Daimon Diamonds - Margarethe Alb - E-Book

Daimon Diamonds E-Book

Margarethe Alb

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Beschreibung

Leandra liebt die neue Zeit. Seit der Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert genießt sie die Musik, die Mode und noch mehr. Leider ist ihr Vater, der Waldelf Leander Buchenblatt, wie so oft schon geschehen, spurlos verschwunden. Luzifer, eine gemeinsame Freundin und Dämonin, hat allerdings einen Verdacht. Tief in den sibirischen Wäldern geht angeblich Eigenartiges vor sich. Man munkelt, dass die magischen Bewohner des riesigen Landes verschwunden sein sollen und von militärischen Zuchtprogrammen für Drachenwesen und sogar die gutmütigen Delfine. Außerdem sind mehrere Diamantenminen, deren Oberhoheit seit dem Anbeginn der Zeit bei Luzifers Volk liegt, seit einer Weile nicht mehr aufzufinden. Leandra reist daher in die neu entstandene Sowjetunion, um nicht nur ihren Vater aufzuspüren.

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Oh je.

Leandra liebt die neue Zeit. Seit der Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert genießt sie die Musik, die Mode und noch mehr. Leider ist ihr Vater, der Waldelf Leander Buchenblatt, wie so oft schon geschehen, spurlos verschwunden. Luzifer, eine gemeinsame Freundin und Dämonin, hat allerdings einen Verdacht. Tief in den sibirischen Wäldern geht angeblich Eigenartiges vor sich. Man munkelt, dass die magischen Bewohner des riesigen Landes verschwunden sein sollen und von militärischen Zuchtprogrammen für Drachenwesen und sogar die gutmütigen Delfine. Außerdem sind mehrere Diamantenminen, deren Oberhoheit seit dem Anbeginn der Zeit bei Luzifers Volk liegt, seit einer Weile nicht mehr aufzufinden. Leandra reist daher in die neu entstandene Sowjetunion, um nicht nur ihren Vater aufzuspüren.

Inhalt

Oh je.

1923

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Gegenwart

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Mephistos Welt“

Liebe-Wasser-Sandsturm

Nähere Informationen über Idas Apdoption

Wissenswertes über die Blütenfeen

Amt für fantastische Lebensformen Thüringen

1923

1

Leandra lehnte sich an die Bar aus dunkel gebeiztem Holz. In dem mit opulenten Schnitzereien verzierten Spiegel, der an der Wand dahinter hing, reflektierten sich die glitzernden Kleider der tanzenden Damen, die von ihren Partnern schwungvoll umhergewirbelt wurden. Die relativ kleine, kreisrunde Tanzfläche war gut besucht und die Paare tanzten, als stünden sie miteinander in einem Wettbewerb.

Durch den großen Spiegel schaffte sie es bequem, gleichzeitig die vielfältigen Flaschen zu betrachten, die im Regal davor aufgereiht waren, und den Gastraum der Bar im Blick zu behalten. Das war ihr absoluter Lieblingsladen. Die Anmutung des Etablissements war zwar irgendwo zwischen leicht schmuddelig und edel glitzernd, aber das Publikum war einzigartig. Davon abgesehen verschwammen im „Lichtertanz“ die Grenzen zwischen den Welten.

„Möchtest du noch was, Liebchen?“ Die Barfrau mit dem frechen Kurzhaarschnitt hielt eine hübsch geschliffene Karaffe hoch, von der Leandra wusste, dass sich der gute Gin darin befand. Nickend schob sie ihr Glas über den Tresen.

Einen konnte sie sich noch erlauben. Immerhin wartete sie schon mindestens eine halbe Stunde auf ihre Verabredung.

Offenbar konnte er sich mal wieder nicht von seiner aktuellen Flamme trennen. Vermutlich vergnügten sie sich in deren Lotterbett, während Leandra hier Ewigkeiten warten musste. Wenn sie nicht so dringend auf die Informationen angewiesen wäre, welche nur Ragnan ihr verschaffen konnte, dann hätte sie ihn längst in den Wind geschossen. So hielt sie sich eben an seinen Alkoholvorräten schadlos, bis es dem Herrn gefiel, endlich aufzutauchen.

Als sie schon kurz davor war, ihm eventuell die Kavallerie auf den Hals zu hetzen, bequemte der Herr und Meister der Schnapsflaschen sich dieses Ladens doch noch, sich zu ihr zu gesellen. An jedem seiner Arme hing jeweils eine langbeinige Blondine, die beide überreich mit Pailletten verzierte Flapperkleider trugen. Ebenso hielten beide lange, schwarz glänzende Zigarettenspitzen in der jeweils freien Hand. Opulente Perlenketten hingen in mehreren Reihen von den langen schlanken Hälsen.

Leandra setzte ihr Glas an die Lippen und wartete ab. Der ganz in schwarz gekleidete Besitzer der Bar gab seinen beiden Gespielinnen jeweils einen Klaps auf dem Po. Mit dieser galanten Geste schickte er sie zur Tanzfläche.

„So. Sollen sie sich ein paar dumme Kerle suchen, die sie ausnehmen können.“ Breit grinsend folgte Leandra seinem Blick.

Die beiden Mädels schoben sich gerade geschickt zwischen zwei ihrer Geschlechtsgenossinnen und deren Tanzpartner.

„Die sind gut. Wo hast du sie aufgetrieben?“ Ragnan von Spiessberg lachte laut auf.

„Das glaubst du mir sowieso nicht. Also lasse ich es gleich, dir davon zu erzählen. Aber nun sprich, was dich zu mir treibt. Leandra Grünwald taucht ja wohl nicht grundlos in meiner Höhle auf.“

Leandra schüttelte amüsiert den Kopf. Von Smalltalk und sinnlosen Herumgerede hatte Ragnan noch nie viel gehalten.

„Bist immer noch der Alte oder? Nur kein Wort zu viel. Wie wäre es mit „Hallo schöne Frau? Habe dich viel zu lange nicht gesehen?““

„Hallo schöne Frau, wie kann ich Ihnen dienen?“

„Das war schon besser, ist aber noch ausbaufähig.“

„Nun spricht schon, was dich zu mir treibt, Leandra. Wenn ich hier zu viel Zeit vergeude, verschwinden die beiden mit diesen geistlosen Anzugträgern dort. Wo ich doch mit ihnen noch lange nicht fertig bin.“

„Hast du was von den Russen gehört?“ Ragnan spuckte beinahe seinen guten Whisky über den blank polierten Tresen.

