation, die Wirbel, und hatte das Gefühl, dass sie um ihn tanzten. Er berührte die Wolken in der Ferne. Sein Geist strich über sie wie die Hand über die Haut einer Frau, ertastete hier Trockenheit und da Regenschwangerschaft. Sanft schob er die schwangeren Wolken zusammen und begann, das Windlied zu singen, das dem Herrn aller Wolken sagte, wohin er seine Schäfchen treiben sollte.

Als er den letzten Ton des Liedes gesungen hatte, wusste er, dass morgen ein Regenschauer in der Stadt und ihrer Umgebung niedergehen würde. Keine große Sache und erst recht kein Unwetter, aber er würde den Menschen, Tieren und dem Land ein bisschen Erleichterung vom heißen Sommer verschaffen. Er beendete seinen Tanz, lächelte und öffnete die Augen.

Susan Farnsworth saß auf einer der Bänke des Dachgartens und lächelte ihm schüchtern zu. Er hatte ihr Kommen als eine Verwirbelung in den Luftströmen gespürt, weshalb es ihn nicht überraschte, sie zu sehen. Susan war seine Nachbarin und schwankte ständig zwischen den Versuchen, ihm unaufdringlich zu signalisieren, dass sie an ihm interessiert war, und gleichzeitig diese Versuche zu verschleiern. Wahrscheinlich fürchtete sie, dass er sie zurückweisen könnte, denn ihr Selbstbewusstsein war nicht sehr ausgeprägt.

„Hi Pete.“

„Hi Susan.“ Er erwiderte ihr Lächeln, und sie strahlte ihn förmlich an.

Susan gehörte zu den von Schönheit wenig begünstigten Frauen. Leider unterstrich sie das noch durch falsche Ernährung, die ihrer Figur nicht gut bekam, und unvorteilhafte Kleidung. Pete störte beides nicht, denn was ihn an Frauen anzog, war in erster Linie ihr Intellekt, in zweiter Linie Selbstständigkeit. Sein Beruf ließ ihm nur wenig Zeit fürs Privatleben. Deshalb war das Letzte, was er in einer Beziehung brauchte, eine Frau, die sich an ihm orientierte und den größten Teil ihrer freien Zeit damit zubrachte, darauf zu warten, dass er sie anrief oder nach Hause kam.

Susan bezog ihre Stabilität und sogar ihr Selbstbild aus den Reflexionen ihrer Mitmenschen. Ein unverbindliches Lächeln ließ sie strahlen, ein Seitenblick sie in Tränen ausbrechen. Deshalb kam sie als Partnerin für Pete nicht infrage. Und wenn er sich mit ihr auf einen von seiner Seite aus unverbindlichen Flirt oder einen One-Night-Stand eingelassen hätte, wäre sie am Ende verletzt und tief unglücklich auf der Strecke geblieben, weil sie sich mehr erhoffte. Darum ignorierte er ihre Ouvertüren.

„War das ein Regentanz?“, fragte sie.

Er nickte. „Alte Tradition meiner Vorfahren. Ich verspreche dir, dass es regnen wird. Heute oder morgen, spätestens im Herbst. Der nächste Regen kommt bestimmt.“

Sie lachte, und er stimmte darin ein. Wenn es morgen regnete, würde sie das für einen Zufall halten und nicht auf Petes Regentanz schieben. Dabei waren der Tanz und der Gesang, vielmehr das, was Pete dadurch initiiert hatte, tatsächlich dafür verantwortlich. Er besaß wie einige seiner Vorfahren die Gabe, mit der Kraft seines Geistes, das Wetter zu manipulieren. Seine Lakota-Vorfahren hatten es Magie genannt.

Professor Sullivan hatte dafür eine wissenschaftliche Erklärung, die nicht annähernd so spannend und absolut nicht mystisch war. Die ganze Welt und die Atmosphäre waren durchdrungen von elektromagnetischen Feldern. Manche Menschen waren aufgrund einer besonderen Polung in ihrem Gehirn mit der Gabe geboren, diese Felder auf die eine oder andere Weise beeinflussen zu können. Wissenschaft, keine Magie. Für Pete war diese Fähigkeit dennoch etwas Magisches.

