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Tatort statt Urlaubsidyll: Der fesselnde Regio-Krimi »Steckerlfisch« von Lisa Graf und Ottmar Neuburger jetzt als eBook bei dotbooks. Als familiäre Verpflichtungen Hauptkommissar Meißner zwingen, seinen Onkel in dessen nobler Senioren-Residenz zu besuchen, kommt ihm die Abwechslung vom beruflichen Alltag gerade recht. Doch aus dem Sonntagsausflug an den Chiemsee wird schnell tödlicher Ernst: In dem Urlaubsidyll sterben plötzlich ungewöhnlich viele ältere Menschen … Hat sich etwa ein Mörder ins Personal eingeschlichen? Und was ist an den Gerüchten dran, der Heimleiter würde zu neugierige Gäste ruhigstellen? Meißner und seine Kollegin Rosner von der KRIPO Ingolstadt nehmen die Ermittlungen auf – und können nicht verhindern, dass sich ausgerechnet Meißners rüstiger Onkel Helmut in die Untersuchungen einmischt … »Wer Steckerlfisch isst, ist selber schuld. Aber wer ›Steckerlfisch‹ liest, verbringt auf jeden Fall viele genussvolle Stunden am Chiemsee. Ein köstlicher Heimatkrimi, à la bonne heure!« Bestsellerautor Friedrich Ani Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Bayern-Krimi »Steckerlfisch« von Lisa Graf und Ottmar Neuburger ist der vierte und letzte Band ihrer »Mord in Bayern«-Krimireihe um Kommissar Stefan Meißner – ein Lesevergnügen für alle Fans der Bestseller von Jessica Müller und Jörg Maurer. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 490
Über dieses Buch:
Als familiäre Verpflichtungen Hauptkommissar Meißner zwingen, seinen Onkel in dessen nobler Senioren-Residenz zu besuchen, kommt ihm die Abwechslung vom beruflichen Alltag gerade recht. Doch aus dem Sonntagsausflug an den Chiemsee wird schnell tödlicher Ernst: In dem Urlaubsidyll sterben plötzlich ungewöhnlich viele ältere Menschen … Hat sich etwa ein Mörder ins Personal eingeschlichen? Und was ist an den Gerüchten dran, der Heimleiter würde zu neugierige Gäste ruhigstellen? Meißner und seine Kollegin Rosner von der KRIPO Ingolstadt nehmen die Ermittlungen auf – und können nicht verhindern, dass sich ausgerechnet Meißners rüstiger Onkel Helmut in die Untersuchungen einmischt …
Über die Autoren:
Lisa Graf, geboren in Passau, studierte Romanistik und Völkerkunde und ist Reisebuch- und Krimi-Autorin. Mit ihrer historischen Romanreihe über das Feinkost-Haus Dallmayr erreichte sie Spitzenplatzierungen auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Ottmar Neuburger, geboren in Simbach am Inn, studierte Physik und Germanistik. Er war Programmierer und Systemberater und ist heute Software-Unternehmer, Spezialist für Kryptowährungen und entwickelte eine Kryptowährung auf Basis einer eigenen Blockchain .
Die beiden Autoren leben im Berchtesgadener Land und haben zusammen den Chiemsee-Krimi »Steckerlfisch« und den Thriller »Die Bitcoin-Morde« verfasst.
Die Website der Autorin: www.lisagraf-autorin.de/
Die Autorin bei Facebook: www.facebook.com/lisa.grafriemann/
Die Autorin auf Instagram: www.instagram.com/lisa.grafriemann/
Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre »Mord in Bayern«-Krimireihe mit den Bänden »Eine schöne Leich«, »Donaugrab«, »Eisprinzessin« und »Steckerlfisch«, der in Co-Autorschaft mit Ottmar Neuburger entstand.
Lisa Graf und Ottmar Neuburger veröffentlichten bei dotbooks außerdem gemeinsam den Thriller »Die Bitcoin-Morde«.
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eBook-Neuausgabe März 2024
Copyright © der Originalausgabe 2016 Emons Verlag GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/ KRIT GONNGON, Jochen Netzker
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-007-3
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Lisa Graf und Ottmar Neuburger
Steckerlfisch
Regionalkrimi – Mord in Bayern 4
dotbooks.
Überall herrscht Zufall. Lass deine Angel nur hängen; wo du’s am wenigsten glaubst, sitzt im Strudel der Fisch.
Ovid, »Ars amatoria«
Lang leben will halt alles, aber alt werden will kein Mensch.
Johann Nestroy
»Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Genau so hat sein Vater es gesagt, immer wieder. Mit der Bibel kennt sich Olaf aus, sein Vater war Pastor. An dem Tag, an dem Olaf genug Geld hatte, um sich ein paar Wochen durchschlagen zu können, zog er aus seiner Heimatstadt Kiel fort und war froh darüber, seinem Vater in seinem gesamten restlichen Leben nicht mehr begegnen zu müssen.
Das Messer in seiner linken Hand war das Erste, was er sich in Hamburg kaufte. Er hat es noch immer, ein gutes Messer. Die Klinge hat sich vom Schleifen wellenförmig verformt, doch das Messer schneidet wie am ersten Tag einwandfrei.
Den oberen und unteren Teil der Orange hat er schon abgetrennt. Die verbliebene Schale teilt er in sechs gleiche Segmente. Er hört Schritte von draußen. Zwar dämpfen die im Flur ausliegenden schweren Orientteppiche den Schall, trotzdem ist das Geräusch nicht zu überhören. Er hat auf die Schritte gewartet.
Nein, er will keine Angst haben. Sein Leben lang hat er versucht, keine Angst zu haben, und meistens ist es ihm gelungen. Aber jetzt fühlt sich diese Regung in seinem Bauch verdammt wie Angst an, auch wenn er es nicht wahrhaben will.
In Hamburg hat er sich mit genau diesem Messer, mit dem er jetzt seine Orange schält, einmal verteidigen müssen. Er setzte es gegen einen Kollegen ein, der ihm ans Leder wollte. Auch diese Geschichte gehört zu Olafs Vergangenheit. Und es gibt mehr davon. Sich und die eigenen Interessen verteidigen: So war sein Leben.
Die Schritte werden langsamer, die Person steht jetzt draußen auf dem Gang vor seiner Tür. Nicht nur sein Verstand, auch sein Instinkt sagt ihm das. Er spürt es ganz deutlich, und er hat eine Ahnung, was diese Person will. Sie wird zu ihm hereinkommen, jetzt.
Fast im selben Augenblick spürt er, wie ihn seine Kraft verlässt. Ein seltsames, ihm bisher unbekanntes Gefühl. Er bemerkt, wie sie aus seinem Körper entweicht und dass er schnell sein muss, wenn er nicht zu Boden gehen will, so schnell wie möglich. Zu seinem Bett ist es nur noch ein Schritt. Er macht ihn und schafft es, sich auf die Matratze zu setzen. Dann ist es vorbei. Mehr geht nicht mehr. Kein einziger Schritt mehr.
»Die Rache ist mein.« Der Satz scheint ziemlich wichtig zu sein, er steht im Alten und im Neuen Testament. Was also maßt sie sich an? Olaf spürt Zorn in sich aufsteigen, doch er ist zu schwach, um sich zu wehren.
Natürlich, nach den Maßstäben von Kleinbürgern und naiven Schwärmern hat er ein Leben geführt, das geradezu nach Bestrafung oder Rache schreit. Und trotzdem sollte er nicht bestraft werden, nicht von den Heiligen und schon gar nicht von den Scheinheiligen, denn: »Die Rache ist mein, so spricht der Herr.« Punktum.
Mit dem Messer, das er zuvor noch in der Hand hielt, ist er ein-, zweimal auf jemanden losgegangen, aber das war etwas anderes. Schließlich hat er nie behauptet, ein Heiliger zu sein. Doch sie tut so, als wäre sie heilig, auch dann noch, wenn sie versuchen würde, ihn zu töten. Selbst wenn sie ihn umbringen würde, fühlte sie sich ihm immer noch moralisch überlegen.
In Hamburg hat Olaf sich schnell hochgearbeitet. Hat sich verschuldet, Häuser gekauft und sie an Nutten oder ihre Zuhälter vermietet. Hamburg, Herbertstraße. Manche haben darüber die Nase gerümpft, sind aber trotzdem zu seinen Mädchen gegangen. Andere haben sich durch seinen Erfolg bedroht gefühlt. Sie hätten ihn gern aus dem Weg geräumt, aber das ist ihnen nicht gelungen. Hätten sie es geschafft, hätte er das akzeptiert, denn ein Prinzip der Ordnung ist: »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.« Das steht schon in der Bibel, und Olaf weiß seit jeher: Wer sich mit der Mafia anlegt, der lebt gefährlich. Trotzdem hat er in seinem Leben nie Angst gehabt, denn so war die Ordnung.
Aber seit Schwester Pia von seiner Vergangenheit erfahren hat, ist sie wie ausgewechselt. Davor war Pia, manche hier nennen sie Betschwester Pia, freundlich und zuvorkommend, immer bemüht um ihn und fürsorglich. Seit ein paar Wochen spürt er bei ihr keinen Funken Bemühen mehr und auch keine Fürsorge. Sie hat ihm Vorwürfe gemacht, ihn auf einen Artikel in einem Magazin angesprochen, in dem über den »Baron von St. Pauli« berichtet wurde. Ein Porträt über ihn. Einiges darin war unter-, anderes übertrieben. Aber im Großen und Ganzen hat der Artikel schon gepasst. Das hat er auch Helmut gegenüber zugegeben, seinem Tischnachbarn seit langer Zeit.
