7,99 €
Drei Freundinnen, ein turbulenter Sommer auf Sylt und das pure Glück …
Als Lou der hektische Alltag als Modedesignerin in Berlin zu viel wird, haben sie und ihre besten Freundinnen Nette und Kati die rettende Idee: eine gemeinsame Auszeit auf Sylt. Die malerische Nordseeinsel ist der perfekte Ort, um zur Ruhe zu kommen und neue Kraft zu schöpfen. Doch die charmante Unterkunft, die sie auf die Schnelle gebucht haben, entpuppt sich bei der Anreise als heruntergekommenes Kapitänshaus, das es zu renovieren gilt. Und auch in Sachen Liebe wird das Leben der drei Freundinnen gehörig durcheinandergewirbelt. Nicht nur Lou muss am Ende des Sommers eine Entscheidung treffen, die ihr Leben für immer verändern wird …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 539
Eine für alle, alle für eine: Lou, Nette und Kati, alle Ende dreißig, sind seit der Schulzeit beste Freundinnen und immer füreinander da. Als Lou der hektische Alltag als Modedesignerin in Berlin zu viel wird, haben die drei die rettende Idee: eine gemeinsame Auszeit auf Sylt. Die malerische Nordseeinsel ist der perfekte Ort, um zur Ruhe zu kommen und neue Kraft zu schöpfen. Doch die charmante Unterkunft, die sie auf die Schnelle gebucht haben, entpuppt sich bei der Anreise als renovierungsbedürftiges Kapitänshaus. Und auch in Sachen Liebe wird das Leben der drei Freundinnen gehörig durcheinandergewirbelt. Lou geht der schweigsame Lars, Besitzer der Strandbar Meerglück, nicht mehr aus dem Kopf, Nette erkundet mit dem gut aussehenden Biologen Hannes die Insel, und Kati macht eine unerwartete Entdeckung. Am Ende des Sommers muss jede der Freundinnen eine Entscheidung treffen, die ihr Leben für immer verändern wird …
Weitere Informationen zu Stephanie Jana und Ursula Kollritsch sowie zu lieferbaren Titeln der Autorinnen
finden Sie am Ende des Buches.
Stephanie Jana & Ursula Kollritsch
Roman
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Originalausgabe März 2024
Copyright © 2024 by Stephanie Jana und Ursula Kollritsch
Copyright © dieser Ausgabe 2024
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotive: Mauritius/Alamy
Redaktion: Waltraud Horbas
KS · Herstellung: ik
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-30435-5V002
www.goldmann-verlag.de
Für Susanne, Jane und die Syltschwestern
Als Lou Berger an diesem verhexten Morgen einen riesigen Rotkohl auf ihren Kopf zurollen sieht, nachdem sie völlig gestresst und in Gedanken versunken am Boxhagener Platz einen Gemüsestand gerammt hat und zu Boden gegangen ist, wird ihr klar, dass sich etwas in ihrem Leben grundlegend ändern muss. So geht das auf gar keinen Fall weiter!
Der Kohl hat ein Mordstempo drauf. In letzter Sekunde versucht Lou, Schlimmeres abzuwenden – sofern das in ihrem engen Rockabella-Kleid überhaupt möglich ist –, und dreht sich reflexartig auf die andere Seite. Aber zu spät, das Ding knallt trotzdem mit voller Wucht gegen ihren Schädel. Kurz wird ihr schwindelig, die Pünktchen auf ihrem Stoff tanzen Polka, da prasselt auch von oben noch mehr Gemüse auf sie herunter. Einige Radieschen plumpsen auf ihren Bauch, andere kullern in ihren Nacken. Das Grünzeug von einem Bund Möhren hinterlässt Spuren in ihrem Mund. Spuckend befreit sie sich von den Resten, so gut es geht. Lou will gar nicht wissen, wie ihr Lippenstift jetzt aussieht. Fest kneift sie die Augen zusammen, ihr Rücken schmerzt vom Aufprall, und wie aus dem Off ertönt jetzt ein lautes Klagen der türkischen Marktfrau. Dann hört sie noch mehr Stimmen, die jetzt langsam zu ihr durchdringen und aufgeregt rufen.
»Ojemine, ojemine, aman Tanrim, aman Tanrim, du meine Güte …«, jammert die Marktfrau, die sich nun über Lou beugt und ihr prüfend auf die Stirn fasst wie eine Mutter ihrem fiebernden Kind.
»Meine Güte«, wiederholt Lou müde. Schrecklich müde fühlt sie sich vielmehr und kraftlos dazu. Aber nicht erst seit ihrem Sturz eben. Bloß hat sie das bisher einfach ignoriert. Wie eine Getriebene hastet sie durch ihr Leben. In Wahrheit verdammt lange schon. Als wäre jemand hinter ihr her. Und das Ergebnis, was bleibt unterm Strich? Ihr Vintage-Klamottenladen deckt gerade so ihre Ausgaben, und das auch nur, weil sie dafür beinahe jede freie Minute investiert. Wann hat sie eigentlich das letzte Mal eine richtige Pause gemacht? Ja, eine Pause von ihrem Leben. Jetzt zum Beispiel. Am liebsten würde sie einfach liegen bleiben. »Liegen ist Frieden«, kommt ihr ein Lied in den Sinn. Das will sie jetzt auch, mitten auf der Straße, zwischen Lauchstangen, Salat, Kartoffeln, Sellerie, Zucchini und Wirsing. Soll die Welt doch sehen, wie sie ohne Lou Berger zurechtkommt. Etwas Labbriges fällt in ihren Ausschnitt, sie ignoriert es. Lou kneift die Augen zusammen. Die Marktfrau wird lauter, versucht, zu ihr durchzudringen, aber Lou mag nicht reagieren. Wie von weither hört sie die Stimmen, während sich die Radieschen weiter in ihren Nacken pressen. Ganz kurz nur, bitte liebes Universum, ein paar Minuten Ruhe, ein bisschen hier liegen dürfen und nicht funktionieren müssen …
Jemand beugt sich über sie und zieht immer wieder am Saum ihres Kleids. Ein Mann mit türkischem Akzent fragt: »Hey du, alles gut? Du verletzt? Hallo?« Sie will sich erneut tot stellen, aber da kitzelt etwas in ihrer Nase, und sie muss niesen. Es hilft wohl nichts, wegbeamen kann sie sich nicht. Widerwillig öffnet Lou ihre Lider, aber bloß halb, und schaut sich die Misere um sich herum an. Eine kleine, aufgeregt murmelnde Menschentraube hat sich gebildet. Ein Blick zeigt ihr genervt-gelangweilte Berliner gemischt mit ein paar erschrockenen Touris. Davor hat sich die Marktfrau mit Kopftuch und gestreiftem Kittel wie eine besorgte Walküre aufgebaut, und der junge Mann von eben, der ihr übrigens wie aus dem Gesicht geschnitten ist, beugt sich fürsorglich über Lou und fragt wieder: »Du verletzt?«
»Finger weg! Die Lady gehört zu mir! Darling, ich komm schon!«, brüllt plötzlich eine ihr wohlbekannte Stimme aus dem Hintergrund und kämpft sich mit »Achtung, darf ich mal, lasst mich sofort zu ihr! Immediately!« zwischen den Neugierigen durch. Die Menge teilt sich. Lou lächelt erleichtert. Ein Glück, Jeff ist da. Ihre einzige Aushilfe im Laden und engster Vertrauter in ihrem Kiez, geboren in San Francisco und nach einem Deutschlandtrip vor mehr als fünfzehn Jahren aus Liebe in Berlin hängen geblieben. Er ist ihr Retter in sämtlichen Notlagen, sofern sein Ehemann, der den veganen Burgerladen nebenan betreibt, ihn nicht braucht. Jetzt wird alles gut. Er weiß immer, was zu tun ist, von der Reparatur ihrer Waschmaschine bis zur besten Lippenstiftfarbe zum neuen Kleid, der korrekten Ansprache von Behörden, ja sogar welcher Drink zu welcher Stimmung und Mondphase passt.
