Dallmayr. Das Erbe einer Dynastie - Lisa Graf - E-Book

Dallmayr. Das Erbe einer Dynastie E-Book

Lisa Graf

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Beschreibung

So genussvoll wie der Duft von frisch gebrühtem Kaffee am Morgen

München 1933: Eine eigene Kaffeemischung für das Hause Dallmayr – für Lotte Randlkofer sieht so die Zukunft aus. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als dass die Räume des Delikatessenhauses in der Dienerstraße erfüllt werden von dem Aroma der feinen Bohnen, die über die Weltmeere schon längst den Weg nach Hamburg und Bremen finden. Nun sollen sie ihren Zauber auch in München entfalten. Denn was könnte die erlesenen Pralinen aus Frankreich und der Schweiz, die im Mund wie zarte Butter zergehen, besser begleiten als der nussige Geschmack von Kaffee? Lotte ist überzeugt, genau das hätte sich ihre Schwiegermutter Therese Randlkofer für die Zukunft des Dallmayr gewünscht. Doch während Lotte wagemutig das große Erbe der Matriarchin antritt, beginnt der Schrecken von Deutschland Besitz zu ergreifen.

Akribisch recherchiert und mitreißend geschrieben – der Abschluss einer unvergesslichen Familiensaga rund um den Feinkostladen Dallmayr. Ein liebevoll gestaltetes Paperback vollendet dieses Lesevergnügen!

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Seitenzahl: 632

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Lisa Graf ist in Passau geboren. Nach Stationen in München und Südspanien schlägt sie gerade Wurzeln im Berchtesgadener Land. Als Hobbybäckerin hat sie eine Schwäche für Trüffelpralinen und liebt Zitronensorbet mit Champagner. Mit ihrem grandiosen Familiensaga-Auftakt Dallmayr. Der Traum vom schönen Leben eroberte sie sowohl die Herzen ihrer Leserinnen und Leser als auch die Bestsellerliste. Mit dem zweiten Band der Reihe Dallmayr. Der Glanz einer neuen Ära schaffte es Lisa Graf innerhalb kürzester Zeit an die Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste. Nun erscheint der mit Spannung erwartete dritte Teil ihrer Reihe, der die aufregende Familiengeschichte rund um den Feinkostladen Dallmayr weitererzählt.

LISA GRAF

DALLMAYR

Das Erbe einer Dynastie

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dies ist ein historischer Roman. Er basiert auf der Unternehmensgeschichte des Hauses Dallmayr. Zahlreiche tatsächliche Abläufe und handelnde Personen sind jedoch so verändert und ergänzt, dass Fakten und Fiktion eine untrennbare künstlerische Einheit bilden.

Eine Zusammenarbeit mit dem Haus Dallmayr gab es nicht, insbesondere besteht keine wie auch immer geartete Lizenzbeziehung. Die Verwendung des Firmennamens erfolgt also ausschließlich aus beschreibenden und nicht aus markenmäßig-kennzeichnenden Gründen.

Copyright © 2023 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lisa Wolf

Umschlaggestaltung: bürosüd

Umschlagabbildungen: Arcangle Images / Abigail Miles,

Arcangel Images / Ildiko Neer, Trevillion, www.buerosued.de

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27020-9V001

www.penguin-verlag.de

»Wenn mir ein Schmerz widerfahren ist, fasst mich immer ein doppeltes Verlangen nach Leben – nie eigentlich Resignation.«

Fanny Gräfin zu Reventlow (1871–1918)

1933

»Lotte? Lotte!«

Lotte hörte Pauls Rufe zuerst gar nicht, so intensiv war sie damit beschäftigt, einer Kundin zu erklären, wie man am besten mit einer weißen Albatrüffel umging. Sie müsse sie ganz fein hobeln und keine Späne dabei vergeuden, erklärte sie Frau Kommerzienrat Schülein, die ihre Nase so dicht an der wertvollen Knolle hatte, als wolle sie ihren Duft inhalieren.

Doch nun hob die Kundin mit dem altmodisch großen Hut den Kopf und bemerkte: »Kann es sein, dass Ihr Mann Sie sucht?«

In dem Moment, als Lotte Paul mit den beiden Koffern im Laden stehen sah, bemerkte sie auch den schwarzen Mercedes draußen vor der Tür. Jetzt hatte sie ganz die Zeit vergessen! War es wirklich schon so spät? Als Paul sie endlich entdeckte, bemerkte sie auch die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen, die bevorstehenden Ärger ankündigte.

»Ich komme!«, rief sie zu ihm hinüber.

»Das Taxi wartet, meine Liebe«, rief er zurück und stellte die beiden Koffer an der Tür ab, »aber die Eisenbahn ist nicht so galant. Die fährt stur nach Fahrplan und nimmt keine Rücksicht auf meine Gattin.«

Lotte wollte sich loseisen und winkte einer Verkäuferin, die sich um Frau Schülein kümmern sollte.

»Mein Mann mag aber keinen Reis«, wandte die Kundin beleidigt ein, als Lotte sich von ihr abwandte.

»Wollen Sie es nicht wenigstens probieren? Es handelt sich immerhin um ein feines Risotto mit Trüffel?« Lotte wandte sich noch einmal zu der Dame um. »Sonst bereiten Sie ihm einen Kartoffelbrei zu und hobeln ein paar feine Späne der weißen Alba darüber. Aber machen Sie ihn darauf aufmerksam, dass er eine Delikatesse vor sich hat. Nicht dass er noch denkt, das wären Kartoffelschalen oder anderer Unrat. Ich muss mich nun leider von Ihnen verabschieden.«

»Wo geht es denn hin?«, rief die Kundin ihr noch hinterher.

»In den hohen Norden«, antwortete Lotte, »nach Bremen und Bremerhaven.« Eine Erwiderung hörte sie nicht mehr, denn Paul stand schon mit ihrem Mantel bereit, aber Lotte schüttelte den Kopf. Sie würde sich doch nicht mit ihrem schwarzen Alltagsmantel auf die Reise begeben, den sie schon das zweite oder dritte Jahr trug. »Bin gleich da«, sagte sie zu ihm und lief die Treppe hinauf in die Garderobe, »nur noch schnell frisch machen und den passenden Mantel holen.«

»Lotte, bitte!«, hörte sie ihren Mann hinter sich flehen, aber es half nichts. Paul neigte zur Überpünktlichkeit und war lieber eine Stunde zu früh am Zug. Sie mochte jetzt nicht nachrechnen, wie viel Zeit ihr noch blieb. Sie hatte ja alles schon hinter den Schranktüren der Garderobe zurechtgelegt.

Sie öffnete die Türen, nahm den feinen grünen Wollmantel mit der neuen schmalen Silhouette und den gepolsterten Schultern heraus und schlüpfte hinein, legte sich den Fuchspelz um die Schultern, der wunderbar mit ihren roten Haaren harmonierte. Die Krönung war der neue Hut, eigentlich eine Kappe aus graugrünem Filz mit einer schwarzen Samtgarnitur am Hinterkopf und einem etwas gewagten Federgesteck. Wenn sie so durch den Laden spazierte, würde sie Aufsehen erregen. Aber den teuren Hut in der Hand tragen, wie würde das denn aussehen? Also aufgesetzt, die schulterlangen Haare darum herum drapiert, ein letzter Blick in den Spiegel, und los. Die neuen Spangenschuhe waren schon im Koffer verstaut, für die lange Fahrt mussten es die bereits getragenen Schuhe tun, die auch nach einem langen Tag im Geschäft noch bequem waren.

Als sie so neu eingekleidet die Treppe herunterkam und durch den Laden ging, wurde es tatsächlich kurz still. Wenn es ein anderes, gewöhnlicheres Geschäft als ihr distinguierter Dallmayr gewesen wäre, hätte vielleicht jemand von den Männern gepfiffen. So bemühten sich Kunden, Kundinnen wie Angestellte, nicht zu auffällig zu starren, und doch schielten sie alle nach der eleganten Chefin. Paul hatte die Koffer schon ins Taxi befördert und hielt ihr die Tür auf. Seine Falte zwischen den Brauen war verschwunden, in seinem Blick die reine Bewunderung.

»Madame«, sagte er grinsend und verbeugte sich, »jetzt aber los.«

»Wo ist denn Gregor?«, fiel es Lotte plötzlich ein, »er wollte doch auch mit zum Bahnhof.«

»Wollte er«, antwortete Paul, »aber unser Herr Sohn ist einfach nicht aus seinem warmen Bett gekommen. Er lässt dich herzlich grüßen und wünscht uns eine gute Reise.«

»Und die Schülein ist versorgt?«, erkundigte sich Lotte.

»Fräulein Baumer hat sich um sie gekümmert und ihr noch mal alles erklärt. Du kannst beruhigt sein. Sie hat mich gefragt, ob wir Seeluft schnuppern wollen oben im Norden.«

»Und was hast du ihr geantwortet?«

»Eher Kaffeeduft, habe ich gesagt. Und dass wir vielleicht bald unseren eigenen Kaffee rösten werden in München, echten Dallmayr-Kaffee. Ich glaube, sie dachte, ich nehme sie auf den Arm.«

Lotte schüttelte leicht den Kopf. »Dass du hier Firmengeheimnisse ausplauderst, wundert mich aber. Über ungelegte Eier spricht man nicht, hat deine Mutter uns eingetrichtert. Erinnerst du dich nicht mehr?«

»Ha! Und ob ich mich erinnere«, rief Paul. Das Taxi fuhr durch die Neuhauser Straße, an deren Ende schon das Neuhauser Tor und dahinter der Stachus zu sehen waren. »Therese war die schlimmste Geheimniskrämerin, die mir in meinem Leben je begegnet ist. Was hat das immer für Ärger gegeben, wenn wir ihr wieder bei irgendeiner ihrer heimlichen Planungen auf die Schliche gekommen sind. Weißt du noch?«

»Natürlich! Was hat Hermann sich immer aufgeregt, richtig wütend ist er geworden, und es hat ewig gedauert, bis er sich wieder mit deiner Mutter versöhnt hat.«

»Und was hat sie uns hinterlassen?«, fragte Paul, als das Taxi am Stachus scharf abbremste, um einer kreischenden Trambahn die Vorfahrt zu gewähren. »Den Goldachhof, auf dem mein Bruder mit seiner Familie seit Jahrzehnten gern lebt und als Gutsherr schaltet und waltet.«

»Und unser herrliches Geschäft in der Dienerstraße, das prächtige Haus mit der gelben Fassade und den eleganten halbrunden Schaufenstern. Ach, ich vermisse es jetzt schon!«, seufzte Lotte. »Therese hat ihre Häuser gut bestellt.«

»Und wir mühen uns redlich, alles zu erhalten und wenn möglich zu mehren«, sagte Paul. »So wie sich das gehört. Aber weißt du, was noch schöner ist?«

Lotte sah ihn erwartungsvoll an.

