Damals waren wir frei - Stephanie Jana - E-Book

Damals waren wir frei E-Book

Stephanie Jana

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Beschreibung

Berlin 1988. Als die temperamentvolle Mina dem sensiblen Jan begegnet, verlieben sie sich trotz aller Unterschiede ineinander. Doch eine Zukunft scheint für die beiden unmöglich. Denn er studiert im Westen Berlins Medizin, sie ist Sängerin im legendären »Tanzpalast«, einer Ost-Berliner Diskothek, die ihrer Familie gehört. Hier kommen alle zusammen, die Politik Politik sein lassen, hier wird getanzt, geliebt, gefeiert. Als Mina sich auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater macht, ist es Jan, der ihr hilft. Auf ihrer abenteuerlichen Reise zwischen Ost und West entstehen Gefühle, die viel stärker sind, als beide es sich hätten träumen lassen ...

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Seitenzahl: 482

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitatPROLOGI. Ellys GeheimnisNeumondZum FlussDieser eine Tag im SeptemberJetzt ist es rausWoraus die Träume sindKann denn Liebe Sünde sein?Ein ganz anderer AntragWeitertanzenNachtflug ans MeerDer Typ aus’m WestenEbbelwoi, Kino und Eiserner StegDie AusspracheRosenEin Sturm kommt aufDer Westen tut wehMit dem Motorrad in die WeinbergeII. Minas SucheRattes IdeeWenn das Leben rauschtLoslassen und FesthaltenEin rotes KleidKollisionWas der November verbirgtDie letzte NachtElly und BerndNeuigkeiten aus dem WestenPhantomWas sich nicht mehr verschließen lässtDas kleine Glück in der DatscheDer Zug wird nicht wartenIm Widerstreit zwischen Heute und MorgenWeihnachtskonzertWeihnachtsmarkt im ScheunenviertelÜber der StadtIII. Mariannes VermächtnisRatte ist wegZwanzig JahreTräume ohne GrenzenDas FlugblattPicknick zur FreiheitDie letzte ZigaretteFamilienbandeAnkunft im ZauberlandErstes Wochenendfrühstück im GrunewaldBlaue StundeVaterDas WunderAuf der anderen SeiteWieder vereintGedichtEPILOGNachwortDanke von ganzem Herzen …SOUNDTRACK der FREIHEIT – 35 Jahre Mauerfall

Über dieses Buch

Berlin 1988. Als die temperamentvolle Mina dem sensiblen Jan begegnet, verlieben sie sich trotz aller Unterschiede ineinander. Doch eine Zukunft scheint für die beiden unmöglich. Denn er studiert im Westen Berlins Medizin, sie ist Sängerin im legendären »Tanzpalast«, einer Ost-Berliner Diskothek, die ihrer Familie gehört. Hier kommen alle zusammen, die Politik Politik sein lassen, hier wird getanzt, geliebt, gefeiert. Als Mina sich auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater macht, ist es Jan, der ihr hilft. Auf ihrer abenteuerlichen Reise zwischen Ost und West entstehen Gefühle, die viel stärker sind, als beide es sich hätten träumen lassen …

Über die Autorin

Stephanie Jana, Germanistin (M. A.), lebt und arbeitet als freie Autorin und Lektorin mit ihrer Familie in Frankfurt und Gießen.

S T E P H A N I E J A N A

R O M A N

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Christiane Branscheid, Bremervörde

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © GettyImages / David Lees

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-6116-1

luebbe.de

lesejury.de

Für Volker,alle Liebenden, die nicht zusammen sein können,und alle, die auf Mauern tanzen.

Break on through to the other side

The Doors

PROLOG

Elly – Frankfurt am Main. Samstag, 14. September 1968

Plötzlich kniete sich Jim Morrison direkt vor ihr hin. Keine drei Meter war er nun entfernt, seine starke Präsenz ließ die Luft erzittern. Elly glaubte, sogar seinen Geruch wahrnehmen zu können, was ihr schier den Atem raubte. Es gab keine Absperrgitter, und nur wenige Aufpasser kontrollierten die Show, deshalb hatte sie sich ungehindert bis zum Bühnenrand durchkämpfen können.

Jetzt fischte er eine Zigarette aus einer verknitterten Schachtel, die er vom Boden aufgehoben hatte, und zündete sie sich in aller Seelenruhe an, während die anderen Bandmitglieder von The Doors die ersten Klänge von When the Music’s over anspielten. Dieses Konzert im Westen, das einzige ihrer Lieblingsband in Deutschland überhaupt, bedeutete Elly alles, und sie hatte auch alles dafür getan, um dabei sein zu können. Es war eine Offenbarung, ein Urknall für ihre Musikleidenschaft, und das lag nicht am Marihuana, das sie vorhin mit ihrer Cousine in der WG geraucht hatte. Zweifellos war Jim der schönste Mann, den Elly Wächter mit ihren achtundzwanzig Jahren je gesehen hatte. Sie konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Eine Weile hockte er einfach so da, obwohl die Stimmung in der Halle aufgepeitscht war, rauchte mit geschlossenen Augen, bewegte fast unmerklich den Kopf zur Musik, die hypnotisch, ekstatisch klang. Die Orgel wie ein Flehen, ein Rufen, in ständiger Anspannung. Schlagzeug und Bass, ein dumpfer Rhythmus, waren im Gegenzug wie ein inneres Beben, aber dennoch beruhigend – doch nur so lange, bis der gesamte minimalistische Auftritt in einem atemberaubenden Höhepunkt überraschend explodierte. Und doch war es Musik, die sich Zeit nahm, die etwas zu erzählen hatte. Das liebte Elly sehr, denn darin konnte sie sich so wunderbar verlieren. Und Jim, der charismatische Sänger mit seinem kratzigen Bariton, war für sie wie ein Held. Ein düsterer Poet, ein Rebell in zu enger Lederhose, ein weißer Indianer, der sich seinen Schamanentänzen und der Musik derart hingab, bis er nichts mehr um sich herum wahrnahm. Elly hatte gehört, dass er früher eher schüchtern aufgetreten war, immer das Gesicht vom Publikum abgewandt … Und inzwischen das Gegenteil, wenn er begann mit ihm zu spielen, zu flirten … manchmal auch mehr.

Vorhin, im langen Mittelteil von Light My Fire, war es auch wieder zu wilden Auseinandersetzungen gekommen. Als Jim mindestens eine Viertelstunde im Saal unterwegs gewesen war, was im Gedränge der Zuschauer einem Erdbeben gleichkam, hatte er sich mit den teilweise betrunkenen oder bekifften amerikanischen Soldaten angelegt. Elly hatte Schwierigkeiten gehabt, sich in Sicherheit zu bringen. Dann hatte er sich an einer kalifornischen Flagge vergriffen und allerlei anrüchige Spielereien damit getrieben. Aber so war er eben, man wusste nie, was er als Nächstes tat; niemand wunderte sich darüber.

In diesem Moment blies er wie in Zeitlupe den Rauch aus. Elly, direkt vor der Bühne und ihm, versuchte, den Rauch von seinen perfekt geformten Lippen zu inhalieren. Seine erotische Ausstrahlung berauschte sie. Er trug auch heute die braune Lederhose mit dem breiten goldenen Gürtel, die sie aus den geschmuggelten Westberliner Zeitungen kannte, dazu ein weit aufgeknöpftes hellblaues Hemd, das fast schon brav an ihm wirkte. Die halblangen dunkelbraunen Locken waren nun, am Ende des Konzerts, nass vom Schweiß und klebten an seinem ebenmäßigen Gesicht. Mit einem Mal ging es wieder los: Jim sprang unvermittelt auf, ließ die Kippe fallen, schnappte sich das Stehmikro und beendete mit einem grellen Schrei das Intro des Songs. Wie high wirkte er. Dann wartete er wieder vollkommen in sich gekehrt, mit beiden Händen das Mikro umklammernd, versunken in die Musik, auf seinen Einsatz.

Elly wiegte sich im Takt und wünschte sich sehnlichst, dass dieser Abend niemals enden würde. Auf einmal riss sie ein heftiger Stoß aus ihrer Ekstase. Jemand hatte sie von links angerempelt, sodass sie ins Stolpern geriet und fast gestürzt wäre.

»Hey!«, brüllte sie den Schuldigen an. Ein riesiger Kerl mit langen schwarzen Haaren, dunklen, großen Augen und in einer abgewetzten Lederjacke sah sie erschrocken an. In der einen Hand hielt er eine kleine Taschenkamera hoch, mit der er wohl Fotos vom Konzert schießen wollte. Er machte eine abwehrende Geste.

»Entschuldige!«, rief er ihr ins Ohr, damit sie ihn trotz der Lautstärke verstand. »Mein Idiot von Kumpel hier hat mich geschubst …« Er deutete mit dem Kopf hinter sich. Elly erkannte einen grinsenden Blonden mit Vollbart, der ihr aufmunternd zunickte und wild gestikulierend auf seinen Freund deutete.