Da steht er auch schon mit roten Wangen und Schweiß auf der Stirn vor ihr: aufgeknöpftes Westernhemd, schwarze Elvis-Tolle, kugelrund und vollbärtig, riesige baumelnde Creolen an beiden Ohren.
»Was machst du denn für Sachen, Schätzchen?«, fragt Jeff kopfschüttelnd und offensichtlich besorgt. Lou weiß darauf keine Antwort, also zuckt sie nur hilflos mit den Schultern, sofern das im Liegen überhaupt geht.
»Du bist ja völlig neben der Spur!«, stellt er scharfsinnig fest, verschafft sich einen pragmatischen Überblick und hebt dann ihre Tasche auf. Die Marktfrau und ihr Sohn reden weiterhin ununterbrochen auf sie ein, reichen ihr ein Handtuch. Mittlerweile findet Lou daran richtig Gefallen. Endlich kümmert sich mal jemand um sie. Da steckt wenigstens Temperament dahinter und Mitgefühl, läuft mal was nicht im Gleichklang, sondern aus der Reihe, brennt ein Feuer in denen.
»Jetzt du, Darling! Lou, schau mich an, mithelfen bitte, hoch mit dir, los!«, unterbricht Jeff ihre Gedanken und zerrt sie auch schon am rechten Arm nach oben. »Eins, zwei, drei – hopp!«, ruft er wie zu einem Kind. Sie gibt sich einen Ruck, berappelt sich und kommt schließlich mit seiner Hilfe stöhnend in den Stand. Der ganze Körper tut weh, und Lou fühlt sich nach wie vor weggetreten. Ihr Kopf brummt. War sie am Ende kurz ohnmächtig?
»Ts-ts-ts«, murmelt Jeff kopfschüttelnd. Er klopft ihr Kleid ab, entfernt Staub und mit spitzen Fingern ein paar mittlerweile schmierige Salatblätter aus ihrem Ausschnitt. Dann wühlt er in seiner Hosentasche, holt einen Schein heraus – Lou kann nicht erkennen, ob es fünfzig oder hundert Euro sind – und drückt ihn der Marktfrau mit einem charmanten Lächeln in die Hand. »Hier für Sie, junge Dame, für die Umstände, bitte entschuldigen Sie den Fauxpas meiner Freundin. Sie ist aktuell nicht … auf der Höhe. Sie verstehen?«
Diese schaut überrascht, lächelt und prüft fachkundig die Echtheit des Scheins. Danach winkt sie Lou und Jeff mit einer wedelnden Handbewegung davon, sicher will sie die »Störung« endlich loswerden, damit sie ihren Stand wieder aufbauen kann. Vielleicht ist ja doch einiges zu retten. Ihr Sohn blickt allerdings skeptisch und ruft ihnen etwas wie »Nächste Mal besser aufpassen, Augen auf! Hörst du?« hinterher.
Jeff pariert lässig mit einem »Machen wir, Schätzchen!«, hebt freundlich die Hand zum Gruß und schleppt Lou durch die tuschelnde Menge Richtung Krossener Straße. Erst jetzt merkt sie, wie unfassbar peinlich ihr die ganze Aktion hier ist. Sie spürt, wie ihr Gesicht knallrot anläuft.
Nach einer Weile sagt er in einem Ton, der keine Widerrede zulässt: »So, ich mach dir bei uns in der Burgerbude jetzt erst mal einen richtig starken Kaffee. Wir sind alleine, mein Süßer hat Spätschicht. Und etwas essen wirst du auch, und zwar Rührei mit Toast! Du brauchst jetzt eine richtige Grundlage. Mit Joghurt und Obst fangen wir gar nicht erst an. Und dann erzählst du mir in aller Ruhe, was mit dir los ist!«
Lou stöhnt laut auf. »Ach Jeff, wenn ich das nur selbst wüsste …«, bricht es aus ihr heraus, und auf einmal spürt sie eine seltsame Wehmut in sich aufsteigen.
Der gute Jeff, obwohl wesentlich kleiner als sie, legt beschützend den Arm um sie. »Aber ich weiß es. Meine Blitzdiagnose lautet, du brauchst dringend eine Auszeit, und zwar schnell. Bevor du nicht nur deinen Kopf, sondern auch dich selbst verlierst.«
Mit einem lauten Seufzer schließt er die Eingangstür auf und drückt sie bei den Essplätzen auf den erstbesten Stuhl. »Nicht weglaufen!«, scherzt er und verschwindet hinter dem Tresen.
Lou schnieft und wischt sich heimlich die Träne weg, die ihr über die Wange gekullert war. Sie will jetzt nicht komplett die Fassung verlieren. Natürlich hat er recht. Jeff hat immer recht. Sie kennt praktisch niemanden, der so empathisch ist wie er. Sie muss hier mal weg. Ein Urlaub wird da nicht ausreichen, zu tief und zu lange steckt sie schon fest. Und wofür? Was sie braucht, ist eine echte Auszeit, genau wie er gesagt hat. Oder wie hat Lou es vorhin für sich formuliert, als sie nach ihrem Sturz auf dem Boden lag und vor sich hin sinnierte: eine Pause vom Leben …? Am liebsten am Meer, denkt sie. Den ganzen Sommer über, das könnte bestimmt helfen … Wann war sie überhaupt das letzte Mal am Meer gewesen?
Da kommt sie, die Idee. Ja, genau, warum eigentlich nicht?
Und während Jeff noch fröhlich hinter dem Tresen trällert »Kaffee ist gleich da-ha!«, weiß sie es. Da ist ihre Idee schon längst keine mehr, sondern ein fester Entschluss.
Lous Gesicht hellt sich auf, und sie lächelt. Das ist es!
Sie muss gleich nachher ihre besten Freundinnen Nette und Kati anrufen.
Genervt legt Nette den Hörer auf. Was für ein Tag! Heute scheint wieder die ganze Welt etwas von ihr zu wollen! Gestatten, Anette Wimmer, immer da für alle und jeden. Sie lässt den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Ihre Gedanken fühlen sich an wie eine zähe Gummimasse, die von innen gegen die Stirn drückt. Am liebsten würde sie einen Reset-Knopf bedienen, zurückgehen auf sechs Uhr in ihr warmes Bett und nur auf sich und das Pochen ihres Herzschlags hören. Doch zugegeben, irgendwie sind viele ihrer Tage derzeit so.