»Dass wir jetzt zusammen verreisen. Ich bin ja froh, dass du mich überhaupt an deiner Seite duldest.«

»Wieso?«, fragte Lotte.

»Du siehst aus wie eine Londoner, nein, Pariser Madame, so schick und mondän. Ich kann mich gar nicht sattsehen an dir.« Er strich mit dem Handrücken über Lottes Fuchspelz. »Darf ich dich überhaupt noch küssen?«

»Aber bitte sehr«, antwortete Lotte und hielt ihren Hut fest, als sie sich vorbeugte und den Kuss ihres Mannes erwartete.

Erst als Lotte aus dem Taxi stieg, merkte sie, wie kalt der frostige Januarmorgen war. Selbst nachdem sie sich durch die Taxischlange in die Empfangshalle im Münchner Hauptbahnhof gedrängt hatten, war die Luft noch so kalt, dass sie wie alle anderen Reisenden um diese Zeit mit kleinen Nebelschleiern vor dem Mund herumlief. An einer Seite der Schalterhalle wartete schon der Rest der Familie auf sie. Hermann war so etwas wie der Leithammel, und er schien sehr aufgeregt. Dabei verreiste er gar nicht selbst, dachte Lotte. Er begleitete nur seine Frau zum Zug. Johanna war natürlich auch gekommen, um sich von ihrer Mutter zu verabschieden. Wie alt war sie jetzt, überlegte Lotte, und betrachtete die sportliche junge Dame. Fünfundzwanzig? Sie trug einen karierten Mantel, unter dem der Saum ihres schlichten Rocks hervorblitzte. Johanna war berufstätig, praktisch, zupackend, natürlich. Ein Mädel vom Land. Eleganz war kein Thema für sie. Trotzdem war sie es, die zur Begrüßung sagte: »Tante Lotte, du siehst aus wie eines der Modelle aus den Modejournalen.« Und als sei das nicht ganz eindeutig, ergänzte Sonia, ihre Mutter: »Fantastisch, Lotte! Deinen Geschmack und dein Händchen für hübsche Kleider hätte ich auch gern.«

Lotte fühlte sich geschmeichelt, aber dann sah sie sich suchend um. »Wo ist denn Johann? Hat er etwa auch verschlafen wie unser Gregor?«, fragte sie.

»Ach, unser Herr Sohn«, antwortete Hermann missmutig, »der kommt wie üblich entweder in letzter Minute oder gar nicht. Wär auch nicht das erste Mal.«

»Ach was«, wiegelte Sonia ab, »Johann taucht sicher noch auf, ihr werdet schon sehen. Er ist bestimmt schon seit dem frühen Morgen unterwegs.«

Hermann blieb skeptisch. »Dass euer Junge verschlafen hat, ist ja nicht so schlimm. Ihr bleibt ja auch nicht ewig in Bremen. Aber Sonia hat eine lange und vielleicht auch gefährliche Schiffsreise auf die Kanaren vor sich, da könnte man als Sohn schon einmal antanzen und Adieu sagen.«

»Ich bleibe aber auch nicht ewig«, bemühte sich Sonia wieder um Ausgleich. »Du tust ja, als käme ich gar nicht wieder.«

»Tja, weiß man’s?«, fragte Hermann.

»Jetzt hör aber auf mit deiner Schwarzmalerei, Papa«, ging Johanna dazwischen. »Bestimmt ist Johann etwas Wichtiges dazwischengekommen. Und jetzt los, sonst verpasst ihr alle noch den Zug und Mama ihr Schiff.«

Sie liefen zusammen mit vielen anderen Reisenden und Ausflüglern auf die Gleishalle zu.

»Was macht ihr eigentlich in Bremen?«, fragte Johanna.

»Wir werden uns in der Stadt ein wenig umsehen«, antwortete Paul.

»Ich habe gehört, ihr wollt ins Kaffeegeschäft einsteigen«, sagte Sonia. »Aber verkauft ihr nicht schon lange Kaffee?«

»Natürlich! Aber wir wollen unter die Kaffeeröster gehen und in Zukunft unsere eigenen Mischungen herstellen«, sagte Paul.

»Hier, in München?«, fragte Johanna. Paul nickte. Dann sah sie ihren Vater an. »Hast du das gewusst, Papa?«

»Ja, natürlich«, antwortete Hermann.

»Und wieso hast du gar nichts davon erzählt?«, fragte Johanna.

»Das muss ich wohl in der ganzen Aufregung um die anstehende Reise vergessen haben«, gestand ihr Vater.

»Vergessen?« Jetzt schüttelte Johanna den Kopf. »Und wer soll das machen, ich meine, gibt es jemanden in der Firma, der das kann?«, wandte sie sich wieder Lotte und Paul zu.

»Eben nicht«, antwortete Lotte. »Deshalb fahren wir auch in den Norden. Dort sitzen nämlich die Spezialisten, die sich damit auskennen.«

»Dann wünsche ich euch viel Erfolg!«, sagte Johanna. »Kaffeespezialist für München gesucht, wenn das mal gut geht.« Sie kamen an die Sperre vor der Gleishalle, und Hermann löste die Bahnsteigkarten. Er sah sich immer wieder um.

»Er wird schon noch kommen, Papa, wirst sehen!«, beruhigte ihn seine Tochter.

Wie die Spitze eines Pfeils führte Hermann den kleinen Pulk an, als sei er der Einzige, der wüsste, von welchem Gleis der Zug nach Bremen abfahren würde. Er hatte es abgelehnt, seine Frau auf die Kanaren zu begleiten. Einer musste doch draußen auf dem Goldachhof bleiben, um nach dem Rechten zu sehen, behauptete er. Aber Paul nahm an, dass sein Bruder sich auch nicht gesund genug fühlte für so eine weite Reise. Hin und wieder bereitete ihm das Herz Probleme, und er musste sich öfter ausruhen als früher. Lotte gegenüber hatte er das mit seinem Alter begründet. Mit seinen fast sechzig Jahren war er nun mal kein junger Mann mehr. Aber auch kein wirklich alter, hatte Lotte gedacht.

Johanna stellte sich auf die Zehenspitzen und sah sich in der Gleishalle um, wo der Dampf der Lokomotiven unter dem Glasdach hing und die Menschen zu ihren Zügen eilten. Samstagmorgen, wo wollten all diese Leute auf dem Bahnhof denn nur hin?, dachte Lotte. Viele hatten Rucksäcke umgeschnallt, einige trugen Skier auf den Schultern. Ihr Ziel waren vermutlich die Berge rund um den Tegernsee und den Schliersee im Süden von München.

»Da, schaut doch!«, rief Johanna plötzlich. »Ist er das nicht?«

»Wer?«, fragte Lotte.

»Na, Johann!«

Am anderen Ende der Gleishalle hatte sich eine Traube von Menschen um einen improvisierten Altar aus Kisten versammelt, die mit einem weißen Messtuch verkleidet waren. Dahinter stand ein Priester, flankiert von zwei Messdienern.

»Ist das nicht der verrückte Pater?«, fragte Hermann.

»Wen meinst du?«, fragte Paul, »Pater Mayer von der Bürgersaalkirche? Was macht er denn so früh am Morgen am Hauptbahnhof?«

»Sieht aus, als würde er hier eine Messe halten«, sagte Lotte.

»Davon hat Johann mir erzählt«, schaltete sich Johanna ein. »Pater Mayer sagt, wenn die Leute nicht zu ihm in die Kirche kommen, dann kommt er eben zu ihnen. Und wenn sie am Wochenende mit ihren Skiern in die Berge fahren, dann hält er eben seine Messe am Bahnhof. Damit sie sich nicht damit herausreden können, dass sie schon so früh losmussten.«

Einer der Ministranten, der eben noch vor dem Altar gekniet hatte, stand auf, drehte sich zu ihnen um und fing plötzlich an zu winken. Johanna winkte zurück. Jetzt erkannte auch Lotte ihn, und als sie zu ihrem Schwager sah, bemerkte sie keinerlei Freude in Hermanns Gesicht, sondern Bitterkeit. Lotte konnte sich schon vorstellen, woher sie kam. Es war kein Kaufmann, kein Landwirt, kein Förster aus Johann geworden, wie sein Vater es gern gehabt hätte, sondern ein Mann Gottes. Und obwohl Johanns Entscheidung jetzt schon lange zurücklag, konnte Hermann sich immer noch nicht recht damit abfinden.