»Und was sollte das?«, fragte sie empört. Sie musste den Hals recken, um den unbekannten Anrempler überhaupt anschauen zu können. Er war bestimmt über eins neunzig groß. Auf der Bühne fing Jim wieder an zu singen. When the music’s over …

Der Schwarzhaarige wischte sich übers Gesicht, rückte ein Stück näher an sie heran, beugte sich herab und sagte: »Ich habe mich in dich verliebt.« Dann lächelte er ihr so unverstellt ehrlich und auch ein bisschen frech zu, dass seine Pupillen im Dunkeln zu leuchten schienen.

Elly bemerkte jetzt erst, wie hübsch er war. Gleichzeitig hatte sie das seltsame Gefühl, genau in dieser Sekunde etwas wie sein innerstes Wesen zu erkennen.

»Du spinnst wohl!«, antwortete sie dennoch pampig. Verarschen lassen wollte sie sich schon mal gar nicht. Turn out the lights … sang Morrison. Der blonde Freund, registrierte Elly, beobachtete sie beide aus dem Hintergrund und grinste immer noch.

»Hello, I love you, won’t you tell me your name?«, zitierte der Schwarzhaarige nun singend einen anderen The-Doors-Song. Seine Stimme hatte einen Klang, wie sie es noch nie zuvor gehört hatte. Wie ein Märchenerzähler, tief und verwegen irgendwie. Elly sah ihn an und versank plötzlich in seinen Augen. Alle Farben, Lichter, Töne und Gesichter um sie verschwammen, als wären sie eins. Nur sie und er irgendwo dazwischen, ganz klar umrissen, völlig allein im bunten Menschenmeer. Um sie herum begann sich alles zu drehen, erst langsam, dann schneller. Nur die Zeit schien still zu stehen. Das Knistern in der Luft steigerte sich ins Unerträgliche. Sein Blick wurde intensiv wie eine Umarmung, und ihr kam es tatsächlich so vor, als sprühte die Luft im Saal Funken.

Come back, baby, back into my arm … Jims Stimme, ihr Mantra in diesem Moment, holte sie wieder zurück in die Realität.

»Ich heiße Elly«, sagte sie endlich und schenkte ihm nun auch ein Lächeln. »Aber ich komme aus Ostberlin. Ich bleibe nur eine Woche. Familienbesuch. Sondergenehmigung …«, ergänzte sie noch und spürte selbst, dass darin eine Spur Traurigkeit mitschwang.

We want the world, and we want it!, schrie Jim von der Bühne. Beim zweiten Mal fielen alle im Saal mit ein.

Unbeirrt davon fixierten sie sich weiter mit ihren Blicken. »Und ich bin Uli. Kein Witz: auch zu Besuch hier, Semesterferien. Aus Westberlin«, stellte der Schwarzhaarige sich vor und zuckte mit den Schultern, als müsste er sich dafür entschuldigen. War das zu glauben? Sie kamen beide aus Berlin, nur jeweils von der anderen Seite der Mauer … Elly verspürte einen kleinen Stich, ließ sich aber nichts anmerken. Sie reichte ihm die Hand, und er ergriff sie. Ihre Hände passten genau ineinander, sofort fühlte sie sich beschützt und gleichzeitig wie elektrisiert. Als er Elly ohne zu zögern an sich zog, ließ sie es geschehen. Dann küsste er sie, inniger und leidenschaftlicher, als sie jemals zuvor geküsst worden war. Und sie erwiderte den Kuss, wild, gierig, ohne Wenn und …?

Aber …

Kein Aber!

Es gab nur diesen Moment, diese einzige Chance, diesen einen Zauber, auf diesem einzigen Konzert ihrer Helden an diesem Samstagabend, mit diesem Fremden, der etwas in ihr auslöste, das ihr wie pure Magie erschien. Noch nie war in ihrem Leben etwas Ähnliches passiert. Und in sieben Tagen musste sie sowieso wieder zurück sein, und vielleicht würde ihr dann all das hier vorkommen wie ein Märchen, oder als wäre es gar nicht geschehen … Weit, weit fort, hinter der Grenze.

Also, was hatte sie schon zu verlieren?

I. Ellys Geheimnis

Liebster,

komm, wir schweben zu den Sternen.

Ihr Leuchten lässt unsere Flügel wachsen,

sodass nichts mehr uns gefangen hält.

Der Mond zeigt uns den Weg,

bevor es zu spät ist,

frei zu sein.

 

Neumond

Mina – Ostberlin. Mittwoch, 14. September 1988

Mina tanzt. Die ersten Sonnenstrahlen fallen durch den Vorhang ihres Zimmers und versprechen einen schönen, warmen Tag im Spätsommer. Nur im weißen T-Shirt und Slip tanzt sie mit dem ganzen Körper, dreht sich um die eigene Achse und reißt die Arme hoch. Es ist noch früh am Morgen, nicht mal sieben Uhr, aber sie ist vorhin im Bett so aufgedreht gewesen, dass sie nicht mehr hatte schlafen können. Denn gestern hat sie ganz frisch ihre Spielerlaubnis für Unterhaltungsmusik bekommen, Fräulein Mina Wächter, Sängerin steht darauf, und jetzt darf sie mit ihrer Band »Neumond« endlich richtig auftreten.

Sie schnappt sich ihre Bürste vom altmodischen Schminktisch, hält sie wie ein Mikro vor den Mund und beginnt zu singen. Dabei springt sie von der einen Ecke zur anderen, vom linken Fenster auf ihr Bett, dann wieder mit einem Satz zum großen Spiegelschrank, und auf geht’s zum rechten Fenster. Als befände sich draußen eine Zuschauermenge, nicht die belebte Schönhauser Allee und die Hochbahn direkt vor ihrem Haus, schüttelt sie wild den Kopf, dass die Haare nur so fliegen, und macht zum Text passende Gesten in Richtung »Publikum«. Immer wenn ein Zug vorbeirattert, vibriert ihr Zimmer. An ihrem ganzen Körper spürt Mina dann die Erschütterung. Dieses Gefühl hat ihr schon als kleines Mädchen gefallen.

»Dit is jut, Minchen. Das Leben muss ein Beben sein, im Herzen, im Körper und im Geiste, und man muss das wollen und mögen. Nur dann ist es richtig und wahr«, hat ihre allerliebste Großmutter Marianne einmal zu ihr gesagt. Dabei hat sie ihrer Enkelin über den Kopf gestreichelt und mit vielsagendem Blick an ihrer Zigarettenspitze aus Elfenbein gezogen.

Seit jeher soll Mina sie italienisch »Nonna« nennen, weil sich das angeblich besser anhört – schließlich ist sie in den Goldenen Zwanzigern einmal eine berühmte Tänzerin gewesen, eine von den Tiller Girls, später Teil der Haller Revue und Tanzstar im Metropol-Varieté. Die Zigarettenspitze hat sie als Relikt aus ihren goldenen Zeiten behalten. Genauso, wie sie sich immer noch, mit dreiundachtzig Jahren, ihren Bubikopf hellblond färbt und konsequent die Kleider, Schminke, Schmuck und Schuhe aus den Zwanzigern trägt. Das mag albern klingen, doch bei Nonna sieht es nicht verkleidet oder fremd aus, sondern einfach nur nach ihr selbst.

Bei Minas Mutter Elly ist das anders. Sie bindet sich ihre rotblonden langen Haare am liebsten wie ein junges Mädchen zu einem Pferdeschwanz und orientiert sich in ihrem Kleidungsstil an der Westmode. Meistens hat sie praktische Klamotten an, die im Trend liegen, und benutzt kaum Make-up. Aber das passt eben zu ihr, sie ist nicht wie Nonna und Mina eine »Künstlerseele«. Ihre Mutter führt den Tanzpalast, die kleine Disco der Familie, mit viel Verstand und Pragmatismus. Mina findet, dass sie regelrecht Geschäftssinn beweist. Das allerdings darf man hierzulande nicht zu laut sagen, wenn man nicht als Kapitalist gelten will.

Mina tanzt weiter, ihre Gedanken kommen und gehen, und sie lässt es zu. Sie selbst sieht sich als Ostberliner Madonna, Typ Winona Ryder. In ihr schlummert diese Sehnsucht, ein Verlangen nach Abenteuer und Freiheit, das nur ihre Musik halbwegs befriedigen kann.

»Neunundneunzig Luftballons, auf ihrem Weg zum Horizont …«, singt sie laut mit. Mina liebt dieses Lied. Sie versucht sowieso bei jeder Gelegenheit, an Westmusik ranzukommen. In den letzten Jahren spielen sie auch bei ihnen unten im Tanzpalast immer mehr Songs aus den Westcharts, eigentlich überall in der Stadt. Außerdem gibt es eine wachsende Undergroundmusikszene in Ostberlin, die heimlich westliche Strömungen wie Post-Punk, New Wave, Gothik, Dark Wave oder Psychedelic Rock feiern und hören. Man muss nur wissen, wo und wer. Vielleicht haben es die Funktionäre mittlerweile aufgegeben, dagegen konsequent vorzugehen. Die Republik hat schließlich ganz andere Sorgen.