Sie presst beide Hände vor den Kopf. Gegendruck hilft, manchmal jedenfalls. Heute nicht, wie es scheint. Zu viele Dinge wollen erledigt werden. Da reicht die riesige Magnettafel nicht aus, die hier in ihrem kleinen Büro gleich zwei Wände belegt. Rechts und links. Wie ein Käfig aus Metall, findet Nette. Das Ding war natürlich Jaspers Einfall gewesen. Ihr Ex-Mann hatte wirklich noch nie Sinn für Gemütlichkeit. Eiskalt, das Teil. Und nicht mal die privaten Termine stehen drauf. Zum Beispiel wird sie ihrem Sohn Mats helfen bei seinem Umzug nach Freiburg. Was für ein Schritt! Ihr kleiner Großer zieht zum Studieren weg, weit weg aus Hamburg und von ihr. Dann wird sie zurückbleiben mit seinem Vater, von dem sie schon seit fast vier Jahren getrennt ist, weil der meinte, mit einer Kundin anbandeln zu müssen. Der aber nach wie vor, was sie mehr und mehr umtreibt, ihr Chef ist. Und nicht zu vergessen ihre Mutter Renate, die, wie Jasper es formuliert, »stets weiß, wie man zu leben hat«. Will heißen: Wie sie, ihre einzige Tochter, zu leben hat. Nämlich exakt immer genau anders, als sie es tut. Wenn ich denn überhaupt mal anfangen würde zu leben, denkt Nette bitter und stützt den Kopf zwischen die Hände. Irgendwie hat sie das völlig vergessen. Wo ist nur die alte Nette? Was bleibt von ihr, wenn sie keine Alltagsmama mehr ist, sobald Mats geht? Wo ist bloß ihre Neugierde geblieben, ihre Lust, Neues zu entdecken? Ihre Zuversicht, dass sich mit jedem nächsten Schritt auch ein Weg aufzeigen wird? Diese Leichtigkeit, mit der sie als Mädchen durch die Tage gehüpft ist? Stattdessen hockt sie eingefroren zwischen Magnetwänden, verschüttet unter Papierbergen, Pflichten, Haushalt, anderen Zwängen des Alltags. Als Krönung muss sie sich dann ewig die Tu-dies-lass-das-Tiraden von Renate anhören. Wie eben am Telefon: »Wenn du mit Mats im Möbelladen bist, bring mir dann unbedingt …« Dabei fehlte ganz selbstverständlich das Wörtchen »bitte«. Sie geht einfach davon aus, dass Nette immer und jederzeit zu allem bereit ist und für sie springt.
Besonders ärgerlich war, dass ihre Mutter, wie so oft, mit einem Seitenhieb endete: »Kein Wunder, dass Jasper dich verlassen hat!« Den Rest ihrer Anweisungen und übergriffigen Beschuldigungen wollte sich Nette jedoch heute unbedingt ersparen, also hat sie irgendwann einfach mit einem energischen »Tschüss« unterbrochen und aufgelegt. Was für sie einen echten Fortschritt bedeutet. Meistens bringt sie das nämlich nicht übers Herz.
Jasper habe sie verlassen. Pah! Wie man doch die Wirklichkeit verzerren kann.
In beiderseitigem Einvernehmen hatten sie sich damals getrennt, nach außen hin zumindest, das war ihm wichtig. Als Vater und Geschäftsmann wollte er gut dastehen. Ihr war es schnuppe, was die anderen glaubten. Natürlich hatte sie gemerkt, dass etwas nicht stimmte, weil er immer öfter wegblieb, bis spät in den Abend hinein, irgendwann sogar über Nacht oder tagelang auf Dienstreisen … Um ehrlich zu sein, war sie jedoch fast dankbar dafür gewesen.
Nachdem seine Affäre dann aber herauskam, weil sich die Kundin bei Nette »verplapperte«, versetzte ihr das nach all den Jahren doch einen Stich. Es tat weh, verdammt weh sogar. Obwohl sie im Grunde längst begriffen hatte, dass Jasper gar nicht zu ihr passte. Wie ein Uhrwerk hatte sie nach der Trennung damals weitergemacht, sich permanent abgelenkt, obwohl sie am liebsten ausgestiegen wäre. Es gab ja auch ständig neue Herausforderungen, irgendwelche heißen Kohlen, die aus dem Feuer geholt werden mussten – vor allem für die Firma, Jaspers Unternehmensberatung. Und er? Bei jeder noch so kleinen Tendenz, gehen zu wollen, überredete er sie immer wieder von Neuem zu bleiben. Der Erfolg der Firma garantierte schließlich auch ihre und Mats’ Versorgung, so sein Dauerargument. Und ohne sie liefe hier eh nichts, schmeichelte er ihr dann geschickt. Sie hatte das alles gewusst, aber irgendwie war sie wie gelähmt.
Bis heute … Ihre Gedanken fahren Karussell. War das alles ein Fehler? Nette weiß, dass man den Zeitpunkt zu gehen nicht verpassen darf.
Mit einem lauten Seufzer setzt sie sich wieder hin, bindet ihre unbändigen dunkelblonden Locken zu einem Zopf und beginnt, auf dem neuen Ergo-Hocker, den Jasper kürzlich – natürlich nach eingehender Beratung seiner Flamme bei einem überteuerten Biomöbelladen für alle Büros geordert hat – hin und her zu wippen. Nicht zu fassen, dass so etwas Unbequemes, Überteuertes wie dieses Ding auf dem Markt sein darf, und unter ihrem Hintern!
Ihr Blick fällt sehnsüchtig auf die grüne Retrolampe auf dem Schreibtisch, ein Geschenk zum Dreißigsten von ihren zwei besten Freundinnen Kati und Lou. Jasper war das Stück immer ein Dorn im Auge, wie er es ja ohnehin nicht nachvollziehen kann, dass man seit Schulzeiten befreundet ist – er ist eher ein Einzelgänger.
Nette betrachtet die Lampe liebevoll. Lou hat die gleiche in Korallenrot in ihrem Laden stehen. Ihr fällt plötzlich auf, dass dieses Teil das Einzige im Raum ist, was ihr gehört und wirklich mit ihr zu tun hat.
Am schalenförmigen Schirm baumelt das Freundschaftsbändchen ihres Trios, von Nette aus Wollfäden geknüpft. Es ist schon auf einer Seite ausgefranst, und die Farben sind verblichen: Knallrot für Lou, Meerblau für Kati und ein ehemals leuchtendes Orange für sie selbst. So waren sie mal. Sie drei. Die Farben hatten sie extra füreinander ausgewählt, daran erinnert sie sich genau, als sei es gestern gewesen. Auf einer Klassenfahrt hatten sie die gemacht. In der Fünften muss es gewesen sein. Tagelang hatte es geregnet, doch ihnen war das egal: Sie lachten und quatschten einfach die Stunden und Nächte durch – dazwischen banden sie die Fäden mit Sicherheitsnadeln am Etagenbett fest und knoteten sich die Finger wund.
»Die Dinger müsst ihr so lange tragen, bis sie abfallen! Ihr dürft sie nie abnehmen, auch beim Duschen nicht, sonst geht die Freundschaft kaputt«, hört sie Lou in strengem Ton sagen. Nette sieht die junge Freundin vor sich stehen mit ihrem wippenden hellblonden Pferdeschwanz und dem abgeschnittenen Fransenshirt. Schon damals zeigte Lou dieses Faible für Mode. Beim Gedanken an ihr Mädchentrio von früher muss sie lächeln. Ihr eigenes Freundschaftsbändchen war tatsächlich später von selbst abgefallen, allerdings erst nach vielen Monaten. Mit der Zeit hatte sie sich so daran gewöhnt, dass sie es noch eine Weile an ihren Rucksack gebunden herumtrug, dann in ihrer Lieblingstasche verstaute und schließlich mit ins Büro nahm.
Sie war damals mit einundzwanzig Jahren ungeplant schwanger geworden. Jasper und sie waren zu jener Zeit zwar schon seit einigen Jahren ein Paar, doch das Allerletzte, woran sie gedacht hatten, war ein Kind. Aber sie wollte es unbedingt. Tja, und dann wurde Mats geboren, und sie ist tatsächlich irgendwie bis heute hier hängen geblieben.
Genau wie das blasse Freundschaftsbändchen, denkt Nette und seufzt laut, während sie es sanft anstupst. Da baumelt es nun an der alten Lampe, an seinem Ende ist der zusammengerollte Zettel geknotet.
