Eine schöne Leich - Lisa Graf - E-Book
SONDERANGEBOT

Eine schöne Leich E-Book

Lisa Graf

0,0
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sie tanzt einen tödlichen Reigen: Der fesselnde Regio-Krimi »Eine schöne Leich« von Bestsellerautorin Lisa Graf jetzt als eBook bei dotbooks. Felder im Sommerwind und Weiden mit glücklichen Kühen, wohin das Auge reicht: Das ist das Revier von Hauptkommissar Meißner von der KRIPO Ingolstadt. Als die Leiche einer jungen Frau auftaucht, die Meißner am Tag zuvor durch eine Blumenwiese tanzen sah, wird es für ihn und seine Kollegin Rosner darum schnell persönlich – denn Mord und Totschlag haben im bayrischen Idyll nichts zu suchen. Wer hat das Leben der Roxanne Stein so brutal beendet? Das Ermittlerduo macht sich auf die Suche nach Antworten in der Theaterszene der Stadt – und findet schon bald erste erschütternde Antworten … »Mit Sympathie und psychologisch fein zeichnet die Autorin die oberbayerischen Charaktere ihres Ermittlerteams« Berchtesgadener Anzeiger Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der packende Bayern-Krimi »Eine schöne Leich« von Lisa Graf ist der Auftakt ihrer »Mord in Bayern«-Krimireihe um Kommissar Stefan Meißner – ein Lesevergnügen für alle Fans der Bestseller von Klüpfl Kobr und Nicola Förg. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 295

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch:

Felder im Sommerwind und Weiden mit glücklichen Kühen, wohin das Auge reicht: Das ist das Revier von Hauptkommissar Meißner von der KRIPO Ingolstadt. Als die Leiche einer jungen Frau auftaucht, die Meißner am Tag zuvor durch eine Blumenwiese tanzen sah, wird es für ihn und seine Kollegin Rosner darum schnell persönlich – denn Mord und Totschlag haben im bayrischen Idyll nichts zu suchen. Wer hat das Leben der Roxanne Stein so brutal beendet? Das Ermittlerduo macht sich auf die Suche nach Antworten in der Theaterszene der Stadt – und findet schon bald erste erschütternde Antworten …

Über die Autorin:

Lisa Graf, geboren in Passau, studierte Romanistik und Völkerkunde und ist Reisebuch- und Krimi-Autorin. Mit ihrer historischen Romanreihe über das Feinkost-Haus Dallmayr erreichte sie Spitzenplatzierungen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Die Autorin lebt im Berchtesgadener Land.

Die Website der Autorin: https://lisagraf-autorin.de/

Die Autorin bei Facebook: https://www.facebook.com/lisa.grafriemann/

Die Autorin auf Instagram: https://www.instagram.com/lisa.grafriemann/

Bei dotbooks veröffentlichte die Autorin ihre »Mord in Bayern«-Krimireihe mit den Bänden »Eine schöne Leich«, »Donaugrab«, »Eisprinzessin« und »Steckerlfisch«, der in Co-Autorschaft mit Ottmar Neuburger entstand.

Lisa Graf und Ottmar Neuburger veröffentlichten bei dotbooks außerdem gemeinsam den Thriller »Die Bitcoin-Morde«.

***

eBook-Neuausgabe Januar 2024

Copyright © der Originalausgabe 2010 Hermann-Josef Emons Verlag

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Sina Ettmer Photograph, KRIT GONNGON

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fb)

ISBN 978-3-98952-012-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Sind Sie auf der Suche nach attraktiven Preisschnäppchen, spannenden Neuerscheinungen und Gewinnspielen, bei denen Sie sich auf kostenlose eBooks freuen können? Dann melden Sie sich jetzt für unseren Newsletter an: www.dotbooks.de/newsletter (Unkomplizierte Kündigung-per-Klick jederzeit möglich.)

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Eine schöne Leich« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

Besuchen Sie uns im Internet:

www.dotbooks.de

www.facebook.com/dotbooks

www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Lisa Graf

Eine schöne Leich

Regionalkrimi – Mord in Bayern 1

dotbooks.

Lese jeden Tag etwas, was sonst niemand liest.

Denke jeden Tag etwas, was sonst niemand denkt.

Tue jeden Tag etwas, was sonst niemand albern

genug wäre, zu tun. Es ist schlecht für den Geist,

andauernd Teil der Einmütigkeit zu sein.

Gotthold Ephraim Lessing

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,

und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,

Sie wissen alles, was wird und war;

kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;

ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.

Die Dinge singen hör ich so gern.

Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.

Ihr bringt mir alle die Dinge um.

Rainer Maria Rilke

Kapitel 1

Meißner zog sich die Lederjacke über und klopfte suchend seine Taschen ab. Das Handy! Er zog die Schuhe noch einmal aus und tapste möglichst leise hinüber ins Schlafzimmer. Kirsti lag auf seiner Bettseite und hatte sich seine Decke zusätzlich zu ihrer eigenen geschnappt. Sie hielt das mit dunkelblauem Satin bezogene Betttuch zwischen ihren Beinen fest und umklammerte es mit den Armen, als läge er noch immer bei ihr. Das Bild rührte ihn, und er deckte die freie Decke über die helle Haut ihrer Beine und ihres üppigen Pos. Kirsti war eine sehr weibliche Frau. Sie war weich und gefühlvoll und hatte im Leben immer wieder Pech gehabt. Jetzt arbeitete sie als Bedienung in einem Café in der Innenstadt. Diese Woche hatte sie Spätschicht gehabt. Sie war genauso Single wie er, und manchmal trösteten sie sich gegenseitig ein bisschen über das Alleinsein hinweg.