„Was willst du denn von denen? Soweit ich weiß sind die allesamt beschäftigt. Man hat mir zugetragen, dass deren derzeitige Regierung plant, einschneidende Änderungen in der Zusammenarbeit mit den anderslebenden Gruppierungen in Russland durchzusetzen. Wir dürften es ab demnächst also mit einem mit einem größeren Zuzug russischer Mitbewohner zu tun bekommen. Man munkelt sogar, dass hinterm Ural neue Hexenprozesse geplant werden.“

Das hatte Leandra auch schon läuten hören. Aber Ragnan war augenscheinlich nicht auf dem neuesten Stand.

„Der sogenannte Zuzug ist längst im Gange, Meister der Dunkelheit. Täglich kommen Russen hier an, die untergebracht und in die Gesellschaft integriert werden müssen. Aber du weißt genau, dass ich das nicht meinte.“ Leandra funkelte Ragnan mit ihrem bösesten Blick an. Dieser trank sein Glas grinsend leer. Dann wich das Amüsement aus seinen attraktiven Zügen.

„Nein, es gibt keine Nachricht, tut mir leid, Leandra. Unsere Nachrichtenkanäle wurden abgeschnitten. Niemand hat etwas von ihm gehört.“ Er legte seine warme Hand auf Leandras.

„Ich würde dir niemals verschweigen, wenn ich wüsste, was geschehen ist. Viel eher würden wir dich brauchen, um unsererseits Rache zu nehmen. Das weißt du doch?“ Leandra schluckte trocken und nickte. Ragnan hatte in dieser Sache ihr vollstes Vertrauen. Auch wenn seinesgleichen nicht unbedingt immer die Wahrheit sagte, hier standen sie aber auf derselben Seite. Die Band setzte zu einem der derzeitigen Dauerbrenner an.

„Ich habe im Mai von der Liebe geträumt“ riss die Tanzwütigen förmlich von den Socken. Der etwas kitschige Text und die eingängige Melodie hatten die Musikwelt der Bars und Tanzkaffees letztes Jahr im Sturm erobert.

„Was meinst du, drehen wir auch eine Runde?“ Leandra griff schmunzelnd nach der zu ihr hingestreckten Hand Ragnans und ließ sich auf die kleine Tanzfläche geleiten.

Sie atmete tief durch und ließ sich von der beschwingten Musik in eine bessere Welt entführen. Eine Welt, in der es keine von Menschen geschaffenen Grenzen gab. Eine Welt, in der die Liebe regierte. Eine Welt, in der auch sie ein Herz geschenkt bekam.

Ragnan führte sie mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen den anderen Paaren hindurch. Er war ein wirklich gutaussehender Mann mit seinen kohlschwarzen Haaren, den scharf geschnittenen Gesichtszügen und den tiefbrauen Augen. Sein Anzug saß wie maßgeschneidert.

Was er mit Sicherheit auch war. Für Ragnan musste es eben der beste Schneider sein, sowie er nur die besten Spirituosen trank oder die hübschesten Frauen in sein Bett einlud. In der Bewegung nahm Leandra aus dem Augenwinkel einen großen, glatzköpfigen Mann wahr, der gleich darauf Ragnan auf die Schulter klopfte und sie von diesem übernahm.

Während Ragnan sich nun seinerseits eine seiner mitgebrachten Schönheiten abklopfte, ließ Leandra sich von dem kahlköpfigen Mann mit seinem überaus schrecklichen Kleidergeschmack im Kreis wirbeln.

„Hallo, mein Schatz.“ Sie drückte ihm statt einer Antwort einen Kuss auf die Wange. Dann musterte sie ihn von Kopf bis Fuß.

„Wer hat dir denn diese Scheußlichkeit aufgeschwatzt, lieber Cernun? Doch nicht etwa deine Tochter? Oder hat eine Dame mit ausnehmend schlechtem Geschmack endlich dein kaltes Herz erobert?“ Cernun schleuderte sie ein wenig zu schwungvoll in eine Drehung.

„Sag nichts über mein Hemd, verfluchtes Weib. Ich finde es nämlich ausnehmend einnehmend.“ Leandras Mundwinkel zuckten automatisch.

„Naja, der Anzug geht ja auch. Aber wer zum Kuckuck fertigt solche Schrecklichkeiten wie dieses Hemd?“ Sie schaute nach unten und kicherte.

„Oder diese Schuhe? Nennt man das jetzt Kannibalismus? Oder ist es ein ekliger Fetisch?“ Cernun schnaubte.

„Nur weil ich diese Drucke von Schlangenhaut sehr passend finde, musst du dich nicht darüber lustig machen.“ Leandra verschluckte beinahe ihre Zunge. Sie zog Cern zügig von der Tanzfläche und in die Nähe der Tür zu den Waschräumen.

„Cernun. Das Leder deiner Schuhe ist kein Rindsleder.“ Der große Mann erbleichte sekundenschnell. Mit einem kurzen Blick auf seine eben noch so geliebten Treter schleuderte er die Slipper blitzschnell von sich. Mit Entsetzen im Blick musterte er die nun verwaisten Schuhe.

„Merde. Die sind wirklich echt.“ Leandra legte ihm beruhigend eine Hand auf die kühle Wange.

„Hast du es nicht gewittert?“ Er schüttelte den Kopf.

„Sie riechen nach Farbe und Wachs. Niemals wäre mir der Gedanke gekommen, dass sie dafür Schlangen meucheln. Ich dachte, das wäre ein Druck, wie bei dem Hemd. Das ist doch aus Seide, oder?“

Entsetzt schien er zu überlegen, ob er dieses auch von sich werfen sollte. Leandra rieb eine Ecke des Kragens zwischen den Fingerspitzen.

„Ja, das ist es. Reinste Maulbeerseide. Diese ist wirklich nur bedruckt worden.“ Sie sah, wie er den Satz gedanklich vollendete. „Nicht wie die Schuhe.“

Es war Zeit für einen Themenwechsel und außerdem brauchte Cernun von Asgard neue Treter an die zarten Füßchen.

„Was machst du eigentlich hier? Und erzähle mir nichts davon, dass es Zufall sei, dass du und ich zeitgleich in Ragnans Schuppen auftauchen.“

„Zafida sucht nach dir. Sie hat Nachricht von deinem Vater, mein Kind. Du sollst sie morgen früh am Neumarkt treffen.“ Zafida, ihre beste Freundin Zafida hatte ausgerechnet Kunde von Leandras verschollenem Vater erhalten?

„Kann ich nicht sofort zu ihr?“ Cernun schüttelte bedauernd den Kopf.