»Siehst du«, bemerkte Sonia und griff nach Hermanns Hand. »Ich hab dir doch gesagt, dass er noch kommen und sich von mir verabschieden wird.« Seine Frau hatte gar kein Problem mit der Berufung ihres Sohnes. Sie liebte und akzeptierte ihn so, wie er war. Wie das wohl bei ihr und Paul wäre, wenn Gregor sich für einen ganz anderen als den Kaufmannsberuf entscheiden würde? Ihr Sohn war gerade mal siebzehn und ging noch zur Schule. Da konnte noch alles Mögliche passieren. Aber ein Mann der Kirche, ihr Gregor? Nein, das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Was ihn neben der Schule interessierte, waren seine Segelflugmodelle, die er baute, und seine Flugzeitschrift, ein bisschen Sport. Ein besonders eifriger Kirchgänger war er beileibe nicht.

»Unser Herr Sohn soll sich gefälligst beeilen«, knurrte Hermann. »Sonst sieht er von eurem Zug maximal noch die Schlusslichter, wie sie in Höhe der Hackerbrücke langsam verschwinden.« Aber da eilte Johann schon im flatternden weißen Chorhemd über dem schwarzen Talar an allen Gleisenden vorbei, zwischen Gruppen von Reisenden hindurch, Skiern und Schlitten ausweichend, bis er zu ihnen aufschloss.

»Ist dir nicht kalt, mein Junge?«, fragte Sonia ganz besorgt, als er bei ihnen ankam. »Du hast ja schon ganz rot gefrorene Ohren!«

»Es geht schon, Mutti«, antwortete Johann. »Ich kann ja schlecht mit einer Wollmütze auf dem Kopf ministrieren.« Er umarmte seine zierliche Mutter, die einen ganzen Kopf kleiner war als er. Übermütig hob er sie in die Luft.

»Lässt du mich wohl herunter«, schimpfte Sonia. »Das gehört sich doch nicht für einen Priester.«

»Wer sagt das?«, fragte Johann, der als Nächstes seine Schwester herzte und küsste.

Früher waren die beiden unzertrennlich gewesen, erinnerte Lotte sich. Wie Zwillinge. Heute waren sie beide erwachsen. Doch während Johanna weiter auf dem Goldachhof wohnte, als Tierärztin arbeitete und wohl auch auf dem Land bleiben würde, lebte Johann, dieser bedächtige, altkluge Junge, nun in München.

Die Begrüßung zwischen Vater und Sohn fiel ein wenig unterkühlt aus. Sie gaben sich die Hand, und Hermann klopfte seinem Sohn etwas linkisch auf die Schultern. Es gelang ihm nicht, über seinen Schatten zu springen. Nimm deinen Sohn doch einfach in den Arm, dachte Lotte, die diese Distanz zwischen Vater und Sohn grauenvoll fand.

»Es wird Zeit.« Hermann räusperte sich. »Euer Wagen ist noch ein ganzes Stück weiter vorne im Zug. Nicht, dass ihr noch zu spät kommt.«

Johann hatte jetzt den Arm um seine Mutter gelegt, auf der anderen Seite hängte Johanna sich bei ihm ein. So liefen sie zusammen bis zu der Wagentür, zu der Hermann den ganzen Tross lotste. Als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, zeichnete Johann seiner Mutter mit dem Daumen ein Kreuzzeichen auf die Stirn und segnete sie, mitten auf dem Bahnsteig und unter den dahinhastenden Reisenden, die hektisch nach ihrer Wagennummer suchten. »Benedicat vos …«, hörte Lotte ihren Neffen leise beten.

»Jetzt los, los, einsteigen. Nicht, dass der Zug ohne euch abfährt«, mahnte Hermann.

Umarmungen, Händeschütteln, Hermann hielt seine Frau in den Armen und küsste sie zärtlich.

»Jetzt aber rein mit dir, Sonia«, rief Paul, als sie beide eingestiegen waren.

Der Zugführer mit seinem roten, über die Schulter getragenen Gurt, hatte sich mit dem Signal in der Hand bereits am Bahnsteig in Stellung gebracht. Der Zug war bereit zur Abfahrt. Hermann half seiner Frau beim Einsteigen. Sie winkte noch einmal, dann schloss der Zugführer die Tür hinter ihr. Er hob sein Handsignal, und der Zug setzte sich schnaufend in Bewegung.

»Meine Tasche!«, kreischte Sonia, als sie zu ihnen ans Fenster trat.

Die braune Ledertasche mit den gestreiften Gurten stand einsam und verlassen am Bahnsteig. Johann reagierte blitzschnell, griff nach den Henkeln und rannte mit dem fahrenden Zug mit.

»Köpfe weg!«, rief er, holte Schwung und schleuderte die Tasche durchs offene Fenster. Als sie sich wieder aufrichteten, waren sie vom Dampf der Lokomotive ganz eingehüllt. Das Stampfen der Räder, ein lang gezogener Pfiff, dann hatte ihr Zug den Bahnhof verlassen. Paul schloss das Fenster, und Sonia hatte ihr Taschentuch aus dem Ärmel gezogen, um sich schnell, damit sie es nicht sahen, die Augen zu wischen.

So also sah der Norden aus. Lotte stand am Fenster des Hillmanns, eines der besten Hotels in ganz Bremen. Sie sah vom zweiten Stock auf die lebhaft befahrene Straße hinunter. Eine kaum abreißende Kolonne von Droschken und Autobussen transportierte Reisende zum Bahnhof und von dort zurück in die Altstadt. Rechts von ihr lagen die grünen Wallanlagen, die von der früheren Stadtbefestigung übrig geblieben waren und aus denen ein hübscher Park geworden war. Am Vortag hatten sie Sonia nach Bremerhaven zu ihrem Schiff begleitet. Wirklich schade, dass Hermann nicht mitgekommen war. So musste Sonia die weite Reise allein antreten, und es war fraglich, ob Hermann noch einmal die Gelegenheit bekommen würde, die Insel und seine Schwiegereltern wiederzusehen. Er könne den Goldachhof nicht allein lassen, hatte er gesagt. Dabei hatte Johanna angeboten, sich um alles zu kümmern. Zudem lebte auch ein Verwalter auf dem Hof, doch selbst das hatte ihn nicht von seinem Entschluss abbringen können. Sonia hatte Lotte verraten, dass ihr Mann diesen Grund nur vorschob. War es wirklich das Herz, so wie bei seinem Vater? Traute er sich deshalb die weite Reise nicht zu? Vielleicht hatte er auch Angst vor der See, dachte Lotte. In der Familie wurde immer erzählt, Hermann hätte damals, als junger Mann, auf seiner Seereise auf die Kanaren vor Lissabon beinahe Schiffbruch erlitten.

Sonia hatte auf der Reling so zögerlich einen Fuß vor den anderen gesetzt, dass Lotte schon befürchtete, sie könnte auf die Idee kommen, noch einmal umzukehren. Bevor sie dann schließlich doch im Bauch des Schiffes verschwand, hatte sie noch einmal ihr Taschentuch hervorgezogen und ihnen zaghaft zugewunken.

Plötzlich spürte Lotte einen warmen Körper, der sich von hinten an sie schmiegte, und Arme, die sich um ihre Taille legten.

»Was machst du denn hier so weit weg?«, fragte Paul mit einer Stimme, die klang wie die von Gregor, wenn er noch ganz verschlafen am Frühstückstisch erschien. »Es ist doch noch zu früh zum Aufstehen, eigentlich mitten in der Nacht«, murmelte er und zog sie noch näher an sich.

Erst da wurde ihr bewusst, wie kalt es im Zimmer war und dass sie mit nackten Füßen am Fenster stand.

»Mach doch das Fenster zu«, flüsterte er. Dann hob Paul sie hoch und trug sie zum Bett. »Du musst doch frieren wie ein Schneider«, murmelte er.

»Wieso frieren die Schneider eigentlich immer?«, fragte Lotte.

Aber Paul antwortete nur: »Rutsch mal rüber«, und dann spürte sie seine warmen Hände überall auf ihrem Körper, und es dauerte nicht mehr lang, bis ihr auch warm wurde. Sogar an den Füßen.

Als sie nach dem Frühstück durch das Foyer schritten und ein livrierter Page ihnen einen Flügel der hohen Glastüren aufhielt, fühlte Lotte sich für einen Moment wie eine elegante Dame der Bremer Gesellschaft. Unsinn! Sie war eine Münchner Kaufmannsgattin und seit vielen Jahren Geschäftsfrau mit Leib und Seele. Ihre Lehrzeit hatte sie im Dallmayr in der Dienerstraße gehabt. Alles, was sie heute wusste und konnte, hatte sie ihrer Schwiegermutter zu verdanken. Therese war eine hervorragende Lehrmeisterin gewesen. Weniger nachsichtig und liebevoll als streng oder zumindest ernsthaft, und immer ehrgeizig, immer nach vorne schauend, bis ins hohe Alter. Therese hatte Lotte von Anfang an gemocht und respektiert, und die beiden hatten sich auf Anhieb und über all die gemeinsamen Jahre hinweg gut verstanden.

»Träumst du?«, fragte Paul und hakte sie unter. »Wenn wir noch länger hier herumstehen, wird uns noch einer der Portiers hinauskomplimentieren. Wir blockieren den Eingang.«

»Entschuldige«, sagte Lotte und schüttelte ihre roten Locken, die schon mit einigen Silberfäden durchzogen waren. Besonders über dem rechten Ohr gab es eine Strähne, die fast weiß war und die Lotte immer sehr sorgfältig mit Klammern unter dem Deckhaar feststeckte.

»Wovon hast du denn geträumt? Hoffentlich von mir?« Paul zwinkerte ihr zu.