Warum hat sie heute nur so ein merkwürdiges Gefühl? Ob sie die Tür abschließen und sich mal kurz ausruhen soll? Es wird doch nichts mit ihren Freundinnen passiert sein?
Bevor sie den Gedanken in die Tat umsetzen kann, stürmt Jasper, ohne anzuklopfen, herein.
»Anette, hör mal, du musst … kannst du … wir dürfen echt keine Zeit mehr … wolltest du nicht gestern schon längst …?«, prasselt es auf sie ein. Irgendwie versteht sie nur Modalverben. Die Worte dazwischen wie Mailings, Flyer, Kundenansprache, Web und Marke kommen gar nicht bei ihr an. »Halt, warte, Jasper! Erst mal: Guten Morgen!«, stoppt sie ihn und fasst sich sofort wieder an die Stirn.
»Ja, ja, Moin. Also …« Unbeirrt quatscht er weiter. Als sie versucht, seine Sätze zu sortieren, und sich einen Block heranschiebt, um die zentralen Stichpunkte zu notieren, erscheint vor ihr auf dem Tisch Lous Profil auf dem Display ihres vibrierenden Handys. Ungewöhnlich um diese Zeit. Muss also wichtig sein. Nette geht schnell ran. »Hey Lou, kann ich dich gleich zurückrufen?«, fragt Nette. In Richtung Jasper macht sie eine beruhigende Handbewegung. Soll ihr Ex ruhig schnauben und die Augen verdrehen.
Wieder merkt sie, wie sehr ihr der Hintern wehtut. Sie stellt sich aufrecht hin und lässt das Becken kreisen. Piepegal, wie das aussehen mag, ihre Bandscheibe sticht im Staccato. Sie ignoriert Jaspers genervten Blick und schüttelt die Beine aus. Dieses Brett mit Wippfunktion ist wirklich eine Zumutung.
»Nein! Nette, pass auf, ich hab’s: Wir müssen raus!«, unterbricht Lou sofort lautstark. Ganz offensichtlich wird sie sich nicht auf später vertrösten lassen. »So richtig raus!«, ergänzt sie noch, als hätte Nette sie nicht verstanden. Die Stimme ihrer Freundin klingt aufgeregt, fast wie damals bei der Ansage mit den Freundschaftsbändchen. Tragen, bis sie abfallen.
»Wie bitte? Lou, mal ganz langsam! Ich kann heute echt nicht …«
»Mensch Nette, konzentrier dich. R-A-U-S. Sabbatical, Auszeit, eine Pause vom Leben, nenn es, wie du willst, Herz. Kein x-beliebiger Urlaub. Einen ganzen Sommer. Am Meer! Das meine ich … Bist du noch da?«
»Äh. Ja.« Mehr fällt Nette nicht ein. Jasper fuchtelt wild mit seinen Unterlagen herum, während Lou auf sie einredet, schnell und gehetzt. Als sei einer hinter ihr her und sie müsse sich zügig in Sicherheit bringen.
»Sag doch was!«, meint Lou schließlich ungeduldig, weil Nette immer noch nicht auf ihre Ausführungen reagiert.
»Sorry, also …«, Nette gibt Jasper ein Handzeichen, drei Minuten. Der schnaubt weiter und schüttelt verständnislos den Kopf. Ist ihr wurscht, soll er doch gehen.
Sie wendet sich ihrer Freundin zu. »Lou, wirst du verfolgt oder so was?« Mein Gott, sie hört sich schon an wie ihre Mutter, die überall Verbrechen wittert und jedem Vorurteil Glauben schenkt. Vor allem in Berlin, darüber sagt sie oft Sätze wie: »Warum musste deine Freundin Louisa unbedingt in diese Stadt ziehen?« Sie nennt Berlin nicht einmal beim Namen. »Ist Hamburg nicht groß genug? Und all der Dreck. Die vielen komischen Menschen.« Renate ist ein hoffnungsloser Fall.
»Verfolgt?«, beginnt Lou amüsiert. »Exakt, das werde ich, von einem Rotkohl nämlich, eigentlich einem ganzen Haufen Gemüse. Es hat richtig wehgetan, gerade der Kohl an meinem Kopf, und dann das Gestrüpp überall im Ausschnitt, ich kann dir sagen … Aber: Das Gemüse hat mir die Augen geöffnet!«
»Aha.« Nette greift sich ans Kinn und überlegt, ob Lou vielleicht mit Jeff was geraucht hat.
»Sieh an, super Thema, was? Wär was für diese Work-Life-Balance-Magazine! Hast du nicht Lust, Nette? Du könntest mich interviewen, als Gemüseopfer quasi!«
Nette prustet los. »Lou! Was redest du da?« Mit einem Stöhnen setzt sie hinzu: »Ich kapier gar nichts.«
Sie nickt Jasper erneut zu, der im Begriff ist, wütend den Raum zu verlassen. »Gleich fertig«, flüstert sie. Er schüttelt den Kopf, hockt sich dann aber doch demonstrativ auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und schlägt die Beine übereinander. Das findet sie dermaßen unsexy bei Männern.
»Du musst auch nichts kapieren«, fährt Lou zeitgleich enthusiastisch fort. »Nur Ja sagen, denn du sollst einfach mitkommen! Ich hatte gerade eine ziemlich nachhaltige Begegnung, bin sozusagen ausgebremst worden in vollem Tempo, auf dem Markt, der Stand war mir im Weg, und danach hatte ich diese geniale Eingebung! Ach was, es fühlt sich sogar an wie ein Auftrag. Die Rettung! Um mich neu zu fokussieren, auf das zu besinnen, was ich wirklich will. Verstehst du?«
Nette zuckt unwillkürlich zusammen. Bei dem Wort Auftrag geht sie sofort in Deckung. »Nicht ganz, aber ich versuch’s.« Jasper wechselt den Beinüberschlag von rechts nach links und trommelt mit den Fingern auf ihrem Tisch herum. Was sie total nervig und unverschämt findet, das macht er immer, wenn ihm etwas nicht schnell genug geht. Jaja, formt sie lautlos mit dem Mund. Sein Gesicht glüht rot, dann steht er auf und rauscht hinaus, lässt die Tür aber offen.
»Bitte sei ehrlich, Nette: Musst du nicht auch endlich raus aus deinem festgefahrenen Alltag? Brauchst du nicht mal einen anderen Blick auf alles? Willst du nicht einfach das ganze Alte, Belastende loslassen, tief durchatmen, alle Stoffe neu sortieren und schauen, was daraus wird? Samt, Seide, Viskose, Tüll, Leder?«, bricht es aus Lou heraus. Klar, dass sie immer in ihrem Metier denkt, schmunzelt Nette und setzt sich so, dass sie der Tür den Rücken zuwendet und zum Fenster hinausschauen kann. Hach! Am liebsten wäre sie jetzt bei ihrer Freundin und würde mit ihr durch diese Stadt schlendern, ihrer Mutter extra ein Selfie vor einer Graffitiwand schicken und pinke Berliner Weiße trinken. Sie könnten fröhlich sein und lachen, bis ihnen der Bauch wehtut. Wie lange haben sie das nicht gemacht. Nette schweigt, während Lou weiter auf sie einredet. Tausend Bilder gehen ihr gleichzeitig durch den Kopf, eine große Sehnsucht macht sich in ihr breit. Verdammt, Lou trifft es auf den Punkt: Nette wollte früher immer reisen, andere Länder sehen, etwas erleben und darüber schreiben. Keine Geschäftsbriefe und Mailings. Klar kann sie das, sehr gut sogar. Aber hier ist sie eingesperrt in ein Familiensystem, das es gar nicht mehr gibt. Mats kommt längst ohne sie klar. Er muss seinen eigenen Weg gehen, raus in die Welt – aber was ist mit ihr?