Als er sein Handy vom Nachttisch nahm, bemerkte er, dass sie sich gestern nicht mehr richtig abgeschminkt hatte. Die Wimperntusche war über und unter ihren Augen verschmiert, sodass ihr schlafendes Gesicht ziemlich traurig aussah.

Er steckte das Handy ein, verließ die Wohnung und fuhr in seinem Audi A4 ins Präsidium. Das Auto war noch nicht einmal ein Jahr alt. Wieso brachten die eigentlich kein Modell mit Selbstreinigungsfunktion auf den Markt? Bei den Küchenherden funktionierte das doch auch. Autowäschen, entrümpeln, saugen, er wusste, dass das vielen Männern, vor allem samstags, riesigen Spaß machte. Ihm nicht. Manchmal erschreckten ihn die leichten Verwahrlosungstendenzen, die er an sich bemerkte, aber er musste ja auch auf niemanden mehr Rücksicht nehmen. Carolas Nörgeleien über nicht geleerte Aschenbecher oder einen zugemüllten Beifahrersitz gingen ihm zwar nicht ab, doch sie hatten halt irgendwann auch eine Wirkung gezeigt. Aber jetzt war Carola nicht mehr da. Vor einem halben Jahr war sie bei ihm ausgezogen. Nun gab es keine Klagen mehr, dafür noch mehr Chaos, in dem er sich nicht unbedingt wohlfühlte, aber er fand einfach nicht die Kraft dazu, es zu ändern. Denn letztlich hatte das kleine Chaos um einen herum doch auch etwas zutiefst Tröstliches und Menschliches. Fand er zumindest.

Dass Kirsti so weit draußen, in Oberstimm, wohnte, das nervte ein bisschen. Er fuhr auf der B 13, die parallel zur Bahnstrecke München-Nürnberg in nördlicher Richtung nach Ingolstadt verlief. Die Bundesstraße führte mitten durch Unsernherrn, den ersten eingemeindeten Unterbezirk von Ingolstadt, wo es sich morgens meistens an den Ampeln und Fußgängerüberwegen staute. Schulbusse zuckelten um die Zeit im Stop-and-go durch den Ort, während die Pendler, die nach Ingolstadt in die Arbeit mussten, sich an ihnen vorbeizudrängen versuchten. Zwischen Unsernherrn und dem nördlich angrenzenden Bahnhofsviertel gab es noch einen kleinen unbebauten Flecken Erde, auf dem seit diesem Frühjahr ein Feld mit Blumen zum Selbstpflücken blühte. Am Rand standen Sonnenblumen, dann folgten mehrere Reihen mit Gladiolen, wie sie früher immer im Schrebergarten seiner Großeltern gewachsen waren. Damals waren sie an Stöcke gebunden worden, damit der Wind sie nicht knickte. Auf dem Feld bogen sich die kräftigen Stängel mit ihren weißen, roten und violetten Blütenständen im Wind, als Meißner mitten im Feld eine Frau entdeckte. Mit ausgestreckten Armen und sich drehend tanzte sie durch die Reihen. Der Saum ihres roten Kleides flatterte im Wind, und ihr langes dunkles Haar flog wild um ihr Gesicht. Meißner stieg panisch auf die Bremse. Verdammt, beinahe wäre er auf den BMW vor ihm aufgefahren. Musste der auch schon einen halben Kilometer vor der nächsten Ampel abbremsen, um im Leerlauf Benzin zu sparen? Jetzt war er an dem Blumenfeld vorbei und hatte die Frau aus den Augen verloren. Leider.

Er fuhr auf der Münchener Straße weiter, am Hauptbahnhof vorbei, bog in die südliche Ringstraße ein, überquerte die Donau und erreichte über die Heydeckstraße das Präsidium. Den Wagen stellte Meißner auf dem Parkplatz an der Rückseite des Backsteingebäudes ab und betrat das Gebäude durch den Hintereingang. Als der Türöffner summte, ging er durch die Glastür. Stangelmayer, der am Eingang saß, erhob sich und nickte ihm zu. Meißner schätzte, dass Stangelmayers Hüftumfang in den letzten zwei Jahren mindestens um einen halben Meter zugenommen hatte. Es war deprimierend, das mit anzusehen. Früher war er einer der Besten in der Polizei-Sportgruppe gewesen, ein richtig guter Sprinter. Heute war nicht mehr dran zu denken, dass er auch nur den windigsten Taschendieb einholen würde. Der Innendienst machte Männer fett und behäbig.

Meißner ging am Lift vorbei und stieg die Treppe hinauf. Wie lange war er selbst schon nicht mehr gelaufen? Er wusste es ganz genau. Carola war eine fanatische Joggerin gewesen. Die Teilnahme am jährlichen Ingolstädter Halbmarathon im Frühsommer war stets eine Ehrensache für sie gewesen. Er hatte sich sogar dazu überreden lassen, mit ihr dafür zu trainieren. Was Carola sich vornahm, das zog sie auch durch. Sie war eine starke, eigenwillige Person, und er hatte sie immer so akzeptiert. Aber jetzt war sie weg, und er war im letzten halben Jahr überhaupt nicht mehr gelaufen, nicht ein einziges Mal. Jetzt, wo sie ihn nicht mehr dazu antrieb.

Er betrat den zweiten Stock. Sein Kollege Elmar Fischer holte sich gerade einen Kaffee am Automaten.

»Morgen«, sagte Meißner.