„Zafida ist noch unterwegs. Du wirst dich gedulden müssen. Morgen früh, mit dem Grauen des Tages, erwartet sie dich vor der Bäckerei.“

2

Leandra trug immer noch ihr smaragdgrünes Seidenkleid mit den schwarzen Fransen am Saum, als sie kurz nach dem Morgengrauen die Bäckerei erreichte. Die Sonne hatte den Horizont noch nicht mal ansatzweise überschritten, aber in der Ferne dämmerte es bereits. Die ersten Vögel regten sich in den Bäumen am Straßenrand und begannen gerade ihre Morgengesänge, als auch Zafida aus einer Seitengasse geschlendert kam. Sie blickte sich um und schritt zügig auf die drei Stufen zum Laden der besten Bäckerei der Stadt zu.

Mit einem „Einen wundervollen Guten Morgen!“, begrüßte die orientalisch ausschauende Schönheit eine ältere Dame, der sie zuvorkommend die Tür aufhielt, bevor sie Leandra mit einer Geste wortlos bedeutete, ebenfalls das Geschäft zu betreten.

Sie erwarben Brötchen, leckeres Blätterteiggebäck und zwei kleine Erbeertörtchen. Leandras Nerven lagen blank. Was sollte das? Sie wartete auf Nachricht über ihren Vater und Zafida kaufte Kuchen? Und dass, ohne sie auch nur zu begrüßen? Sie holte gerade Luft, um der Freundin die Meinung zu geigen, aber Zafida hob die Hand, in der sie eine der Tüten mit dem Gebäck hielt.

„Warte. Lass uns erst nach Hause gehen. Kein Wort. Halte einfach mal den Mund.“

Na das ging ja gut los. Statt einem freundschaftlichen Hallo bekam sie Schelte von der Frau, die sie für ihre beste Freundin gehalten hatte.

Zafida hakte sich bei Leandra unter und führte sie zügig in eine Seitenstraße.

„Welche Überraschung, dass wir uns hier treffen. Ich wusste gar nicht, dass du ebenfalls hier einkaufst, meine Liebe.“ Leandra setzte, müde wie sie war, zu einer genervten Antwort an, spürte aber im selben Augenblick den Druck von Zafidas Ellenbogen in der Seite. Sie schluckte ihre Worte hinunter und sah zu ihrer besten Freundin.

„Ich kaufe hier selten, aber mir war nach den Plunderteilchen. Außerdem wollte ich dich zum Frühstück überraschen. Immerhin schuldest du mir eine Tour durch dein neues Haus.“ Gemeinsam durchquerten sie zwei schmale Gassen, bis Zafida vor einem Fachwerkhaus mit einem hohen Sandsteinsockel stehen blieb. Der helle Lehmputz war in seiner Naturfarbe belassen worden, während das Gebälk mitsamt den zahlreichen Schnitzarbeiten dunkelgrünen Lack zur Schau trug. Zusammen mit den grünen Fensterrahmen und der ebenso grünen zweiflügeligen Haustür.

Diese wurde von zwei relativ jugendlich wirkenden Gargoyles flankiert, die auf Vorsprüngen links und rechts des schmalen Vordachs hockten und Leandra ziemlich sauertöpfisch musterten.

Die beiden Wesen waren anscheinend aus demselben Stein geschnitten worden, aus dem auch das Erdgeschoß des Hauses gemauert war.

Ihnen zu Füßen, auf der oberen der ausgetretenen Granitstufen, hatte Zafida zwei hölzerne Kübel aufgestellt, in denen jeweils ein Feigenbäumchen eher schlecht als recht wuchs. Während Zafida den altmodischen Gusseisenschlüssel ins Schloss fummelte und diesen dann, von einem lauten Knirschen begleitet, drehte, nahm sich Leandra der armen Bäumchen an. Mit sachten Bewegungen ihrer Finger strich sie jeweils über die Stämmchen der armen Pflanzen und schuf ein wenig mediterranes Lebensgefühl. Die Säfte begannen sogleich durch die Stämmchen zu steigen und noch während Zafida die schwere Eichenholztür aufschob, trieben die Feigenbäume jeweils mindestens drei neue Blätter.

„Danke dir, mein Herz. Die beiden habe ich erst vor einigen Tagen aus einem verlassenen Garten gerettet. Sie standen kurz davor, zu sterben. Hier sollen sie sich erholen, bis ich entscheide, wohin sie endgültig ziehen sollen. Die Vorderseite des Hauses wird am späten Nachmittag von der Sonne noch einmal richtig aufgeheizt. Der Sockel speichert die Wärme so gut, dass ihnen bis zum Morgen nicht kühl wird.“ Aha, also daher der doch ungewöhnliche Platz für die exotischen Bäumchen. Leandra nickte beeindruckt. Aber eigentlich war es kein Wunder. Zafida war selber ein Pflänzchen der Wärme und außerdem die Ziehtochter einer Dryade.

Und als Baumgeist hatte diese ihr die Achtung vor der grünen Natur von klein auf beigebracht.

Zafida bedeutete Leandra, ihr ins Haus zu folgen und leitete sie in eine große, von einem stabilen Tisch dominierte Küche. Von der Decke hingen an gespannten Leinen große Bündel getrockneter Kräuter, im Herd brannte ein flackerndes Feuer und es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee. Während Leandra sich in einen der aus Korbweide geflochtenen Sessel fläzte, stellte Zafida zartes Porzellangeschirr, das eben erstandene Gebäck und einen Krug frischer Milch auf den Tisch. Die Teilchen sahen in dem flachen Korb, den Zafida mit einer gestickten Serviette ausgelegt hatte, zum Anbeißen lecker aus. Ihre Freundin schenkte ihnen beiden Kaffee aus einer hübschen, silbernen Kanne ein, worauf Leandra sofort einen guten Schluck Milch zufügte. Sie kannte das steife Gebräu der gebürtigen Orientalin nur zu gut. Für Zafida war Kaffee nur dann genießbar, wenn der Löffel darin stehen blieb. Oder gleich weggeätzt wurde.

Schweigend verputzten sie das erste Stück Gebäck. Dann hielt Leandra es nicht mehr aus.

„Also, nun sag schon. Schieß los.“ Zafida nahm geruhsam einen Schluck Kaffee, schloss genüsslich die Augen und schluckte.

„Kann ich dich nicht einfach so mal zu mir einladen? Immerhin kennst du das Haus noch nicht.“

„Zafida. Bitte.“

„Also gut.“ Sie rieb sich das Gesicht.

„Dein Vater hat mir eine Nachricht für dich gegeben.“ Leandra starrte ihre Freundin an.