»Liebes? Was ist, bist du nun dabei? Ohne euch zieh ich das nicht durch! Ich habe es genau vor Augen, dem heiligen Kohlkopf sei Dank. Wir bereiten vor, was zu tun ist, jeder für sich, sodass wir für den ganzen Sommer abhauen können. Ich hab sogar schon eine super Idee, wohin! Eine Unterkunft suchen wir noch, und Kati fragen wir gleich nachher, die hat doch sowieso eine Flaute wegen der Kündigung und dieser Sache mit Piet. Eine Auszeit wird ihr auch guttun. Komm, Nette, bitte, bitte, bitte, sag endlich Jaaa!«
Nette hat das Gefühl, Lou mache ihr gerade einen Heiratsantrag. Obwohl es recht warm ist an diesem Tag und die Sonne direkt in ihr Büro scheint, hat sie plötzlich Gänsehaut – ein untrügliches Zeichen, dass etwas Wichtiges in ihrem Leben passiert, diese Mischung aus heiß und kalt, aus Aufregung und unaufhaltsamer Gewissheit, dass eine Sache goldrichtig ist in diesem Moment.
»Hast du es jetzt mal?« Jasper ist zurück und motzt sie laut an, bevor er zum Fenster geht, um es demonstrativ aufzureißen. Übersprunghandlung, wie albern. Der Luftzug lässt das Freundschaftsbändchen flattern. Die winzige Papierrolle schwingt mit. Nette erinnert sich genau, was darauf steht, nur ein paar Worte, die sie damals aufgeschrieben hat. Für Lou, Kati und sich, ewig her. Da flattern sie, und vielleicht wollen noch ganz andere Sätze raus und im Wind tanzen. Und sie? Vielleicht sollte sie Flamenco lernen, mit Thai-Massage oder Boxen anfangen, Horoskope erstellen oder Lach-Yoga ausprobieren, piepegal. Was bleibt denn übrig, wenn schon im Jetzt nur wenig vom früheren Ich vorhanden ist und wenn das innere Licht nur noch schwach leuchtet wie eine erbärmliche Funzel? In all den Jahren ist Nette genauso verblichen wie das Orange ihres Freundschaftsbändchens.
»Ja!«, ruft sie deshalb plötzlich ins Telefon. So laut, dass Jasper zusammenzuckt.
»Was?«, hakt Lou ungläubig nach.
»Jajajaaaa!«, wiederholt sie entschlossen. »Ich will.« Dabei schlägt sie bei jedem Wort mit der linken Hand auf den Schreibtisch. Jasper starrt sie an, als wäre sie irre. Nette ignoriert die Fragezeichen in seinen Augen. Zeit, ein Ausrufezeichen zu setzen! Umdenken ist das neue Credo, und sie wird sofort damit anfangen. Sie hat schon genug Zeit verloren. Niemandem ist Nette mehr etwas schuldig, nicht ihrem Sohn, nicht ihrer Mutter und ihrem Ex-Mann schon gar nicht.
Auf einmal wird sie richtig wach, geradezu aufgedreht, und fühlt, wie das Blut durch ihre Adern schießt. Ihre Gedanken kommen in die Gänge. Nette ist mehr als bereit.
»Lou, wir machen das! Ich regle ein paar Dinge und melde mich wieder, okay?« Mit diesen Worten legt sie einfach auf.
Nun hat der Satz eine ganz andere Bedeutung, denn sie hat entschieden, ein anderer Mensch zu werden. Eine neue Ära soll beginnen.
Mit zitternden Händen versucht sie als Erstes, das Bändchen von der Lampe abzupfriemeln, doch der Knoten ist nach all den Jahren wie festzementiert.
»Spinnst du heute?«, fragt Jasper ärgerlich. Er steht jetzt dicht neben ihr, rote Flecken im Gesicht.
»Ganz und gar nicht. Heute ist ein richtig guter Tag.«
Er tippt sich mit dem Zeigefinger verständnislos an die Stirn. Hektisch hängt sie ihre Tasche um, die sie am Morgen achtlos neben dem Hocker auf den Boden geworfen hat. Schwungvoll zieht Nette das kleine Papier unten am Freundschaftsband ab und rollt es auf. Sie liest und nickt zufrieden, dann zieht sie kurzerhand den Stecker ihrer Lampe aus der Wand, schnappt sich das Teil und drückt ihrem verdatterten Ex das Zettelchen in die Hand. »Was soll das?« Er starrt abwechselnd auf sie und den Zettel. »Geht’s noch?«
Sie lacht auf. »Und wie! Tschüss, Jasper. Ich kündige.«
»Anette! Du kannst nicht so mir nichts dir nichts …« Er macht außer sich einen Schritt nach vorne, als wolle er sie festhalten.
»O doch. Ich kann! Ich soll sogar! Ich darf, ich muss! Und ich tue es auch. Keine Zeit mehr für Modalverben, es gibt zu viele andere … Ach, zum Abschied noch ein Tipp: Falls du eine Nachfolgerin einstellst, diese teuren Misthocker sind die Hölle. Mach Feuerholz draus.«
Nette zeigt auf den Schreibtisch mit den Ordnern, Papierbergen und Unterlagen, die nicht mehr ihr Problem sind. Dann stürmt sie ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei zur Tür, als seien auch hinter ihr die wild gewordenen Kohlköpfe her, vielmehr eine ganze Armada von diesen Dingern, was auch immer Lou damit meinte.
»Halt! Anette! Das geht nicht! Bist du völlig verrückt geworden? Wo willst du denn jetzt hin?«
»Keine Ahnung!«, antwortet sie grinsend. »Höchste Zeit, es herauszufinden. Höchste Zeit!« Sie winkt mit ihrer Lampe wie mit einem Zepter. Königin Anette geht von Bord.
Jasper klappt die Kinnlade runter, er ist sprachlos. Sie geht unbeirrt weiter. Obwohl es nur wenige Schritte sind, hat sie jetzt schon das Gefühl, Lichtjahre entfernt zu sein.
Eine Pause vom Leben, schön hat Lou das gesagt. Treffender hätte sie es nicht formulieren können. Das Fenster flappt kurz auf und weht eine frische Brise zu ihr herüber. Ein letztes Mal dreht sich Nette um, atmet tief ein. Dann sieht sie Jasper den Zettel lesen. Als sie über die Schwelle tritt, spricht sie in Gedanken die Zeilen mit:
Musketiere
Du mit mir
Ich, Du, wir
Drei wie eine
das sind wir
Sommer 1995
Kati Brockmann hockt wie gelähmt auf einer der langen Sitzbänke um die Raseninseln im Park auf St. Pauli, nicht weit von ihrer Haustür in der Antonistraße an der Hafentreppe entfernt. Vor wenigen Minuten hat sie das dicke Kuvert in den Schlitz des Briefkastens fallen lassen. Mit ihrem Anschreiben, dem Lebenslauf, der Mappe mit »aussagekräftigen Arbeitsproben« und einer Mischung aus Panik, Resignation und … Wie viel Hoffnung wohl in diesem Kasten liegt, war ihr dabei durch den Kopf gegangen. Ihre Hände haben gezittert, alles an ihr war angespannt, als sie das leise, dumpfe Geräusch im Inneren hörte. Papier auf Metall, aus Gegensätzen ließ sich oft etwas Wundervolles bauen, etwas, das man zunächst nicht erahnte, wenn man die einzelnen Bestandteile für sich genommen betrachtete. Ob die Bewerbung um ihren Traumjob zwischen Liebesbriefen, Beileidskarten oder Rechnungen aufgekommen war? Wahrscheinlich war das egal. So oder so käme eine Einladung zum Gespräch einem Wunder gleich. Aber exakt das ist es, was sie dringend braucht. Verkrampft kaut sie auf ihrer Unterlippe herum.