Mina hüpft vor den Spiegel und stellt sich vor, sie sei schon berühmt, mindestens so wie Nena. Hübsch genug findet sie sich auch, warum denn also nicht. Und sie ist im Juli erst neunzehn Jahre alt geworden, also liegt doch noch alles vor ihr.

Sie betrachtet sich von oben bis unten. Gut, sie ist jetzt nicht auffallend groß, aber mit fast eins siebzig auch nicht gerade klein, schön schmal, aber dennoch kurvig gebaut, obwohl sie essen kann wie ein Bär. Und mit den schwarzbraunen Haaren, die sie in einem wilden Stufenschnitt bis zu den Schultern trägt, und ihren großen rehbraunen Augen, eingerahmt von langen Wimpern und wohlgeformten, dünn gezupften Augenbrauen, dem roten Schmollmund und hellem Teint, erinnert sie wirklich ein bisschen an Schneewittchen. So wurde sie von einigen in der Schule manchmal genannt. Mina hat das immer gerne gemocht, obwohl sie das Märchen sehr traurig findet.

Jetzt übt sie vor dem Spiegel noch ein paar Drehungen und Tanzschritte, versucht lässig wie ein Profi das Bürstenmikro zu halten und bringt so das Lied zu Ende. Das Fantasiepublikum vor dem Fenster applaudiert laut, ein paar Fotografen schießen Bilder von ihr, sie verbeugt sich gerührt, bringt sich schnell in Pose, die Hochbahn rattert draußen vorbei, der Vorhang schließt sich, sie verbeugt sich erneut, es folgen begeisterte Rufe nach einer Zugabe.

»Minaaa!« Noch eine Verbeugung, ganz schnell. »Komm runter, wir sind so weit, Frühstück!« Die Worte ihrer Mutter lassen die Illusion zerplatzen und reißen sie aus ihrer Privatshow.

»Ja-ha, ich komme gleich!«, antwortet sie, so laut sie kann, Richtung Tür und legt die Bürste zurück an ihren Platz. Heute wird ein richtig guter Tag, das spürt sie, außerdem ist Neumond, den Namen ihrer Band hat sie ja nicht ohne Grund gewählt: Im Mondzyklus bedeutet das jedes Mal einen Neubeginn, Platz für neue Impulse, Chancen, Ideen, Phasen. Und mit der Spielerlaubnis hat sowieso schon eine andere Ära begonnen. Sie ist wahnsinnig glücklich darüber! Was wird noch kommen? Mina freut sich auch auf das Frühstück und kann es kaum erwarten, danach mit ihrer Band zu proben.

Jeden Mittwochmorgen findet im Saal des Tanzpalasts ein gemeinsames Frühstück mit Familie, engsten Freunden – wer alles gerade da ist – und Mitarbeitern statt, um die nächsten Tage zu planen. Ihr Laden, kurz »der Palast« genannt, ist inzwischen kein Geheimtipp mehr, sondern ein extrem angesagter, sehr beliebter Tanzclub in Ostberlin, direkt hier im Erdgeschoss ihres Hauses, in der Schönhauser Allee, Ecke Wichertstraße. Großmutter Marianne hat den Palast als einfaches Lokal in den Fünfzigerjahren von den alten Besitzern übernommen und ihn seitdem zu einem ganz besonderen Ort der Begegnung gemacht, der das Herz all seiner Besucher im Sturm erobert. Hier kommen nicht nur Ostler zum Feiern her, sondern auch viele Westler – Diplomatenkinder, Tagestouristen oder Familienbesucher.

Mina glaubt, dass alle so gerne im Palast sind, weil es bei ihnen auf eine eigene Art und Weise unaufgeregt und ehrlich ist. Es geht wirklich nur um die Musik, ums Tanzen, Feiern, Spaß haben. Ein geschützter Raum, um mal richtig abzuhotten. Auch optisch zeigt der Palast kein gekünstelt bemüht-lässiges Ambiente; in ihm verbindet sich der betörende Charme einer altmodischen Barlounge mit einer kleinen, fetzigen Disco. Die obligatorischen rot-goldenen Polstermöbel auf Metallgestell, der dunkelbraune PVC-Fußboden und die hellbeige Mustertapete sind gnädig in orangenes Licht getaucht. In der Mitte bleibt ein großes Rechteck unbestuhlt – das ist die Tanzfläche. Und dann: mitten auf der Bühne, voll im Licht der Scheinwerfer der Schallplattenunterhalter – kurz SPU. So zumindest heißt es offiziell hier im Osten, während die Gäste aus dem Westen DJ sagen, und sie eigentlich auch. Bei ihnen im Palast ist das deshalb DJ Wolle, der, ein bisschen zu dick und mit zu viel Pomade im schwarzen Haar, mit dünnem Schnäuzer und breitem Grinsen hinter seinem Plattenspieler über allem thront. Um hier auflegen zu dürfen, braucht er eine offizielle Erlaubnis, die sogenannte Pappe. Er ist der unausgesprochene König im Haus und immer bestens gelaunt. Zu jeder Platte ein flotter Spruch auf den Lippen, wobei die Witze meist leicht danebengehen, versprüht er Partystimmung mit Leichtigkeit und hat direkten Draht zu denen auf der Tanzfläche. Die meisten lassen sich gerne von ihm einheizen. Das Publikum im Palast ist am Freitag und Samstag relativ jung, man kennt sich, erscheint als Paar oder in der Gruppe, besonderes Styling ist nicht nötig. Das hat Familientradition, jeder kommt so, wie er sich wohlfühlt. Leicht ausgebeulte Jeans und undefinierbares Schuhwerk ist die Regel. Einige Mädels experimentieren mit sexy Oberwäsche, Lackoutfits oder Punk-Elementen.

Donnerstag und Sonntag kommen eher ältere Gäste. Dann passt Wolle seine Musik an und veranstaltet einen Schlagerabend, Wünsch-dir-was oder offenen Paartanz – auch sehr beliebt und vom Umsatz her nicht zu unterschätzen.

An ihren vier Öffnungstagen müssen die Personalabläufe reibungslos funktionieren, und alles muss optimal organisiert sein. Und dafür findet mittwochs, so wie heute, das Frühstück statt, wo sich alle treffen und besprechen, was zu tun ist und wer welchen Dienst übernimmt.

Mina arbeitet am Wochenende an der Bar. Damit verdient sie etwas Geld, um ihren Traum als Sängerin verwirklichen zu können. Aber es macht ihr auch echt Spaß. Sie ist ja quasi im Palast aufgewachsen. »Mein Kind der Nacht«, nennt Elly ihre Tochter gerne, und Mina liebt das nächtliche Treiben wirklich. Das rötliche Licht, die Rauchschwaden in der Luft, die laute Musik, die tanzende Menge, das Geplauder und der Lärm der Gäste, der Duft der Dunkelheit. Es ist aufregend und irgendwie ein anderes Leben als am Tag. Die Menschen sind auch anders drauf. Mina könnte sich durchaus vorstellen, nur nachts zu leben, tagsüber zu schlafen. Bei dem Gedanken muss sie lächeln.

»Minaaaa! Wir warten alle auf dich!« Wieder ruft ihre Mutter, diesmal wesentlich ungeduldiger.

Genug getrödelt. Mina zieht sich ihre Lieblingsjeans an, einen neongrünen Pulli darüber und rote Stiefeletten dazu. Dann bindet sie sich ein pinkfarbenes Band um den Kopf. Sie begutachtet sich schnell. Passt. Das muss reichen. Hastig drückt sie ihrem Spiegel einen dicken Kuss auf die Scheibe, sodass ein Abdruck ihres pinken Lippenstifts daran haften bleibt.

»Wünsch mir Glück«, flüstert sie. Ihr Spiegelbild zwinkert zurück. Und als hätte jemand Minas Bitte gehört, fängt in diesem Moment ihr Kristallspiel am Fenster die Sonne ein und wirft lauter kleine Regenbogen an Decke und Wände.

Zum Fluss

Elly – Tag 1Frankfurt am Main. Samstag, 14. September 1968

Was hatte sie schon zu verlieren?

Uli nahm Ellys Hand und tauchte mit ihr in die Menschenmassen ein, die in Richtung Ausgang strömten. Das Konzert war zu Ende, die letzten Töne längst verklungen, der tobende Applaus versiegt. Elly fragte sich, ob die Bandmitglieder jetzt wohl selbst noch in der Stadt irgendwo feiern gingen, ob Jim schamanenartig auf LSD weitertanzte, ob sie an der Hotelbar oder in ihren Zimmern mit Groupies und Freunden die Nacht zum Tag machten … Das zumindest erzählte man sich über sie.

Die letzten Minuten hatte sie kaum etwas von der Außenwelt mitbekommen. Nach all dem Knutschen mit Uli, diesem Unbekannten und ihr doch schon so Vertrauten, waren ihre Lippen mittlerweile wund. Schön fühlte sich das an. Und es war immer noch nicht genug. Ihm ging es ähnlich, das spürte Elly, und er zeigte es ihr.