Nicht dass er stolz auf sein Hamburger Leben gewesen wäre, aber so zu tun, als hätte es das nicht gegeben, das wollte er auch nicht. In Hamburg ist er zum Immobilienhai aufgestiegen, dem Hunderte von Wohnungen gehörten. Er verwandelte sich vom Außenseiter in einen Partner von Versicherungen, Banken, der Stadt Hamburg und schließlich sogar des Bundes. Schwester Pia sprach ihn auf die Story in dem Magazin an, forderte ihn auf, Buße zu tun. Das Schöne am Leben in der Residenz am See ist für Olaf, dass fast alle Mitbewohner stinkreich sind und daher meistens auch etwas toleranter als kleine Staatsbeamte und selbstständige Einzelkämpfer, für die Moral oft eine zu große Rolle spielt und die einem mit ihren Prinzipien den Tag vermiesen können.
Vor seiner Tür steht jemand. Er spürt es genau. Schon bei der Einnahme der Medikamente heute Abend hat er kein gutes Gefühl gehabt.
»So, Herr Janssen, heute bekommen Sie eine neue Tablette, mit der es Ihnen bald viel besser gehen wird«, hat Schwester Pia gesagt und eine kleine blaue Pille mit auf das Tellerchen gelegt. »Trinken Sie noch einen Schluck Wasser dazu.« Sie reichte ihm das Glas.
Alles in ihm sträubte sich dagegen, doch er war auch da schon zu schwach gewesen, um Widerstand zu leisten. Vielleicht eine Folge der anderen neuen Tabletten, die er seit Wochenbeginn zusätzlich bekommt. »Gegen Ihren zu hohen Blutdruck«, hat Schwester Pia behauptet. Olaf glaubt nicht an Verschwörungen im Großen; aber an Gemeinheiten im Kleinen, daran glaubt er ganz gewiss. Er weiß, dass es sie tausendfach gibt. Aber hier? Schwester Pia, die Scheinheilige?
Olaf versucht, seine ganze verbliebene Kraft, alle Energie, die noch in seinem Körper steckt, in seine Hände zu lenken. Bis zum Alarmknopf neben dem Bett sind es ganze dreißig Zentimeter. Es kommt ihm so vor, als hätten sich seine Hände schon etwa drei Zentimeter weit bewegt. Fehlen nur noch siebenundzwanzig. Noch einen, nur noch sechsundzwanzig.
»Klack«, macht es, ganz leise. Das Geräusch kommt von der Tür. Jemand hat die Magnetkarte über den Sensor gezogen, das Geräusch entsteht, wenn sich der Riegel des Türschlosses öffnet.
Einen weiteren Zentimeter, nur noch fünfundzwanzig. Doch dabei bleibt es. Er will den Kopf zur Tür bewegen, es geht nicht. Er erkennt sie aus den Augenwinkeln.
»Geht es Ihnen schon besser?«, fragt sie mit falsch klingender Stimme. »Warum sehen Sie mich denn nicht an?« Sie steht schon neben ihm.
Er kann den Kopf immer noch nicht drehen.
»Ach, Sie können sich nicht mehr bewegen? Das ist eine der möglichen Nebenwirkungen des Medikaments. Sie haben Glück, dass ich nach Ihnen sehe.« Aus ihrer Kitteltasche nimmt Schwester Pia eine Ampulle und eine dünne Spritze heraus, die sie mit dem Präparat aus der Ampulle aufzieht. Grünlich und durchsichtig ist die Flüssigkeit.
Sie fasst seinen Arm, dreht ihn mit der Innenseite zu sich und stößt die Nadel in seine Vene. »Sie werden jetzt Schmerzen haben. Aber keine Angst, sollten sie zu heftig werden, verlieren Sie das Bewusstsein. Das hat die Natur so eingerichtet. Ein Wunder, nicht wahr?«
Er will etwas sagen, aber es gelingt ihm nicht. Die Zunge liegt bleischwer in seinem Mund.
»In den letzten Nächten konnte ich kaum schlafen. Ich musste immer daran denken, wie viele Frauen in Ihren Wohnungen Tag für Tag, Nacht für Nacht diese wechselnden Männer aushalten mussten. Männer, die bezahlten, nur damit Sie reicher und reicher wurden. Können Sie sich vorstellen, dass das für diese Frauen sehr schmerzhaft war? Sie sitzen da in ihren kleinen Wohnungen oder Zimmern, und dann klingelt es. Das muss doch schrecklich sein«, sagt Pia.
Ein einziges Mal gelingt es Olaf, zu wimmern, leise nur, und auch nur wenige Sekunden lang. Tränen rollen über seine Wangen, während Schwester Pia das Zimmer verlässt und die Tür hinter sich zuzieht.
Die Sonne scheint ins Zimmer, das heißt, sie versucht es. Das Fensterputzen würde sich hier lohnen. Der Vorher-Nachher-Effekt wäre so beflügelnd, dass man sich gleich die nächsten zehn Fenster vornehmen würde. Stefan Meißners erster Blick beim Aufwachen fällt auf die vor Staub und Dreck blinden Scheiben. Sein erster Gedanke: Das Kreuz tut mir weh. Der zweite Blick gilt dem Verursacher des Schmerzes, den mit orangefarbenem Frottee überzogenen Matratzen am Boden, auf denen er die Nacht verbracht hat. Ein Königreich für ein Bettgestell, ein möglichst hohes, und einen Lattenrost. Wie soll er jetzt aufstehen, ohne sich das Kreuz zu verrenken oder einen Nerv einzuklemmen? Jedenfalls ganz vorsichtig. Beim letzten Mal hat es drei Wochen gedauert, bis er wieder normal gehen konnte. Sechs Sitzungen bei der Physio, morgens und abends Übungen für Muskeln, von deren Existenz er bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Jetzt ganz vorsichtig, nur nicht ruckartig. Die Bewegung muss sanft sein, so geschmeidig, wie es eben geht.
Beim Aufwachen hat er einen kurzen Moment lang nicht gewusst, wo er ist. Erst der Blick neben sich auf die zweite Matratze hat ihm Klarheit gebracht. Der zerzauste dunkelblonde Haarschopf auf dem Kissen mit dem psychedelischen Retro-Kreismuster, von dem einem ganz schwindelig wird. Wo Marlu diese Sachen nur herhat? Sie waren ihm in ihrer alten Wohnung in der Sebastianstraße nie aufgefallen.
In das Knäuel neben ihm kommt Bewegung. Marlu hebt den Kopf, dreht das Gesicht zu ihm und starrt ihn ungläubig an, als würde sie ihn nicht erkennen, oder, noch schlimmer, sich fragen, wie um Himmels willen er auf die Matratze neben ihr gekommen ist. Er hält still, wegen seines Rückens. Dann kommt scheinbar ihre Erinnerung zurück.
»Ah, du bist es«, sagt sie, was er nicht besonders charmant findet.
»Hast du jemand anderen erwartet?«, fragt er.
»Es ist noch so ungewohnt«, sagt sie und kuschelt sich an ihn. Er nimmt sie in seine Arme, ganz vorsichtig, wegen des Rückens. »Fühlt sich an wie ein echtes Abenteuer, oder?«, fragt sie.
»Eigentlich würde ich das Abenteuer gern woandershin verlagern, in ein stabiles Bett zum Beispiel.«
»Ich meine nicht die Matratzen«, antwortet sie. »Wobei ich finde, dass die unbedingt dazugehören. Ich meine das Ganze, dass wir endlich zusammenziehen. Unsere erste gemeinsame Wohnung! Das ist das Abenteuer.«
»Und dann gleich ein ganzes Haus, ungefähr fünfhundert Jahre alt und in die Stadtmauer eingezwängt. Mit Rapunzelgarten.«
»Hättest du dir das je gedacht?«, fragt Marlu ganz verzückt.
»Nein, ich hab immer gedacht, ich schaffe irgendwann den Absprung aus Ingolstadt. Ich wäre immer gern in den Süden gegangen.«
»Nach Rosenheim vielleicht?« Marlu grinst.
»Haha. Ich meinte schon eher südlich des Alpenhauptkammes. Zumindest auf der Höhe Gardasee oder so.«
»Ist doch langweilig da. Immer Sonne, leckeres Essen, dolce vita, schöne Frauen, leichtes Bier.«
»Und kein CSU-Ministerpräsident, der gleich im nächsten Dorf wohnt.«
»Pffft«, macht Marlu.
»Na ja, eine schöne Frau hab ich ja schon. Und dann nehme ich an, es ist die Sonne, die die Scheiben blind macht, nicht der Schmutz. Und wenn ich jetzt auch noch ohne große Verletzungen von dieser Matratze hochkomme, dann kann ich auch für unser leibliches Wohl sorgen und fürs Frühstück einkaufen gehen.« Er küsst sie vorsichtig. »Ich finde, wir sollten den ersten Tag in unserer ersten gemeinsamen Wohnung nicht mit Brot von gestern beginnen. Deine umfassenden Renovierungspläne bedürfen einer soliden Grundlage.«
»In vier Wochen sind wir durch. Vielleicht auch ein bisschen früher, dann sind sogar noch ein paar Tage Gardasee drin. Im Juni ist es dort schon warm, oder?«
»Ich würde sogar sagen, der Juni ist dort die schönste Zeit. Alles blüht ...«
»Wie bei uns im Garten.«
»Also, ich kann meinen Hals recken, wie ich will, ich seh eigentlich nur Löwenzahn, Gänseblümchen und ziemlich viel Gestrüpp.«
»Ist doch auch schön«, sagt Marlu und küsst ihn so, dass er daran denkt, den Einkauf noch ein wenig zu verschieben. Aber bei der nächsten falschen Bewegung schreit er auf und kauert sich zu einem kleinen Paket zusammen. So wie die Physiotherapeutin es ihm für den Notfall gezeigt hat. Anschließend versucht er einen vorsichtigen Katzenbuckel.