Richtig übel war ihr nach dem Einwerfen, sodass sie sich sogar für einen Moment an dem Briefkasten festhalten musste. Sie hätte vielleicht doch etwas frühstücken sollen, aber die Bewerbung musste dringend raus. Morgen ist Deadline, und wenn das mit der Stelle im Architekturbüro Fensch & Söhne nicht klappt oder sich nicht bald etwas anderes auftut, ist das ihr Ende. Das ist nicht übertrieben. Die Mieten in Hamburg sind furchtbar gestiegen, es gibt kaum freie Wohnungen, und gute Jobs sind rar. Wenn alles schiefgeht, kann sie nur noch bei Nette unterkriechen, in Mats altem Kinderzimmer.
Wenigstens hat sie ihren Bauhaus-Kaffeebecher eingesteckt. Nun lehnt sie sich mit einem duftenden Chai Latte in der Hand an und blickt in den bewölkten Himmel. Ein paar Skater rollen an ihr vorbei. Ein leichter Wind umweht ihren Bob. Sie streicht sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Langsam kommt sie zur Ruhe an diesem vertrauten Lieblingsort, das flaue Gefühl im Magen wird besser.
Da klingelt ihr Handy und reißt Kati aus den Gedanken. Och nee, Lou und Nette unangekündigt im Gruppenchat. Eigentlich hat sie jetzt gar keine Lust auf Freundinnenschnack. Ihr ist eher zum Heulen zumute. Diese Phase in ihrem Leben kann man eher als Unglückszeit bezeichnen oder echte Pechsträhne. Das ist Kati nicht gewohnt, bisher lief alles in ihrem Leben reibungslos … Etwas widerwillig geht sie ran, denn die zwei würden sowieso nicht aufgeben.
»Hi, hi!«, ruft sie ins Display und hofft, dass die beiden ihre miese Stimmung nicht bemerken. Was ist denn mit denen los? Sie kommen ihr völlig überhitzt vor. Ihre Freundinnen reden gleichzeitig drauflos und so schnell, dass sie nur Wortfetzen versteht wie Kohl, Augen geöffnet, Sabbatical, raus, der ganze Sommer,wir drei und Sylt!Ab auf die Insel. Weit weg von all dem Wahnsinn und umgeben von Wind, Meer und Wellen. Sind die beiden wahnsinnig? Kati kann sich nur zusammenreimen, um was es wohl geht. Als Architektin kann sie das, Teile zu einem Ganzen zusammensetzen. Jetzt scheint es aber nicht um ein Haus zu gehen, das schon gebaut ist, sondern um – Urlaub?
»Ihr wollt freimachen, drei Monate? Jetzt? Ohne mich! Da habe ich gerade wirklich keinen Sinn für. Ihr wisst doch, was bei mir los ist. Kein Job! Kein Geld! Keine Ferien! Außerdem hat mich Piet sitzen lassen, schon vergessen? Mit mir wollt ihr in dieser Verfassung ganz sicher nicht wegfahren. Im Übrigen habt ihr auch keine Zeit, Ladys.«
Lou verdreht die Augen und verzieht ihre knallrot geschminkten Lippen. Da beginnt Nette mit einem komischen Etwas vor dem Bildschirm hin- und herzupendeln. Was ist das denn? Kati rückt mit dem Gesicht näher ans Display, sodass ihre Nase es fast berührt. Doch damit sieht sie nicht besser, sondern nur noch verschwommener. Die Übelkeit kommt zurück.
»Was ist denn das für ein Ding?«, fragt sie Nette, um abzulenken.
»Na, unser altes Freundschaftsbändchen! Weißt du nicht mehr? Klassenfahrt in der Fünften. Dauerregen, ungelüftetes Zimmer, schreckliches Essen, Gemeinschaftsduschen, Bauchweh vor Lachen … klingelt’s?« Wie zur Erläuterung lässt Nette das Bändchen mehrfach kreisen.
»Also meins ist irgendwann abgefallen. Es liegt immer noch in meiner kleinen Schatzkiste in der Schublade vom Schminktisch.« Lou im Bildausschnitt daneben grinst.
»Meins auch.« Nette nickt. »Ich hab’s an eure Lampe gehängt, und heute hat es mir den rechten Weg gezeigt, wie der Kohl bei Lou. Magisch!« Die Freundin lacht begeistert, dabei löst sich eine Strähne ihrer langen Lockenmähne und hüpft lustig vor ihrem Gesicht. »Jedenfalls will ich das herausfinden.« Sie klemmt sich die Haare hinters Ohr. »Und noch viel mehr! Wer ich bin zum Beispiel.«
»Wer du bist? Das weiß ich genau, eine von meinen zwei Goldstückchen, nur normalerweise nicht so durch den Wind. Warum bist du eigentlich nicht im Büro und lässt dich vom schönen Jasper ausbeuten?« Ups. Das ist Kati jetzt rausgerutscht. Tut ihr sofort leid, aber sie ist heute echt schräg drauf.
»Weil das nun ein Ende hat!«, verkündet Nette triumphierend. Kati schaut fragend zu Lou, die bestätigend nickt und mit ihren Erklärungen fortfährt.
Jetzt spinnt die auch noch, das sieht ihr gar nicht ähnlich, faselt von Gemüse und Marktfrauen und dass Jeff auch gleich gewusst hätte, was ihr fehlte. Als Lou Katis ratlosen Blick sieht, atmet sie ein und aus, dann wird sie ruhiger: »Pass auf, Kati, die Kurzfassung: Wir müssen alle drei mal raus. Dringend! Es muss ja nicht weit weg sein, bloß weit genug weg von unserem Alltag. Den Kopf klar kriegen, uns befreien von Alltagszwängen, von außen auf die Dinge schauen.«
»Und von innen«, geht Nette dazwischen.
»Eben. Eine Insel ist der perfekte Ort dafür. Sylt ist perfekt! Da gibt es Trubel und Ruhe, Natur und Kultur, schicke Läden und Gastro und vor allem: ringsherum Meer, so weit das Auge reicht. Und wir kennen uns aus, waren ja schon oft da.«
Lou hört sich an wie ein Coach. Jetzt zitiert sie auch noch einen, dessen tägliches Mantra sei etwa »Alles, was wir haben, ist JETZT.« So einen bräuchte Kati wirklich, bei dem Chaos aktuell in ihrem Leben. Na ja, sind Freundinnen nicht ebenfalls die besten Ratgeberinnen? Vielleicht sogar dann, wenn sie verrückte Ideen haben?
»Ich hätte so Lust auf Sylt«, steigt Nette wieder überschwänglich ein, »da ist was los, und trotzdem gibt es ganz viele einsame Plätze, wo wir in uns gehen, auf unser Herz hören und uns besinnen können. Auf das, was uns wirklich wichtig ist. Und einen ganzen Sommer lang! Kati, ist das nicht eine Spitzenidee von Lou? Mittlerweile machen doch total viele Leute Sabbaticals, tun dann nur mal, was ihnen echte Freude bereitet. Und danach kommen die immer alle tausendmal glücklicher zurück!« Sie gerät ins Schwärmen.