»Ach, ich musste gerade an München und unser Geschäft denken. Wie lange ich jetzt schon dort bin. Und wie alt ich geworden bin.«

»Wer, du? Ach, Lottchen, da mach dir mal keine Sorgen. Du wirst doch mit jedem Tag schöner und weiser.«

Vor allem weißer, dachte Lotte. Als sie Pauls Blick auf sich spürte, versuchte sie, sich durch seine Augen zu sehen. Er konzentrierte sich immer nur auf das Schöne an ihr: die schlanke Taille, das volle Haar, ihre Grübchen, wenn sie lachte. Lotte band den Gürtel ihres grünen Wollmantels enger und schlang den Fuchspelz um ihren Hals, der mit seinem rötlichen Schimmer so gut zu ihrem Haar passte, das unter dem Glockenhut hervorquoll. Sie nahm den Arm ihres Mannes, und die Absätze ihrer knöchelhohen Stiefel klackten auf dem Pflaster, als sie Richtung Altstadt aufbrachen. Keine Taxe, hatten sie beschlossen. Sie wollten doch etwas sehen von dieser Stadt im Norden. Und für eine Stadtrundfahrt im offenen Wagen war es noch zu kalt.

Die Bremer Häuser schienen Lotte eher in die Tiefe als in die Breite gebaut. Sie waren zur Straßenseite hin schmal, und der Eingang befand sich nicht etwa ebenerdig, sondern war über eine Steintreppe erreichbar, während die Fenster des Souterrains noch zur Hälfte auf die Straße reichten. Dort gingen die Dienstboten ein und aus, während die Haupttreppe den Herrschaften vorbehalten war. Manche Häuser hatten Erker, andere einen gläsernen Windfang oder einen Wintergarten. Natürlich waren das vornehme Häuser vermögender Bürger der Hansestadt.

Lotte war schon so gespannt auf die Kaffeeröstereien, die sie sich ansehen wollten. Es war Pauls Idee gewesen, es mit einer eigenen Rösterei zu versuchen und echten, bei Dallmayr gerösteten Bohnenkaffee bester Qualität zu verkaufen. Irgendein weiteres Standbein brauchte die Firma, seit die große Wirtschaftskrise auch das Delikatessengeschäft Dallmayr heftig durchgeschüttelt hatte. Aber ob das tatsächlich eine gute Idee für ihr Geschäft in München war? Eine eigene Rösterei, eine eigene Dallmayr-Mischung oder auch mehrere? Verschiedene Qualitäten zu unterschiedlichen Preisen. Lotte hatte mehr Zweifel als ihr Mann. Es würde eine große Investition bedeuten und damit auch ein echtes Risiko. Würde die Dallmayr-Kundschaft wirklich Kaffee aus München kaufen oder nicht doch lieber den gewohnten Hanseaten-Kaffee aus den Großröstereien in Hamburg und Bremen? Bayerischer Kaffee, konnte das tatsächlich ein gutes Geschäftsmodell werden? Mit Schaudern dachte Lotte an die schweren Zeiten seit dem Einbruch der Weltwirtschaft vor vier Jahren. Es war noch nicht so lange her, und sie spürten die Folgen immer noch. Ob es hier im Norden auch so viele Arbeitslose gab wie in München? Paul hatte in der Hotellobby eine Ausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten entdeckt und ihr die neuesten Zahlen vorgelesen. Von den siebenhunderttausend Einwohnern, die München jetzt hatte, war jeder Siebte Empfänger von Sozialleistungen, die die Stadt Unsummen kosteten: Arbeitslosenunterstützung, Krisenunterstützung, Unterstützung für Wohlfahrtserwerbslose, Dauerbefürsorgte und Sozialrentner, deren Bezüge zum Leben nicht reichten. Dazu kamen noch die Kriegsversehrten. Über hunderttausend Münchner hatten eine Unterstützungskarte in der Tasche und mussten damit sich und ihre Familien durchbringen. Die Zeiten waren schlecht für einen Delikatessenladen. Im Dallmayr ging es heute ganz anders zu als noch zu Thereses Zeiten. Der Krieg hatte den Königshof hinweggefegt. Viele der Bürger, die sich etwas mehr leisten konnten als die breite Masse, hatten bei der Bankenpleite Ende der Zwanzigerjahre ihre Vermögen verloren. Natürlich gab es, wie immer, auch Gewinner, aber für ein erfolgreiches Geschäftsmodell bräuchten sie eine breitere Kundschaft. Sie mussten auf etwas setzen, das nicht nur ein reines Luxusgut war, sondern ein Genussartikel zu erschwinglichen Preisen, der trotzdem ihren Ansprüchen gerecht wurde und auch eine potente Käuferschicht weiterhin ins Geschäft locken würde. Paul war der Meinung, dass er das mit dem Kaffee erreichen konnte, und mit seinen Berechnungen hatte er schließlich auch Lotte überzeugen können. Ein Restzweifel war jedoch geblieben. Wenn die Zeiten wieder schlechter wurden, konnte es sein, dass Bohnenkaffee für die meisten Menschen ein unbezahlbarer Luxus werden würde. Aber man durfte sich als Kaufmann auch nicht von der Angst vor schlechten Zeiten leiten lassen. Etwas Neues anzupacken, war immer auch ein Wagnis. So war es ja auch schon bei Therese gewesen. Und wie sie immer wieder Neues wagte! Hatte der Erfolg ihr nicht immer wieder recht gegeben?

Als sie in die Martinistraße einbogen, zog Paul sie rasch zur Seite. Vier Jungs mit Schiebermütze jagten auf Rollschuhen den Gehsteig entlang.

»Wovon träumst du denn schon wieder, dass du das Rattern der Rollschuhe auf dem Pflaster gar nicht gehört hast?«, fragte Paul.

»Vom Kaffee«, antwortete Lotte. »Jetzt kann ich ihn fast schon riechen, du auch?«

Paul schnupperte. Doch Lotte war sich sicher. Hier roch es nach frisch gerösteten Kaffeebohnen. Sie sah an der Fassade des Nachbarhauses hoch, aus dem der Duft zu kommen schien. Martinistraße 44, ein schmales Haus mit drei Stockwerken und einem hohen Giebel, der über weitere zwei Etagen ging. »Fa. Roselius – Kolonialwaren und Kaffee« stand über dem Eingang.

»Dann sind wir ja genau richtig«, meinte Paul und trat auf die beiden Steinstufen zum Eingang. »Komm.« Er streckte seine Hand nach ihr aus. »Bevor die nächste Rollschuhbande an uns vorübersaust.«

Lotte folgte ihm.

»Und dass du hier nicht mit einem Grüß Gott den Laden betrittst«, warnte ihr Mann sie. »Wir sind schließlich nicht in Bayern.«

»Daran musst ausgerechnet du mich erinnern! Wie du weißt, bin ich in Wiesbaden groß geworden. Und euer Grüß Gott musste ich selbst erst lernen, als ich nach München kam. Ganz leicht geht es mir auch nach fast dreißig Jahren noch nicht über die Lippen. Also mach dir keine Sorgen. Wahrscheinlich rutscht es eher dir heraus als mir.« Sie grinste und trat durch die Ladentür.

»Moin, Moin«, kam es von der Ladentheke, und Lotte wünschte dem Herrn im weißen Kittel sowie seiner Kundschaft, einer älteren Dame, einen guten Tag.

Der Kaffeeduft im Geschäft war so intensiv, dass Lotte am liebsten gleich hier eingezogen wäre. Aus einem Laden wie diesem wollte man doch gar nicht mehr weggehen. Schade, dass es gar keine Sitzgelegenheiten gab, wo man eine schöne Tasse Kaffee hätte genießen können.

»Fiete, kommst du mal?«, rief der Mann am Tresen nach hinten. »Was darf’s denn sein, eine schöne Tasse Kaffee?«

Lotte und Paul nickten.

»Bin gleich da!«, hörten sie eine junge Stimme aus dem Hinterzimmer.

Lotte und Paul sahen sich im Laden um. Der Boden war mit gemusterten Fliesen in Braun und Hellgrün ausgelegt, der Tresen und die wandhohen offenen Regale waren aus dunklem Holz. In Schaukästen mit Glasdeckeln wurden die Trockenfrüchte präsentiert: Aprikosen, Datteln, Pflaumen, Rosinen, Feigen und Apfelringe. Wie eine wertvolle Schmetterlingssammlung, dachte Lotte.

»Wer wird denn nun unser neuer Reichskanzler werden, Herr Kruse?«, hörten sie die Kundin am Tresen fragen. »Mein Neffe meint ja, es könnte doch vielleicht dieser Herr Hitler sein.«

»Tja, das weiß man nicht, für wen der Reichspräsident sich entscheidet«, meinte Herr Kruse. »Eine Mehrheit bekommt ja wohl keiner von denen. Was für ein schreckliches Kuddelmuddel dort in Berlin.«

»In Potsdam sind sie, heißt es«, sagte die ältere Dame. »Und heute soll die Entscheidung verkündet werden. Wenn Sie jetzt so einen neumodischen Radioapparat in Ihrem Laden stehen hätten, dann wüssten wir vielleicht schon, wer uns demnächst regieren wird.«

»Moin, Frau Ahlers.« Mit einem Schwall herrlichen Kaffeearomas kam ein blonder junger Mann hinter dem Vorhang hervor, der die Rösterei vom Laden abtrennte. Blitzblaue Augen, ein Haarwirbel an der Stelle, wo der Seitenscheitel ansetzte, und etwas abstehende Ohren. »Ich hätte auch gern so einen Apparat im Laden«, sagte der junge Mann. »Aber nicht wegen der Politik.«

»Weshalb denn?«, fragte Herr Kruse. »Über Kaffeebohnen wirst du dort nichts erfahren. Und das ist doch sowieso das Einzige, was dich interessiert, Fiete.«

Fiete grinste. »Was Sie von mir denken, Chef. Wegen der Musik natürlich. Ich habe gehört, sie senden nicht nur Klassik im Rundfunk, sondern auch Unterhaltungsmusik bis in die Wohnzimmer. Und das hätte ich auch zu gern.«

»Du und Unterhaltungsmusik!«, widersprach Kruse. »Du hängst doch sowieso Tag und Nacht nur über deiner Röstmaschine und deinen Spezialmischungen.«

»Was darf es sein, die Herrschaften?«, wandte Fiete sich endlich an die wartende Kundschaft.