»Das neue Bett wird erst nächste Woche geliefert«, sagt Marlu. »Kann ich solange irgendwas für dich tun? Massieren oder so?«
»Nicht anfassen!«, schreit Stefan und macht wieder ein kleines Paket.
»Das fängt ja gut an«, mault Marlu. »Ich weiß nicht, ob ich das bis nächste Woche aushalte.«
»Dann musst du dir halt was einfallen lassen«, nuschelt er. »Was Rückenfreundliches.«
Nach ungefähr zehn Minuten verlässt er langsam das Bett, um heiß zu duschen. Sein Magen knurrt. Mit einer Ibu 800 wird es schon gehen, aber davor muss er etwas essen, sonst schlägt ihm die nur auf den Magen. Vier Wochen, um das alte Haus zu renovieren. Vier Wochen Urlaub für beide. Czerny hat sich mit seiner Großzügigkeit selbst übertroffen. Bei der Bewilligung des Urlaubs hat er ihm alles Gute gewünscht und ihm zugezwinkert. Als hätte er geahnt, dass Stefan sich gleich am ersten Tag, noch bevor er einen Farbeimer oder Malerspachtel in die Hand genommen hätte, das Kreuz verreißen würde.
Die heiße Dusche tut ihm gut. Vorsichtig zieht er sich an. Gut, dass seine Schuhe keine Schuhbänder haben. Beim Hinausgehen klingelt sein Handy. Die Ouvertüre zu Tannhäuser, schon lange nicht mehr gehört. Sein Vater. Nein, das geht jetzt nicht. Er muss sich jetzt um sich selbst kümmern. Erst zur Bäckerei, dann zur Apotheke mit Notdienst für die Ibus. Das ist jetzt wichtiger. Erst nach dem Frühstück sein Vater. Und dann vielleicht noch das nachholen, was er heute Morgen auf der Matratze verpasst hat. Er nimmt die Schlüssel vom Haken und lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Als Stefan Meißner mit einer Tüte Buttercroissants, frischen Brezen, Semmeln und den Tabletten zurückkommt, ist auch Marlu aufgestanden. Sie riecht frisch geduscht, hat das Haar zu einem kunstvoll verwuschelten Dutt hochgesteckt, aus dem ein paar einzelne Strähnen heraushängen. Dazu trägt sie eines seiner Hemden. Ihre Füße stecken in gestrickten Wollsocken.
»Von meiner Oma«, sagt sie, als er sie von oben bis unten mustert und sein Blick etwas länger an ihren Füßen hängen bleibt.
»Das auch?«, fragt er und deutet auf das Porzellan mit dem Rosenmuster, mit dem der Tapeziertisch gedeckt ist, der einstweilen die Möbel ersetzt.
»Wildrose«, antwortet Marlu. »Von Villeroy & Boch. Und ja, auch von meiner Oma. Ich hab’s einfach aufheben müssen. Gefällt es dir nicht?«
»Wir müssen es ja nicht jeden Tag benutzen«, meint er.
Omas Küche hat hingegen nicht überlebt, so weit geht Marlus Nostalgie dann doch nicht. Sie hat bereits den Sperrmüllcontainer bis oben hin gefüllt. Bis die neuen Küchenmöbel geliefert werden, steht ihnen ein Kühlschrank zur Verfügung, darauf ein Wasserkocher für Marlus Tee und seine Saeco. Das ist alles, was Stefan Meißner aus seiner alten Wohnung mitgebracht hat: Reisetasche, Kühlschrank und die Saeco, die regelmäßig gewartet, gesäubert und entkalkt und nur von ihm bedient wird. Meißner trinkt Kaffee von morgens bis Mitternacht, und selbst danach schmeckt er ihm immer noch und hindert ihn auch nicht am Einschlafen. Vor allem mit dieser unvergleichlichen Crema, die nur seine Saeco mit ihrer Fünfzehn-Bar-Pumpe zustande bringt.
Während Marlu beim Auspacken der feinen Sachen aus der Bäckertüte »Mhm!« und »Ah!« und »Boah!« macht, bedient Stefan seinen Kaffeevollautomaten. Das Mahlwerk springt an, Wasser wird erhitzt und der Brühvorgang eingeleitet. Stefans Lieblingsgeräusch, zusammen mit einigen anderen, die nicht von der Saeco, sondern von Marlu stammen. Nenn es Abenteuer, sagt er sich, nicht Wagnis. Das Aufgeben ihrer beiden Single-Wohnungen und das Zusammenziehen. Davor diese vier Wochen Auszeit. Eine Galgenfrist, während der man im schlimmsten Fall die Kündigung noch einmal rückgängig machen kann. Das ist aber nur sein Gedanke. Marlu hat sich diesen Monat zum gemeinsamen Renovieren und vielleicht auch zum Sich-Beschnuppern im Alltag ausgedacht, und Czerny hat ihn abgesegnet. Das hätte Stefan sich nie träumen lassen. Bis zuletzt hatte er heimlich gehofft, sein Chef würde dem Heimwerkereinsatz die rote Karte zeigen. Marlu muss irgendetwas gegen ihn in der Hand haben. Hätte Czerny ihnen beiden sonst vier Wochen Urlaub zur selben Zeit bewilligt? Freiwillig? Niemals! Also muss es eine dunkle Vorgeschichte geben, die so dunkel ist, dass er nie etwas von ihr erfahren hat. Vielleicht irgendeine alte Mauschelei, ein großer Gefallen, den er ihr schuldig war, oder Schlimmeres. Czerny wie Marlu äußerten sich auf sein Nachfragen beide nicht dazu. Stattdessen taten sie so, als bildete er sich alles nur ein.
Der Tapeziertisch biegt sich unter der Last des ersten Frühstücks in der neuen Wohnung, und das ist bei der dünnen Platte und seinen Spinnenbeinen keine Metapher.
»Vorsichtig hinsetzen«, warnt Marlu. »Der Tisch ist für Tapeten ausgelegt.«
»Ist mir bekannt«, murmelt Stefan, dessen Nase fast in der festen Crema in seiner Wildrosentasse steckt. »Wahrscheinlich wirst sowieso du diejenige sein, die hochrumpelt und den Tisch mitsamt dem Rosengarten abräumt.«
Marlu beißt in ihr Croissant und nuschelt mit vollem Mund: »Deim Pater hat angehufen«, und beim f segeln die Teigbrösel lustig über den Tisch. »Hast du das nicht gehört?«
»Doch, aber ich hab gedacht, der wird sich schon noch mal melden, wenn’s wichtig ist.«
»Er bekommt eine neue Hüfte«, sagt Marlu.
»Du gehst an mein Telefon?«, fragt Meißner. »Ist das jetzt automatisch im Paket ›Zusammenziehen‹ mit dabei?«
»Jetzt sei halt nicht gleich eingeschnappt«, antwortet sie. »Er hat viermal hintereinander angerufen. Viermal diese grausige Musik. Sie klingt so düster. Ich hab gedacht, es ist vielleicht etwas passiert.«
»Das ist die Tannhäuser-Ouvertüre. Und mein Vater macht das immer so. Der gibt nicht so leicht auf, wenn er schon mal anruft.«
»Willst du gar nicht wissen, wie es ihm geht?«
»Er bekommt eine neue Hüfte. Das ist schön für ihn. Vor zwanzig Jahren waren sie noch nicht so großzügig mit den teuren Ersatzteilen.«
»Vor zwanzig Jahren hat er auch noch keine gebraucht«, antwortet Marlu pragmatisch. »Aber wegen der Hüfte hätte er sich vielleicht gar nicht gemeldet. Die ist nicht das Problem.«
»Was dann?«, will Stefan wissen. Die Croissants bei dem neuen Bäcker sind gar nicht mal so schlecht. Eine Spur zu fettig vielleicht.
»Weil er in nächster Zeit nicht mobil ist, kann er deinen Onkel nicht besuchen.«
»Welchen Onkel?«
»Den, der in dieser Senioren-Residenz am Chiemsee lebt. Warte mal, er heißt wie ...«
»Wie zwei von unseren Alt-Bundeskanzlern. Mein Onkel Helmut. Bruder meines Vaters. Unternehmer, Gründer einer Baumarktkette. Stinkreich, seit ich denken kann. Sonst könnte er sich diesen Nobelschuppen mit Seeblick, in dem er jetzt sein Gnadenbrot verspeist, auch nicht leisten. Hast du eine Vorstellung, was so etwas kostet? Für Polizeibeamte keine Option, mach dir da bloß keine Illusionen.«
Marlu schiebt sich das letzte Schwänzchen ihres Croissants in den Mund. Sieht so aus, als habe es ihr geschmeckt.