Katharina Brockmann, bleib du jetzt wenigstens auf dem Boden der Tatsachen!, ermahnt Kati sich selbst und fragt die anderen sachlich: »Und was soll das bitte schön sein? ›Was uns wirklich wichtig ist‹, was genau meint ihr damit?«
»Wir!«, rufen beide gleichzeitig mit strahlendem Gesicht in ihren Videorahmen.
»Muss man nicht manchmal im Leben Bilanz ziehen? Stehen bleiben, innehalten und prüfen, ob man noch richtig ist auf seinem Weg?«, ergänzt Lou. »Sich selbst wieder näherkommen, schauen, was die eigene Aufgabe ist? Also die Berufung, die tiefe Sehnsucht? Was zählt am Ende? Warum, für was sind wir hier? Fragst du dich das nicht auch, Kati? Ich habe heute Morgen nämlich gemerkt, dass ich das gar nicht weiß. Stattdessen rödel ich nur noch, funktioniere wie eine Maschine und hab dabei vergessen, wofür ich brenne. Und: zu genießen! Spaß zu haben. Zu lieben auch, wenn ihr’s genau wissen wollt …« Lou schluckt, sie scheint sichtlich bewegt.
»Hmmm. Leute, wenn man keinen Job, nix im Kühlschrank und kein Dach überm Kopf hat, fragt man sich das alles nicht. Dann stehen andere Probleme im Fokus.«
»Ich habe auch keinen Job mehr.« Nette zieht die Schultern hoch, kurz bleibt das Bild hängen. Zu komisch sieht das aus. Aber Kati ist nicht zum Lachen, ihr ist schlecht.
»Seit wann das denn?«
»Seit heute. Ich hab gekündigt. Fristlos. Bin einfach gegangen!« Nette hört sich an, als sei sie die Chefin und nicht ihr Ex. »Und wenn der schöne Jasper, wie du ihn nennst, mir keine fette Entschädigung für die ganzen geleisteten unbezahlten Überstunden der letzten Jahre zahlt, hetze ich ihm eine Anwältin auf den Hals. Ich weiß nämlich genau, was alles auf seinen Konten ist. Schließlich habe ich ihm den Laden geschmissen. Und ihm geholfen, bei Mats gut dazustehen, ihn immer verteidigt, obwohl er kaum anwesend war als Vater.« Sie wirkt plötzlich viel selbstsicherer und größer.
»Und ihm seine Schwiegermutter vom Leib gehalten. Klare Dreifachbelastung«, ergänzt Lou trocken.
»Letzteres war wahrscheinlich ein Fehler«, meint Nette nachdenklich, und nun muss Kati doch kurz grinsen.
»Tja, so ein Glück hab ich nicht, bei mir findet sich nirgendwo ein Lichtblick«, stellt sie traurig fest.
»Glück? Wie man es nimmt. Ich seh es eher als Schmerzensgeld …« Nette will wieder ansetzen, aber Kati unterbricht sie ungeduldig. »Schon klar, Nette. Aber muss es denn ausgerechnet Sylt sein? Drunter geht es wohl nicht?«
»Da kommst du ins Spiel«, erklärt Lou sofort.
Die beiden Freundinnen gucken Kati an wie zwei Hundewelpen.
»Du kennst doch viele Leute, die auf Sylt über Onlineplattformen ihre Immobilien vermieten? Oder die was mit der Branche zu tun haben?«
»Ja, aus der Baubranche, aber doch nicht im Tourismus.« Kati versteht nicht, worauf die Freundin hinauswill. »Wie stellt ihr euch das vor? Sylt ist sauteuer! Und überall längst ausgebucht, es ist immerhin schon Ende Mai. Außerdem habe ich vor zehn Minuten erst eine Bewerbung rausgeschickt, die Stelle wäre mein Traumjob und meine Rettung dazu. Ich stecke mitten in der Bewerbungsphase, das wisst ihr ja. Da kann ich nicht weg aus Hamburg.«
»Umso besser, da ist Sylt doch ideal. Wenn die sich melden, bist du in drei Stunden wieder in der Stadt. Und bis dahin kannst du auftanken, dich auf das Gespräch vorbereiten, weitere Bewerbungen schreiben … Wir helfen dir! Auch finanziell, das kriegen wir hin.« Lou räuspert sich, dann sieht sie Kati fast flehend an: »Ohne dich geht es nicht, Katilein. Nur zu dritt sind wir komplett.«
»Die drei Musketiere«, murmelt Kati, eher zu sich, aber die anderen haben ihre Worte gehört und steigen gleich ein.
»Ganz genau«, meint Nette und wedelt wieder begeistert mit dem geknüpften Band. »Bitte, Kati, komm! Du musst uns helfen. Wir brauchen eine günstige Unterkunft auf Sylt, nur für diesen einen Sommer. Unseren Sommer. Vielleicht unser Glückssommer, wer weiß?«
Kati verdreht die Augen. »Euer Ernst also, ihr wollt wirklich so lange weg? Euch ist schon bewusst, dass das kurzfristig unmöglich ist? Käme einem Wunder gleich.«
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Drei Monate sollten es mindestens sein. Juni, Juli, August. Wir meinen das bitterernst, Schätzchen, diese Pause vom Leben«, erklärt Lou und schreibt dabei Gänsefüßchen in die Luft.
»Kannst es auch hip Sabbatical nennen, falls dir das Wort besser gefällt.« Nette grinst.
»Okay, Mädels, bitte gebt mir einen kleinen Moment zum Nachdenken«, sagt Kati und legt ihr Handy in den Schoß, sodass sie kurz aus dem Bild ist.
In Sekundenschnelle geht sie alle Möglichkeiten durch. Irgendwie reizt sie die Vorstellung einer Sommerauszeit schon … Was verpasst sie wirklich hier in Hamburg? Im Grunde nichts. Die Bewerbungsphase läuft, das kann dauern.
Sie sieht sich im Geiste mit Nette und Lou am Strand hocken, Bier und Fischbrötchen in der Hand, den Nordseewind um die Nase und den Blick auf die untergehende Sonne überm Meer gerichtet. Wäre eigentlich schön, für einige Monate alles hinter sich zu lassen. Wann macht man das schon mal? Und es stimmt, für eine Einladung zum Vorstellungsgespräch wäre sie schnell wieder zu Hause. Die Idee gefällt ihr immer besser. Über ihr rauschen die Blätter der riesigen Kunstpalmen. Sie blickt nach oben. Ein Flugzeug düst quer in die Wolken hinein – wo es wohl hinfliegt? Der Himmel leuchtet zwischen den weißen Wattebergen hindurch. Genauso hellblau wie der Wollfaden damals in ihrem Bändchen. Die zwei anderen haben ihr die Farbe zugeteilt. Blau ist die Farbe des Verstands, der Besonnenheit – weil sie schon als Mädchen zu viel nachdachte. Aber Blau ist doch auch die Farbe des Himmels und des Meeres. Der Unendlichkeit und der Klarheit. Und wo kann man das besser spüren als …?
Sie hält ihr Handy wieder gerade, schaut in die erwartungsvollen Gesichter ihrer beiden Lieben und streckt dann zögerlich den rechten Daumen hoch. »Okay, okay, ich mach mit! Man kann euch eh nicht lange alleine lassen, eine muss schließlich auf euch aufpassen.«
Ihre letzten Worte werden vom Freudengeschrei ihrer Freundinnen verschluckt. Lou jubelt und fuchtelt mit ihren tätowierten Armen herum, dass ihr das Handy runterplumpst und kurz nur noch ihre roten Plateausandalen zu sehen sind. Kati hört sie laut »Yes, Baby!« brüllen. Und Nette trommelt auf dem Küchentisch herum und macht Tanzbewegungen mit ihrem Oberkörper.