»Guten Tag, wir kommen vom Feinkosthaus Dallmayr in München«, sagte Paul. »Und wir haben vor, eine eigene Kaffeeabteilung aufzubauen. Könnten Sie uns da beraten oder vielleicht Herr Roselius selbst?«

»Herr Roselius ist immerzu beschäftigt«, warf Herr Kruse ein. »Wenn nicht mit seinen Kaffeeexperimenten in der Firma, dann mit seiner Kunstsammlung. Aber nach dem Chef selbst finden Sie keinen besseren Experten als unseren Fiete Wünsche hier. Noch nicht ganz ausgelernt, weiß er doch schon mehr als wir alle zusammen. Zumindest über Kaffee.«

»Er erinnert mich so an unseren Ludwig«, flüsterte Paul, als sie Fiete folgten.

»An den Chocolatier in Frankreich?«, fragte Lotte.

Paul nickte. »Er kam als Lehrling zu uns, als ich zwölf oder dreizehn war.«

»Der sich dann unglücklich in Balbina verliebt hat?« Sie kannte die Geschichte, auch wenn das vor ihrer Zeit in München passiert war.

»Wie lange das jetzt schon her ist«, überlegte Paul. »Ich sehe ihn vor mir, als wär’s gestern gewesen. Er ist diesem Fiete so ähnlich.«

Fiete zeigte ihnen seine Werkstatt, die etwas von einem chemischen Labor hatte. Schütten mit verschiedenen Sorten von Kaffeebohnen – größeren, kleineren, runzeligeren und glatteren, helleren und dunkleren. Er hatte jede Schütte ordentlich mit der Sorte und dem Herkunftsland beschriftet: Arabica, Robusta, Brasilien, Peru, Ecuador … Fiete experimentierte mit Röstpfannen, Töpfen und einer beheizbaren Trommel, die mit einer Handkurbel gedreht wurde.

»Alles Handarbeit hier«, bemerkte Paul. »Und was ist das da?« Er deutete auf eine Art Versuchsanordnung, wo in mehreren kleinen Schälchen Kaffeebohnen zusammensortiert waren.

»Das sind meine Spezialmischungen. Meine besten Sorten, wenn Sie so wollen.«

»Und was wäre denn so Ihre Tagesempfehlung für uns, zum Probieren?«, fragte Lotte.

»Was darf’s denn sein für die Dame, eher mild oder eher kräftig?«

»Mild, aber mit vollem Aroma, würde ich sagen.«

»Dann probieren Sie doch am besten einmal diese Arabica-Mischung aus dem mexikanischen Hochland. Sehr harmonisch in der Tasse. Ein echter Frauenkaffee«, behauptete Fiete.

»So? Und davon verstehen Sie etwas?«, fragte Lotte.

»Nun, ich gebe nur das wieder, was die Damen mir berichten.«

»Und die Männer mögen es stärker?«

»Männer mögen eher die volle, kräftige Tasse.«

»Weil sie nicht so sensibel sind wie wir Frauen.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Fiete. »Ich kenne mich bisher nur mit Kaffee ein bisschen aus.«

Er errötete leicht, grinste schief, und auf seiner linken Wange erschien ein hübsches Grübchen. Dieser Junge ist doch der geborene Charmeur, dachte Lotte. Mit diesem einen Grübchen und seinem Expertenwissen erobert er die Kundinnen im Sturm.

»Ich stelle ja nur die Hausmischungen für unsere Kunden aus dem Viertel zusammen. Na ja, einige kommen schon auch von weiter her, um sich bei mir ihre Lieblingsmischung zu holen. Und einige bestellen auch bei mir.«

»Ach, Sie versenden auch?«, fragte Lotte.

Fiete nickte. »Bei uns hier im Norden überallhin, bis nach Berlin«, antwortete er.

»Waren Sie schon einmal in München?«, fragte sie.

»München? Liegt das denn überhaupt noch in Deutschland?« Er zwinkerte ihr zu. Wie ein Lausbub, dachte Lotte, und damit würde er ganz gut nach München passen. »Irgendwo ganz weit weg von der See und den Importhäfen für Rohkaffee?«

Paul unterbrach mit einer Handbewegung dieses Geplänkel. »Wir sind ein renommiertes Feinkostgeschäft im Herzen der Landeshauptstadt München«, sagte er, »und unsere Lieferketten für Delikatessen haben sich trotz Seeferne schon in der zweiten, bald dritten Generation bewährt.«

Fiete hatte Wasser aufgesetzt und brühte ihnen von seiner derzeitigen Lieblingsmischung aus Arabica-Bohnen ein Kännchen auf. Während das Wasser durch den Filter lief und ein verführerischer Duft die Kaffeewerkstatt erfüllte, fragte Fiete: »Sie möchten von uns beliefert werden?«

»Wir möchten eine eigene Kaffeeabteilung aufbauen«, antwortete Paul und sah den Jungen direkt an. »Und wir suchen jemanden, der zu uns kommt und uns dabei hilft. Was ist Ihr größter Wunsch, Fiete? Darf ich Sie so nennen?«

Fiete nickte.

»Ein großer Traum, den Sie haben«, hakte Paul nach. »Jeder träumt doch von irgendwas, besonders, wenn man so jung ist wie Sie.«

Fiete lächelte wie eine Sphinx.

»Ach, kommen Sie: Erfolg im Beruf oder in der Liebe, ein kleines Häuschen im Grünen …«, fantasierte Paul.

»Da muss ich gar nicht lange überlegen«, sagte Fiete.

»Also?«, fragte Lotte.

»Ich möchte reisen«, antwortete er. »Das wäre mein Traum.«

»Und wohin?«, fragte Paul.

»Nach Mexiko und Guatemala, wo der Hochlandkaffee wächst. Oder nach Äthiopien, dort liegt der Ursprung der Kaffeepflanzen und der Zubereitung des Kaffees. Ich habe davon gelesen und auch Bilder gesehen von dem Land. Es sieht aus wie das Paradies.«

»Äthiopien?«, fragte Lotte. »Wo liegt denn das?«

»Im östlichen Zentralafrika, am Südende des Roten Meeres.«

»Das ist bestimmt sehr weit«, vermutete Lotte. »Und eine Reise dorthin nimmt viel Zeit in Anspruch.«

Fiete nickte. »Ich weiß. Deshalb ist es ja auch ein Traum.«

»Der Kaffeespezialist, der im Dallmayr eine neue Abteilung aufbauen soll, wird mit Sicherheit viel reisen«, sagte Paul.

»Wie viel?«, fragte Fiete direkt.

»Geld?« Lotte sah ihn irritiert an.

Fiete schüttelte den Kopf. »Reisezeit.«

»Im ersten Jahr zwei Wochen, dann jedes Jahr eine Woche mehr. Sie können auch sammeln«, schlug Paul vor. »Bis zu acht Wochen in zehn Jahren.« Sie hatten das vorher gar nicht besprochen. Aber es war ein cleverer Schachzug, fand Lotte, diesen Fiete genau an dem Punkt zu packen.

»Acht Wochen, das sind ja zwei volle Monate«, rechnete Fiete.

»Für die Rechnung haben Sie jetzt ein bisschen lang gebraucht«, meinte Lotte. »Aber wir suchen ja keinen Prokuristen, sondern einen Kaffeespezialisten.« Sie grinste.

»Schauen Sie doch mal auf der Karte nach, wo München liegt. Sie werden sehen, es ist nicht so weit wie Äthiopien. Und dann besuchen Sie uns doch morgen Vormittag bis elf Uhr im Hillmanns und sagen uns Bescheid, ob München für Sie infrage käme oder nicht. Sie wissen doch, wo das Hillmanns ist?«

»Natürlich«, antwortete Fiete.

»Wir sind Herr und Frau Randlkofer.«

»Sagten Sie nicht Dallmayr?«

»Das ist der Name unseres Geschäfts. Alois Dallmayr.«

Paul reichte ihm eine Visitenkarte, und nachdem sie ihren köstlichen Kaffee ausgetrunken hatten, empfahlen sie sich.

»Meinst du, er beißt an?«, fragte Paul, als sie wieder auf der Martinistraße standen.

»Abwarten«, meinte Lotte. »Aber wieso um Himmels willen warst du dir gleich so sicher, dass er der Richtige für uns ist?« Lotte schüttelte den Kopf. »Was ist Ihr größter Wunsch?«, ahmte sie ihren Mann nach. »Ich wusste ja gar nicht, dass ich mit einem so feinfühligen Herrn verheiratet bin.«

»Dass ich feinfühlig bin, müsstest du doch schon gewusst haben.« Paul drückte Lottes Hand.

»Stimmt. Aber warum gerade er? Wir kennen diesen Fiete doch noch gar nicht. Ist es, weil er dich so an Ludwig erinnert hat?«

»Irgendwie spüre ich, dass er der richtige Mann für uns wäre.«

»Mann?«, sagte Lotte. »So ein junger Kerl, noch nicht einmal fertig ausgelernt ist er.«

»Noch Lehrling, aber man überlässt ihm schon eigenständig das Auswählen und Mischen der Bohnen und das Rösten. In einem Betrieb mit dem großen Namen Roselius. Der Junge kreiert sozusagen seine eigenen Kaffeesorten, und auf den Mund gefallen ist er auch nicht.«

»Hübsch anzusehen ist er außerdem«, sagte Lotte. »Aber ob er so weit von zu Hause weggehen wird?«

»Wenn einer reisen will, dann ist ihm keine Entfernung zu groß. Und ich bitte dich, was ist München gegen Ostafrika?«

»Ein Klacks«, antwortete Lotte. »Aber was machen wir mit einem Fiete in Bayern?«

»Wenn Fiete von Friedrich kommt, wie ich annehme, dann wird in München eben ein Fritz aus ihm«, beschloss Paul.