»Wenn wir so weitermachen, wirst du mich eigenhändig pflegen müssen. Oder du steckst mich ins Heim von der Caritas. Oder ins Seniorenstift Elisa, da muss ich mich gar nicht groß umstellen. Liegt gleich um die Ecke der Polizeiinspektion.«
»So weit sind wir ja Gott sei Dank noch nicht«, meint Marlu. »Also du, meine ich.« Sie kichert. »Jetzt schau doch nicht so! Bevor du ins Altersheim kommst, kriegen wir erst noch eine Schar Kinder. Sche-herz«, fügt sie hinzu, als sie sein erschrockenes Gesicht sieht. »Also, noch mal zum Mitschreiben, Herr Meißner: Wir haben vier Wochen frei und richten das Haus von meiner Oma her, das ist alles. Und wir machen uns eine schöne Zeit zusammen. Vier Wochen keinen Dienst. Keine Dealer, keine Autoknacker, keine besoffenen Randalierer, keine Dienstbesprechungen, kein Schreiben von Berichten. Kannst du dir das vorstellen?«
»Nein«, sagt Stefan. »Aber was ist jetzt mit meinem Onkel Helmut? Wieso ruft mein Vater deshalb bei dir an?«
»Nicht bei mir. Ich bin ja nur an dein Telefon gegangen. Und ich hab ihm von unserem Wohnprojekt erzählt. Er hat sich gefreut. Ist mir jedenfalls so vorgekommen.«
»Mein Onkel Helmut«, mahnt Stefan.
»Ja, ach so. Der ruft wohl dauernd bei deinem Vater an und sagt, er fühle sich in der Residenz am See nicht mehr sicher. Er behauptet, da würden Leute verschwinden beziehungsweise sterben. Ein alter Herr sei plötzlich tot gewesen, obwohl er relativ gesund war und dein Onkel am Tag davor noch mit ihm gesprochen hat. Solche Sachen.«
»Vielleicht hat Onkel Helmut Alzheimer. Oder er ist dement. Hört sich doch ganz danach an.«
»Dein Vater sagt, das glaube er nicht. Aber wegen seiner Hüfte kann er jetzt nicht hin und sich darum kümmern.«
»Und?«
»Er wollte dich bitten, ob du vielleicht ...«
»Ich? Zu Onkel Helmut? Vergiss es! Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, war auf der Beerdigung meiner Mutter. Da hat er mich ausgelacht, als ich erzählt habe, dass ich Polizist bin.«
»Und was ist daran so witzig?«
»Für einen millionenschweren Unternehmer? Das kann ich dir sagen: die Kohle, die wir verdienen! Über so etwas wie Beamtenbezüge lacht der sich kaputt. Das war schon immer so. Wenn er uns früher besucht hat, hat er meiner Schwester und mir je fünf Mark mitgebracht, egal, ob wir fünf oder vierzehn waren. Fünf Mark! Kannst du dir das vorstellen?«
»Das war doch diese Währung mit dem lustigen Vogel auf einer Münzseite, oder?«
»Genau. Das Geld, mit dem du dir im Kindergarten eine Breze gekauft hast.« Stefan schnaubt. »Du Biest! Musst du immer mit deiner Jugend kokettieren?«
Er glaubt schon, das Thema Onkel Helmut könnte damit gegessen sein, als Marlu wieder damit anfängt: »Also, ich finde, wir könnten am nächsten Wochenende einen Ausflug an den schönen Chiemsee machen. Nach einer ganzen Woche Tapetenabkratzen, Gipsen und Streichen tut uns das bestimmt gut. Vielleicht kann man auch schon im See schwimmen, wenn es so warm bleibt.«
»Ich find’s an den Geisenfelder Weihern auch schön.« Stefans letzte Ausflucht.
»Schon, aber da fehlen die Berge als Kulisse. Und die weißen Segelboote und der Dampfersteg.«
»Das brauch ich alles nicht«, brummt Marlus Mitbewohner. »Ich mach mir jetzt noch einen Kaffee, und dann packen wir’s an. Sonst werden wir auch in vier Wochen mit dem alten Haus nicht fertig. Wann kommt noch mal die Küche?«
»Am Dienstag.«
»Dann sollten wir allmählich loslegen, meinst du nicht?« An der Saeco stehend sieht er unter dem Tapeziertisch Marlus nackte Beine mit den groben Wollsocken an den Füßen. »Sag mal, ist dir eigentlich nicht kalt?«
»Doch, vielleicht leg ich mich zum Aufwärmen noch mal kurz unter die Decke. Ganz kurz.« Sie sieht ihn an.
Das Renovieren fängt ja gut an, denkt Stefan. »Ich bin übrigens dafür, dass wir nach der Küche gleich mit dem Schlafzimmer weitermachen. Ich brauche mein Bett. Aus dem Matratzenlageralter bin ich raus.« Er kramt die Ibus aus der Tasche, die er in der Apotheke gekauft hat, und schluckt die erste, damit sein Rücken sich entspannen und der Schmerz sich beruhigen kann. Dann streckt er sich vorsichtig und sieht zur Terrassentür hinaus.
Marlu kuschelt sich an ihn. »Schau, unser Garten«, sagt sie verträumt.
Aber alles, was Meißner erkennen kann, ist ein Stück verfilzter Rasen, der nach einem Vertikutierer lechzt, eine Hecke, die mindestens zehn Jahre nicht mehr geschnitten wurde, und wildes Gestrüpp dort, wo vielleicht einmal Beete angelegt waren. Marlu muss etwas anderes erkennen als er. Typisch Frauen. Sie sehen nicht, was da ist, sondern was einmal sein könnte. Die drei Monate schwerster Arbeit mit Heckenschere, Astsäge und Tonnen von Grünabfällen dazwischen blenden sie einfach aus.
»Vielleicht könnten wir auch über Nacht am Chiemsee bleiben«, flüstert Marlu ihm ins Ohr. »In einem schönen Hotel mit Schwimmbad, Sauna und einem ganz tollen Bett: hoher Einstieg, Matratze für Rückenleidende. Zur Erholung, meine ich.«
»Im Donaumoos gibt’s auch Hotels«, flüstert er zurück.
Sie boxt ihn in die Seite und geht ins Bad, aus dem sie kurz darauf in einer knackigen Jeans mit sexy Querriss überm Knie und einem zipfeligen weißen T-Shirt wieder herauskommt. »Fangen wir an? Runter mit der Tapete. Erst die Küche, dann meinetwegen das Schlafzimmer, okay?«
»Okay, ich muss mich nur noch ganz vorsichtig umziehen. Marlu?«
»Ja?«
»Wie seid ihr jetzt eigentlich verblieben? Ruft mein Vater später noch einmal an, oder wie?«
»Keine Ahnung. Er hat mir die Adresse und Telefonnummer von dieser See-Residenz gegeben, und ...« Sie ist schon mit einem Schritt aus dem Zimmer raus, um das Werkzeug zu holen.
»Und was?«, ruft er ihr hinterher.
»Und ich hab ihm versprochen, na ja, angedeutet, dass wir hinfahren und uns um deinen Onkel kümmern werden. Also, kurz nach dem Rechten sehen und dem Onkel einen schönen Gruß von seinem Bruder ausrichten. Wie weit sind die beiden altersmäßig eigentlich auseinander?«
Sie lenkt ab, denkt Stefan. »Ungefähr zehn Jahre, oder vielleicht acht«, grummelt er und sieht sie in den Gang verschwinden. »Ach, Marlu?«, ruft er ihr hinterher.
»Ja?« Sie streckt noch einmal den Kopf zur Tür herein. Ihr Gesicht eine reine Unschuldsmiene.
»Ich möchte in Zukunft, dass du außer in noch näher zu bestimmenden Notfällen nicht mehr an mein Handy gehst. Selbst wenn einer von der Marsexpedition anruft. Ist das klar?« Lieber gleich das Territorium abstecken.
»Ich hab mir schon so was Ähnliches gedacht«, sagt sie kleinlaut. Dass sie Stefans Vater auf seine Bitte hin ihre eigene Telefonnummer gegeben hat, erwähnt sie lieber nicht. Die halbe Wahrheit ist noch keine Lüge. »Aber dein Vater, also Klaus, macht sich wirklich Sorgen um seinen Bruder. Ich glaube, wir können uns nicht aus der Verantwortung stehlen.«
»Das scheint mir allerdings auch so. Und das kommt davon, wenn man das Telefon nicht einfach mal klingeln lassen kann, Marlu. Solltest du dir merken.«
»Jetzt aber los, umziehen! Oder willst du dich nur vor der Arbeit drücken?«
»Pass bloß auf, du! Wer die erste Bahn Tapete runter hat, darf sich was wünschen.«
»Okay«, sagt Marlu. »Ich glaube, da fällt mir schon was ein.«
Und Stefan Meißner spürt, wie die Schmerztablette endlich anfängt zu wirken.
Ihre Hand liegt auf der Außentasche des Blazers und schützt deren Inhalt, als wäre er ein Schatz, wertvoll, selten, vielleicht unbezahlbar. Ein Rechteck, etwas länger als zwölf, breiter als fünf und nur etwa einen Zentimeter hoch. Für sie, eine vermögende Frau, tatsächlich ein Schatz. Früher hat sie einen Familienbetrieb mit mehr als tausend Mitarbeitern geführt, achthundert davon waren Männer, und keiner hat auch nur einen Augenblick daran gezweifelt, dass sie dieser Aufgabe gewachsen wäre. Monat für Monat überwies sie etliche Millionen Deutsche Mark an Löhnen auf die Konten ihrer Angestellten, sich selbst hätte sie nahezu alles kaufen können, was man für Geld bekam. Wohlhabend, tüchtig und doch bodenständig, so beschrieb sie einmal die »Stuttgarter Zeitung« und traf damit den Nagel auf den Kopf.