»Hi, Stefan«, antwortete sein junger fränkischer Kollege, der sich bestimmt Mühe gab, nicht allzu auffällig gekleidet im Dienst zu erscheinen. Trotzdem war sein Outfit - ein feuerrotes Hemd, modische Hüftjeans, die blonde, mit Gel gestylte Kurzhaarfrisur und als i-Tüpfelchen ein blauer Stecker im rechten Ohr - wie immer einen Tick zu schrill für das oberbayrische Polizeipräsidium geraten. Im Gegensatz zu den Beamten vom Schlag eines Stangelmayer war Fischer jedoch topp in Form. Er hatte ein Abo im Fitnessstudio und ging, im Gegensatz zu vielen anderen, auch tatsächlich drei Mal die Woche in die Muckibude und quälte sich an Arm- und Beinpressen ab. Wahrscheinlich joggte er außerdem an den restlichen Tagen mal locker morgens eine Stunde vor dem Dienst, dachte Meißner nicht ohne Neid. Fischer war jung und knackig, und daran gab’s wirklich nichts auszusetzen.

»Na, heute mit dem linken Fuß zuerst auf den Flokati getreten?«, versprühte Fischer seine ewig gute Laune.

»Bring mir auch einen Kaffee«, ignorierte Meißner die Frage und verzog sich in sein Büro. Wie konnten manche Leute den Tag schon so geschwätzig beginnen?

Um neun rief Winter an.

»Stefan, Arbeit. Wir haben drei Illegale für dich.«

»Woher?«, fragte Meißner.

»Wir haben sie an einer Tankstelle in der Nähe der A 9 geschnappt. Kolumbianer. Zwei Männer, eine Frau.«

»Kolumbianer?« Das hatte ihm noch gefehlt. »Was ist mit Holler? Kann er sich nicht darum kümmern?«

»Der musste zum Zahnarzt. Kommst du jetzt runter?«

»Wenn es denn unbedingt sein muss«, knurrte Meißner.

Wenigstens war es noch vormittags und der zuständige Richter vermutlich greifbar. Als er zur Tür hinausging, stieß er fast mit Fischer zusammen. Der heiße Kaffee schwappte über den Becherrand und rann dem jungen Kollegen über die Hände. Meißner drückte sich an ihm vorbei, »’tschuldigung«, brachte er gerade noch schulterzuckend heraus, dann ging er den Gang entlang zur Treppe und zum Eingang hinunter.

Winter hatte den dreien schon die Pässe abgenommen. Wie Meißner erwartet hatte, waren es klägliche, stumme Gestalten. So fremd wie drei Lamas auf einer bayrischen Kuhweide, dachte der Hauptkommissar und nickte ihnen zu. Die Frau war die älteste der drei Personen, zwischen vierzig und fünfzig. Sie hatte dickes kurzes Haar, das blond gefärbt war. Der breite dunkle Haaransatz war unübersehbar. Sie war klein, stämmig und auffällig jugendlich gekleidet für ihr Alter, was nicht unbedingt vorteilhaft war. Einer der beiden Männer hätte fast der Sohn der Frau sein können, er war Anfang zwanzig, während der andere etwa zehn Jahre älter war. Er hatte große dunkle Augen, volles lockiges Haar und wirkte weniger proletarisch als die anderen beiden. Er hätte Lehrer oder Journalist sein können.

»Sie waren mit einem alten Lada unterwegs, Kölner Kennzeichen. Auf einen Tschechen zugelassen«, sagte Winter. »Können kein Wort Deutsch.«

Meißner sprach sie auf Englisch an und versuchte es dann mit seinen paar Brocken Französisch. Vergeblich.

»Was sprechen die noch mal in Kolumbien?«, fragte Winter.

»Spanisch«, sagte Meißner. »Stangelmayer soll in der Kartei nachsehen und einen Dolmetscher anrufen.«

»Und was soll ich jetzt mit denen machen?«, wollte Winter wissen.

»Das Übliche«, sagte Meißner. »Ohne Dolmetscher brauchen wir gar nicht anzufangen. Keine Waffen, nehme ich an?«

Winter schüttelte den Kopf.

»Habt ihr die Pässe schon geprüft?«

»Ja, zwei sind wahrscheinlich gefälscht. Der von ihr«, er deutete auf die Frau, »und der von ihm.« Er zeigte auf den jüngeren Mann.

»Aber dann ist ja alles klar«, sagte Meißner. »Und nimm ihnen die Gürtel ab. Die Frau kann im Verhörzimmer bleiben.«

Winter brachte die Männer in die Zellen im Untergeschoss, Meißner selbst blieb bei der Frau sitzen und wartete, bis sein Kollege zurückkam. Die Frau begann zu weinen. Das kräftig aufgetragene Augen-Make-up war im Begriff, sich aufzulösen. Dünne schwarze Rinnsale liefen wie Spinnenbabys über ihre kräftigen Wangenknochen. Meißner fiel auf, dass ihr etwas verlebtes Gesicht indianische Züge trug. Er zog eine Packung Tempo-Taschentücher aus seiner Lederjacke und reichte sie der Frau. Sie lächelte kurz, schluchzte aber gleich darauf wieder laut auf. Dann kam Winter zurück und löste ihn ab.

In seinem Büro informierte Meißner den Haftrichter, dann erledigte er, während er auf den Dolmetscher wartete, den Stangelmayer hoffentlich bald auftreiben würde, den notwendigen Verwaltungskram.

»Ach ja, Stefan?« Fischer streckte seinen Kopf zur Tür herein. »Bevor ich es vergesse: Die Streife hatte gestern einen Einsatz in einer Privatwohnung in Haunwöhr. Familienstreit, kleine Schlägerei, doch die Frau liegt im Krankenhaus. Gestern Abend wollte sie noch keine Anzeige machen, aber sie konnte auch nicht wirklich vernommen werden, weil sie so durcheinander war. Fahren wir hin?«

»Bring mir lieber die Personalien oder jemanden von den Einsatzleuten.«

»Die sind noch gar nicht da«, sagte Fischer.

»Wer war denn dabei?«, fragte Fischer.

»Ich glaube, der Herbert und die Marieluise.«

»Wer?«, fragte Meißner.