Beiden fiel es unglaublich schwer, sich auch nur kurz voneinander zu lösen. Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie zuvor erlebt. Außerdem hatte sie verdrängt, dass zu Hause ihre Familie auf sie wartete. Auch in diesem Moment schob sie den Gedanken daran sofort wieder weg. Hier war sie in einer anderen Welt. Vielleicht war sie wirklich in ihrem eigenen Märchen gelandet. Doch eines wusste sie sicher: Jetzt, hier im Westen, mit einem ihr neuen Gefühl von Freiheit, wollte sie sich treiben lassen. Nur ein einziges Mal in ihrem Leben an sich denken, bevor sie zurückkehrte.

Ihre Hand lag sicher in Ulis, als gehörte sie genau dorthin wie ein fehlendes Puzzleteil. Nichts erschien ihr daran komisch, falsch oder fremd. Die Hände fest ineinander verschlungen, kämpften sie sich durch die Menge, bis sie endlich den Ausgang erreichten, wo Jutta sich suchend umblickte, auf ihre Uhr sah und ungeduldig auf Elly wartete.

»Da steht meine Cousine, ich muss zu ihr. Sie hat sich bestimmt schon Sorgen gemacht, wo ich abgeblieben bin«, sagte sie zu Uli und zeigte auf die Stelle, wo Jutta mit genervtem Gesichtsausdruck von einem Bein aufs andere trat, das Paar aber noch nicht bemerkt hatte. Er folgte ihrem Blick und registrierte die Wartende.

Dann blieben sie abrupt stehen und sahen sich ernst in die Augen. Elly ließ seine Hand los. Ein Funke von Bedauern durchfuhr sie im selben Augenblick. Uli wirkte nachdenklich. Einige Sekunden standen sie sich nur unschlüssig gegenüber, während um sie herum die Menschen in die laue Spätsommernacht strömten, berauscht von der Musik.

Verrückt, dachte Elly. Alles total verrückt.

»Hey, Elly«, begann er schließlich zögernd. Er sprach ihr das direkt ins Ohr, damit sie ihn bei dem Stimmengewirr hier draußen überhaupt verstehen konnte. »Sag mal … Musst du schon zurück? Das wär echt schade, denn … ich würde dir gerne meinen Lieblingsplatz am Fluss zeigen.« Seine Lippen berührten ihre Ohrmuschel dabei ganz zart. »Von da aus hat man den allerbesten Blick auf den Mond!«, legte Uli noch nach, wohl, um sie zu überzeugen. Warm lächelte er sie an. Seine Augen in der Farbe von Kastanien, umrahmt von schwarzen Wimpern, strahlten. Ellys Gesicht spiegelte sich darin. Dieser Kerl gefiel ihr von Sekunde zu Sekunde besser.

Nein, das war untertrieben – in Wahrheit haute er sie völlig um, brachte sie um den Verstand, auch wenn sie sich gar nicht genau erklären konnte, warum – und das von der ersten Sekunde an. Er trug eine Leichtigkeit in sich, wie sie ihr nur selten bei jemandem begegnet war.

Eigentlich brauchte sie nicht lange zu überlegen. Auch Elly wollte nicht, dass dieser magische Abend jetzt schon vorbei war. Lieber würde sie sich von der Nacht und von ihm entführen lassen, ja mehr noch, sie wollte schweben, diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen, jetzt, wo sie schon mal hier im Westen war. Einmal nur wollte sie unvernünftig sein, auf ihren Bauch hören, nicht auf ihren Kopf.

Tu es, Elly!, rief auch schon drängend eine Stimme in ihr. Sonst ist er gleich für immer weg.

Also lächelte sie herausfordernd zurück.

»Na gut, Junge aus Westberlin, zeig mir deinen Mond … Ich geb Jutta schnell Bescheid, dann kann sie beruhigt nach Hause gehen. Einen eigenen Schlüssel hab ich ja …«

»Bingo!«, entfuhr es Uli freudig, und er machte eine Siegesfaust. Sie musste lachen, weil er in diesem Moment wie ein kleiner Junge aussah.

»Du wirst es nicht bereuen! Pass auf, ich geh inzwischen zu meinem Kumpel Edgar – der, mit dem ich da bin. Ich frag ihn mal, ob wir sein Fahrrad für dich ausleihen können.«

Elly schaute ihn zweifelnd an: »Ach, lass doch. Darüber wird der sicher nicht begeistert sein …«

Aber Uli, fast schon auf dem Sprung, schüttelte energisch den Kopf. »Du kennst ihn nicht. Keine Sorge, er ist ein hoffnungsloser Romantiker. Außerdem hätte ich dich niemals angesprochen, hätte er mich nicht geschubst. Er hat genau gesehen, wie fasziniert ich von dir war, und weiß, wie unsicher ich manchmal sein kann … Wir treffen uns dann da vorne an der Treppe, ja?«

Eine halbe Stunde später wehte Elly der milde Fahrtwind durch die Haare, während sie hinter Uli her durch die Stadt fuhr. Ihre Wangen glühten vor Aufregung, und sie hätte schreien können vor Glück.

Dieser eine Tag im September

Mina – Ostberlin. Mittwoch, 14. September 1988

Mina läuft pfeifend die Treppe hinunter in den Tanzsaal. Sie, ihre Mutter Elly, ihr Vater Bernd und älterer Bruder André wohnen im ersten Stock des Hauses. Nonna wohnt im zweiten Stock und hat vor einigen Monaten Minas beste Freundin Ratte als Untermieterin bei sich aufgenommen.

Als unangepasste, tätowierte Punkerin mit grünem Irokesenschnitt, Büroklammern in den Ohren, Lederklamotten, Nietenhalsband und frecher Berliner Schnauze ist die ebenfalls Neunzehnjährige zu Hause in Friedrichshain rausgeflogen, weil ihre Eltern die ständigen Auseinandersetzungen mit ihr leid waren. Genau wie die zu laute Musik, die Unordnung, die ihrer Meinung nach asozialen Freunde, ihren schlechten Umgang generell und, und, und … Ach, sie sind eben Spießer durch und durch und tragen immer schön ihr ›Bonbon‹ spazieren, wie sie alle im Palast das Parteiabzeichen gerne ironisch nennen. Getreue Genossen, die nichts hinterfragen und sich perfekt in das System integrieren, aber nicht den kleinsten Krümel auf dem Tisch oder Fleck auf dem Hemd ertragen können. Das sagt doch schon alles. Mina ist mit Ratte zur Schule gegangen und hat deren Eltern noch nie gemocht, sich meistens in ihrer Gegenwart unwohl gefühlt. Als »Tochter des Tanzpalasts« wurde sie oft mit Vorurteilen konfrontiert und mit Misstrauen beäugt. Kein Wunder, dass ihre Freundin in diesem Umfeld das Gefühl hat, rebellieren zu müssen. Als Freigeist, Andersdenkerin, Künstlerin und zweifellos eine der ersten Punks in Ostberlin würde sie doch sonst draufgehen.

Minas Großmutter schert sich nicht um korrekte Kleidung und Anpassung. Sie hat Ratte ein Zimmer bei sich überlassen und sie unter ihre Fittiche genommen, soweit sie das zulässt. Die zwei haben sowieso einen besonderen Draht zueinander, vielleicht, weil beide schillernde Paradiesvögel in ihrer eigenen Welt sind, so non-konform und unterschiedlich, dass sie einfach wunderbar zusammenpassen. Nonna kann nur Menschen in ihrer Nähe ertragen, die genauso unabhängig sind wie sie, die sich nicht einengen und bevormunden lassen wollen. Sie sagt immer: »Wer im Innern nicht frei ist, dem nützt auch der Westen nichts.« Darüber muss Mina oft nachdenken. Stimmt irgendwie. Denn fängt wahre Freiheit nicht bei jedem selbst an? Die Staatsmacht versucht zu deckeln, den Bürgern die Flügel zu stutzen, begünstigt Verrat an Nachbarn und Freunden, aber am Ende, davon ist zum Beispiel ihre Nonna überzeugt, werden nicht die grauen Gestalten und der Stumpfsinn siegen, sondern der rebellische Geist. Jemand wie Ratte.

Sie ist mutig und malt grellbunte Bilder in Acryl, kraftvoll und wild, die alle von ihren Träumen erzählen: Sie will nach New York, London oder Singapur reisen, in einem Heißluftballon fahren, eine amerikanische Limousine durch die Wüste nach Las Vegas steuern, an der Golden Coast Surfen lernen, eine eigene Ausstellung mit ihren Bildern in Westberlin eröffnen, Mädchen und Jungs gleichzeitig küssen, gemeinsam mit Honecker und Udo Lindenberg Berliner Luft auf den Frieden trinken, die Sex Pistols live erleben, eine Hütte am Strand mit Blick aufs Meer besitzen oder einfach nur einmal im Leben über die Mauer spazieren. Ach was, das würde Mina tun wollen, Ratte würde die Mauer gerne sprengen und alle Wachtürme bunt bemalen und die Schießscharten zunageln.