Heute wiegt ihr wichtigster Schatz siebzig Gramm. Er ist rechteckig und muss vor neugierigen Blicken verborgen werden. Sonst käme bestimmt gleich jemand und würde ihn ihr abschwatzen oder ihr zumindest seinen Genuss madig machen. Sie hat den Fehler begangen, in Ruhestand zu gehen, und schon ist ihre Lebensleistung vergessen. Vergessen sind die Millionen von Steuern, die sie bezahlt hat, und vergessen ist die Dankbarkeit ihrer Mitarbeiter, die ihr entgegenschlug, als sie während einer Wirtschaftskrise mit fester Stimme verkündete: »Die Zeiten sind schlecht, aber niemand wird entlassen. Wir werden einfach besser, größer und internationaler.« Und genau so ist es gekommen.
Aber jetzt interessiert die Vergangenheit schon lange keinen Menschen mehr, und so streunt sie eben mit ihrem Schatz in der Tasche umher. Sie weiß genau, wohin sie will, aber noch sind ein paar Menschen dort, ziehen sich gerade an und stören sie.
»Dass ich durch so eine Scheiße waten muss«, murmelt sie vor sich hin, als sie zur nächsten unauffälligen Runde durch die Residenz in der Hoffnung startet, dass ihr Lieblingsplatz frei ist, wenn sie das nächste Mal den Umkleideraum passiert.
Sie fühlt sich gedemütigt, von der Welt mies behandelt und im Stich gelassen. Nur wegen eines ganz kleinen Vergnügens muss sie sich wie eine Diebin verstecken. Immer auf der Hut, um nicht erwischt zu werden. Wie ein Fünftklässler, der gezwungen ist, heimlich auf dem Klo eine Zigarette zu rauchen, weil die Lehrerin ihm die Ohren lang zieht, sollte sie ihn erwischen. Heute natürlich nicht mehr, aber früher, zu ihrer Schulzeit, war das gang und gäbe. »Frau Professor«, so musste sie diese Lehrerin auch noch nennen. In der Volksschule! Und nun wieder etwas Vergleichbares, in ihrem Alter. Aber was ist schon Würde im Vergleich zu einem Stückchen, einem Stück oder sogar etwas mehr feinster Schokolade?
Ein paar Schritte noch. Endlich ist die Luft rein. Jetzt in den Umkleideraum, aber nicht etwa, um sich für das Sea Spa umzuziehen. Rein in den Raum und gleich hinter der Tür den geschützten Platz einnehmen. Das Licht schaltet sich automatisch ein, sie könnte von hier aus zum türkisfarben beleuchteten Schwimmbecken gehen, ein paar Bahnen ziehen oder sich in der Wellnessbucht von einem Dutzend Unterwasserdüsen massieren lassen. Aber sie geht nicht zu den großzügig dimensionierten Umkleidekabinen, sondern bleibt direkt hinter der Tür auf einem Plastikstuhl sitzen. Von hier aus kann sie zumindest beobachten, was sich auf dem Verbindungsgang vom Restaurant zum Wellnessbereich abspielt.
Durch den Scharnierspalt zwischen Tür und Türstock überblickt sie ein paar Meter des Flurs. Ein schwerer Teppich dämpft die Schritte, trotzdem sind sie zu hören. Josefine Peinhardt hat es sich zum Hobby gemacht, an den Geräuschen zu erraten, wer gleich in ihr Blickfeld kommen wird. Der hinter der Tür geparkte Stuhl ist ihr Stammplatz. Wie ein Hochsitz dem Jäger, bietet ihr der Stuhl die bequeme Möglichkeit, zu beobachten, was sich in ihrer näheren Umgebung abspielt, ohne selbst beobachtet zu werden.
Ganz nebenbei packt sie die Schokolade aus. Nicht lesen, was auf dem Etikett steht. Riechen, direkt an der Schokolade, und raten, welche Sorte sie beim Greifen in ihr Geheimdepot mit geschlossenen Augen erwischt hat.
»Klack«, sie sitzt im Dunkeln. Ihr Platz liegt außerhalb der Reichweite des Bewegungssensors, der das Licht in der Umkleide einschaltet. Drei Minuten nach ihrem Eintreten erlischt das Licht automatisch.
Ingwer mit Kokos? Sie hält das Papier ins Licht, das vom Flur durch den Türspalt scheint. Ja! Ingwer mit Kokos, der Geruch hat sie nicht getäuscht. Sie spitzt ihre Zunge und tastet damit die Linien der Schokoladenrippen ab.
»Oh, wer kommt denn da?«, flüstert sie. Ein bisschen wackelig hört es sich an und ein bisschen so, als würde die Person, die den Flur in Richtung Spa geht, ein Bein nachziehen. Peinhardt würde ja am liebsten wetten, doch es ist kein Wettpartner da. Der alte Meißner ist es, da ist sie sich sicher. Sie denkt der »alte«, dabei ist Helmut Meißner bestimmt fünf Jahre jünger als sie und viel mobiler. Seit sie hier ist, hat Josefine Peinhardt zugelegt, und zwar massiv. Mehr als zwanzig Kilo, obwohl sie nicht groß ist. Bestimmt liegt das an den Tabletten, mutmaßt sie. Mehr Bewegung könnte ihr helfen, nicht noch dicker zu werden, das ist ihr klar, aber dazu hat sie keine Lust. Sie war noch nie der sportliche Typ, eher der Typ »Sport ist Mord«. Und die Schokolade? »Schokolade ist das Einzige, worauf ich mich noch freue. Ohne Schokolade kann man mich eingraben.« Das hat sie einmal zu Helmut Meißner gesagt und es auch so gemeint.
Jetzt kommt er um die Ecke. Ja, er ist es. Er fühlt sich unbeobachtet, das merkt sie sofort. Weil er eitel ist, reißt er sich zusammen, wenn er weiß, dass er beobachtet wird. Dann geht er aufrecht, mobilisiert alle Körperspannung, zu der er noch fähig ist, drückt das Kreuz durch und versucht, wie ein Pfau herumzustolzieren. So als würde weder sein Knie knacken noch sein Fuß piksen oder sein Kreuz ziehen. Jetzt aber, vermeintlich unbeobachtet, gibt er sich seinen Leiden ohne Scham hin. Er hinkt leicht, schlurft mit den Schuhen über den Boden und geht sogar einen Schritt zur Wand, um sich am Handlauf abzustützen.
Josefine Peinhardt hört ein zweites Geräusch, sehr dynamisch, fast aggressiv, und wieder ahnt sie, wer seine Urheberin ist. Schnapp, sie beißt in die Schokolade, spürt, wie sich die Konsistenz des Stücks in ihrem Mund verändert. Von fest zu wachsweich, zu cremig, und dann, nur wenig Druck mit der Zunge gegen den Gaumen genügt, verteilt sich die Schokolade fast flüssig auf ihrer Zunge. Früher hatte sie manchmal mehr Appetit auf Männer, aber jetzt hat die Schokolade keine Konkurrenz mehr. Peinhardt genießt den Augenblick, schließt die Augen, lehnt den Kopf ein klein wenig zurück und lässt ihre Zunge Kreise am Gaumen entlang malen. Helmut Meißner hat die nahende Person noch nicht bemerkt, gibt sich noch immer seinen Handicaps hin.
Sie ist es, Schwester Pia. Unwillkürlich nimmt Josefine Peinhardt Haltung an und versucht, jedes Geräusch, das sie verraten könnte, zu vermeiden. Ein bisschen genießt sie die Furcht des Entdecktwerdens, ein bisschen verachtet sie sich selbst ihrer Angst und ihres kindischen Gehabes wegen. Aber jetzt ist zuerst einmal er dran, denkt sie.
»Herr Meißner, fehlt Ihnen etwas? Sie sehen ja ganz blass aus«, hört sie Schwester Pia Mitgefühl heucheln. »Ich glaube, es ist besser, Sie gehen auf Ihr Zimmer und legen sich noch ein bisschen hin. Sie scheinen mir nicht ganz bei Kräften zu sein.« Sie lässt es nicht bei der unerbetenen Empfehlung, nimmt Meißner sogar am Ellbogen, um ihn zu stützen und in die andere Richtung zu führen.
»Nein, Schwester Pia, mir geht es prächtig. Es ist nur so wie jeden Morgen, es dauert ein paar Meter, bis die Schmiere auch in den entlegeneren Kugellagern wirkt. Lassen Sie mich bitte los. Ich gehe wie jeden Morgen schwimmen, und wenn ich dabei irgendwann untergehen sollte, müssen Sie mich eben aus dem Becken fischen. Also, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Genau, denkt Josefine Peinhardt. Zeig es dieser blöden Katholikennudel, die uns unter Vorgabe von Fürsorge herumkommandiert wie ein Schäferhund seine Herde. »Das ist aber nicht das Richtige für Ihr Alter und Ihre Gesundheit«, äfft sie leise flüsternd Schwester Pias Tonfall nach.
Er wäre vor mir nicht sicher gewesen, denkt Josefine Peinhardt. Geschnappt hätte ich ihn mir, er hätte keine Chance gehabt zu entkommen. Wie ein Hecht nach seiner Beute hätte ich nach diesem Mann geschnappt, wäre er mir nur dreißig oder vierzig Jahre früher begegnet. Und er wäre mir mit Sicherheit nicht entkommen, bildet sie sich ein, schluckt die flüssige, süßscharfe Ingwer-Kokos-Schokolade hinunter und steckt sich ein weiteres Stückchen in den Mund, um es wieder auf der Zunge cremig weich werden zu lassen.