„Schau nicht so. Ich habe ihn letzte Woche in Istanbul getroffen. Er lässt dir ausrichten, dass es ihm leidtut, er aber euer Treffen auf unbestimmte Zeit verschieben muss.“ Zafida kramte in einem Schubfach des Geschirrschrankes herum, bis sie ein dunkelgrünes Lederetui hervorzog. Sie überreichte dieses Leandra. Die als Cuvert gestaltete Hülle war typisch für die Nachrichten ihres Vaters. Sie legte diese neben ihrer Tasse ab.

„Du warst in Istanbul? Zafida nickte begeistert. Ihre kinnlangen, tiefschwarzen Locken wippten.

„Ich durfte an der Premierenfahrt des neuen Zeppelins der PNLF teilnehmen. Das war vielleicht eine krasse Sache, das sage ich dir. Fliegen ohne magische Fähigkeiten ist etwas ganz anderes. Man kann total entspannen.“ Leandra zog die Augenbrauen zusammen.

„Was ist denn die PNLF, bitteschön?“ Davon hatte sie noch nie gehört.

„Du musst echt mal wieder unter andere Wesen kommen. PNLF steht für Paranormale Luftfahrtgesellschaft. Die haben die Blutsteins gegründet. Sie waren der Meinung, dass man, um dem Fortschritt Genüge zu tun, sich auch in dieser Beziehung anpassen müsse. Das Rudel findet das Fliegen zwar befremdlich, aber sogar die Mondwölfe sehen ein, dass sich die Reiserei so beschleunigen lässt.“ Leandra hob eine Hand. Das musste sie genauer hören. Sie bildete sich gerade ein, dass die lokale Vampirfamilie einen Zeppelin erworben und eine Luftfahrtgesellschaft gegründet hatte? Das musste eine Sinnestäuschung sein. Vor allem, dass Zafida diese auch noch nutzte. Die konnte doch allein fliegen. Warum sollte sie dann…?

„Warte. Du willst mir jetzt und hier erzählen, dass Vampire eine Luftfahrtgesellschaft gründen, Mondwölfe zu deren Kunden gehören und du in ein solches Gefährt steigst? Ohne gefesselt zu sein?“

Zafida nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Kaffeetasse und grinste breit.

„Immerhin kann ich ja einfach aussteigen und meinen Weg durch die Lüfte allein fortsetzen, wenn mir danach ist. Aber es hat schon seine Vorteile, in dem Ding zu reisen. Irene Blutstein hat darauf bestanden, dass ein großer Speiseraum eingebaut wird, in dem man ganze Menüs einnehmen kann. Man wird von vorn bis hinten bedient und hat alle Zeit der Welt, über die Wolken oder den Horizont zu schauen und seinen Gedanken nachzuhängen. Und die Betten erst. Erste Sahne, sag ich dir. Es gibt Einzelkabinen mit Waschraum. Die sind doppelt so groß wie die im Orientexpress.“ Leandra schüttelte den Kopf. Die Begeisterung Zafidas für die neue Technik war einfach nur putzig. Aber sie war schon immer so gewesen. War nach London geflogen, um Rechenmaschinen auszuprobieren, hatte Uhrwerke so lange zerlegt, bis sie diese im Schlaf wieder montieren konnte und war mit dem allerersten Zug gefahren. Als erste in der weiten Umgebung hatte sie ein Automobil besessen und sämtliche Hühner beinahe zu Tode erschrocken.

Zafida legte ihre Hand auf Leandras.

„Deinem Vater geht es gut. Er ist im Auftrag der Waldelfenschaft noch eine Weile Undercover im Orient unterwegs.“ Leandra verdrehte die Augen.

„Haben sie die Züchter dieser Kampfdrachen immer noch nicht gefunden?“

„Du weißt von seinem Auftrag? Er klang, als hätte man niemanden ins Vertrauen gezogen.“

„Aber dich?“ Immerhin war Zafida eine Klatschtante vor dem Herrn. Diese kicherte.

„Klingt echt verwunderlich, oder? Aber er kam zu mir, da er meinen Rat brauchte. Diese neue Art scheint teilweise auf die Krallenbeißer zurückzugehen.“

„Und es macht dir nichts aus, darüber zu reden?“ Immerhin hatte Zafida jahrelang um ihren geliebten Rufus getrauert. Der viel zu große, potthässliche Drache hatte sie mehrere Jahrhunderte lang auf allen ihren Wegen begleitet.

„Naja, für irgendwas muss meine Erfahrung doch gut sein. Ich kann mich nicht für immer hinter dem Andenken an Rufus verstecken. Dieses Haus ist mein Neubeginn. Es ist weder drachenfest noch geeignet dafür, Haustiere zu halten, die größer als ein Kätzchen sind.“

„Als wenn du auch nur einen Gedanken daran verschwenden würdest, dir eine Katze zuzulegen, Wolfstochter.“

„Du hast ja recht. Aber ich könnte. Wie findest du eigentlich meine beiden Mitbewohner?“ Zafida schmunzelte schelmisch. Aber Leandra hatte die beiden Gargoyles bereits draußen auf der Straße gewürdigt und ihnen einen Gruß zugerufen.

„Sie sind noch arg jung, oder?“

„Die beiden machen jede Nacht die Clubs unsicher. Pubertäre Gargoyles sind nicht ohne, das sage ich dir. Andererseits sind die beiden so unheimlich knuffig, dass ich ihnen am liebsten den ganzen Tag über die Köpfchen streicheln könnte.“

3

Kopfschüttelnd verließ Leandra einige Stunden später das gemütlich eingerichtete Haus Zafidas. Sie winkte den Gargoyles über der Haustür zu, die den Gruß jedoch nur müde erwiderten. Leandra wanderte grübelnd durch die Straßen, bis sie sich vor dem „Lichtertanz“ wiederfand.

Vor dem Club stand Ragnan und rauchte eine Zigarette, die in einer kurzen, schwarzen Spitze steckte. Er bliess eindrucksvolle Kringel in die warme Vormittagsluft.

„Na, hast du gut gefrühstückt?“ Cern erhob sich von der Treppe, die zum Club hinunterführte und warf einige leere Schneckenhäuser in den Müllkübel, der an der Straßenecke aufgehängt worden war. Er klatschte in die Hände.

„Es wurde langsam Zeit, dass du hier auftauchst. Es wurde schon langweilig.“ Leandra runzelte die Stirn. Irgendwas entging ihr hier offenbar.

„Sollte ich denn hier wieder vorbeikommen?“

„Ups. Das habe ich wohl verschwitzt, dir mitzuteilen.“ Ragnan grinste entschuldigend, sah dabei aber so unschuldig wie ein Schulanfänger aus.

Wer‘s glaubte.

Cern erhob sich und griff nach Leandras Hand.