Ratte hat Mina im Juli zum Geburtstag ein riesiges Bild geschenkt. Darauf sieht man nur eine Insel mit Palmen, umrahmt von türkisblauem Wasser an hellem Sandstrand, der Himmel wird von einer mächtigen Sonne erleuchtet, und nur ein paar weiße Wölkchen sprenkeln das weite Blau. Am Ufer steht eine kleine nackte Frau mit dunklen Haaren, die mit ausgebreiteten Armen im Begriff ist, ins Wasser zu laufen. Mina hat sich auf dem Bild sofort erkannt. Sie musste weinen vor Freude und Rührung. So etwas Großes, Persönliches hat ihr noch niemand geschenkt. Das Bild hängt jetzt direkt über ihrem Bett. Wie ein Fenster in die weite Welt, in die sich Mina jederzeit hinausträumen kann, wenn ihr danach ist …

Um Nonna ein wenig Miete zahlen zu können, arbeitet Ratte am Wochenende auch im Tanzpalast an der Bar, manchmal in der gleichen Schicht wie Mina. Mit ihr zusammen macht die Arbeit einen Riesenspaß. Außerdem kellnert Ratte tagsüber in einem Café und hat noch mehrere zwielichtige Jobs, von denen keiner Näheres wissen will. In Wirklichkeit hofft sie aber, irgendwann als Malerin entdeckt zu werden und davon leben zu können. Die meisten halten das für total bescheuert, aber Mina findet es beeindruckend, wie konsequent Ratte an sich und ihre Kunst glaubt und immer weitermalt. Mina wünscht sich schließlich auch nichts sehnlicher, als eine bekannte Sängerin zu werden, aber sie ist viel schüchterner und selbstkritischer als ihre Freundin. Ihr fehlt Rattes Radikalität. Oft ist sie viel zu melancholisch, gefangen in ihren Gefühlen und Gedankenkarussellen, die sie hemmen weiterzugehen. Aber sie tut es trotzdem: weitergehen. Nur langsamer, vorsichtiger als ihre Freundin.

Eigentlich heißt Ratte Sabin (ohne e) Burow, hat aber ihren Spitznamen weg, weil sie – wen wundert’s – immer eine echte Ratte bei sich hält, seit sie dreizehn ist. Inzwischen ist es bestimmt das vierte oder fünfte Tier, eine furchtbar hässliche weiße, mit fleischigem Schwanz und ebensolcher Schnauze. Ihr Name ist Mister Bowie – wie Rattes Lieblingssänger David Bowie, den sie heiß und innig verehrt. Mister Bowie sitzt meistens auf der Schulter seines Frauchens und wird überall mit hingenommen. Mina mag ihn, er ist furchtbar lieb, aber eben mehr als unansehnlich. Nonna behauptet, das sind schöne Seelen oft. Man könnte wirklich meinen, Mister Bowie hat etwas zutiefst Menschliches an sich, so, wie er manchmal alles um sich beobachtet oder reagiert.

Auch jetzt, an der langen Frühstückstafel im Palastsaal, sitzt das abstoßende Tier bei Ratte auf der Schulter, völlig harmlos guckt und schnüffelt er herum, hat wie sein Frauchen ein Nietenhalsband umgebunden.

Mina überfliegt mit einem Blick die Runde. Neben Ratte sitzt ihre Großmutter, in seidenem Morgenmantel, aber schon um diese Uhrzeit mit perfekt in Wasserwellen gelegtem Bubikopf und Lippen im gleichen Rot wie ihr Negligé. Tante Heidi hat den Platz rechts von Nonna eingenommen. Ihr richtiger Name lautet Adelheid Meier. Sie ist ehemalige Schauspielerin und »Beste« von Großmutter, wie sie es nennt. Dann kommen ihre Eltern, erst ihre Mutter Elly, dann ihr Vater Bernd am Kopfende des Tisches, auf der anderen Seite ihr Bruder André, schlecht gelaunt wie meistens, und die Bandmitglieder Jim, Gitarrist und absoluter Morrison-Fan (der Name ist Programm, eigentlich heißt er ziemlich preußisch Falk Bohnewitz, aber er ist der Coole und Schöne ihrer Gruppe, ganz wie sein Vorbild Morrison), sowie Hansi, ihr Schlagzeuger. Die beiden wohnen mit Wolle in einer WG unterm Dach. Derselbe hockt am Ende des Tisches und sieht noch ziemlich verpennt aus. Ohne etwas zu essen im Bauch und einen starken Kaffee ist der sowieso unerträglich.

»Guten Morgen zusammen!«, ruft Mina fröhlich und setzt sich auf den freien Stuhl neben Wolle und Ratte ans vordere Kopfende.

»Morgen!«, »Hey!«, »Daach«, »Hallo, Schätzchen« tönt es aus aller Munde.

»Nimm dir Kaffee«, bietet ihre Mutter an und reicht die Kanne rüber, aber ihre Hand zittert stark, sodass Mina Angst hat, sie lässt sie fallen. Außerdem wirkt sie irgendwie in sich gekehrt. Da fällt Mina auf, dass The Doors im Hintergrund laufen. Moment mal, sie überlegt, was für ein Datum ist. Ja doch, es ist wieder so weit. The Doors spielt Elly nämlich nur, wenn sie besonders traurig ist, und immer am 14. September, weil sie die Band damals im Westen auf ihrem einzigen Deutschlandkonzert live gesehen hat. Jedes Jahr feiert sie das. Keiner wundert sich mehr darüber.

Mina nimmt sich ein Brötchen, lässt sich Butter und Marmelade reichen und fängt an zu essen.

»Na, jut jeschlafen?«, fragt Ratte, während sie Mister Bowie mit ein paar Krümeln vom Tisch füttert. Wolle verfolgt das sichtlich angeekelt.

»Null«, sagt Mina kauend. »Bin zu unruhig, mir geht alles Mögliche im Kopf herum.«

»Kannst mir heute helfen, die Garderobe auszubessern. Körperliche Arbeit bringt dich bestimmt auf andere Gedanken, wa?« Ihr Vater grinst. Er ist Zimmerer von Beruf und kümmert sich – neben externen Auftragsarbeiten von Kunden – deshalb im Palast darum, dass alle Möbel, Böden und Türen gut erhalten bleiben. Außerdem ist er bei ihnen im ganzen Haus auch so eine Art Hausmeister.

»Verzichte dankend, Papa, sehr freundlich«, antwortet Mina ironisch. Zu Ratte hin verdreht sie die Augen. Manchmal scheint es ihm etwas an Gefühl oder Interesse für seine Tochter zu fehlen. Als Mina klein war, ist ihr das noch nicht aufgefallen, da hat er mit ihr tolle Kindersachen unternommen, sie durch den Tanzsaal gewirbelt und ihr beigebracht, wie man schnitzt, hobelt und sägt. Aber seit sie sich nicht mehr so recht fürs Handwerken begeistert, kann er eher weniger mit ihr anfangen, und sie weiß auch nicht so recht, worüber sie mit ihrem Vater reden soll. In Wahrheit kann sie ihm das natürlich nicht vorwerfen, denn sie selbst hat sich eben verändert, ist erwachsen geworden, und es begeistern sie nun ganz andere Dinge.

Mit Mama und Nonna ist das ganz anders. Mit den Frauen in ihrer Familie ist Mina stärker zusammengewachsen, je älter sie wurde. Sie reden über alles und sind sich sehr nah. Wenn sie an ihr Zuhause denkt, denkt sie immer zuerst an diese beiden.

Ihr Bruder mit seinen einundzwanzig Jahren ist da weniger anspruchsvoll. Er ist ein ruhiger Geselle, der gerne für sich bleibt und nicht viele Menschen um sich herum braucht. Vater und Sohn arbeiten zusammen – auch André hat Schreiner gelernt – und verstehen sich gut, weil sie sich annehmen, wie sie eben sind. Männer hinterfragen oder zweifeln scheinbar sowieso nicht ständig. Mina hinterfragt grundsätzlich alles und jeden, auch wenn sie das manchmal selbst nervt.

Mit verschlossener Miene sitzt André jedenfalls auch in diesem Moment am Tisch und schlürft geräuschvoll seinen Kaffee. Wenn der nur mal an einem einzigen Tag nicht grummelig wäre … Eine Freundin könnte der gut gebrauchen, die könnte vielleicht einiges bewirken, denkt Mina bei sich. Aber dazu müsste er wenigstens drei Sätze am Stück sprechen wollen. Sie muss über ihre Gedanken schmunzeln, da schlägt Elly plötzlich mit dem Löffel an ihre Tasse.

»Hört ihr mir alle zu? Danke. So, dann lasst uns bitte die nächsten Tage mit Schichtdiensten durchgehen«, beginnt sie, stellt ihren Teller zur Seite und holt ihr Notizbuch hervor. »Mina und Ratte, ihr habt den Freitag und Samstag an der Bar, ja? Wolle, du legst auf, Hagen frag ich für Donnerstag, am Sonntag will Joachim Musik machen. Theke klär ich später, Isa ist krank, da brauchen wir Ersatz. Was ist mit Trude, weiß da jemand was? Jim und Hansi, könnt ihr am Freitag ausnahmsweise den Einlass übernehmen? Die Flemming-Jungs sind anderswo gebucht, und ich krieg so schnell jetzt keinen Ersatz mehr.« Sie schaut die zwei bittend an. Diese tauschen kurz einen Blick, dann nickt Jim: »Weil du’s bist, Elly, zur Not. Wir haben keinen Gig, proben vorher, allet jut.« Es klingt etwas muffelig, aber Minas Mutter ist sichtlich erleichtert. Sonst hat auch keiner was zu meckern, das läuft nicht immer so unkompliziert ab.