»Na, die Rosner, die Neue, frisch von der Polizeischule.«

»Und die heißt Marieluise?«, fragte Meißner. »Woher weißt du das denn?«

»Mein Gott, Stefan«, sagte Fischer und besah sich seine gepflegten Hände. »Wir jüngeren Kollegen kennen uns halt. Schließlich haben wir auch ein Privatleben. Man trifft sich abends schon mal in der Kneipe. Soll ich die Marieluise dort etwa mit ›Frau Polizeikommissar-Anwärterin‹ ansprechen, oder wie?«

Meißner war genervt. Es war ihm völlig egal, wie die jüngeren Kollegen sich in den Kneipen untereinander ansprachen. Er war kein Kneipengänger, was er gerade in diesem Augenblick auch nicht besonders bedauerte. Aber dass Fischer ihn zusammen mit den Winters und den Stangelmayers - also den älteren Kollegen - in ein und denselben Topf geworfen hatte, das kränkte ihn schon.

»Die Rosner soll mit den Unterlagen zu mir kommen, sobald sie hier ist. Dann muss sie mit ins Krankenhaus fahren. Dich brauche ich nicht dabei, da sollte schon eine Beamtin mit dabei sein«, entgegnete Meißner patzig.

Nach der Mittagspause, die Meißner beim Italiener an der Ecke verbracht hatte, meldete sich Polizeikommissar-Anwärterin Rosner bei ihm. Eine sportliche Frau Ende zwanzig, mit mittellangen dunkelblonden Haaren, die sie zu einem wippenden Pferdeschwanz gebunden trug.

»Ach, Sie sind das?« Meißner musterte sie. Im Gegensatz zum Kollegen Fischer war sie eher dezent gekleidet. Marineblau schien ihre Lieblingsfarbe zu sein, kein Hang zum Auffälligen, fast wirkte ihre ganze Erscheinung etwas blass. Wie hieß die noch mal? Maria? Luise? Irgendetwas Altmodisches jedenfalls. Ach ja, Marieluise, wie die Ingolstädter Schriftstellerin Marieluise Fleißer, die zusammen mit Brecht in Berlin am Theater gewesen war, sich dann aber wieder nach Ingolstadt geflüchtet und einen Tabakhändler und Schwimmer geheiratet hatte. Sie war fünfundzwanzig Jahre in dessen Tabakgeschäft gestanden und von der Welt fast vergessen worden. Bis Fassbinder sie in den siebziger Jahren wiederentdeckte.

»Kommen Sie«, sagte Meißner und stand auf. »Wir fahren gleich raus ins Klinikum, und unterwegs erzählen Sie mir, was da gestern los war.«

»Die Nachbarn haben die Polizei gerufen«, begann sie, als sie auf den Gang traten. Sie steuerte auf die Treppe zu, hielt aber inne und wartete ab, ob Meißner eventuell lieber den Lift nehmen wollte. Doch der öffnete die Glastür zum Treppenhaus und ließ sie vorangehen.

»Das war so gegen einundzwanzig Uhr. In einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in der Görresstraße gebe es zwischen einem Mann und einer Frau einen ziemlich lauten Streit. Möbel würden umgeworfen, und der Mann habe seiner Frau oder Freundin wohl auch schon ein paar gelangt. Jedenfalls habe sie bereits um Hilfe geschrien. Als wir hinkamen, konnten wir den Lärm schon im Treppenhaus hören. Wir klingelten mehrmals, bis uns schließlich ein vielleicht zehnjähriges Mädchen öffnete. In der Wohnung fanden wir eine junge Frau mit blutverschmiertem Gesicht. Sie lag am Boden und krümmte sich. Die Arme hatte sie um den Bauch geschlungen, als hätte sie Angst, sie könne etwas verlieren, wenn sie losließe. Der Mann, offenbar ihr Freund, mit dem sie die Wohnung teilte, sagte, sie hätten Streit gehabt, und da sei ihm die Hand ausgerutscht, nichts Schlimmes. Wir haben die Frau dann gleich ins Klinikum gebracht.«

»Ist sie Deutsche?«, fragte Meißner, als sie auf den Parkplatz hinaustraten.

Rosner blätterte in ihren Unterlagen. »Polin«, sagte sie, »vierundzwanzig, und erst seit zwei Monaten in Deutschland.«

»Und der Typ?«

»Thomas Schneider, achtundzwanzig, arbeitet bei Audi. Das Mädchen in der Wohnung war seine Tochter, sagt er.«

»Hat sie auch etwas abbekommen?«, fragte Meißner. Kurz überlegte er, ob er seiner Mitfahrerin die Beifahrertür aufhalten sollte, entschied sich aber dann dagegen. Schließlich waren sie im Dienst. Sie stiegen gleichzeitig ein.

»Sah nicht so aus«, sagte sie. »Das Mädchen war unverletzt, aber wir haben trotzdem das Jugendamt informiert. Da müsste heute schon jemand bei der netten kleinen Familie vorbeigeschaut haben. Die Tochter wirkte verschlossen, fast verstockt. Sie sah nicht so aus, als ob sie mit der jungen Frau am Boden besonders mitgelitten hätte.«

»Sie scheinen sie ja nicht gerade in Ihr Herz geschlossen zu haben.«

Meißner sah, wie Rosners Blick kritisch über den von Kaugummi- und Bonbonpapieren überquellenden Aschenbecher wanderte und scheinbar interessiert bei der Ablage der Mittelkonsole hängen blieb, die mit kaputten Kugelschreibern, zusammengeknüllten Zetteln, hüllenlosen CDs, ungeöffneter Werbepost und angebissenen Schokoriegeln, die schon verschiedene Aggregatzustände angenommen hatten, vollgestopft war. Man konnte es nicht anders nennen. Oh nein, das hier war nicht gerade das Zeugnis einer souveränen Lebensführung und eines reifen Charakters. Eher schon sah es aus wie im ersten Auto eines trotzigen Jugendlichen, der seiner Mutter verboten hatte, bei ihm aufzuräumen, und der sich selbst nicht dazu durchringen konnte, einen knallharten Strich zu ziehen und sich dem Unvermeidlichen zu stellen: Aufräumen, Saubermachen und Müll entsorgen.