„So, dann lass uns mal zu mir fahren. Der Herr der dämonischen Vergnügungen hier,“ er deutete auf Ragnan, braucht seinen Schönheitsschlaf.“ Er hakte sich Leandras Arm unter und führte sie zu seinem chicen Automobil der neuesten Bauart. Während es sich Leandra auf dem Beifahrersitz bequem machte, steuerte Cern das Gefährt sicher durch die Stadt und die Landstraße entlang. Geschickt wich er kreuzenden Hühnern, Katzen und Menschen aus, erwischte aber jede Pfütze und jedes Loch in der Straße. Ein Wunder, dass sie es unfallfrei aufs freie Land schafften. Die Straße wand sich nun durch Wiesen und kleine Waldgebiete. Nach einer engen Kurve bremste er urplötzlich kräftig, sprang aus dem Wagen und eilte auf die gegenüberliegende Straßenseite. Leandra, die sich mit beiden Händen am Armaturenbrett abgefangen hatte, stieg aus und folgte ihm langsam. Auf der Gegenspur bückte Cernun sich gerade und hob vorsichtig eine Ringelnatter auf. Er hielt sich das Tierchen vors Gesicht und redete leise auf es ein. Dann trug er die kleine Schlange, eindeutig ein Jungtier, die Böschung hinab. Mit ihr in den schützenden Händen ging er bis zu einem kleinen Bach, der sich seinen Weg mäandernd durch eine blühende Wiese bahnte. Leandra folgte Cern gemächlichen Schrittes. Sie fuhr im Gehen mit den Händen durch die beinahe hüfthoch stehenden Grashalme und Wildblumen. Die Blüten dufteten süß. Bienen summten, während sie von Blüte zu Blüte flogen und Vorräte für den noch fernen Winter sammelten.

Von irgendwo trieb der Geruch nach trocknendem Heu vorbei und einige Spatzen zankten sich oberhalb auf der Straße um den besten Platz an einem leckeren Pferdeapfel.

Begrenzt wurde die Wiese von uralten Buchen, zu deren Füßen zahlreiche Beerensträucher wuchsen.

Das hier war Heimat.

„So liebe ich es. Hier ist die Welt noch beinahe in Ordnung.“ Leandra sah nach oben, wo ein roter Milan gemächlich seine Kreise zog. Cern folgte ihrem Blick.

„Ich weiß, was du meinst, mein Kind. Aber das war sie noch nie, die verflixte Welt. Wir stehlen uns nur immer wieder mal kurze, perfekte Momente aus der Unsortiertheit des Universums.“

„Wow. Du bist heute ja wirklich göttlich drauf. Wo liegt dein Problem?“ Denn ein solches musste ihm auf die nicht mehr vorhandenen Schuhe drücken, sonst würde er den Gott nicht so raushängen lassen. Falls er denn ein solcher war. Denn es gab einzig die Überlieferung, dass Cernun von Asgard vor Urzeiten als göttliches Schlangenwesen gegolten hatte.

Aber was wusste Leandra schon. So alt war sie beileibe nicht, wenn auch sie schon zweieinhalb Jahrhunderte auf dieser Erde weilte. Cern beobachtete konzentriert, wie die Ringelnatter unter einem Stein am Ufer verschwand. Als sie nicht mehr zu sehen war, seufzte er.

„Ich bin wieder Junggeselle. Nennt man das heute überhaupt noch so?“ Daher also die Modesünden, die er neuerdings trug.

„Keine Ahnung, wie man das nennt. Also hat Marianna dich verlassen? Oder hast du ihr den Laufpass gegeben?“ Cern schlenderte durch das hohe Gras auf Leandra zu.

„Ich habe ihren Liebhaber kennengelernt. Er lag dabei in meinem Bett.“ Autsch.

„Und er lebt noch?“ Cern zuckte mit den Schultern.

„Seine Aura wies ihn als Elfen aus und da habe ich sicherheitshalber auf einen Biss verzichtet. An euch vergiftet man sich als gute alte Natter nur. Ich habe Marianna und ihn einfach vor die Tür gesetzt. Dass Clemens und Johannes hinter mir standen, hat ihr Übriges getan.“ Die beiden Männer waren ja auch eindrucksvolle Gestalten. Mit dem sehr eindringlichen Duft der Mondwölfe gesegnet, hatten die natürlich großen Eindruck auf einen zwar mutigen, vermutlich aber sehr zartgliedrigen Elfen gemacht. Denn mutig musste man schon sein, wenn man Cern die Frau ausspannte.

„Und jetzt ist dein Haus wieder eine Junggesellenbude. Dann lass uns mal nachschauen, ob du auch schön aufgeräumt hast, verehrter gottgleicher Mann.“ Leandra hakte sich bei Cern ebenso unter, wie er es vor dem Club mit ihr getan hatte und führte ihn zügig zu seinem Wagen.

*****

Cerns Zuhause entpuppte sich als peinlichst saubere, aufgeräumte Höhlenwohnung. Er hatte einen der alten Bierkeller, die es auf den Dörfern im Thüringer Wald überall noch gab, ausgebaut.

Die Keller hatte man üblicherweise am Rand der Ortschaften in die Berghänge gegraben. Meistens war es eine höhe Böschung oder ein Steilhang, der die Türen in die kühle Unterwelt beherbergte. Im Stillen wunderte Leandra sich über Cerns Wahl, bevorzugte dieser doch, allein aufgrund seiner Art, warme Gefilde. Cern hatte ihr wohl angesehen, welche Gedanken sie beschäftigten.

„Komm mal mit, ich zeige dir die Feinheiten der Wohnung.“ Zu Leandras Verwunderung ging es nach einem kurzen, mit Gasfackeln gut ausgeleuchteten, Flur treppauf. Nach einigen Kreisen der engen Wendeltreppe aus Eichendielen öffnete sich vor ihren Augen ein großer, vom warmen Sonnenlicht durchfluteter Raum. Große, kreisrunde Fenster waren in die Decke eingelassen. Die Scheiben bestanden aus vielfarbigen, in Blei gefassten Mosaiken, die Blumen und natürlich Schlangen darstellten. Zumeist wanden sich die Nattern umschlungen in Kopulation über die Fenster, rissen die Mäuler auf oder lagen eingerollt auf einem grünen Blatt. Das vielfarbige Licht ließ bunte Flecken durch den Raum wabern. Wände und Decken waren zwar blütenweiß getüncht worden, aber sie waren nicht eben. Der Architekt hatte die Strukturen von Wurzelwerk meisterlich und nach der Mode des Jugendstils eingearbeitet. Und es waren nicht nur die Strukturen, er hatte Wurzeln in den Putz eingefügt, dass der Eindruck eines gewachsenen Gewölbes entstand.