Natürlich wäre er mir nicht entkommen. Damals war ich noch nicht dick, höchstens oben herum, aber das hätte ihm genauso gefallen wie den meisten Männern. Er ist groß und schlank, lässt sich auch heute, als alter Mann, nichts gefallen. Ein Macher durch und durch. Sicher war er attraktiv, als er jung war. Man kann sogar sagen, er ist es heute noch. Peinhardt gibt sich ihren Träumereien hin, stellt sich vor, wie sie es angestellt hätte, wäre sie ihm damals, vor vielen Jahren, zu schlankeren Zeiten begegnet.
Vielleicht hätte er sie gefragt, ob sie sich an seiner Firma beteiligen möchte, um eine Expansion in andere Länder zu finanzieren. Vielleicht hätte sie bejaht. Vielleicht auch nicht. Aber zum Abendessen, um die Details in ungezwungener Atmosphäre zu besprechen, hätte sie sich auf jeden Fall einladen lassen. Ins »Adlon Kempinski« oder ins »Interconti«. Sie hätte genau gewusst, was sie anziehen muss, um sein Interesse zu wecken, und dann, am späteren Abend, hätte sie gesagt: »Ich muss noch ein bisschen an die frische Luft, mich bewegen. Begleiten Sie mich?« Und nach seinem »Ja, sehr gern« hätte sie ihn nur noch bitten müssen, kurz mit ihr nach oben zu kommen, weil sie in diesen Schuhen nicht länger gehen könne. Und sobald die Tür zu ihrem Zimmer hinter ihnen ins Schloss gefallen wäre, wäre es zu spät gewesen. Zu spät für ihn, aber auch für sie, fantasiert sie dahin. Bewegung hätten sie dann genug gehabt, nur eben nicht an der frischen Luft. Das Alter ist doch wirklich ein großer Mist, denkt sie, und ihre Augen werden feucht, obwohl sie Sentimentalitäten hasst wie die Pest. Wütend beißt sie ein weiteres und diesmal großes Stück von der Schokolade ab.
Ja, zeig es ihr!, denkt sie, während sie beobachtet, wie er sich von Schwester Pias Arm losreißt und keinen Zweifel daran lässt, dass er ihre Fürsorge nicht nur für unangebracht übertrieben, sondern auch als Verletzung seiner Privatsphäre ansieht.
»Aber Sie haben nicht einmal Ihren Gehstock bei sich. Wir haben doch schon einmal darüber gesprochen, wie nützlich er Ihnen bei einer Schwächeattacke sein könnte«, versucht die Schwester das letzte Wort zu behalten.
»Vielleicht zur Selbstverteidigung, sonst benutze ich ihn nur aus Gründen der Eleganz und wenn mir gerade danach zumute ist«, antwortet Helmut Meißner.
Josefine Peinhardt sieht ihm an, wie zufrieden er mit seiner Retourkutsche ist, und ballt ihre rechte Hand zur Becker-Faust.
Schwester Pia kann nicht verbergen, dass Meißners Widerstand sie frustriert, und sucht nach einem Ventil für ihre Wut. Als ob sie es wüsste oder riechen könnte, dass hinter der Tür zur Umkleide ein Voyeur erster Güte die Aussicht von seinem Logenplatz genießt, geht sie schnurstracks auf die Tür zu. Sie betritt die Umkleide, »klack«, das Licht schaltet sich ein, und Josefine Peinhardt ist auf ihrem Ansitz für Schwester Pia sichtbar wie auf einem Präsentierteller. In der rechten Hand die Schokolade, den Mund halb geöffnet, Schokoladenreste in den Mundwinkeln.
Ertappt! Immer wieder hat die Peinhardt gedacht, heute passiere es, doch dann ging die Schwester vorbei, weil entweder ihr Handy klingelte und sie zwei Meter vor der Tür kehrtmachen musste oder ihr auf dem Gang jemand entgegenkam und sie in ein Gespräch verwickelte. Aber heute ist es wirklich passiert. Und was mach ich jetzt?, überlegt die Peinhardt. Dann fasst sie Mut und sagt sich immer wieder, dass sie hier die zahlende Kundin ist und nicht in einer Schulklasse sitzt, in der ein Lehrer nach Belieben Ohrfeigen verteilen darf.
»Frau Peinhardt, habe ich Sie endlich erwischt. Eine ganze Tafel Schokolade! Sie wissen doch, was die mit Ihnen anstellt. Sie haben Diabetes, und wenn Sie nicht endlich mit Ihrer unbeherrschten Zuckerschleckerei aufhören, werden Sie nicht nur noch dicker, als Sie sowieso schon sind, sondern auch noch blind werden. Wir werden Ihnen Ihre Beine abnehmen müssen, und Sie werden sterben – und zwar bald. Möchten Sie das?«, fragt Schwester Pia.
»Nein, aber noch weniger möchte ich auf Schokolade verzichten«, legt die alte Dame ihren Standpunkt dar.
»So ein Quatsch. Seien Sie nicht kindisch. Wir gehen jetzt gemeinsam auf Ihr Zimmer, Sie zeigen mir, wo Sie die Schokolade verstecken, und Sie werden sehen, dass es Ihnen bald schon besser geht, weil Sie der Versuchung nicht mehr ständig ausgeliefert sind.«
»Nichts werde ich Ihnen zeigen. Mag ja sein, dass ich krank, alt, dick und hässlich bin, aber so blöd, dass ich mir von Ihnen die Schokolade wegnehmen lasse, so blöd bin ich immer noch nicht. Das wäre ja so, als hätte jemand Helmut Schmidt die Zigaretten abnehmen wollen. Ich kann hier jederzeit ausziehen, und Sie dürfen mir glauben, dass ich dann keinerlei Hemmungen haben werde, Herrn Bock darüber zu informieren, dass Sie allein der Grund sind, weshalb er sich eine neue, finanziell genauso gut gestellte Bewohnerin wie mich suchen muss.« So oder so ähnlich hat sich Frau Peinhardt ihre Gegenrede vorgestellt. Doch sie kommt nur bis zum »Nichts ...«.
Fast hysterisch fährt Schwester Pia dazwischen. »Wissen Sie überhaupt, dass Sie es mir zu verdanken haben, dass Sie immer noch hier sind? Ihre eigenen Kinder wollten Sie in ein Nullachtfünfzehn-Pflegeheim verlegen lassen, weil sie der Meinung sind, dass es für Sie keinen großen Unterschied mehr macht, ob Sie First oder Third Class untergebracht sind. Ich persönlich habe mich bei Herrn Bock dafür eingesetzt, dass er Ihren Angehörigen bei dem Angebot ein paar Prozente Rabatt einräumt, damit Sie hierbleiben können. Die haben schließlich Betriebswirtschaft studiert. Für die sind Sie nur ein Kostenfaktor. Und Sie danken mir, indem Sie eigenständig Ihre Gesundheit zerstören? Das ist eine Schande, ja sogar eine Sünde! Gott würde Ihnen vielleicht noch Jahre schenken, doch Sie treten sein Geschenk mit Füßen. Für eine lausige Tafel Schokolade versündigen Sie sich vor Ihrem Schöpfer. Sie sollten sich schämen, und wenn Sie das nicht tun, dann sollten Sie zumindest darum bitten, dass Gott Sie nicht mit Füßen tritt und Ihren Diabetes außer Kontrolle geraten lässt. Süßigkeiten und Alkohol sind Gift für Sie! Ich hatte immer Mitleid mit Ihnen, aber jetzt, wo ich weiß, wie genusssüchtig Sie sind ... Sie machen es sich und uns wirklich nicht leicht. Ich bin wirklich sehr enttäuscht von Ihnen, Frau Peinhardt.«
Er geht von seinem Privatzimmer, das er in der Manier der bayerischen Ludwige gern »seine Gemächer« nennt, in sein Büro, das gleichzeitig als Empfangszimmer für die Neuankömmlinge und ihre Angehörigen sowie für alle an einem Apartment in der Residenz Interessierten dient. Er steckt das weiße Leinenhemd in seine senffarbene Cordhose und schließt den Knopf am Bund, dann den braunen Ledergürtel, den er letzten Herbst auf einem Kunsthandwerkermarkt in der Toskana gekauft hat. Giancarlo, so hieß der junge Bursche mit den Ledersachen. Schwarzer Lockenkopf, spitzbübisches Lachen, dunkle Augen. Sie unterhielten sich gut, radebrechend halb auf Deutsch, halb auf Italienisch, und lachten viel zusammen. Melsene fand an dem Stand nichts für sie Passendes, alles war ihr ein bisschen zu rustikal, zu viel Hippie, zu viel Siebziger-Jahre-Flair, wie sie sagte, obwohl sie zu jung ist, um diese Zeit selbst erlebt zu haben. Sie ist die typisch taffe Betriebswirtschaftlerin, immer wie aus dem Ei gepellt. Vom Hippie so weit entfernt wie ein Paar Prada-Pumps von ausgelatschten Jesus-Sandalen. Italien, die sanften Hügel der Toskana, Zypressen, feines Essen, mein Gott, ja, das hatte schon was. In jedem bayerischen Ludwig steckt doch immer auch ein kleiner Luigi.