»Mögen Sie die Stücke der Fleißer?«, fragte Meißner, um die junge Kollegin bei den Folgerungen, die sie aus ihren Beobachtungen möglicherweise ziehen würde, zu stören.

»Wie?«, fragte sie.

Gerade hatte er sich eingebildet, sie habe in dem überfüllten Fach in der Beifahrertür die vinzenzmurr-Papiertüten entdeckt, die noch nach ihrem ehemaligen Inhalt - Leberkässemmeln mit scharfem Senf - rochen. Möglicherweise hatten sie auch ein ähnliches Schicksal wie die Schokoriegel erlitten.

»Ach so«, sagte sie und bewahrte ihn somit wenigstens kurzfristig vor weiteren peinlichen Feststellungen. »Meinen Vornamen hat sich meine Mutter ausgedacht, nicht ich. Sie unterrichtet am Christoph-Schreiner-Gymnasium. Aber mein Vater war dagegen, von den Ingolstädtern mögen ja längst nicht alle ihre berühmteste Schriftstellerin. Meine Mom hat sich gegen seinen Willen durchgesetzt.«

»Und Sie wollten nicht Lehrerin werden?«

»Ich wollte Polizistin werden. Nicht unbedingt in Ingolstadt, aber nun bin ich eben doch hier.«

»Manche Menschen verhalten sich zu Ingolstadt wie ein Bumerang. Als junge Leute rennen sie davon, machen einen weiten Bogen um die feuchte, flache Donauebene, und dann zieht es sie doch wieder zurück.«

Sie wollte noch nachfragen, ob er von sich selbst sprach, aber da waren sie schon am Klinikum angekommen, und Meißner freute sich, dass er es fürs Erste erfolgreich geschafft hatte, seine Kollegin von den peinlichen Schmuddelecken in seinem Wagen abzulenken.

Die Klinik war ein riesiger Gebäudekomplex inklusive Hubschrauberlandeplatz und allem dazugehörigen Pipapo. Mit dreitausend Mitarbeitern war sie außerdem der zweitgrößte Arbeitgeber der Stadt.

Auf der Station sprachen sie zuerst mit dem diensthabenden Arzt.

»Schläge ins Gesicht, auf die Nase, gegen die Brust. Aber keine Brüche. Rippenprellung links. Hämatome an beiden Schienbeinen. Ach ja, und die Frau ist schwanger, dritter Monat.«

Sie betraten das Zimmer, nachdem sie angeklopft hatten. Rosner zeigte auf die junge dunkelhaarige Frau in dem Bett am Fenster. Sie trug ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, auf dem Meißner beim Näherkommen ein paar eingetrocknete Blutflecke erkannte. Ihre Nase wirkte geschwollen, und in den Nasenlöchern war verkrustetes Blut zu sehen.

Meißner belehrte sie über ihr Recht, die Aussage zu verweigern, doch davon wollte sie keinen Gebrauch machen.

Sie hieß Malgorzata Kupinska, hatte ihren deutschen Freund in Krakau kennengelernt und war auf seine Einladung hin nach Deutschland gekommen. Sie hätten sich gestritten, weil seine Tochter frech zu ihr gewesen sei, Malgorzata Kupinska sich aber gegen sie hatte durchsetzen wollen. Schneider habe wie immer Partei für seine Tochter ergriffen und ihr vor dem Kind eine Ohrfeige gegeben. Sie habe sich gewehrt, sodass es zu der Auseinandersetzung gekommen sei.

Ob das Kind, das sie erwarte, von ihm sei, fragte Meißner.

Sie nickte.

»Und Sie wollen wirklich keine Anzeige erstatten?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wollen Sie Ihren Freund nicht verlassen? Ausziehen?«, fragte Rosner.

»Wo soll ich hin?«, fragte sie. »Etwa zurück nach Polen? Zu den Eltern? Vielleicht beim nächsten Mal, aber jetzt tut es ihm bestimmt schon leid.« Sie fasste sich an die linke Seite.

»Herr Schneider behauptet, sie hätten ihn in die Brust gebissen«, sagte Meißner.

»Das stimmt. Aber erst, nachdem er mich geschlagen hat«, sagte sie. »Irgendetwas musste ich doch tun. Ich habe mich vor dem Kind so geschämt. Eine Frau lässt sich doch nicht von ihrem Mann schlagen.«

»Ja, dann«, sagte Meißner, »wünschen wir Ihnen alles Gute.« Die Phrase war ihm peinlich, aber es fiel ihm nichts Besseres ein.

»Passen Sie auf sich auf«, sagte Marieluise Rosner zum Abschied, und es klang sehr solidarisch. »Und wenn Sie Hilfe brauchen, dann können Sie auch hier anrufen.« Sie zog ein Kärtchen aus der Tasche und legte es auf den Nachttisch.

»Was war das für eine Nummer, die Sie ihr gegeben haben?«, wollte Meißner beim Hinausgehen wissen.

»Vom Frauenhaus«, sagte sie.

»Machen Sie dann bitte später den Bericht fertig und geben Sie alles an den Staatsanwalt weiter.«

Als sie im Auto saßen, fragte sie ihn: »Haben Sie schon einmal jemandem eine Ohrfeige gegeben?«

»Ja«, sagte Meißner, »so mit zwölf oder dreizehn. Und Sie? Haben Sie schon einmal einen Mann gebissen?«

Es sollte ein Scherz sein, doch als Meißner zu ihr hinübersah, bemerkte er, dass sie errötet war.