Er setzte sich neben Susan und sah ihr auffordernd in die Augen. Er war als Lakota aufgewachsen und erzogen worden. Deshalb hatte es ihn anfangs Überwindung gekostet, anderen Menschen in die Augen zu sehen, wenn er mit ihnen sprach. Seinem Gegenüber nicht in die Augen zu sehen, war bei seinem Volk ein Ausdruck des Respekts. Anstarren galt als unhöflich. In der Welt der wašiču, der Weißen, in der er die meiste Zeit des Jahres lebte und arbeitete, war es umgekehrt. Er hatte sich angepasst und sich daran gewöhnt, aber es verursachte ihm manchmal immer noch ein leichtes Gefühl von Unbehagen.

„Was hast du auf dem Herzen, Susan? Soll ich wieder deine Pflanzen gießen, während du im Urlaub bist?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich … Ich habe was Dummes gemacht.“ Sie knetete ihre Finger und blickte zu Boden.

Pete wartete geduldig, dass sie fortfuhr.

„Heute Abend ist eine Party in der Firma, für die ich arbeite. Wir sollen mit unseren Partnern kommen.“

Und Susans Problem war, dass sie keinen Partner hatte. Er ahnte, was sie von ihm wollte.

Sie senkte den Kopf tiefer. „Ein paar Kolleginnen waren gemein zu mir.“ Sie flüsterte fast. „Sie haben mich damit aufgezogen, dass ich die Einzige sein werde, die allein kommt, weil kein Mann mit jemandem wie mir befreundet sein will.“ Sie deutete an sich hinab, und ihr Gesicht verzog sich, als bräche sie gleich in Tränen aus. „Ich sehe nun mal nicht besonders aus. Da habe ich gesagt, dass ich mit einem richtig tollen Typen zusammen bin.“ Sie hob den Kopf und blickte Pete verzweifelt an. „Das ist mir nur so rausgerutscht, aber …“ Sie rollte die Lippen nach innen und kämpfte mit den Tränen.

„Aber jetzt brauchst du einen tollen Typen, um die Lästermäuler zu stopfen. Ich fühle mich geehrt, dass du an mich gedacht hast.“

„Tut mir leid.“

„Das muss es nicht.“ Er stützte die Unterarme auf die Oberschenkel und faltete die Hände. „Weißt du, welche Figur in der Serie Criminal Minds ich am liebsten mag? Penelope Garcia.“

„Aber die sieht doch …“ Susan unterbrach sich.

Pete nickte. „Sie ist pummelig, sie hat kein besonders fotogenes Gesicht, und sie kleidet, schminkt und frisiert sich total schräg. Trotzdem hat sie einen Freund, der das Wichtigste von ihr zu schätzen weiß.“ Pete sah Susan bedeutungsvoll an. „Ihren brillanten Geist. Du hast auch einen brillanten Geist, Susan.“

Er sah die Hoffnung in ihren Augen aufstrahlen und bedauerte, dass er sie vernichten musste.

„Wäre ich der richtige Mann für dich, hätte ich dich schon längst angebaggert.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich bin nicht das, was du brauchst. Du brauchst jemanden, der dich auf Händen trägt. Dazu habe ich zu wenig Zeit. Du wärst die meiste Zeit über allein, weil ich beruflich dauernd auf Achse und kaum zu Hause bin, wie du weißt.“

Aus diesem Grund wohnte er zu Miete in diesem nicht gerade schmucken Mehrfamilienhaus, Greenpoint Avenue Ecke 44th Street. Susan blickte enttäuscht zu Boden.

„Aber heute Abend werde ich mit dir zu der Party gehen. Wir beide werden dafür sorgen, dass alle Anwesenden vor Neid erblassen.“

Susan ergriff seine Hände und schüttelte sie strahlend auf und ab. „Danke, Pete! Tausend Dank! Du …“

Sein Smartphone in der Hemdtasche klingelte. Er entzog Susan seine Hände und nahm den Anruf entgegen, nachdem ein Blick auf das Display ihm gezeigt hatte, dass er von seiner Chefin, FBI Special Agent in Charge Cecilia O’Hara kam.