Anselm Bock schließt die echten Hornknöpfe seines Hemdes und ist endlich korrekt angezogen. Gleich wird die alte Dame aus Bayreuth eintreffen. Sie wird von ihrem Sohn gebracht. Bock tritt ans Fenster, das nach Osten hinausgeht, und denkt wie jeden Tag seit dem ersten vor vier Jahren, dass diese Aussicht ihn nie langweilen wird. Gut, es ist nicht Italien, sondern Süddeutschland, und weit und breit ist keine einzige Zypresse zu erkennen, aber trotzdem ein ebenso himmlisches Fleckchen Erde wie die Toskana. Die glatte Wasseroberfläche des Sees liegt ruhig vor ihm, weiße Segel ziehen wie riesige Schwäne langsam auf ihr dahin. Nach Süden hin rücken die Chiemgauer Berge ins Blickfeld, darüber strahlt ein blauer Frühsommerhimmel. Obwohl er selbst ein Zugereister aus dem fränkischen Nordbayern ist, hat Anselm Bock sich gut eingelebt in diese altbajuwarische Idylle. Hier kann er gleich mehrere seiner Leidenschaften befriedigen. Er kann auf die Jagd und er kann fischen gehen. Die Lizenz hat er, nur die Zeit findet er nicht so oft, wie er es gern hätte. Er seufzt.
»Geht’s dir gut?« Melsene verstaut die Utensilien ihres kleinen Rollenspiels im Wandschrank. Das strenge Kostüm, die gestärkte weiße Bluse, die Tafel und das große Lineal. Sie schließt den Schrank mit einem Schlüssel ab und legt diesen an seinen üblichen Platz in eine der Schubladen des Sekretärs. Auch sie hat sich wieder umgezogen und trägt nun eine zart gestreifte Seidenbluse zu ihren schmalen Hosen und Pumps mit moderatem Absatz. Das rötlich blonde Haar hat sie im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Anselm Bock staunt immer wieder, wie schnell sie ihren Typ wechseln kann. Sie ist für ihn geheimnisvoll und wird es hoffentlich noch lange bleiben. Umgekehrt hat er das Gefühl, dass sie in ihm lesen kann wie in einem aufgeschlagenen Buch.
Anselm Bock ist Leiter der Residenz am See, ein charismatischer Menschenführer, zumindest ist das seine eigene Wahrnehmung. Die unumstrittene Nummer eins. Melsene Ritter ist seine Geschäftsführerin. Sie kann nicht nur rechnen, sie kommt auch aus der Gegend und ist mit guten Kontakten zur Politik und zur Presse bestens vernetzt, was ein echter Vorteil, ja lebenswichtig für das Unternehmen ist. Anselm Bock hat das Gespür für Menschen, er kann mit allen, sie fressen ihm förmlich aus der Hand. Anselm und Melsene teilen sich die geschäftlichen Aufgaben und sind von Anfang an sehr gut damit gefahren. Dass sie auch seine sexuellen Vorlieben teilt, ist eine glückliche Fügung, die nicht zu erwarten war. Melsene ist intelligent, fantasievoll und auf erregende Weise schamlos. Beide sind sexuell sehr aktiv und müssen dafür nur die Verbindungstür zwischen seinem Büro und den Privaträumen öffnen.
Das Knirschen der Räder eines schweren Fahrzeugs auf Kies ist zu hören. Anselm sieht durch das Erkerfenster hinunter auf die Einfahrt. Ein 7er-BMW, in Dunkelblaumetallic, Kennzeichen BT, rollt auf das Anwesen zu. Eine ehemalige Jugendstilvilla, errichtet zu Beginn des 20. Jahrhunderts, heute luxussanierte Senioren-Residenz, und von vermögenden Familien aus ganz Deutschland gern als Altersruhesitz für ihre schwierig gewordenen Patriarchen und Patriarchinnen gewählt. An einem der schönsten Orte der Republik, inmitten einer gepflegten Parkanlage und mit privatem Seezugang, Restaurant und Wiener Kaffeehaus mit Sonnenterrasse. Außerdem mit Luxus, Wellness und allen erdenklichen Pflegeleistungen sowie persönlicher Betreuung. BT steht für Bayreuth. Bock erinnert sich. Seine Gäste führen eine Künstleragentur in der dritten Generation und waren oder sind mit allen Wagners persönlich bekannt: Wolfgang, Wieland, Winifred und wie sie alle heißen. Bock fährt sich mit den Fingern durch das gewellte braune Haar. Seit er die Farbe mit einer leichten Tönung auffrischt, wirkt er um Jahre jünger.
»Ist alles vorbereitet?«
»Natürlich.« Melsene nickt.
»Dann begrüße jetzt unsere Gäste.«
Melsene wirft ihm einen Blick zu, in dem Bewunderung und Ergebenheit mitschwingen. Ob eine so kluge und erfolgreiche Frau wie sie zu Gefühlen wie Liebe fähig ist, kann er nicht sagen. Er würde ihre Einstellung ihm gegenüber mit Respekt, Offenheit und Begehren beschreiben. Davon hat er sich gerade eben wieder selbst überzeugen können, und das reicht ihm. Zu viel Gefühl macht sowieso alles nur kompliziert. Es ist perfekt so, wie es gerade ist. Nothing to improve, wie der Brite sagen würde.
Melsene ist stets für die Begrüßung der Ankommenden zuständig. Anselm erwartet die Besucher oben in seinem Arbeitszimmer. Jetzt beobachtet er vom Fenster aus, wie der Sohn, der die fünfzig bereits überschritten hat, auf der Fahrerseite des BMW aussteigt und Melsene bemerkt, die auf ihn zukommt. Er gibt ihr die Hand, deutet eine leichte Verbeugung an, geht dann zur anderen Seite des Wagens hinüber, öffnet die Beifahrertür und ist seiner Mutter beim Aussteigen behilflich. Die alte Dame mit dem in einem eleganten Mahagoniton gefärbten Haar wie aus vergangenen Zeiten wirkt gefasst. Sie hakt sich bei ihrem Sohn unter und mustert kritisch die Fassade der Villa. Auch zu dem Erkerfenster, hinter dem Bock steht, blickt sie empor, kann ihn durch die Gardinen jedoch nicht sehen.
Ach, schau an, denkt Anselm Bock, das erweiterte Empfangskomitee rollt an! Ein älterer Herr im frühsommerlich leichten Nadelstreifenanzug, mit hellem Hemd und einem eleganten grauen Sommerhut kreuzt wie zufällig in dem Moment die Einfahrt. Er wirkt wie ein Charmeur der alten Schule, denkt Bock, ist aber in Wahrheit ein Wolf im Schafspelz. Er wird sich mit Schwester Pia wieder über seine Medikamentierung unterhalten müssen. Mitunter wirkt er ein wenig gebrechlich, vor allem, wenn er sich unbeobachtet fühlt, aber in der Birne scheint er noch ziemlich fit zu sein. Er bildet sich sogar etwas darauf ein, über alles, was in der Residenz läuft, genauestens Bescheid zu wissen. Schwester Pia sollte vielleicht etwas an der Dosierung seiner Medikamente ändern, damit er ein wenig ruhiger wird und nicht meint, er müsse seine Nase in Dinge stecken, die ihn nichts angehen. Der Alte macht ja noch alle seine Mitbewohner rebellisch, und jetzt wanzt er sich auch schon an die Festspielagentin im Ruhestand ran.
Anselm Bock beobachtet, wie er einen tiefen Diener macht, als die Dame sich unter sichtlichen Mühen am Arm ihres Sohnes endlich in Bewegung setzt. Jetzt küsst er ihr doch glatt die Hand, dieser Schleimer! Anselm malt ein großes P für Pia auf das zuoberst liegende Blatt in seiner Schreibmappe, dazu einen Pfeil und die Initialen HM.
Melsene lotst die Besucher an dem Alten vorbei zum Eingang, gleich werden sie zusammen im Aufzug zu ihm hinauf in den ersten Stock fahren.
Anselm Bock empfängt die beiden überaus herzlich. Er öffnet ihnen selbst die Tür und lässt ihnen Zeit, sich umzusehen. Ihre Blicke schweifen durch sein Erkerzimmer mit den gediegenen wandhohen Bücherschränken, streifen den verschlossenen Waffenschrank mit seinen gut gepflegten Jagdgewehren, den stets frischen Blumenstrauß in der teuren Porzellanvase auf seinem Nussbaum-Schreibtisch, die Gemälde von Hunden und Jagdszenen und natürlich seinen Flügel: einen Bösendorfer Imperial, der die Hälfte des Raumes einnimmt und mit seinen zwei Metern neunzig Länge noch jeden beeindruckt hat. Erst wenn das Materielle, die Einrichtung des Büros, geschätzt worden ist, wird er als Leiter der Einrichtung taxiert: seine eher legere, aber traditionelle Kleidung mit Loden, Cord und Leinen statt edlem Zwirn, sein jungenhaftes Aussehen, sein locker und selbstbewusst wirkendes Auftreten. Ein Junge aus gutem Haus, vielleicht mit einer sozialen oder künstlerischen Ader. Die Gäste sehen in ihm den Frontmann, während die elegante junge Dame an seiner Seite für den reibungslosen Ablauf und die Führung der Geschäfte zuständig ist. Und natürlich werden sie sich fragen, ob die beiden etwas miteinander haben. Anselm Bock lässt sich taxieren und taxiert wiederum selbst.