Als sie ins Präsidium kamen, erkundigte sich Meißner nach dem Dolmetscher für die Kolumbianer. Aber der einzige Dolmetscher, den Stangelmayer erreicht hatte, hatte gerade einen Einsatz am Franz-Josef-Strauß-Flughafen. Eine Dolmetscherin sei frühestens am kommenden Morgen verfügbar. Mittlerweile stünde immerhin fest, dass es sich bei allen drei Pässen um Fälschungen handelte.

Meißner rief noch einmal beim Richter an.

»Dabehalten«, gab er die Anweisung des Richters weiter und wies Fischer an, den Leuten etwas zu essen und zu trinken zu bringen, da sie auch noch die Nacht auf dem Präsidium verbringen würden. Urkundenfälschung war ein ziemlich eindeutiger Fall. Winter sollte sie erkennungsdienstlich behandeln, Fotos machen, ihre Fingerabdrücke abnehmen und ihre Daten eingeben.

Um fünf verließ Stefan Meißner das Gebäude und reihte sich auf der nördlichen Ringstraße in Richtung Westen ein. Vor der Abzweigung nach Gerolfing nahm er sich beim italienischen Feinkostladen noch zwei Tramezzini mit und fuhr dann stadtauswärts, Richtung Neuburg, an der Donau entlang. Bei Bergheim überquerte er den Fluss und bog von der Landstraße in östlicher Richtung auf einen Feldweg ein, dem er etwa eineinhalb Kilometer folgte. Dann bog er noch einmal in einen schmäleren Weg ab, der durch den Auwald führte und kam schließlich zu einer Holzhütte, von der ein Steg auf einen Altwasserarm der Donau hinausführte.

Er stellte das Auto ab, schloss die Tür auf, holte eine halb volle Flasche Weißwein aus dem Camping-Kühlschrank, nahm einen Teller und ein Weinglas aus dem Schrank und trug alles auf den Steg, dessen letzter Meter von den flach einfallenden Strahlen der Spätnachmittagssonne beschienen wurde. Er setzte sich, zog die Schuhe aus, schenkte sich ein und sah zu, wie das Glas von der Kälte des Weines außen beschlug.

Für ihn gab es keinen schöneren Platz auf der Welt. Seine nackten Füße baumelten über den kreisrunden Blättern der Teichrosen, die den unscheinbaren kleinen gelben Knopfblüten die Schau stahlen. Ab und zu ließ sich eine Libelle auf einem der Blätter nieder. Manchmal kam ein Frosch zum Sonnen oder zum Beutefang, aber meistens gingen die Frösche zwischen den Blättern im Wasser in Deckung. Sie selbst waren eine leichte Beute der Graureiher, die am anderen Ufer reglos wie steinerne Wächter im Schilf standen.

Meißner trank seinen Pinot Grigio und biss in das Tramezzino mit Parmaschinken auf Rucola. Es schmeckte göttlich, auch wenn das Brot bereits kalt war. Plötzlich kam ihm eine Melodie in den Sinn, die er früher auf dem Akkordeon gespielt hatte, und er hatte das Bild der tanzenden Frau im Gladiolenfeld vor Augen. War das auch heute gewesen? Ja, heute Morgen, auf dem Weg zur Arbeit. Aber er konnte das Bild nicht festhalten, denn darüber schob sich die junge Polin, die mit blutiger Nase in ihrem Bett im Klinikum lag, und die ältere Kolumbianerin mit dem schlecht gefärbten blonden Haar, die geweint hatte, als Kollege Winter die Tür zum Verhörzimmer absperrte. Es war schon ein komischer Job, den er sich da ausgesucht hatte. Er fühlte sich müde und erschöpft. Nicht körperlich, es war eher ein Gefühl, und es hatte etwas mit seiner Seele zu tun. Im Polizeialltag ging es ihnen nicht viel anders als den Ärzten und Schwestern im Krankenhaus. In der Routine und dem Stress des Jobs waren zu viel Seele, zu viel Mitgefühl und Mitleiden nur hinderlich, aber in der freien Zeit musste er sich ein bisschen um sich selbst kümmern, um nicht abzustumpfen oder kaputtzugehen. Er hatte Angst davor, roh und abgebrüht zu werden oder fett wie Stangelmayer, für den er plötzlich ein heftiges Mitgefühl empfand.

Die Fischerhütte, die er von seinem Großvater geerbt hatte, war sein Rückzugsort. Hier konnte er auftanken. Fast immer kam Meißner allein hierher. Carola hatte diesen Ort, die primitive Hütte, nicht gemocht. Kein Bad, kein Klo mit Spülung, eine unsichere Stromversorgung über eine kleine Photovoltaikanlage auf dem Dach und eine schwache Batterie im Schuppen. Sie konnte hier nach dem Joggen nicht richtig duschen, und das Altwasser mit seinen Pflanzen und den großen Fischen war ihr unheimlich gewesen. Aber muss ich denn in jedes Wasser hineinspringen können?, fragte sich der Kommissar. Das Flüsschen gehörte schließlich den Fischen, den Teichrosen, den Fröschen, den Libellen, dem Hecht und dem Graureiher. Meißner selbst war hier nur der Beobachter am Rande, der hinschaute, aber nicht eingriff, nicht handelte und nicht lenkte. Seinen Angelschein hatte er seit Jahren nicht mehr verlängert. Still auf dem Steg zu sitzen und nur zu schauen, das war genau der Ausgleich, den er nach einem Arbeitstag brauchte. Carola hatte das nie verstanden.

Ob die Gladiolenfrau wohl auch über den Steg hier tanzen würde, wenn sie ihn je entdeckte? Was war er doch nur für ein Träumer. Ein richtiger Romantiker. Wahrscheinlich wäre er auf dem Konservatorium doch besser aufgehoben gewesen als bei der Kripo.