Leandra fühlte sich beim Umschauen, als stände sie in einer Kathedrale. Nur in natürlich.

Es war ein würdiges Heim für ein Naturwesen, dass Cern sich da geschaffen hatte. Sie drehte sich im Kreis, um nur kein Detail der Wohnung zu übersehen.

Möbel aus warmem Holz, ebenso floral gearbeitet wie die Wände und die Fenster, dominierten den Raum. In einer Nische thronte auf einem Sockel ein beinahe kreisrundes Himmelbett, von dessen organisch geformten Pfosten hauchzarte, natterngraue Seidenschals hingen. Der Boden zu ihren Füßen war mit glatten Holzdielen belegt. Teppiche fehlten komplett, aber diese wären für Cern auch wirklich unpraktisch. In seiner anderen Form, der der Natter, bevorzugte er nun einmal glatte Böden. Es sei denn, es handelte sich um frisches, saftiges Gras.

Ein großer, gewachsener Stein deutete auf Cerns Art hin. Die flache, sauber ausgeschlagene und verschliffene, Kuhle auf der Oberseite war wie geschaffen für eine eingerollte Schlange.

Die Liegefläche stand direkt unter einem der Fenster und war dadurch bestimmt einen großen Teil des Jahres angenehm aufgeheizt.

„Also, diese Bude ist echt grandios, mein Lieber. Wie schaffst du es, dass niemand auf die Fenster latscht?“ Cern grinste.

„Das Dach meiner Höhle ist der Untergrund des hinteren Gartens von Johannes und Syringa. Syringa hatte auch die Idee zu diesem Haus.“ Syringa war als Fliederdryade ein Wesen von großem Einfühlungsvermögen und mitsamt ihrem wölfischen Gemahl seit Ewigkeiten mit Cern und dessen Tochter Brigid eng befreundet.

Mit sicherem Gespür für den Schlangenblütigen hatten sie für ihn die perfekte Rückzugsmöglichkeit geschaffen.

Cernun wies in die andere Zimmerecke.

„Du kannst gern das Bett haben. Mach es dir bequem und schlaf eine Runde.“ Er warf Leandra eines seiner Hemden zu, dass ihr gewiss bis zu den Knien reichen würde und öffnete eine bislang vor ihren Blicken verborgene Tür im vorderen Bereich des Wohnraums.

„Ich besuche für einige Stunden Syringa. Schlaf gut, Elflein!“

An Schlaf war vorerst nicht zu denken. Leandra zog die Mappe ihres Vaters aus der Tasche und brach das Siegel. Der Duft eines Laubwaldes nach einem warmen Sommerregen entströmte der Ledertasche, als sie ein gefaltetes Blatt Papyrus hervorzog. Leandra strich vorsichtig darüber. Es war typisch für ihren Vater, solch ein wundervolles, altmodisches Schreibmaterial zu verwenden. Als sie noch klein war, hatten sie ein Spiel daraus gemacht, aus den ungewöhnlichsten Materialien Papier zu schöpfen. Heute bestritten sie eine Art Wettkampf, wer seine Nachrichten auf dem besondersten Untergrund schrieb.

„Liebste Leandra!

Wenn diese Zeilen dich erreichen, habe ich Istanbul vermutlich schon verlassen und bin auf dem Weg nach Wladiwostok. Von dort wird wohl so schnell keine Post nach Europa dringen, haben die Russen, seit die Sowjets alles umkrempeln, doch ein eher zwiespältiges Verhältnis zu uns Anderweltwesen. Sie grenzen ja schon die Normwelt auf einige wenige Stereotypen ein. Da kommt ihnen ein Waldelf mit Sicherheit nicht recht. Allerdings scheinen sich deren Tätigkeiten nur auf die Wesen zu beziehen, die ihren Plänen in die Quere kommen können. Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass die neuen Züchtungen irgendwo in Sibirien ihren Ursprung haben und vom KGB oder dem Militär vorangetrieben werden. Ich plane, mich in deren engeren Kreis vorzuarbeiten und zu schauen, was sie genau planen. Vielleicht können wir, ein Mitstreiter und ich, auch schlimmeres verhindern.

In Liebe, dein Vater Leander Buchenblatt“

Leandra ließ den Brief sinken.

„So ein Mist, verflixter.“ Ihr Vater war da wieder in ein Ding hineingerutscht, dass ihm nur zu ähnlichsah. Der Kerl machte einen auf superschlauer Geheimagent. Womöglich mit Zigarre im Mundwinkel und dunklem Trenchcoat mitsamt Hut. Leandra verdrehte bei dem Gedanken die Augen.

Egal, wie gut er in dieser Tätigkeit war und mit welcher Leidenschaft er dieser nachging, zu guter Letzt musste er dann immer aus irgendeinem Schlamassel befreit werden. Leandra schob das Papyrus zurück in die Mappe und beschloss, vorerst Cerns Rat zu folgen. Eine Mütze voll Schlaf konnte ihr jetzt nicht schaden.

4

„L eandra! Aufwachen!“ Verschlafen blinzelte sie in die schmerzhafte Helligkeit vor ihren Augen.

Jemand schwenkte eine verdammte Blendlaterne vor ihrem Gesicht. Sie schob das Licht mit der flachen Hand beiseite und rieb sich die Augen. Wer auch immer das war, stellte die Laterne auf den Nachttisch und zog ihre Decke weg. Grummelnd richtete sie sich auf, wobei sie versuchte, die Decke zumindest über die nackten Beine zurückzuziehen. Der Störenfried umklammerte das feine, mit Seidensatin überzogene Federbett allerdings, als gelte es, einen Schatz zu beschützen.

„Wer bist du?“ Im selben Moment wurde ihr die Antwort schon fast klar. Der junge, muskelbepackte Bursche grinste sie nämlich derart reuelos an, dass über seine Art keine Frage offenbleiben konnte.

„Du bist einer der Gargoyles von Zafidas Haus, oder?“ Der Bursche nickte grunzend.

„Und was willst du jetzt von mir?“

„Du kommen mit. Herr Ragnan sucht dich. Schickt Kobalt und Glimmer, dich zu holen.“

„Kobalt und Glimmer? So nennt man euch?“ Erst jetzt entdeckte Leandra Kobalts Freund oder Bruder unter einem der großen Deckenfenster, wo er die bunten Scheiben bewunderte. Allerdings war die Dämmerung bereits hereingebrochen und das Farbspiel daher recht unscheinbar. Die beiden nickten im Gleichtakt. Es stand zu vermuten, dass die Minerale, nach denen sie benannt worden waren, Bestandteil des Gesteins waren, aus dem sie erwachsen waren. Und sie waren eindeutig Brüder.