»Prima, danke. André und ich übernehmen Donnerstag und Freitag die Kasse, Samstag und Sonntag Bernd und Nonna«, fährt sie fort, während sie etwas in ihrem Buch abhakt und Neues notiert.

»Wie lang willste dir das denn noch antun, Mutti?«, fragt Bernd Marianne da auf einmal kopfschüttelnd. Die Bedenken in seiner Stimme sind unüberhörbar. »Mit über achtzig! Das muss doch nicht sein …«

Minas Eltern haben zwar nie geheiratet – warum, versteht keiner von ihnen, und sie sprechen nie darüber –, aber ihr Vater nennt Nonna trotzdem immer »Mutti«.

Diese richtet sich auf und pariert mehr als empört: »Jetzt pass ma jut uff, mein Freund. Solange ich noch geradeaus gehe und mir den Lippenstift so nachziehe, dass man mit einem Lineal nachmessen kann, und solange ich mehr Schnaps vertrage als ihr alle zusammen – und ich meine ALLE –, mach ich die Nächte durch, wie ich das will!« Sie hebt ihre Brauen und zündet sich eine Zigarette an ihrer Spitze an. »Und wie oft hab ich dir schon gesagt, Herzchen, wenn du mich weiter ›Mutti‹ nennst, schlag ich dir deine Bohrmaschine um den Kopf! Anjekommen?« Daraufhin nimmt sie einen tiefen Zug, bläst Bernd genüsslich eine Rauchwolke ins Gesicht, aber wirft ihm anschließend direkt einen Kussmund zu.

»Is ja schon gut«, murmelt er versteckt grinsend. »Hast gewonnen.« Alle fangen an zu lachen, außer Elly, die in ihre Notizen vertieft zu sein scheint.

»Hach, ich liebe sie einfach! So will ich auch werden«, stellt Ratte belustigt fest. Dann gibt sie Nonna neben sich einen Schmatzer auf die Wange und schnorrt eine Zigarette von ihr. Im Hintergrund beginnt ein neues Lied, When the music’s over. Eine Weile sind alle stumm, essen, trinken, rauchen oder lesen die Tageszeitung, lauschen den Klängen und der warmen Stimme von Morrison. Dann auf einmal springt Elly auf, so abrupt, dass ihr Stuhl nach hinten umfällt. Alle schauen hoch und starren sie irritiert an.

»Was ist denn, Mama?«, fragt Mina erschrocken.

»Nichts!«, presst ihre Mutter heraus, aber mehr folgt nicht. Auch Nonna steht alarmiert auf. Elly wirkt wie weggetreten, wischt sich mit dem Ärmel über das rechte Auge, dreht sich um und rennt ohne ein weiteres Wort aus dem Saal.

Mina wechselt mit den anderen am Tisch ratlose Blicke.

»Häää?«, macht Ratte, die Augenbrauen fragend hochgezogen.

»Was geht denn mit der ab?«, will Wolle verwundert wissen.

»Bestimmt Migräne«, vermutet ihr Vater unsicher und zuckt mit den Schultern. »Tsss«, stößt André nur aus und zieht eine genervte Grimasse. Mina weiß genau, was er denkt: Frauenkram. Er redet oft so abwertend und findet solche »Befindlichkeiten« ziemlich albern. Die Frauen, die ihn gut kennen, in diesem Haus zumindest, haben es in dieser Hinsicht mit ihm aufgegeben. Das ist eben seine Art, böse meint er das nicht.

»Papperlapapp. Schluss mit euren Spekulationen! Migräne, so ein Quatsch.« Nonna legt die Zigarettenspitze weg. »Es ist … dieser eine Tag … im September … Überlasst das mal mir. Ich klär das.« Ihre Stimme klingt seltsam. Da schwingt eine Schwermut mit, die Mina gar nicht gefällt.

»Soll ich mitkommen?«, bietet sie deshalb an.

»Nein!« Der Ton ihrer Großmutter ist etwas zu barsch. Das kennt Mina überhaupt nicht von ihr, deshalb schreckt sie zurück, als hätte diese ihr eine geklatscht. Doch bevor sie etwas erwidern kann, legt Ratte ihr rasch die Hand auf den Arm.

»Mina, lass …«, flüstert diese. »Schluck’s runter.«

Mina wechselt einen Blick mit Ratte, dann beschließt sie, fürs Erste den Mund zu halten. Nonna wiederum nickt kurz in die Runde und eilt ihrer Tochter nach, so schnell sie eben kann mit ihren dreiundachtzig Jahren, den Morgenmantel leicht gelüpft, um nicht darüber zu stolpern.

Jetzt ist es raus

Elly

Elly stürzt die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Sie hat nicht erwartet, dass der Schmerz sie noch einmal so überwältigen würde … wie eine Sturmflut aus Bedauern, Trauer und Sehnsucht. Es fühlt sich an, als würde sie in diesem Augenblick in tausend Teile zerfallen. Warum? Was hat gerade heute an diesem Jahrestag die Mauer um ihr Herz durchbrochen?

Sie glaubt, auf der Stelle in Stücke zu zerspringen, wenn sie nicht jetzt, sofort, laut schreien kann. Es tut weh, so weh, so weh … Mit zitternden Händen fischt sie den Schlüssel aus ihrer Hosentasche und öffnet die Tür. Ihre Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu funktionieren, schwindet von Sekunde zu Sekunde mehr. Wie in einem Nebel tappt sie in den dunklen Flur. Dort ist es eiskalt, die Dielen im Flur knarren trostlos zur Begrüßung. Elly ist zu schwach, um die Tür hinter sich zu schließen. Sie wirft den Schlüssel auf die Ablage, trifft in ihrer Verfassung aber nicht und hört den Bund auf den Boden knallen. Die Traurigkeit in ihr zieht sie weiter in die Tiefe. Sie spürt einen Kloß im Hals, schluckt und schluckt, aber es wird nur schlimmer, ihre Kehle ist wie zugeschnürt …

Nur ein paar Meter, dann wird sie nichts mehr zurückhalten, und all das wird hochkommen, was sie immer wieder, so verdammt lange schon, mit aller Kraft versucht hat zu verdrängen. Durch den Schleier ihrer aufsteigenden Tränen tastet sie sich ins Schlafzimmer. Endlich, da erkennt sie verschwommen das große Doppelbett. Bevor ihr Herz zum hundertsten Mal brechen kann – wie oft wird sie das noch ertragen können –, wirft sie sich auf die weißen Daunen ihrer linken Seite, die sie empfangen wie ein Wolkenmeer. Kraftlos lässt sich Elly mitten hineinfallen. Am liebsten würde sie darin untergehen, wie durch ein Wunder verschwinden. Aber wohin? Etwa zu ihm?

Nach zwanzig Jahren?! Bei dieser Vorstellung entringt sich ihr ein lang ersehnter Aufschrei aus tiefster Seele. Der Schmerz überwältigt sie erneut, durchfährt ihr gesamtes Sein, bemächtigt sich all ihrer Gefühle. Die Lippen in ihr Kissen gepresst, hofft sie, dass sie unten im Saal niemand hört. Und das war nur der Anfang, denn ab jetzt ist gar nichts mehr zu unterdrücken, nun fließen die Tränen ungehindert. Elly weiß, wie gut es ist, dass sie weint. Endlich. Weint. Weint und weint, einem Dammbruch gleich. Heulend gleitet sie in ein Delirium, das sie Zeit und Raum vergessen lässt.

Laut, verzweifelt, allein.

Nach einer kleinen Ewigkeit merkt Elly plötzlich, wie sich die Matratze bewegt. Sie hat gar nicht die Tür gehen hören. Doch jemand hat sich zu ihr gesetzt und legt eine warme, raue Hand an ihre Wange. Ohne aufzuschauen – sie liegt auf dem Bauch mit ausgebreiteten Armen – erkennt sie die vertraute Hand ihrer Mutter, mit den knochigen Fingern, die gepflegten Nägel auch im Alter immer noch in Kirschrot lackiert. Sie streichelt der Tochter wortlos das Gesicht, zärtlich die Haare entlang und weiter über den Hinterkopf. Sofort wird Elly ruhiger.

Verrückt, wie früher.

Wäre sie doch wieder ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, und die Arme ihrer Mutter wären ein Schutzschild aus Geborgenheit, welcher der bösen Welt da draußen trotzt.

»Mensch, Mäuschen«, sagt ihre Mutter schließlich voller Liebe in der schönen tiefen Stimme, die Mina geerbt hat, und krault jetzt Ellys Rücken. »Ist es diesmal gar so schlimm …? Tut immer noch weh? Der vierzehnte September, wa?«

Wie in Zeitlupe dreht Elly sich auf die Seite und presst ihr Kissen fest an ihre Brust. Unter den geschwollenen Augenlidern versucht sie, ihre Mutter anzusehen. Erst schafft sie es nur zu nicken, dann beginnt sie mit erstickter Stimme zu sprechen.