Meißner blieb bis zum Sonnenuntergang auf dem Steg sitzen, dann erst packte er zusammen und fuhr in die Stadt zurück, in seine kleine vernachlässigte Wohnung.

Kapitel 2

Als er am nächsten Morgen zur Arbeit fuhr, konnte er es nicht vermeiden, zu dem Blumenfeld hinüberzusehen. Niemand war da, aber er hatte auch nichts anderes erwartet. Solche Momentaufnahmen konnte man nicht beliebig wiederholen, so war das nun mal im Leben. Und doch machte sich eine kleine Enttäuschung in ihm breit. Vielleicht sollte er doch einmal mit Fischer eine Kneipentour machen? Obwohl Fischers Milieu wahrscheinlich nicht gerade dazu geeignet war, Frauen kennenzulernen. Meißner wusste, wo die Russen verkehrten, wo die Türken in ihren Cafés saßen, wo die Animierclubs und Bars lagen, wo es ab und zu Probleme mit verbotenem Glücksspiel gab. Er wusste auch, wo die Schwulen ihre Treffpunkte hatten. Doch er hätte nicht sagen können, wo Leute wie er, nicht mehr ganz jung, hetero und wieder Single, sich trafen. Mit Sicherheit nicht an einsamen Fischerhütten am Donau-Altwasser. So viel stand schon mal fest.

Bin ich ein komischer Kauz geworden, ein einsamer Wolf, ein alternder Derrick, ein verschusselter Columbo?, fragte er sich, als er den Wagen an der Rückseite des Präsidiums parkte.

»Die Dolmetscherin ist da, ich hab sie zu dir raufgeschickt«, rief ihm Stangelmayer nach, als er an der Pforte vorbeiging.

»Okay, dann bring mir die Kolumbianer rauf.«

»Alle drei?«

»Zuerst den jüngeren Mann.«

Vor seinem Büro stand die Dolmetscherin am Fenster im Gang. Sie hatte den Rücken zu ihm gedreht und trug eine Jeans, geschätzte Größe 30/34. So wie Carola, dachte er. Dazu hellblaue Schnürschuhe und eine weiße Bluse. Das lange Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten aufgesteckt, aus dem einige Locken heraushingen und auf ihren schlanken Hals fielen. Ob Frauen eigentlich wussten, wie anziehend so ein Nacken auf Männer wirkte?

»Guten Morgen«, sagte er, nachdem er sich geräuspert hatte. Sie drehte sich zu ihm um.

»Meißner.« Er streckte die Hand aus. »Schön, dass Sie kommen konnten.«

»Sylvia Garcia«, sagte sie und sah ihm in die Augen.

Er bemühte sich, weder einsam noch alternd noch schusselig auszusehen, führte sie in sein Büro und setzte sie über die Fakten in Kenntnis. Sie machte sich einige Notizen, dann brachte Winter schon den jungen Kolumbianer herein. Er gab vor, Tourist in Deutschland zu sein und zu Verwandten nach Spanien zu reisen. Als Meißner ihn auf den gefälschten Pass ansprach, behauptete er, dass der echt und erst eine Woche vor ihrer Ausreise in Bogota ausgestellt worden sei.

»Sagen Sie ihm, wir wissen ganz sicher, dass der Pass gefälscht ist. Er kann uns also auch gleich die Wahrheit sagen.«

Sylvia Garcia übersetzte, und der Kolumbianer antwortete ihr.

»Herr Mendez möchte wissen, was jetzt mit ihm geschieht«, sagte sie.

»Urkundenfälschung ist in Deutschland wie auch in Kolumbien ein Straftatbestand. Dafür wird er ins Gefängnis wandern«, sagte Meißner.

Sie übersetzte wieder.

»Und dann?«, fragte sie.

»Dann wird er abgeschoben.«

»Er möchte wissen, wer das bezahlt.«

»Wenn er über Geld verfügt, er selbst.«

Die Tür ging auf, und Fischer streckte den Kopf herein: »Hi, Stefan, wir haben einen Einsatz!«

»Jetzt? Aber ich bin mitten in der Vernehmung, und das ist erst die erste von dreien. Nimm halt den Winter mit!«

»Aber wir haben eine Tote.«

Meißner stand auf und schob Fischer auf den Gang hinaus. »Was für eine Tote?«

»Liegt in ihrer Wohnung. Irgendwo in der Altstadt. Ihre Schwester hat sie gefunden.«

»Selbstmord?«, wollte Meißner wissen.

»Keine Ahnung. Die Schwester sagt, dass sie das für unmöglich hält.«

»Das sagen die Angehörigen immer. Und was soll ich jetzt mit den Kolumbianern machen?«

»Na, die haben’s bei uns im Keller doch ganz gemütlich. Auf jeden Fall besser und sicherer als bei den Drogenbossen und Guérilleros bei sich zu Hause.«

»Entschuldigung«, sagte er leise, als er Meißners Zornesfalte auf der Stirn bemerkte. Diese Art von Rohheit ertrug er einfach nicht, und seine Kollegen wussten das.

Der Hauptkommissar überließ Winter die Fortsetzung der Vernehmung.

»Ich muss zu einem Einsatz«, sagte er zur Dolmetscherin. »Mein Kollege wird gleich kommen und weitermachen. Passen Sie währenddessen doch bitte auf Herrn Mendez auf und sagen Sie ihm, dass er ohne oder mit gefälschtem Pass nicht weit kommen wird.«

Als er hinausging, spürte er, dass Sylvia Garcia ihm nachsah.

Fischer saß bereits im Einsatzfahrzeug.

»Wann bekommen wir nur endlich anständige Navis für unsere Fahrzeuge?«, maulte er.