„Ja, Ma’am?“

„Agent Nightfire, ich brauche Sie in zwei Stunden in der Zentrale.“

„Ja, Ma’am. In zwei Stunden.“

O’Hara hatte die Verbindung bereits unterbrochen, bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte. Er steckte das Phone ein.

Susan blickte ihn tieftraurig, beinahe verzweifelt an. „Du musst wieder zur Arbeit. Also wird das heute Abend nichts.“ Sie schniefte und versuchte, nicht zu weinen.

Pete legte seine Hand über ihre. „Doch. Darauf gebe ich dir mein Wort.“

Auch wenn er das nur aus Mitleid mit Susan tat und er ihr möglicherweise keinen Gefallen erwies, indem er ihr half, mit ihrer Lüge gegenüber ihren Kolleginnen durchzukommen. Selbst wenn O’Hara ihn sofort irgendwo hinschickte, dass er kaum Zeit hatte, seine ständig gepackte Notfall-Reisetasche zu holen, konnte er sein Versprechen einhalten. Es gab in der Sonderabteilung, für die er arbeitete, ein paar Kollegen und Freelancer, die ihn in Sekunden an jeden beliebigen Ort der Welt bringen konnten.

Denn das DOC, das Department of Occult Crimes, bekämpfte nicht nur die okkulten Verbrechen, deretwegen es gegründet worden war, sondern hatte Agents in seinen Reihen, die selbst über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügten, um das Feuer dieser Verbrechen mit gleichem Feuer im Dienst der Gerechtigkeit bekämpfen zu können. Und gerade die Agents mit diesen besonderen Gaben verstanden sich als eine große Familie.

Er stand auf und zog Susan auf die Beine. „Bevor ich mich wieder in die Fänge meiner Chefin begeben muss, gehen wir einkaufen: ein richtig tolles Kleid für dich. Anschließend gehst du zum Frisör und lässt dir eine umwerfende Frisur machen. Ich hole dich ab, sobald ich kann. Und“, er sah ihr tief in die Augen, „ich werde dich abholen.“

„Danke, Pete. Aber …“

Er wehrte ihren Protest ab und ging in seine Wohnung, um sich umzuziehen: dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte. Da er sein langes Haar heute Morgen erst gewaschen hatte, knotete er es nur mit einem Lederband im Nacken zusammen. Anschließen fuhr er mit Susan zu einem Bekleidungsgeschäft für Damen und Herren, in dem er sich auch ausstattete, wenn er mal wieder einen neuen Anzug brauchte. Er ließ sie in der Obhut der kompetenten Angestellten zurück mit der Anweisung, Susan ein Outfit zu geben, das ihre besten Seiten positiv herausstrich, und sie anschließend zu einem stadtbekannten Frisör und Visagisten zu eskortieren, der in dem Ruf stand, Wunder zu vollbringen.

Danach machte er sich auf den Weg zum Hauptquartier des DOC.

 

*

 

Das Department of Occult Crimes war so geheim, dass nur sehr wenige handverlesene Leute von seiner Existenz wussten. Zu denen gehörte nicht einmal der Präsident. Deshalb verbarg es sich hinter, vielmehr unter der Operationsbasis einer kleinen offiziellen Sonderheitdes FBI, die als Special Cases Unit firmierte und einen Bürokomplex auf der Park Avenue hatte, in einem Gebäude schräg gegenüber des Waldorf Astoria Hotels.