Wie ist das Verhältnis des Sohnes, der die meiste Zeit des Jahres irgendwo in Amerika lebt, zu seiner Mutter, die er in ein paar Stunden für immer hier bei ihnen lassen wird? Wann wird er sie das nächste Mal besuchen? Gehört er zu denen, die sich einmal im Jahr, an Weihnachten oder zum Geburtstag seiner Mutter, melden, oder kommt er schnell auf ein Stündchen vorbei, wenn er in München oder anderswo im Süden Deutschlands zu tun hat? Wieso ist er allein und wird nicht von seiner Frau begleitet? Versteht sie sich nicht mit ihrer Schwiegermutter?
Die alte Dame scheint von der Situation überfordert zu sein. Sie wirkt wach und aufmerksam, aber sie sagt nichts, beobachtet nur.
Der Sohn, ein smarter Geschäftsmann mit grauen Schläfen, die sehr gut zu seinem dunklen Haar und dem sonnengebräunten Teint passen, übergibt Anselm Bock ein Schreiben des Hausarztes mit einer Liste der zu verabreichenden Medikamente. »Sie werden sich doch darum kümmern, dass meine Mutter ihre vom Hausarzt verschriebenen Tabletten bekommt?«, fragt er mit übertriebener Beflissenheit. »Er ist übrigens eine medizinische Koryphäe in Bayreuth.«
»Aber selbstverständlich«, antwortet Anselm Bock. »Ihre Mutter ist bei uns in besten Händen, Herr von Hertan. Sie müssen sich keine Sorgen machen.«
»Ich wollte nur sichergehen, da Sie ja eher eine naturheilkundliche Richtung vertreten.«
»Höre ich da eine Spur Skepsis in Ihrer Stimme?« Eine rhetorische Frage. »Das ist vollkommen in Ordnung. Seien Sie ruhig misstrauisch. Aber ich kann Ihnen versichern, dass wir von jeder Art Medizin das Beste für unsere Patienten auswählen. Wir sind keine Gegner der Schulmedizin, Gott bewahre, aber wir erzielen auch erstaunliche Erfolge mit anderen Heilmitteln, die genauso wie die konventionellen aus der Apotheke stammen und die erwünschten Wirkungen zeigen.« Bock macht eine Pause, sieht von der Mutter zum Sohn, der offensichtlich nicht gern belehrt wird. Aber da muss er jetzt durch.
»Was bedeutet Naturheilkunde eigentlich?«, fragt Anselm Bock und gibt die Antwort gleich selbst. »Wir nutzen die Kräfte der Natur, das ist richtig, aber nicht, um Krankheiten zu kurieren. Stattdessen wollen wir damit die Selbstheilungskräfte der uns anvertrauten Menschen, die aufgrund ihres Alters und ihrer Lebenssituation oft auch Patienten sind, fördern. Dazu wenden wir die Phytotherapie, sprich pflanzliche Heilmittel, aber vor allem die Hydro- und die Balneotherapie an. Wir arbeiten mit Wasseranwendungen, die wir mit Bewegungstherapie kombinieren, und, ganz wichtig, sorgen für eine gesunde Kost, die den Bedürfnissen des Einzelnen angepasst, aber grundsätzlich leicht verdaulich, kohlenhydratarm und ausschließlich aus frischen und regionalen Zutaten zubereitet ist. Sie werden bei uns nirgendwo Convenience-Food finden, keine Geschmacksverstärker, Konservierungsstoffe und so weiter. Wir achten streng darauf, dass Industriezucker und versteckte Fette vermieden werden und unsere Patienten ausreichend gesunde Getränke zu sich nehmen. Wussten Sie zum Beispiel, dass sich Nachtschattengewächse wie Tomaten, Paprika oder Auberginen sehr gut als Parkinson-Prophylaxe eignen?«
»Dann müssten Sie dem Herrn, den ich bei meiner Ankunft kennenlernen durfte, wohl etwas mehr Nachtschattengewächse zuführen«, meldet sich nun die Patriarchin und Seniorchefin der Konzertagentur zu Bayreuth erstmals zu Wort.
Scharfer Geist und scharfe Zunge, denkt Anselm Bock. »Damit haben Sie recht, gnädige Frau. Leider ist unser Unternehmer aus Offenbach als Patient ausgesprochen schwierig, und wir können niemanden zu seinem Glück zwingen, nicht wahr?«
»Hauptsache, man bleibt geistig fit«, sagt die Gnädige. »Den körperlichen Verfall kann man sowieso höchstens ein wenig aufhalten, aber nicht verhindern.«
»Ich bitte Sie, gnädige Frau, Sie sind doch selbst das beste Beispiel dafür, dass beides möglich ist: körperliche Gesundheit und ein wacher Geist«, behauptet Anselm. »Das zu erhalten, liegt uns hier sehr am Herzen. Unterstützend und komplementär zur medizinischen Behandlung und der Balneotherapie setzen wir auch homöopathische Einzel- und Komplexmittel ein. Sie dienen der individuellen Stärkung und sind vollkommen nebenwirkungsfrei.«
»Ich habe in Ihren Prospekten gelesen, dass Sie auch eine Thalasso-Therapie anbieten. Ich dachte immer, dafür müsste man am Meer sein. Oder gibt es in Ihrem See auch ein abgetrenntes Salzwasserbecken?«, scherzt der Sohn.
Ein mäßiger Scherz, wie Anselm Bock findet. »Die Anwendungen der Thalasso-Therapie werden nicht hier, sondern am Schwarzen Meer durchgeführt. Jeder Residenz-Bewohner hat pro Jahr bis zu zwei, in Einzelfällen sogar bis zu vier Wochen die Möglichkeit, die Therapie in Anspruch zu nehmen. Das ist Urlaub pur. Und wieso sollte man auf Ferien verzichten, nur weil man ein gewisses Alter erreicht hat?«
»Am Schwarzen Meer?«, fragt der Sohn. »Doch hoffentlich nicht auf der Krim? Ich meine, gerade jetzt ...«
»Keine Sorge, die Anwendungen finden in Rumänien statt«, sagt Anselm Bock.
»Rumänien?«, schreckt die alte Dame hoch. »Aber in ein so armes Land wie Rumänien will ich nicht«, erklärt sie energisch.
»Keine Angst, Frau von Hertan, unsere Bewohner werden in einem Vier-Sterne-Wellnesshotel mit medizinischer Betreuung untergebracht, vier Sterne nach deutscher Klassifizierung, nicht nach Landeskategorie. Sie müssen also keine Bedenken haben, Sie werden den gewohnten hohen Standard vorfinden.«
»Sie verstehen mich nicht. Es geht mir nicht um den Standard, sondern darum, dass ich nicht nach Rumänien fahre.«
»Sie würden auch nicht fahren, sondern fliegen, Madame.«
»Weder fahre noch fliege ich. Nicht nach Rumänien.«
Der Sohn sieht seine Mutter an. Er scheint von ihrer rigorosen Ablehnung dieses Angebots unangenehm berührt zu sein. »Urlaub im Süden, Mutter«, sagt er mit einem Lächeln, aber seine Worte kommen nicht bei ihr an.
»Hören Sie zu.« Die alte Dame wendet sich an Bock, der ebenfalls von ihrer Vehemenz überrascht ist. »Ich bin in Rumänien geboren, in Siebenbürgen, genauer gesagt.«
»Und noch genauer«, seufzt ihr Sohn, »in Honigberg im Burzenland.«
Bock ist verunsichert, ob der Sohn ihn damit auf den Arm nimmt. »Burzenland? Nie gehört.«
»Meine Familie wurde von den Kommunisten enteignet und schikaniert«, sagt die alte Dame. »Sie haben uns alles genommen.«
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie in Ihrem Leben viel Schlimmes erlebt haben«, heuchelt Bock Mitgefühl.
»Junger Mann«, antwortet sie, »mussten Sie je Ihre Heimat verlassen? Ihr Land? Ihr Haus? Ihren Grund und Boden? Nein? Dann haben Sie nicht mal den Hauch einer Ahnung, wovon ich rede. Nach Rumänien bringen mich jedenfalls keine zehn Pferde. Ich bevorzuge die Ostsee oder meinetwegen auch die Nordsee für eine Thalasso-Therapie, die mir übrigens auch schon in jüngeren Jahren sehr gutgetan hat. Und jetzt wünsche ich, dass darüber nicht mehr gesprochen wird.«
»Dann sei es so«, lenkt Bock ein. »Frau Ritter wird Ihnen jetzt Ihr Apartment zeigen. Ab achtzehn Uhr servieren wir unser Vier-Gänge-Abendmenü im Restaurant ›Seeblick‹.«
»›Seeblick‹? Wie originell«, ätzt die Gnädige. »Aber warum um Himmels willen so früh? Das sind ja Essenszeiten wie im Krankenhaus. Aber selbst da kann man als Privatpatient Extrawünsche anmelden.«
Aha, natürlich, die üblichen Extrawünsche! Anselm Bock nimmt den letzten Satz zur Kenntnis, geht aber nicht darauf ein. »Bleiben Sie zum Abendessen, Herr von Hertan?«
»Hertan genügt, bitte.« Der Sohn winkt ab.
Einer von denen, die großzügig auf ihren Adelstitel verzichten, sobald er einmal eingeführt ist, denkt Anselm Bock.
»Nein, ich muss leider zurück nach München. Mein Flieger geht noch heute Nacht. Meine Familie wartet schon auf mich.«
Die alte Dame verzieht keine Miene.
Bock funkt Melsene an, und sie holt Mutter und Sohn ab, um sie in das Apartmenthaus zu begleiten.