»Hallo? Du bist nur Polizeibeamter, nicht Manager bei Audi oder Siemens«, antwortete Meißner. »Wo ist denn die Wohnung?«

»Beckerstraße«, sagte Fischer, »Hausnummer 2 1/3, aber ich bin mir nicht sicher, ob der Streifenbeamte mich da nicht auf den Arm genommen hat. Gibt’s so eine Hausnummer denn überhaupt?«

»Weiß ich auch nicht, Fischer, aber immerhin kenne ich die Beckerstraße. Liegt in der Altstadt, geht auf den Holzmarkt und zur Matthäus-Kirche rüber. Ist die Frau aus dem Altenpflegeheim?«

»Das glaube ich kaum. Die Streife hat durchgegeben, dass sie Roxanne Stein heißt und zweiundvierzig Jahre alt ist.«

»Roxanne?« Meißner stutzte. Das klang nicht gerade nach Ingolstädter Urgestein.

»Roxanne Stein.«

»Hat sie allein gelebt?«

»Wissen wir noch nicht. Aber es ist eine kleine Wohnung. Haben die Kollegen gesagt. Kannst du mich hinlotsen?«

»Ich hab’s dir doch schon gesagt. Die Beckerstraße ist direkt im Zentrum, praktisch eine Parallelstraße zur Ludwigstraße, Fußgängerzone.«

»Und auf welcher Höhe? Ich kenn mich mit den Straßennamen noch nicht so aus. H&M- oder Wolfskin-Seite?«, wollte Fischer wissen, aber Meißner sah ihn nur achselzuckend an.

»Hätte ich mir fast denken können, dass du dich mit den Läden nicht auskennst. Wo kaufst du eigentlich deine Klamotten, Stefan? Bei Loden-Frey?«

»Da hinten ist es. Da, wo früher der Buchladen war, in dem man beim Schmökern auch Cappuccino trinken konnte«, sagte Meißner. »Aber ich kann’s mir fast denken, Fischer, dass du dich mit Multimedialäden besser auskennst als mit Buchhandlungen. Stimmt’s? Bieg da vorne rechts ab und nimm dann die nächste links.«

»Einbahnstraße, Chef, aber ich darf doch?«

Meißner gab einen Laut von sich, den Fischer als Zustimmung deutete.

Die Beckerstraße Nummer 2 war ein dreistöckiger Bau, der aussah, als sei er im 19. Jahrhundert als eine Art Stiftung für sozial Schwache errichtet worden. Vielleicht war er auch noch älter. Das Haus war Meißner noch nie besonders aufgefallen, obwohl er schon viele Male daran vorbeigekommen sein musste.

Von den drei Eingängen trug einer tatsächlich die Nummer 2 1/3. Daneben lag die Nummer 2 1/2, zwischen beiden war ein Ladenlokal eingerichtet. Ein Friseur? Als er näher an die Schaufenster trat, sah Meißner, dass es eine Art Haar- und Modegeschäft für farbige Frauen war. Perücken, Haarteile, Haarschmuck, Kosmetik, Klamotten, alles konnte man hier kaufen. Im Laden standen zwei äußerst sorgfältig gekleidete Männer, von weiblicher Kundschaft keine Spur. Vielleicht war es eine Neueröffnung? Der Hauptkommissar dachte noch darüber nach, wie viele Farbige es wohl in Ingolstadt geben mochte und wie viele von ihnen wohl Perücken kauften, da stand Fischer schon in der Tür zu Haus Nummer 2 1/3 und winkte ihn zu sich. Meißner riss sich schweren Herzens von dem Mysterium des Ladens los, auf den die Ingolstädter Innenstadt schon lange gewartet haben musste.

Der Name »Stein« stand auf dem Klingelschild, erster Stock rechts. Gemeinsam gingen die beiden Beamten hinauf. Rosner öffnete ihnen. Marieluise, dachte Meißner.

»Ist die Schwester noch hier?«, fragte er sie. Sie nickte. Meißner schien es, als wäre sie ein bisschen blass um die Nase.

»Der Notarzt war auch schon da.«

»Spurensicherung und Rechtsmediziner unterwegs?« Sie nickte wieder.

Zusammen betraten sie die Wohnung. Kleiner Flur, Schlafzimmer, Badezimmer. In der Wohnküche saß eine blonde, elegant gekleidete Frau Ende vierzig. Sie war völlig aufgelöst. Kollege Holler stand hinter ihr.

Als Meißner ins Zimmer kam, sah er die Tote. Sie lag auf dem weißen Teppich. Langes dunkles Haar, weiße Bluse, schwarzer Rock, dazu Riemchensandalen und eine schrille rote Krawatte. Kein Blut, keine äußeren Spuren von Gewaltanwendung, keine auffällige Unordnung im Zimmer. Plötzlich griff Meißner nach dem Arm seines Kollegen und hielt sich an ihm fest.

»Schöne Frau«, sagte Fischer, der nicht wusste, wie ihm geschah und was mit seinem Chef los war.

Meißner war von einem Schwindelgefühl wie nach drei Maß Bier auf dem Oktoberfest und anschließender Fahrt in der Achterbahn erfasst worden. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und war sich der Peinlichkeit seines Auftritts vollkommen bewusst, konnte schon das Getuschel der Kollegen hören: Kriminalhauptkommissar Meißner bricht beim Anblick einer Toten fast zusammen. Schnell stürzte er aus dem Zimmer und öffnete die Tür zum Bad. Dort drehte er den Wasserhahn auf, hielt sein Gesicht darunter, nahm ein Handtuch, eines ihrer Handtücher, trocknete sich ab und ließ sich dann auf den Toilettendeckel fallen. Die Tote, Roxanne Stein, war die Frau aus dem Gladiolenfeld. Oder ihre Doppelgängerin.