Im hinteren Teil des Komplexes gab es einen Fahrstuhl, der tief in die Erde führte. Dort waren ein paar alte, schon lange stillgelegte U-Bahn-Schächte und Bahnhöfe aus- und umgebaut worden, in denen seit ungefähr dreißig Jahren das DOC residierte. Wer hinein wollte, musste sich erst oben im SCU-Büro legitimieren, danach vor Betreten des geheimen Fahrstuhls, den man nur mit einem für jeden Agenten extra codierten Spezialschlüssel öffnen konnte, einen biometrischen Scan durchlaufen. Im Fahrstuhl erfolgte ein weiterer Check, bei dem man sich mit Fingerabdrücken und Stimmerkennung identifizieren lassen musste. Und wehe dem Agenten, dessen Biometrik, Stimme und Fingerabdrücke nicht zu dem codierten Schlüssel passten, mit dem er in die Zentrale wollte, weil er den Schlüssel eines Kollegen benutzte.

Unbefugt in den Komplex einzudringen, war unmöglich. Nicht zuletzt deshalb, weil ein paar Freelancer, die über echte magische Fähigkeiten verfügten, welche Professor Sullivans Team nicht einmal ansatzweise wissenschaftlich erklären konnte, das Gebäude mit Zaubern geschützt hatten. Die verhinderten zusätzlich zu den profanen Sicherheitsvorkehrungen, dass jemand herein konnte, der hier nichts zu suchen hatte.

Am Empfangstresen zum Herzen des DOC hatte man Pete mitgeteilt, dass SAC O’Hara ihn in Konferenzraum 3 erwartete. Auf dem Weg dorthin kam ihm ein Mann aus einem anderen Teil des Komplexes entgegen, dessen rabenschwarzes Haar einen frischen Bürstenschnitt aufwies. Als Pete seinen Partner vor ein paar Tagen zuletzt gesehen hatte, war dessen Haar noch ebenso lang gewesen wie sein eigenes. Aber Sully liebte es, mit den Extremen zu spielen, wenn die Arbeit das zuließ. SAC O’Hara ließ ihren Agents in dem Punkt weitgehend freie Hand, sorgte jedoch streng dafür, dass sie alle sich zu jeder Zeit absolut korrekt und untadelig verhielten. Besonders, wenn sie offiziell ermittelten und nicht undercover agierten.

Sully kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. „Kia ora, hoa“, begrüßte er ihn in Maori, der Sprache seiner Mutter.

„Hau, kóla“, grüßte Pete auf Lakota zurück.

Beides bedeutete Hallo, Freund. Seit ihrem ersten gemeinsamen Einsatz vor sieben Jahren, in dessen Verlauf jeder dem anderen das Leben gerettet hatte, waren sie nicht nur Freunde, sondern Blutsbrüder. Sie nahmen die Bedeutung dieses uralten Rituals sehr ernst. Darum nannte Pete Sully kóla, die Bezeichnung für den Freund eines Kriegers, für den dieser notfalls auch sterben würde.

Sie absolvierten das Begrüßungsritual, das sie immer zelebrierten. Sie fassten einander am Unterarm nach Lakota-Art, drückten Stirn an Stirn und schließlich die Nasen aneinander nach Maori-Art.

„Schön dich zu sehen, tuakana“, sagte Sully.

„Gleichfalls, misun.“

Das jeweils nichtenglische Wort bedeutete Bruder. Jedoch mit einem feinen Unterschied. Sully gebrauchte das Maori-Wort, mit dem ein jüngerer Bruder seinen älteren anredete. Pete benutzte die Lakota-Anrede eines Älteren für seinen jüngeren Bruder. Sully war zwar nur drei Monate jünger als Pete, aber beide Sprachen machten darin strikte Unterschiede.

„Wir haben uns ja so lange nicht gesehen“, witzelte Sully.

„Deshalb hatte ich Mühe, dich zu erkennen.“ Pete deutete auf Sullys Haarschnitt.

Sully fuhr sich grinsend darüber. „Ich hatte wieder mal Lust auf Veränderung. Solltest du auch mal ausprobieren, Häuptling.“

Seit Pete einmal erwähnt hatte, dass sein Ururgroßvater Häuptling Rain In The Face gewesen war, der an der Seite von Red Cloud gekämpft hatte, nannte Sully ihn manchmal Häuptling und meinte das durchaus respektvoll.