„Und ihr sollt mich hier abholen.“ Wieder nickten die beiden gleichzeitig.

„Herr Ragnan ruft. Folgen musst.“ Ah ja. Daher wehte der Wind. Die Dämonie verlangte nach ihr. Denn nichts anders war der gelobte Herr. Ein Dämon allererster Güte. Mit flammenden Blicken und dunklen Neigungen par eczellence.

„Also gut. Würdet ihr bitte unten warten?“ Leandra knöpfte demonstrativ Cerns Hemd auf und hatte sich nicht getäuscht. Die Gargoylezwillinge, denn solche waren es, erröteten und rannten die Treppe beinahe hinab. In einigen Jahrhunderten würden sie die Blicke nicht mehr abwenden, wenn sich ein weibliches Wesen entblätterte. Schmunzelnd suchte Leandra ihre Sachen zusammen. In ihrer Tasche fand sie sogar noch frische Unterwäsche. Es war wirklich an der Zeit, mal wieder nach Hause zu gehen. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob dieses überhaupt noch existent war. Oder nur eine verlassene Ruine. Sie selber war drei Jahre unterwegs gewesen und wie lange ihr Vater nicht mehr in der Villa gewesen war, ließ sich nur vermuten. Seufzend zog Leandra die Stiefel über. Sie würde nachschauen müssen. Aber vorher verlangte eben Ragnan nach ihrer Anwesenheit.

Der Herr des Nachtclubs saß an seinem gewaltigen Schreibtisch, dessen Oberfläche mattschwarz schimmerte. Die Platte schien aus feinstem Onyx geschnitten zu sein. Die Schlichtheit des Entwurfs war eindeutig auf die Einflüsse des derzeit in Mode kommenden Stils des Weimarer Bauhauses zurückzuführen. Aber waren die nicht umgezogen? Leandra runzelte die Stirn. Ja, so war es. Die Kunstgewerbeschule hatte ihr neues Domizil in Dessau. Also musste es wohl nun Dessauer Bauhaus heißen.

Sie sah sich unter Ragnans funkelnden Blicken genauer um. Der Herr des Clubs saß auf einem zum Tisch passenden Lehnstuhl und in der Fensternische fand sich ein Ensemble dieser neumodischen, quadratisch anmutenden Gropiussessel.

„Ich wusste gar nicht, dass es die auch als Sofa gibt?“ Denn ein Zweisitzer stand auch dabei.

„Gibt es, aber nicht so häufig. Der Meister persönlich hat mir eins davon beschafft. Wie gefällt dir meine Einrichtung?“ Gar nicht, aber das würde sie ihm gegenüber nicht gestehen. Denn nichts anderes als ihre Ablehnung wollte er hören. Leandra trauerte nach wie vor dem Jugendstil mit seiner bezaubernden floralen Formensprache hinterher. Und der Mistkerl wusste das ganz genau.

Sie war eine Waldelfe. Hallo? Was sollte eine wie sie mit diesen harten Kanten und klaren Formen anfangen?

„Du hast mich gewiss nicht rufen lassen, damit ich dein Kontor bewundere. Also. Was ist so wichtig, dass du mich ausgerechnet durch Kobalt und Glimmer holen lässt?“ Ragnan grinste so breit es sein Gesicht zuließ.

„Gefallen dir die beiden? Ich finde sie wunderbar. So unschuldig und tollpatschig in ihrem Drang, zu gefallen. Und gleichzeitig so unberechenbar pubertär in ihren Launen. Einfach teuflisch gut.“ Ragnan hob einen fein geschliffenen Cognacschwenker an die Nase, ließ den bernsteinfarbenen Tropfen kreisen und atmete tief ein. Noch bevor er einen Schluck nahm, bedeutete er Leandra, sich doch selber zu bedienen. So unhöflich dieses Gebaren einem anderen Gast gegenüber wohl gewesen wäre, so wusste sie es zu schätzen. Als Waldelfe trug sie eine tiefe Abneigung dem leichten Brandgeruch gegenüber, der immer an den Angehörigen seines Volkes haftete. Er erinnerte jeden Waldelf an ausufernde Brände ihrer Wälder und dadurch sterbende Bäume. Leandra entschied sich für einen dunkelbraunen Kräuterlikör und eine Waldmeisterlimonade. Als sie ihren Platz vor Ragnans Schreibtisch eingenommen und den ersten Schluck getrunken hatte, wich jegliche Leichtigkeit aus dessen Zügen.

„Es gibt neue Nachrichten von Leander. Dein alter Herr steckt ziemlich tief im Morast.“ Er reichte Leandra ein Blatt Papier mit den typischen Zeichen eines ausgeschriebenen Morsecodes darauf. Sie überflog die Zeilen. Das war wieder einmal typisch für ihren Vater.

„Und du bist dir sicher, dass das so stimmt? Klingt ja schon ziemlich weit hergeholt, oder?“

„Wenn wir es genau wüssten, dann würde längst die diplomatische Herde beider Welten auf den Kram losgelassen worden sein. Aber die Herren vermuten nur, dass es so sein könnte. Es gibt Gerüchte. Und eben die Vermutung, dass dein Vater da mitten drin steckt. Bislang bezog sich das Geflüster auf Drachen, welche die Sowjets angeblich ausbilden sollen. Aber nun scheinen sie nicht mal vor den Wesen der Meere Halt zu machen. Wenn die Nachricht stimmt, ist Leander nach Kamtschatka unterwegs, wo er angeblich eine geheime Station lokalisiert haben will. Und unterwegs scheint er aufgeflogen zu sein. So genau lässt sich nicht sagen, was mit ihm geschehen ist. Du weißt ja, auch unter den Geheimagenten bleibt das meiste geheim. Und die europäische Dämonie steht mit den Abaasy in Sibirien nicht gerade auf freundschaftlichem Fuß. Die kreiden uns doch glatt an, dass wir uns ein wenig an die Normwelt anpassen.“ Ragnan verdrehte theatralisch die Augen, was Leandra als genau passend empfand.

„Und nun fragen sich die Räte, ob es nicht einfacher ist, die Tochter den Vater suchen zu lassen?“ Ragnan gluckste in sein Glas.

„Aber nicht doch. Sie befehlen es.“ Das hätte Leandra sich auch denken können. Anstatt ihr diesen Befahl direkt zuzustellen, nahm man den Umweg über den Dämon. Feiges Pack. Aber Leandra konnte die Räte schon ganz gut verstehen. Ein offizieller Befehl hätte Fragen aufgeworfen, die besser im Dunklen blieben.