»Und wenn nicht?«, fragte Lotte.

»Wenn nicht, dann auch.«

Lotte nippte an ihrem Gläschen Sherry, während Paul die Bremer Nachrichten las. Sie betrachtete die Hotelgäste, die durch die Lobby flanierten. Vor allem vom Chic der Damen wollte sie sich ein wenig inspirieren lassen. Obwohl Bremen nur etwa halb so groß wie München war, schien die Damenmode doch etwas anders zu sein, einen Tick eleganter, sogar großstädtischer kam sie Lotte vor. Die Hüte der Damen waren durchweg größer und prächtiger als die Modelle, die sie von München her gewohnt war, die Pelze auffälliger. Wer es sich leisten konnte, trug hier das Besondere, das wirklich Teure ohne Scheu vor den Blicken der anderen. Wenigstens kam es Lotte so vor. Sie musste unbedingt in die angesagten Bremer Häuser wie C&A Brenninkmeyer am Brill oder das Kaufhaus Julius Bamberger. Immer wieder sah Lotte unauffällig zur gläsernen Schwingtür. Würde der junge Mann kommen? Würde ihn Pauls Angebot locken, oder hatte er Bammel vor der Verantwortung, eine eigene Abteilung aufzubauen? So wie sie ihn einschätzten, würde die Abenteuerlust siegen. Doch vielleicht täuschten sie sich beide.

»Du weißt, dass wir um elf aufbrechen müssen«, sagte Paul, ohne von seiner Zeitung aufzublicken. »Die Droschke ist bestellt.«

Natürlich wusste sie es. Sie würden zum Holz- und Fabrikenhafen an der Weser fahren und endlich das fabelhafte Werk besichtigen, in dem der weltberühmte Kaffee HAG produziert wurde. Gegründet von Ludwig Roselius, dem Giganten unter den Kaffeebaronen in Bremen. Elf Uhr. Also würden sie in fünf Minuten aufbrechen.

Um elf war immer noch keine Nachricht von Fiete eingetroffen. Jetzt saßen sie schon fast eine Stunde im Foyer des Hillmanns und beobachteten abwechselnd die Eingangstüren. Lotte bemerkte, dass Pauls Stimmung sich zunehmend verschlechterte. Sicher fragte er sich, wie er sich so hatte täuschen können. Dieser Fiete hätte wenigstens mit irgendeiner fadenscheinigen Begründung absagen können. Aber dass er sich nun gar nicht meldete, das wunderte Lotte schon auch.

»Vielleicht ist irgendetwas passiert«, sagte Lotte und trank den letzten Schluck kalten Tee aus ihrer hauchdünnen Porzellantasse.

»Ach, Unsinn, was soll schon passiert sein von gestern auf heute«, regte Paul sich auf. »Und gar keine Nachricht zu schicken, ist auch keine Art. Hätte ich nicht gedacht von dem Jungen.«

Da wurde das Rundfunkgerät in ihrer Ecke der Lobby knisternd angeschaltet und der Ton lauter gedreht. »Sie hören eine Ansprache des Reichskanzlers Adolf Hitler«, sagte der Sprecher.

»Psst, psst«, hörte man in der Hotelhalle. Augenblicklich kehrte Stille ein, alle hielten den Atem an. Und dann vernahm man diese Stimme mit dem süddeutschen rollend gesprochenen R. Sie sprach ruhig und dem Anlass angemessen getragen.

»Der Reichspräsident, Generalfeldmarschall von Hindenburg, hat uns berufen mit dem Befehl, durch unsere Einmütigkeit der Nation die Möglichkeit des Wiederaufstiegs zu bringen. Wir appellieren deshalb nunmehr an das deutsche Volk, jenen Akt zur Versöhnung selbst mitzuunterzeichnen.« Das war alles.

»Und was hat das nun zu bedeuten?«, fragte Lotte.

Paul zuckte die Achseln.

Ein hanseatisch wirkender, elegant gekleideter Herr am Nebentisch drehte sich zu ihnen. »Er redet von Versöhnung«, sagte er, »aber seine SA-Truppe ist nicht gerade für Versöhnung bekannt. Dann schon eher für Saalschlägereien. Wenn das mal keine Unruhen gibt in der Stadt. Wenn die SA zum Provozieren in die Arbeiterquartiere zieht, zum Beispiel ins rote Gröpelingen, wo die Werftarbeiter der AG Weser wohnen, dann fliegen garantiert Steine.« Er griff wieder zu der Zeitung, die vor ihm auf dem Marmortischchen lag. »Aber nach Gröpelingen wollen Sie bestimmt nicht«, meinte er. »Was steht denn heute auf Ihrem Programm?«

»Wir haben einen Termin bei Herrn Roselius, auf dem Gelände von Kaffee HAG«, antwortete Lotte.

»Oho, beim König Ludwig von Bremen höchstpersönlich.«

»König Ludwig?«, fragte Lotte.

»Herr Roselius heißt Ludwig mit Vornamen, und er ist doch unser Kaffeekönig. Seine Kaffee HAG im Holzhafen ist so groß wie ein eigenes Stadtviertel. Waren Sie schon mal da?«

»Mein Mann ja, ich noch nicht«, sagte Lotte. »Unsere Droschke müsste eigentlich jeden Augenblick kommen.«

»Ist sie das?«, fragte der Herr und deutete auf einen Chauffeur, der seine Mütze in der Hand drehte und nach seinen Fahrgästen Ausschau hielt.

Lotte gab ihm ein Zeichen. »Jetzt komm, Paul, und mach nicht so ein Gesicht. Es gibt bestimmt eine Erklärung, warum Fiete uns keine Nachricht geschickt hat. Vielleicht kommt sie noch später am Nachmittag.«

Paul stand missmutig auf und wies den Kellner an, die Getränke auf ihr Zimmer zu schreiben. Dann folgten sie dem Taxifahrer.

»Wie kam dieser König Ludwig eigentlich darauf, einen koffeinfreien Kaffee zu erfinden?«, fragte Lotte auf der Fahrt zum Hafen, um Paul etwas abzulenken.

»Es heißt, und so erzählt er es auch selbst, dass sein Vater mit Ende fünfzig an einem Herzanfall starb, und zwar, weil er zu viel Kaffee getrunken hätte. Er musste ja auch immer viel probieren.«

»Aber die Kaffeetester spucken doch ihre Proben immer aus, hab ich mal gelesen.«

»Der alte Roselius anscheinend nicht«, antwortete Paul. »Oder Ludwig Roselius erzählt eben eine interessante Geschichte zu seinem Kaffee ohne Koffein, die sich jeder merken kann. Er ist ja auch ein Meister in Sachen Reklame. Du wirst schon sehen. Von ihm können wir eine Menge lernen.«

»Aber dass wir versucht haben, ihm seinen Lehrling abzuwerben, das binden wir ihm lieber nicht auf die Nase, oder?«

»Auf keinen Fall. Außerdem ist die Sache ja sowieso geplatzt.« Paul sah zum Fenster hinaus. Er war immer noch gekränkt.

»Jetzt sei doch nicht so pessimistisch.« Lotte schmiegte sich an Paul und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Vielleicht ist ihm nur etwas Wichtiges dazwischengekommen.«

Das Taxi hielt am Fabriktor. Lotte sah mehrere Straßen auf dem Gelände, rote hohe Backsteingebäude, die wohl schon etwas älter waren, moderne Hochhäuser mit bunten Fassaden und einen Turm, auf dem die drei goldenen Buchstaben HAG angebracht waren. Auf einem der Backsteinhäuser entdeckte sie, ebenfalls in Gold oder Messing, die Aufschrift »KABA der Plantagentrank« und dazu die vier Palmen, die auch auf den Packungen des Kakaogetränks abgebildet waren.

»Sag bloß, KABA ist auch eine Erfindung von Roselius.«

»Der Mann ist ein genialer Kaufmann. Du wirst es sehen.«

Lotte hoffte, dass er nicht nur genial, sondern vielleicht auch ein bisschen charmant und unterhaltsam sein würde.

Der Pförtner zeigte ihnen den Weg zu ihrem Treffpunkt.

»Das ist also der berühmte Marmorsaal, von dem du mir schon erzählt hast.«

Durch die Säulen aus weißgrauem Marmor kam ihnen das Genie entgegen. Obwohl Lotte ihn vorher nie gesehen hatte, wusste sie, dass er es sein musste. Kahlköpfig, untersetzt, vital, energisch und dabei sehr elegant gekleidet in einem braunen Maßanzug mit beiger Seidenkrawatte kam er auf sie zu. Roselius war kein verhuschter Erfinder, sondern ein Mann von Welt. Er zeigte ihnen in den Vitrinen aus dunklem Holz das von ihm entworfene weiße Kaffee-HAG-Geschirr mit dem roten Rettungsring, das wahrscheinlich jeder in Deutschland kannte. Die Botschaft lautete: Kaffee HAG ist ein Kaffee, der dein Herz schützt und deine Gesundheit. Sogar eine eigene Schrift wurde für alle Reklamemittel von Kaffee HAG erfunden. Roselius war Hanseat, sprach von der S-tadt und von der S-tromversorgung.

»Was sagen Sie zu unserem neuen Reichskanzler?«, fragte Paul ihn.

»Hitler?«, antwortete Roselius. »Ich finde es gut, wenn eine nationale Partei das Heft in die Hand nimmt. Wir sind Germanen und sollten stolz auf uns sein, statt andere Völker nachzuahmen. Waren Sie schon in der Böttcherstraße?« Er wandte sich an Lotte.

»Ich schon«, sagte Paul, »meine Frau noch nicht.«

»Das sollten Sie sich unbedingt ansehen, gnädige Frau.«

»Herr Roselius hat eine mittelalterliche Bremer Gasse vor dem Verfall gerettet«, erklärte Paul, »und sie mit modernen Mitteln wieder aufgebaut.«

»Eine komplette Straße?«, fragte Lotte.