»Ach, Mutsch … Seit zwanzig Jahren verfolgt mich das ›Was-wäre-wenn‹ … Ich finde keinen Frieden damit. Und heute Morgen hatte ich mit Bernd auch eine unangenehme Diskussion, die mich über die Maßen aufgewühlt hat. Er hat mir vorgeworfen, dass ich ihn nur noch kritisiere, ständig genervt bin, wir gleichgültig nebeneinander her leben. Dass ich mich von ihm regelrecht abschotte und er sich manchmal nicht nur abgelehnt, sondern auch fremd neben mir in seiner eigenen Wohnung fühle – kannst du das glauben? Er sagt das, der sonst kaum spricht, geschweige denn etwas einfordert oder sich beschwert«, erzählt Elly. Ihre Mutter hört schweigend zu und nickt, während sie weiter zärtlich über ihre Haare streicht.

»Stimmt es denn? Ziehst du dich zurück? Bist du unglücklich, Liebes?«, spekuliert sie.

»Keine Ahnung, vielleicht. Oder auch nicht. Mir ist manchmal alles zu viel. Er hat schon Recht, mit mir stimmt etwas nicht in letzter Zeit. Aber ich kann das Bernd nicht erklären. Denn … ich bin irgendwie … leer, unzufrieden. Kann nicht aufhören, mich zu fragen, was gewesen wäre, wenn … Zum Beispiel an einem Tag wie heute: Wäre Uli es gewesen? War das damals ein Fehler? Hätte ich weglaufen oder besser bleiben sollen? Und warum?« Elly schluchzt erneut auf. »Warum ist mir das überhaupt passiert?« Ihre aufsteigenden Tränen verhindern, dass sie weitersprechen kann. Ihre Mutter wischt sie behutsam fort, als sie wie kleine Flüsse über ihre Wangen fließen. Sie sehen sich an. In den grünen Augen der alten Frau liegt ein wissendes Lächeln.

»Ich verstehe dich, Liebes. Aber wer weiß schon im Nachhinein, ob er an einer Weggabelung im Leben richtig abgebogen ist? Man ist den anderen Weg nicht gegangen und kann nicht sagen, ob jener besser gewesen wäre. Du hast dich damals für deine Familie entschieden. André war noch ganz klein, er brauchte dich. Stell dir nur mal vor, deinen Sohn in der DDR zurückzulassen, das hättest du nie übers Herz gebracht, und ich bin mir sicher, du wärst unglücklich geworden. Vielleicht wäre dein Leben im Westen mit Uli schön geworden – aber du hättest dir immer Vorwürfe und Sorgen um deinen kleinen Jungen gemacht! Du hättest nie frei und ungezwungen leben können. Ich kenne dich, mein Kind. Bei einem Mann zu bleiben, den du gerade mal eine Woche gekannt hast … Wer hätte denn so was getan? Du sicher nicht. Dafür warst du immer schon viel zu vernünftig. Und du hattest ja keine Ahnung, dass du – schwanger warst.« Sie stockt kurz, als müsste sie überlegen, wie sie den nächsten Satz formulieren soll. »Aber … andererseits kennst du meine ehrliche Meinung. Bernd passt nicht zu dir. Er ist ein netter Kerl, eine treue Seele, ohne Frage, einer, der anpackt. Er ist praktisch, freundlich, zuverlässig, anständig und deinen Kindern ein guter Vater – jaja, aber …« Wieder macht sie eine kurze Pause, dann nimmt sie die Hand ihrer Tochter und drückt sie fest. »… du lebst mit Bernd mittlerweile, als wär’s dein Bruder. Nicht mal dein bester Freund. Ihr seid zusammen aufgewachsen und später, wumms, habt ihr geknutscht – auf den ersten Kuss folgte mehr, zum Ausprobieren … und so weiter. Ihr konntet euch aufeinander verlassen. Irgendwann kam André, und ihr seid eben zusammengeblieben. Pragmatisch war das. Leidenschaftliche Liebe war und ist das nicht.«

Zack. Das hat gegessen. Elly hat das zwar schon ähnlich formuliert sehr oft von ihrer Mutter gehört, aber gerade jetzt ist es für sie wie ein Schlag in die Magengrube. Warum aber trifft sie das derart stark? Weil sie es nicht wahrhaben will? Was ist heute nur mit ihr los? Eine neue Träne fließt, eine weitere kullert hinterher. Wie an einem Anker hält sie sich an der Hand ihrer Mutter fest.

»In einem alten Film, den ich sehr liebe – Der Teufel aus Seide mit Lilli Palmer und Curd Jürgens –, heißt es: ›Jeder Mensch begegnet einmal dem Menschen seines Lebens, aber nur wenige erkennen ihn rechtzeitig …‹«, ergänzt ihre Mutter mit einer vielsagenden Pause am Ende. »Und trotzdem sind bestimmte Entscheidungen manchmal unumgänglich.«

Elly begreift schon, was diese ihr damit andeuten will.

»Ja, schon. Aber warum geht das Gefühl, etwas verloren zu haben, das in Wahrheit zu mir gehört, seitdem nicht weg? Ich bereue es, etwas nicht getan zu haben, und es fühlt sich an, als hätte ich etwas vorbeiziehen lassen, das für mich bestimmt war. Uli …« Beim Aussprechen seines Namens wirbelt alles in ihrem Bauch vollkommen durcheinander. Genauso wie in jenen Frankfurter Tagen.

»Das mit Uli«, fährt Elly leise fort, jetzt gefasster, auch wenn es ihr schwerfällt, »ist nicht vorbei. War es nie. Da ist was unvollständig, noch offen, kommt es mir vor. Alles, was ihn angeht – oder uns –, ist ein einziges Fragezeichen. Und ich kann verdammt noch mal nicht aufhören, an ihn zu denken!«

»Ist das denn so schlimm?«, will Marianne jetzt wissen.

»Ja … es tut zu weh. Ich kann es mit den Jahren immer schwerer aushalten …« In jedem ihrer Muskeln spürt Elly den Schmerz dieser kurzen, alten, großen verlorenen Liebe. Sie nennt es so, auch wenn es nur sieben Tage waren und es sich für andere bestimmt lächerlich anhört.

Aber einmal im Jahr lässt Elly die Erinnerung daran zu. Immer am Tag ihres Kennenlernens, beim The-Doors-Konzert, während ihres bis dato einzigen Besuchs im Westen. Niemals wieder war sie drüben. Er auch nicht hier, warum auch. Immer am vierzehnten September spielt sie also von morgens bis abends ihre Musik, zelebriert ihre Trauer, fast trotzig, liest Ulis Zeilen wieder und wieder und betrachtet seine Fotos. Die sind von ihren Küssen und Tränen mittlerweile ganz ausgeblichen, abgewetzt. Elly weiß, dass sie sich dann kindisch verhält. Aber sie kann es nicht lassen. Diese Zeit gehört nur ihr und ihrem Geheimnis. Die anderen denken, dass es ihr nur um das Konzert geht oder diese unvergessliche Reise ’68 in den Westen. Was noch dahintersteckt, ahnt wohl niemand.

Manchmal hat sie den Verdacht, dass sie vielleicht auch ein fehlendes Puzzleteil von sich selbst sucht.

Einige tieftraurige Briefe hatte Uli ihr nach ihrer Trennung geschrieben, das schon. Drei hat sie aufgehoben, die anderen verbrannt. Aber was sollte er tun, er wusste ja, dass sie in Ostberlin lebte, in festen Händen und bereits Mutter war. Unerreichbar für ihn. Dennoch haben sie etwas zusammen erschaffen, von dem er bis heute nichts ahnt … Sofort tauchen vor ihr die feinen Gesichtszüge ihrer Tochter auf.

»Jeden Tag sehe ich Uli in Minas Gesicht. Sie wird ihrem Vater immer ähnlicher!«

»Ich weiß, wie schwierig das für dich ist. Aber du musst ihn da ausblenden. Mina ist Mina.« Der Ton ihrer Mutter ist ernst und gelassen, während sie weiter ganz ruhig ihren Arm streichelt. Für alles, was mit großen Gefühlen zu tun hat, zeigt sie stets viel Verständnis. Und was noch besser ist: Sie wertet nie moralisch. Elly hat ihr immer vertraut und alles erzählt. Auch damals war Marianne die Einzige, die sie eingeweiht hatte. Zum Glück, sonst wäre sie womöglich doch an der Last ihres Schweigens zugrunde gegangen. Aber ein anderer durfte das auf gar keinen Fall erfahren! Niemals. Dafür ist es zu spät, die Lüge zu groß.

»Ach, Mutsch, was soll ich bloß tun …?«, flüstert Elly verzweifelt und sucht den Blick ihrer Mutter.