Immerhin wollte niemand, dass die Öffentlichkeit der paranormalen Welt herausfand, was sie in den letzten Jahren so alles getan hatte. Leandra griff nach der Mappe, die Ragnan ihr reichte und schlug den darin liegenden Hefter auf. Sie überflog die erste Seite.

„Also gehe ich ab heute auf Drachenjagd in Sibirien.“ Leandra stöhnte die Worte mehr, als sie sie sagte. Musste das wirklich sein? Warum immer sie? Manchmal könnte sie Leander, so sehr sie ihn auch liebte, den Hals rumdrehen. Sie war eine Waldelfe, ja. Aber diese schrecklichen Wälder mit den Millionen Mücken und den Birken überall mochte sie einfach nicht. Davon abgesehen war die dortige Elfengemeinschaft ein eigenartiges Trüppchen. Wenn auch ein beneidenswertes. Lebten die meisten von ihnen doch als geachtete Wesen in den Dörfern, auf deren Kenntnisse von Natur und Heilung man gern zurückgriff. Das ließen sie allerdings auch fremde Elfen deutlich spüren. Nur selten wurden Fremde ihrer Art mit offenen Armen empfangen. Aber es half nichts, zu klagen. Leander musste aus dem Sumpf, in den er sich offenbar manövriert hatte, gezogen werden. Am besten schön langsam und an den Haaren, damit sich die ganze Reise auch lohnte.

„Dann werde ich mich mal auf den Weg machen. Weißt du, wann Vater zuletzt in unserem Haus war?“ Ragnan schüttelte den Kopf.

„Wenn ich mich recht erinnere, vor der Jahrhundertwende, also weit vor dir. Aber vielleicht war er zwischenzeitlich auch dort und hat nur keinen Kontakt zur Gemeinschaft gesucht?“

„Dann schau ich also doch erst nach, ob ich in der Villa was finde, bevor ich aufbreche. Es könnte ja sein, dass er etwas für Notfälle zurückgelassen hat.“ Bevorzugt ein Zettel mit Adresse und Wegbeschreibung. Ragnan lachte dumpf auf und Leandra verstand ihn nur zu gut.

„Hüte deine Zunge, Dämon. Ein Mädchen wird doch wohl noch träumen dürfen.“

Wenn der Traum auch wahrhaft utopisch war.

5

Natürlich stand die Luft in der alten Villa, die ein Buchenwäldchen um sich geschart hatte, bestimmt schon seit den drei Jahren, die Leandra abwesend gewesen war, unbewegt. Sie riss die verzogenen Fensterflügel auf und lud den lauen Wind ein, hereinzukommen. Das Gebäude, welches ihr Vater in der späten Barockzeit errichtet hatte, ächzte dankbar auf. Die Wände schüttelten sich und ließen altes Laub zu Boden rieseln. Die braunen, knisternden Buchenblätter wisperten Worte des Dankes, bevor der Wind diese erfasste und nach draußen trieb. Die aus hauchfeinen Grashalmen gewobene Tischdecke auf dem massiven, klauenfüßigen Esstisch hob sich, schickte eine Staubschicht zum Wind und legte sich zufrieden seufzend zurück auf das tiefbraun gebeizte Holz. Leandra blieb der Mund offenstehen, als sie das neue Muster im Gewebe entdeckte. Dieser raffinierte Mistkerl war natürlich im Haus gewesen. Leander war doch ein unerreichter Meister der Verschleierung.

Die Nachricht auf der Tischdecke war in einer uralten, seit Jahrhunderten nicht mehr gebräuchlichen Schrift verfasst. Und auch nur ein verschwindend geringer Teil der entsprechend alten Wesen der paranormalen Gesellschaft hatte diese auch nur im Ansatz lesen gelernt.

Jeder andere hätte die verschlungenen Zeichen für ein besonders hässliches Muster in der Webarbeit gehalten. Ein sehr filigranes Muster mit vielen Wiederholungen und komischen Schnörkeln, aber eben auch nicht mehr. Leander Buchenblatt hatte sich doch wahrlich wieder einmal in die allertiefsten politischen Abgründe hineinziehen lassen.

Das sah ihm ähnlich. Leandras Vater konnte es nicht aufregend genug sein. Der alte Waldelf langweilte sich furchtbar schnell und wurde ebenso schnell unleidlich, wenn er keine Aufgabe hatte. Also fiel er immer wieder auf die Verlockungen der Geheimdienste herein, deren Aufgaben für ihn immer neue Herausforderungen boten.

Dieses Mal war es eben die Suche nach militärisch genutzten Drachen und zur Zwangsarbeit gezwungenen Delfinen. Zuletzt hatte er im Auftrag des deutschen Kaisers Falschmünzer durch Afrika gejagt, davor waren es Drogenschmuggler gewesen, die Schlafmohn am Fiskus vorbei eingeführt hatten.

Also waren Ragnans Informationen richtig. Die eingewebten Worte bestätigten alles, was auf den Papierbögen in dem Hefter stand, der nun ganz unten in ihrer Tasche lag.

Leander steckte irgendwo hinter dem Ural fest. Wenn Leandra Glück hatte, war er noch nicht bis Kamtschatka gekommen, sodass sie nicht das gesamte Riesenreich zu durchkämmen gezwungen wäre.

Sie legte einen der großen Bögen Zeichenpapier aus dem Fach unter dem übergroßen Schreibtisch Leanders auf den Tisch und pauste mit einem weichen Graphitstift den Text ab. So konnte sie ihn in Ruhe noch einmal lesen, auch wenn sie nicht mehr im Haus war. Einige Punkte waren Leandra nämlich noch lange nicht klar. Nur, dass Leander tief im Drachenmist steckte. Oder der Delfinkacke.

Mit einem Fingerwisch sorgte Leandra dafür, dass das Haus sich endgültig reinigte und der restliche Schmutz der vergangenen Jahre aus den Fenstern flog.

Sie wandte sich der knarzenden Treppe aus gewachsenen und fein gehobelten, mit Bienenwachs überzogenen, Eichenwurzeln zu und zog sich in ihre Räume zurück. Das helle Grün eines Buchenwaldes im Mai umfing sie wohltuend, kaum, dass sie durch die Tür getreten war. Leandra ließ sich auf ihr schon ewig nicht mehr benutztes Himmelbett fallen. Die zarten, hellbraunen Seidenvorhänge wehten in der leichten Brise, die durch das weit geöffnete Fenster eindrang. Sie atmete tief ein und ließ die Luft langsam durch den Mund ausströmen. Das hier war Zuhause.