»Nun, sie ist nicht sehr lang«, räumte Roselius ein.

»Aber ein Erlebnis«, sagte Paul. »Da gibt es Kaffee-Probierstuben und Gemäldegalerien, alles eng beisammen. Es wurden sehr viele Backsteine verbaut.«

»Und Bremen ist um eine Attraktion reicher«, sagte Roselius selbstbewusst.

Dallmayr bestellte schon viele Jahre Kaffee HAG und war ein guter Kunde von Roselius.

»Ich würde gern eine eigene Kaffeerösterei bei uns im Geschäft einführen«, gestand Paul schließlich.

Lotte schüttelte den Kopf. »Herr Roselius ist so nett, uns seine Fabrik zu zeigen, und was machst du, Paul? Kündigst gleich an, dass du ihm Konkurrenz machen willst.« Es war ihr wirklich etwas peinlich. Aber einen Vollblutunternehmer wie Roselius kratzte das offenbar nicht.

»Für Kaffee HAG gibt es keine Konkurrenz, da will keiner sich die Forschungsarbeit, die ich geleistet habe, noch einmal antun. Machen Sie sich keine Gedanken über uns, gnädige Frau. Wir sitzen sehr fest im Sattel. Und bis Ihr Gatte selbst rösten kann, habe ich mir längst schon wieder etwas Neues ausgedacht. Mein Geist ruht praktisch nie.«

Den Spruch merke ich mir, dachte Lotte. Mein Geist muss mit dem von Herrn Roselius verwandt sein, denn er ruht auch praktisch nie.

Bei der anschließenden Werksführung wurde Lotte in ihrer Vermutung bestätigt, dass die HAG-Werke so etwas wie einen eigenen Stadtcharakter hatten, sogar eine Betriebsfeuerwehr gab es. Die neuen Gebäude aus Eisenbeton kamen ihr äußerst modern vor. So etwas hatte sie in München noch nie gesehen. Sogar der berühmte Architekt Walter Gropius hatte über diese Industriebauten gestaunt. So nationalistisch Roselius sein mochte, er war kein bisschen altmodisch, sondern modern und innovativ. Und darauf war er auch stolz, das sah man ihm an.

In den Fabrikhallen, die sie dann besuchten, gab es in den riesigen Maschinensälen kaum mehr Menschen als Maschinen. Es war ziemlich laut dort, sodass sie sich nicht zu lange darin aufhielten. Die Fließbänder surrten, und der Mitarbeiter, der sie durch das Werk führte, behauptete, Herr Roselius hätte sie sogar noch vor Henry Ford in seiner Autofabrik in Detroit eingesetzt. Dann hatte König Ludwig Roselius also auch noch das Fließband erfunden, dachte Lotte. Was für ein Mann! Dafür war er eigentlich noch ziemlich bescheiden, nein, eher vornehm hanseatisch zurückhaltend aufgetreten. Nur in der »Wickelhalle«, wo der Kaffee verpackt und für den Versand vorbereitet wurde, gab es sehr viele weibliche Arbeitskräfte und kaum Maschinen. Lotte wurde es ganz schwindelig beim Zuschauen, so schnell wickelten die jungen Frauen die Kaffeepakete in einen Karton, verschlossen ihn und legten ihn auf ein Fließband, das ihn irgendwo verschnürte und auf einen Lkw oder gleich auf die Eisenbahn oder ein Schiff beförderte.

»So modern sind wir in München noch nicht«, sagte sie zu Paul.

»Wir haben ja auch keine Fabrik und keinen Industriebetrieb, sondern führen ein Delikatessengeschäft. Und ich bin schließlich auch kein König Ludwig.« Zum ersten Mal an diesem Nachmittag lächelte ihr Mann wieder. Na endlich, dachte Lotte und drückte seinen Arm, als sie sich bei ihm einhängte.

»Die ganze Wahrheit haben wir ihm aber nicht gesagt«, sagte Lotte, als sie mit der Droschke zurück in die Stadt und ins Hillmanns fuhren.

»Wieso, was meinst du?«, fragte Paul.

»Dass wir ihm einen Lehrling ausgespannt haben.«

»Ach was, ausgespannt«, schnaubte Paul. »Gewollt hätten wir ja, aber gekonnt haben wir anscheinend nicht.«

»Jetzt warte mal ab, Paul. Wetten, dass er doch noch zusagt?«

»Worum willst du denn wetten?«, fragte Paul.

»Lass dir etwas einfallen. Eben, was es dir wert ist«, sagte Lotte und strich sich über ihren Wollmantel und den Fuchspelz.

»Das überlege ich mir erst dann, wenn dieser Fiete wirklich zugesagt hat. Oder eben ein anderer.«

»Ein anderer?«, fragte Lotte. »Wer denn?«

»Frag mich was Leichteres.«

»Dann müssen wir eben noch mal nach Bremen kommen, wenn es dieses Mal nicht klappt.«

Paul schüttelte den Kopf über so viel Optimismus oder Hartnäckigkeit.

In der Hotellobby ging es zu wie am Stachus. Es war die Stunde des Heimkommens, des Aperitifs und des anschließenden Schönmachens für das Souper. Für das festliche Abendessen im Restaurant wurde alles an Garderobe aufgefahren, was die Koffer hergaben. Der Wäscheservice des Hotels wurde mit letzten Aufträgen zum Aufbügeln von Hemden, Dämpfen von Bügelfalten und Aufstecken von Säumen beschäftigt. Im Friseursalon gab es längst eine Warteliste von Kundinnen. Manche, die weniger geschickten, ließen sich die Fräuleins privat aufs Zimmer kommen, um die Haare aufzustecken. Lotte konnte das alles selbst, und ihre Abendgarderobe hing längst auf einem Bügel an der Schranktür zum Aushängen. Sie liebäugelte mit einem kleinen Gläschen Schampus an der Bar, als einer der Portiers ihnen mit einem Brief winkte. Lottes Herz machte einen kleinen Sprung. Eine Nachricht von Fiete? Sie sah Paul an, aber der zuckte nur die Achseln und tat ganz uninteressiert. Aber dann stolperte er fast über eine Teppichkante, und da wusste Lotte, dass er wohl auch ein wenig aufgeregt war.

Es war kein Brief, sondern ein Telegramm, das der Portier ihnen reichte.

»Lies vor!«, forderte Paul Lotte auf.

»KURZSCHLUSSRÖSTMASCHINESTOPPKONNTENICHTWEGSTOPPNEHMEDASANGEBOTANSTOPPKOMMEIMMAINACHMÜNCHENSTOPPFIETEWÜNSCHE«

Lotte sah Paul an und grinste über das ganze Gesicht.

»Na, welch exklusives Geschenk darf es jetzt sein, meine Dame? Hatten Sie nicht davon gesprochen, dass Sie gern einen Pelz hätten, der etwas größer als Ihr Fuchskragen wäre? Eine Nerzstola oder so etwas in der Art vielleicht?«

»Erst einen Kuss und dann ein Glas Champagner bitte«, flüsterte Lotte.

»Können wir die Reihenfolge noch ändern?«, fragte Paul und sah sich in der belebten Lobby um.

»Einverstanden«, antwortete Lotte und ging Richtung Bar voraus.

***

Simon war der Erste, der den Ford auf den Goldachhof einbiegen sah und genau beobachtete, welch hohe Herrschaften wohl jetzt gleich aussteigen würden. Die Fahrertür wurde aufgestoßen, und ein schmales Wesen sprang heraus, das dunkelblonde Haar kinnlang und gekleidet wie ein Mann. Die Hose war am Bund eng und an den Beinen sehr weit geschnitten, mit Bügelfalten und Umschlag am Saum. Dazu trug sie flache, fast derbe Schuhe, ein helles Hemd mit schmaler Krawatte und eine Lederjacke, die bis auf die Mitte ihrer Schenkel reichte.

Johanna hatte die ganze Szene vom Fenster ihres Zimmers im ersten Stock aus beobachtet, auch den staunenden Knecht, der immer noch unschlüssig vor diesem Wunder aus einer für ihn unbekannten Welt stand. Dabei hatte das Wunder einen Namen, den auch Simon gut kannte: Marie, Johannas Cousine aus Lindau am Bodensee.

Als Johanna unten im Hof ankam, standen Marie und Simon schon über die offene Motorhaube des Wagens gebeugt und fachsimpelten über die Anzahl der Zylinder, den Hubraum und das Dreiganggetriebe, und Marie zeigte Simon die Kardanwelle, über die die Hinterräder angetrieben wurden. Als Marie gerade anfing, Simon von den Trommelbremsen vorzuschwärmen, näherte Johanna sich ihrer Cousine von hinten und hielt ihr die Augen zu. Marie drehte sich um, und die beiden fielen sich lachend in die Arme.

»An deiner Cousine ist ein Mechaniker verloren gegangen«, bemerkte Simon. »Sie versteht mehr davon als jeder Mann, den ich kenne.«

»Ich will eben immer alles ganz genau wissen«, antwortete Marie. »Auch wie das Fahrzeug funktioniert, das mich von Lindau nach München bringt, und warum es überhaupt fährt. Außerdem habe ich womöglich bald eine weite Reise vor mir und keinen Mann dabei, der mir mein Automobil wieder flottmacht, wenn es einmal liegen bleibt. Meine Probleme muss ich dann schon selber lösen können.«

»Eine weite Reise?«, fragte Johanna. »Wohin denn?«

»Erst einmal nur zurück nach München.« Johanna zwinkerte ihr zu. »Ich muss noch ein paar Sachen besorgen, und du solltest unbedingt mitkommen, Cousinchen.«

»Aber ich habe doch keine Ahnung von Automobilen und kann dir da gar nicht helfen.«

»Wer redet denn von Autos? Die moderne Automobilistin will doch überall auf der Welt gut aussehen und schick angezogen sein. Ich dachte an Bekleidungsgeschäfte. Große Hüte brauche ich keine. Aber eine Fliegerkappe wäre nicht schlecht, wenn ich mit offenem Verdeck unterwegs sein werde und in wärmeren Weltgegenden als hier. Brr, ist das kalt bei euch. Und neblig.«

Johanna konnte sich vorstellen, wie Marie in ihren dünnen Hosen und ohne Mantel frieren musste. Hatte denn Simon keine Augen im Kopf? Aber der war immer noch in die Betrachtung des Motors versunken.