»Finde endlich deinen Frieden damit, Elly. Das ist der Preis, den du zahlen musst. Du wirst nie erfahren, was gewesen wäre, wenn … Und manchmal muss man Dinge auch stehen lassen können. Zuallererst trennte die Mauer Uli und dich, dann André und Bernd, dein ganzes Leben hier, die Verantwortung für den Tanzpalast. Wir, alle, die du liebtest, waren schließlich im Osten … und es waren nur sieben Tage. Halt sie in deinem Herzen fest, diese Tage! Bewahre dir diese Woche voller Leidenschaft, aber lass den Kummer und die Reue los. Welche Alternative gab es zu deiner Rückkehr, Liebes?« Mutter schlägt die Beine übereinander, holt Feuer aus ihrem Negligé und zündet sich eine neue Zigarette an ihrer Spitze an.

Elly schweigt. »Ich weiß es nicht«, stößt sie dann niedergeschlagen hervor.

»Aber ich: keine!«, beantwortet Marianne die eigene Frage. Dann inhaliert sie den Rauch langsam und bläst ihn durch die gespitzten Lippen wieder aus.

»Mit Mina in meinem Bauch haben wir sogar die Mauer überlistet. Hätten wir da nicht auch mehr geschafft?« traut sich Elly leise in den Raum zu stellen.

»Darum geht es nicht. Hör endlich auf, damit zu hadern.«

»Das sagst du so leicht, du hast auch nie einen Mann richtig geliebt, wie du stets betonst. Sogar mein Vater war nur eine Affäre. Und Uli fehlt mir bis heute, obwohl ich nie mit ihm zusammen war …«

»Naja, weil du so etwas Einzigartiges nie wieder erlebt hast! Außerdem hat er dir mit Mina sein Kind hinterlassen, das verbindet euch natürlich für ewig, über alle Grenzen hinweg. Trotzdem bleib ich dabei, schließ diese Geschichte endlich ein und stell das Kästchen zur Seite. Du sollst ihn nicht vergessen, aber nicht ewig an einem Band zerren, das es gar nicht gibt. Vielleicht seht ihr euch in einem anderen Leben wieder, dann wirst du es herausfinden …«

Plötzlich wird die Tür aufgestoßen und schlägt polternd gegen die Wand. Die Tauben auf dem Fenstersims flattern aufgescheucht hoch und fliegen davon. Elly schreckt auch auf, setzt sich im Bett gerade hin, das Herz pocht ihr bis zum Hals. Marianne dreht sich ebenfalls wie von der Tarantel gestochen um, ihre Zigarettenspitze fällt zu Boden. Beide blicken entsetzt in Minas puterrotes Gesicht. Ihr Mädchen steht im Türrahmen wie ein Geist. Noch nie hat Elly einen solch verstörten Ausdruck an ihr gesehen.

»Wer ist Uli? Wovon redet ihr?! Sein Kind … Was soll das bedeuten?«, brüllt Mina sie und Marianne auch schon an. Sie ist mehr als außer sich. Ellys Gedanken fahren wild Karussell.

Oh nein, oh nein, Mina, mein Mädchen … Verdammt! Das darf jetzt nicht wahr sein! Die Kleine hat alles gehört? Was habe ich ihr angetan? Verdammt, doch nicht so, nicht auf diese Weise … Ihr wird schwindelig, und zugleich ist sie wie gelähmt vor Panik. Was jetzt?

»Wer! Ist! Uli!«, wiederholt ihre Tochter schrill und mit brechender Stimme, als keine der beiden Frauen einen Ton herausbringt. »Sagt was!« Sie haut mit der flachen Hand auf den Türrahmen. »Raus damit!« Elly zuckt zusammen.

»Mina …«, beginnt sie hilflos, kann aber nicht weitersprechen. Auch Marianne neben ihr ist blass geworden. Hastig sammelt sie die Zigarette vom Boden auf, bevor sie einen besorgten Blick auf Elly wirft, dann wieder auf Mina und sich eine Haarsträhne aus der Stirn bläst. Unschlüssig rutscht sie mit dem Po auf dem Bett hin und her. Die Grande Dame weiß wohl auch nicht, was nun am besten zu tun ist.

Elly geht in Sekundenschnelle alle Möglichkeiten durch.

Und schließlich wird es ihr bewusst: Es gibt kein Zurück mehr. Sie ist ihrem Kind die Wahrheit schuldig.

»Wer ist Uli?!«, schreit Mina zum dritten Mal, jetzt lauter, wütend tritt sie gegen die Tür, dann noch mal und noch mal, dass diese mit einem lauten Krachen erneut an die Wand schnellt.

»… dein … Va… Vater«, kommt es schließlich stockend aus Ellys Mund. »Der – leibliche.«

Ihre Mutter stöhnt laut. Die Szenerie kommt ihr vor wie aus einem Film, Elly steht völlig neben sich, vor ihr ein riesiger Scherbenhaufen. Aber seltsamerweise steigt gleichzeitig so etwas wie ein Funken Erleichterung in ihr auf.

Mina wirkt jetzt jedoch wie erstarrt, sie blinzelt nicht einmal. Elly sieht ihr in den Schock regelrecht an. Die Gesichtsfarbe ihrer Tochter ist von Feuerrot zu Bettlakenweiß gewechselt. Atmet sie überhaupt noch?

Noch nie hat Elly sich so elend gefühlt und fängt am ganzen Körper an zu zittern.

Oh nein … Mein Mädchen, es tut mir so leid. Das wollte ich nicht, nicht so, doch nicht so …

Zum Glück ist am Ende doch auf ihre weise Mutter Verlass, die fängt sich, wie immer, am schnellsten. Sie räuspert sich, klatscht laut und bestimmt in die Hände. Dann sagt sie nur: »Jut, Kinder. Dit ist die Wahrheit. Reißt euch zusammen. Jetzt isses raus.«

Woraus die Träume sind

Elly – Tag 1Frankfurt am Main. Samstag, 14. September 1968

Wie ein Traum kam ihr die nächtliche Kulisse dieser Stadt vor. War sie das wirklich selbst, die all dies hier erlebte? Noch benebelt von der Intensität der Eindrücke – vom Alkohol, dem betörenden Konzert, von Jims Charisma auf der Bühne, seiner unmittelbaren Nähe, dem Gefühl von Freiheit, Ulis atemberaubenden Küssen –, fuhr Elly ihm einfach hinterher.

Nur einmal hielten sie auf dem Weg bei einem Wasserhäuschen an, um Bier und neue Zigaretten zu holen. Uli leitete sie am Fluss entlang an eine ruhige, absolut zauberhafte Stelle, ein gutes Stück vom Zentrum entfernt. Dort stand eine riesige Trauerweide am Mainufer, die ihre langen Zweige wie ein schützendes Dach über die Wiese ausbreitete – ein Vorhang in eine andere Welt vielleicht, dachte Elly lächelnd.

»Hier ist es«, rief Uli ihr im Fahren zu und deutete ihr an abzusteigen. Sie stoppten und legten die Räder neben den alten Baum. Die Lebensspanne einer Trauerweide glich der eines Menschenlebens, das wusste Elly von ihrer Mutter. Diese hier sah aus, als wäre sie mindestens schon hundert Jahre alt.

»Komm«, forderte Uli sie jetzt auf, schnappte sich die Bierflaschen aus dem Korb des Gepäckträgers und verschwand unter der Trauerweide. Sie folgte ihm aufgeregt, musste sich ducken und die Blätter beiseiteschieben, fast so, als folgte sie ihm in ein Geheimversteck. Von dort gelangte man direkt zum Wasser. Die Spitzen der Weidenzweige berührten die Oberfläche.

»Wie schön!«, entfuhr es Elly sofort. Dann verstummte sie, nahm das Bild in allen Einzelheiten in sich auf, um es nie wieder zu vergessen. Er freute sich, dass ihr sein Lieblingsplatz gefiel, das sah sie ihm an.

»Ja, oder? Ich bin wirklich oft hier. Mach’s dir gemütlich.« Uli zog seine Lederjacke aus und hockte sich ins Gras. Elly setzte sich daneben und schmiegte sich an ihn. Ihren Kopf legte sie an seine breite, starke Schulter. Ihre langen Haare fielen über seinen Arm wie kleine rotblonde Schlangen. Irgendwie kam es ihr vor, als hätten sie schon immer so dagesessen. Still, ganz friedlich, wie eins.

»Mystisch ist es hier, ein Ort wie im Märchen …«, flüsterte Elly. Das Weidendach schirmte sie wirklich von der Außenwelt ab, und vor ihnen strömte der Fluss schwarzgrau und irgendwie mächtig in seinem Bett. Das Wasser beruhigte sie, sein ewiges Fließen hatte etwas Zuversichtliches. Sie schaute sich um. Am Ufer gegenüber erkannte sie einige Häuser mit beleuchteten Fenstern, einen Baukran, auf dem Lämpchen blinkten, aber es schien keine Menschenseele um diese Zeit in der Gegend unterwegs zu sein. Die Luft hatte sich inzwischen leicht abgekühlt, aber für Mitte September war es trotzdem angenehm warm. Eine milde Altweibersommernacht umgab sie.

Uli war kein Typ, der ständig reden musste, das gefiel ihr. Er legte seinen Arm um ihre Schulter, und sie kuschelte sich noch etwas enger an ihn.