»Jetzt komm doch erst mal rein und wärm dich auf. Paula hat bestimmt einen Teller Suppe für dich und eine von ihren Schmalznudeln.«

»Wo ist denn dein Vater?«, fragte Marie. »Ist er gar nicht da?«

»Doch, aber er hat sich kurz hingelegt. Die Kälte macht ihm zu schaffen«, sagte Johanna und hörte selbst, dass es nicht besonders überzeugend klang.

Simon klappte den Deckel der Motorhaube zu. »Der Motor mag die Kälte wahrscheinlich auch nicht. Ich mach dir das Scheunentor auf, Marie. Dann kannst du den Wagen dort unterstellen.«

Marie stieg in ihren imposanten Ford und fuhr ihn in die Scheune. Dann ging sie mit Johanna ins Haus.

»Aber wieso jetzt das Auto und die große Reise, ich denke, du wolltest in Berlin zum Rundfunk?«, fragte Johanna.

Marie winkte ab und biss in ihre Schmalznudel.

»Hans Bredows Vision vom weltoffenen Medium Radio.« Marie lachte, doch es klang bitter. »Natürlich hat mir das imponiert. Die Leute hören lassen, was in der Welt geschieht, in anderen Ländern, Musik aus Amerika.« Marie schenkte sich Kaffee ein. »Ich bin gespannt, wie lange Bredow sich noch halten wird.«

»Wieso?«, fragte Johanna. Sie hatte den Namen des Reichsrundfunkkommissars schon von ihrer Cousine gehört und ihn kürzlich auf einem Zeitungsfoto auf der Funkausstellung gesehen.

»Wieso wohl?«, fragte Marie. »Weil Hitler Reichskanzler geworden ist.«

»Ja und?«, fragte Johanna.

»Sag mal, wo lebst du denn eigentlich?«

Johanna zog eine Grimasse. »Na hier, auf dem Goldachhof. Ich kümmere mich hauptsächlich um die Tiere. Für Politik habe ich mich noch nie besonders interessiert.«

Marie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Was für feine Gesichtszüge Marie hat, dachte Johanna. Und was für zarte Haut. Wie hauchdünnes Porzellan.

»Habt ihr hier auf dem Land etwa noch keine Bekanntschaft mit den Nazis machen müssen? Wir in Berlin schon, das kannst du mir glauben. Ich befürchte, sie werden alles umkrempeln«, sagte Marie. »Und vermutlich wird es schnell gehen.«

»Übertreibst du nicht?«, fragte Johanna. »Dieser Hitler ist doch gerade erst zum Kanzler ernannt worden.«

»Und?«, fiel Marie ihr ins Wort. »Ein staatenloser Niemand, vor zehn Jahren wegen eines Putschversuchs als Hochverräter verurteilt, und jetzt ist er Reichskanzler. Meinst du, der wird in dieser mächtigen Position plötzlich zahm, weise und gütig?« Marie lachte wieder sarkastisch auf. »So naiv kann man doch selbst als Landpflanze nicht sein. Sie bereiten sich seit zehn Jahren auf die Machtübernahme vor. Und jetzt hat Hindenburg ihnen die besten Plätze für dieses Vorhaben angeboten. Noch sitzt er da wie ein braver Zivilist im eleganten Anzug. Als könne er kein Wässerchen trüben. Aber wir wissen doch, was für Leute er um sich schart und was sie auszeichnet. Und das ist nicht Weltoffenheit, Toleranz und Respekt vor den Menschen, wie Hans Bredow sich das für den Rundfunk vorgestellt hat.«

»Sondern?«, fragte Johanna. »Was denkst du?«

»Das komplette Gegenteil. Nationalismus, Intoleranz und eine Brutalität, die uns noch Hören und Sehen vergehen lassen wird. Schlägereien sind doch ihre größte Spezialität. In Berlin weiß man das«, sagte Marie.

»Hoffen wir, dass es nicht so schlimm kommen wird, wie du sagst«, sagte Johanna, ohne so recht davon überzeugt zu sein.

»Ein Mensch mit Verstand, der beobachtet hat, was diese Leute die letzten Jahre so getrieben haben, dem bleibt nicht viel Optimismus.«

»Aber ihre Partei hat doch nur drei Personen in der Regierung, wenn ich es richtig gelesen habe. Damit kann man doch keinen Umsturz durchführen«, sagte Johanna.

»Das ist vielleicht der einzige Funke Hoffnung, der noch besteht«, stimmte Marie ihr zu. »Das Volk müsste sie bei den nächsten Wahlen einfach wieder abwählen. Aber ich denke nicht, dass das passieren wird. Hans Bredow glaubt es auch nicht. Sein Stuhl wackelt schon bedenklich. Er rät mir davon ab, beim Rundfunk zu bleiben. Obwohl ich doch genau dort immer hinwollte.«

»Und jetzt?«, fragte Johanna.

»Jetzt habe ich all mein Erspartes und meinen Teil des Erbes von Oma Therese abgehoben und mir erst mal diesen Wagen gekauft. Irgendwas muss man ja tun.«

»Und was hast du nun damit vor?« Marie war immer gut für Überraschungen. Berlin. Rundfunk. Ein eigenes Automobil. Dagegen war Johannas Leben eintönig und so richtig langweilig.

»Jetzt fahren wir erst einmal nach München zum Einkaufen. Du kommst doch mit? Bitte, Johanna, reiß dich los von deinem Hof, der wird auch mal einen Tag ohne dich auskommen.« Marie lächelte. Und diesem Lächeln konnte man kaum widerstehen.

»Ich müsste nur vorher noch auf Gut Zengermoos vorbeischauen«, antwortete Johanna. »Da gibt es eine trächtige Stute. Ich hab’s versprochen.«

»Na gut«, sagte Marie und stellte ihre Kaffeetasse ab. »Dann fahren wir eben erst dahin und danach einkaufen. Kein Problem.«

»Ich packe nur noch schnell meine Sachen.«

***

Hermann hatte die Ankunft des Wagens auf dem Hof ebenfalls bemerkt. Ein Ford V8, was für ein schöner Wagen. Und das war doch Marie! Dabei sah sie fast aus wie ein Junge, ein Bengel aus der Großstadt. Fehlte nur noch die Zigarettenspitze im Mund.

Hermann erinnerte sich noch gut an Marie als kleines Mädchen. Damals war sie hier vom Hof ins Moos gelaufen. Er und Balbina hatten nach ihr gesucht und sie schließlich in der armseligen Hütte der Familie König wiedergefunden. Wie lange das nun schon her war! Seit achtundzwanzig Jahren bewirtschaftete er mittlerweile diesen Hof, den seine Mutter 1905 gekauft hatte. Seine beiden Kinder waren hier geboren und aufgewachsen. Seine Frau hatte ihre geliebten Pferde auf den Hof gebracht und ritt täglich auf ihnen ins Moos. Sie produzierten immer noch Gemüse, Kartoffeln, züchteten Geflügel, hatten ihre Fischweiher. In den letzten Jahren hatten sich ganz neue Probleme ergeben. Seit dem Bau des Speichersees durch die Mittlere Isar AG sank der Wasserspiegel bedenklich, Wasserläufe veränderten sich, und Schmutzwasser trat immer wieder in ihre Trinkwasserbrunnen ein. Bis jetzt hatten all ihre Eingaben bei den Behörden nichts bewirkt. Als einzelne Moosbauern und Gutsbesitzer hatten sie keine Chance gegen den mächtigen Betreiber. Hermann fühlte sich müde nach all diesen Kämpfen. Bis er sich von seinen Erinnerungen losgerissen hatte und hinunter in den Hof kam, war der V8 schon wieder zum Tor hinaus.

***

Johanna und Marie fuhren etwa fünf Kilometer über einen schnurgeraden Feldweg nach Norden, bogen dann nach Osten ab, überquerten die Goldach und kamen nach einem weiteren Kilometer auf das Gut Zengermoos. Johanna stieg aus, sah sich auf dem Hof um und lief, als sie niemanden draußen entdeckte, mit ihrer Tasche direkt zu den Pferdeställen. Marie, in ein Wollcape von Johanna gehüllt, folgte ihr.

»Johanna, endlich!«, war eine Stimme aus dem Halbdunkel des Stalls zu hören.

»Grüß dich, Franz.«

»Ich glaube, es geht bald los. Lisbeth hat sich gerade hingelegt. Sie war so unruhig.«

Johanna öffnete das Gatter und betrat die Box. Sie gewöhnte sich schnell an das gedämpfte Licht. Die Fuchsstute lag ganz ergeben auf ihrem Heubett. Johanna berührte sie leicht an der Kruppe und tastete die Bänder am Hüftgelenk ab.

»Alles schön weich und bereit für die Geburt«, sagte sie. »Bist du schon lang bei ihr, Franz?«

»Seit einer Stunde vielleicht. Meinst du, es geht bald los?«

»Kann sein, aber das kann ich von außen nicht erkennen. Und bei den Stuten kann man sowieso nicht nachhelfen. Sie fohlen dann, wenn sie so weit sind.« Johanna sah sich nach Marie um. »Das ist übrigens meine Cousine Marie aus Lindau. Und das ist Franz Reisinger, der Juniorchef auf dem Gut.«

»Grüß Gott«, sagte Franz, während Marie nur kurz die Hand hob.