Kati schüttelt den Kopf, muss aber laut lachen. Sie liebt diese Bekloppten einfach. »Ist ja gut, beruhigt euch. Und Vorwarnung: Eine Partykanone bin ich gerade nicht, vielleicht bereut ihr in ein paar Wochen, dass ihr mich überhaupt gefragt habt.«
»Quatsch!«, kommt es von Lou und Nette erneut wie aus einem Mund.
»Na dann, ihr habt es so gewollt! Dann müssen wir nur noch ein passendes Quartier finden. Ich streck mal meine Fühler aus. Mir kommen einige Kontakte in den Sinn, die uns bestimmt helfen können. Starte gleich morgen, okay?« Kati findet, dass sie beinahe optimistisch klingt. Wenn sie ehrlich ist, spürt sie sogar eine zarte Vorfreude in sich aufsteigen.
»Jawoll!« Nette klatscht überschwänglich in die Hände. »Wir fahren ans Meer!«
»Yes, Baby!«, wiederholt Lou strahlend, »so kennen wir dich. Darauf trinken wir!« Noch bevor Kati einwenden kann, dass sie doch im Park sitzt, springt Lou auf, holt eine Sektflasche, lässt mit einem ordentlichen Plopp den Korken knallen und schüttet sich ein Glas voll, bis es überschäumt.
»Auf Sylt und unsere Pause vom Leben!«, ruft sie und trinkt. Nette hat sich scheinbar sekundenschnell auch ein Glas Weißwein geholt und schließt sich an: »Prost, ihr Musketiere!«
Die beiden haben rote Wangen und strahlen um die Wette. Wie damals mit zehn sehen sie aus. Richtig glücklich. Und irgendwie ist da tatsächlich etwas entflammt – ein Feuer, eine Sehnsucht, eine Entschlossenheit? –, das Kati lange nicht mehr bei ihnen auf diese Weise gesehen hat.
Ohne nachzudenken, gibt sie dem Display einen dicken Kuss. »Auf Sylt! Ihr seid unverbesserlich, aber dafür lieb ich euch. Also: Nichts wie weg!«
Absolute Seltenheit – Top-Angebot – Mehr Idylle geht nicht!
Frei stehendes Kapitänshaus zur Untermiete
* Friesisches Kapitänshaus unter Reet mit Panorama-Meerblick an der Südspitze von Sylt, in Hörnums Kersig-Siedlung
* Historische Bausubstanz
* Komplett möbliert und ausgestattet
* Platz für eine Familie; Vermieter lebt mit im Haus
* Gemeinschaftsküche
* Großes, naturbelassenes Grundstück zur Mitbenutzung
* Lage mit atemberaubender Aussicht auf die Dünenlandschaft, nahe Hafen, dem schönsten Golfplatz Deutschlands, Surf- und Segelschulen sowie dem einzigen begehbaren Leuchtturm der Insel
* Strand & Meer, von West nach Süd bis Ost
* Die Hörnumer Odde mit ihren Dünentälern & Sandsalzwiesen vor der Tür
* Ausflugsschiffe am Hafen zu den Halligen und Robbenbänken
* Der perfekte Ort für alle, die ein relaxtes Nordseefeeling in traditionell friesischer Umgebung zu schätzen wissen
Ihre Syltunterkunft für Mehr & Meer
»Ihre Buchung wurde bestätigt«, liest Jeff drei Wochen später mit jeder Menge Pathos in der Stimme vor, während Lou am Abfahrtssonntag alleine ihr Gepäck in den VW-Bus lädt. Auf dem Auto prangt das dämliche Logo GoVego, mit einem zwinkernden Burger mit einer Sprechblase darunter, auf der »Eat me, I’m healthy!« steht. Jeff findet das Ladenlogo seines Liebsten – er heißt Friedhelm, genau wie sein VW-Bus – wie Lou superpeinlich. Aber in Geschmacksfragen lässt der meistens nicht mit sich reden, ob es nun ums Essen geht, sein Styling oder die Inneneinrichtung. Lou mochte seinen Lover von Anfang an nicht und findet nach wie vor, Jeff ist viel zu gut für ihn.
»Sag mal, hilfst du mir jetzt endlich mal?« Langsam ist sie genervt. Typisch Jeff – alles, was schwer und anstrengend werden könnte, vermeidet er konsequent, manchmal mit fuchsähnlicher Schläue. Lou durchschaute vorhin sofort, dass auch sein kuschelig-weiches Outfit reine Tarnung war, um seine vermeintliche Bereitschaft zu signalisieren, in lässiger Kleidung mit anpacken zu können. In seinem lilafarbenen Nickianzug und den Leopardenstiefeletten lehnt er in diesem Moment ungerührt an ihrer Hauswand, den Blick konzentriert auf den Buchungszettel gerichtet.
»So ein Glück hat sonst kein Schwein, really. Auf Sylt ist doch alles ewig schon im Voraus ausgebucht!« Dabei macht er eine überschwängliche Geste mit der Hand. »Ganz zauberhaft hört sich das an. Und dann auch noch Hörnum, das Südende der Insel, also zugleich der Anfang und das Ende der Welt. Das ist ein Zeichen, Sweetheart! Ich wusste es längst, aber das bestätigt meine Intuition: Das Schicksal sagt dir, dass es Zeit ist, in dich reinzuhorchen und andere Wege zu gehen, bevor du noch in einer Klinik oder sonst wo landest. Glaub mir, das ist Karma, Baby.« Er faltet das Blatt wieder zusammen und fächert sich damit Luft zu.
»Jeff!«, fährt Lou ihn ungehalten an, auch wenn sie insgeheim amüsiert ist. »Karma hin oder her, wofür hast du diesen bequemen Anzug an, wenn du nur rumstehst? Trag mir doch wenigstens mal die Schuhtasche ins Auto! Oder den Beutel mit den Accessoires!«
Der Kerl erinnert Lou heute sehr an John Travolta in einem seiner Tanzfilme aus den Siebzigern, nur reifer. Und dicker. Er ist wirklich ein Knaller und absolut einzigartig.
»Meine Nägel sind noch nicht trocken, Liebes – guck mal, exakt das gleiche Lila wie der Nicki –, hinreißend, oder?« Als Lou nicht reagiert, setzt er beleidigt hinzu: »Sorry, ich hab mich in der Einwirkzeit vertan, und außerdem hab ich Rücken!«
Das ist Lou zwar neu, doch sie gibt auf. Es ist sowieso fast alles schon verstaut. Zum Glück hatte Jeff angeboten, ihr für die Hinfahrt den VW-Bus zu leihen. Friedhelm hat noch einen Caddy, und in ein paar Wochen plant Jeff, sie auf Sylt zu besuchen und den Bus wieder mit nach Berlin zu nehmen. So kann Lou jetzt Nette und Kati mit ihrem ganzen Kram entspannt in Hamburg abholen.
Lou holt den Rest aus ihrer Wohnung und schließt ab. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Für die Zeit ihres Sabbaticals hat sie eine Untermieterin gefunden, eine spanische Studentin, die neu in der Stadt ist. Die Übergabe wird Jeff regeln.
Endlich verstaut sie das letzte Gepäckstück im Kofferraum.
Vor der Abfahrt ist Lou nun doch mulmig zumute. Sie zögert, druckst herum, reibt sich die Hände, zupft an ihrer Caprihose. Jeff beobachtet sie misstrauisch, das kann sie aus den Augenwinkeln erkennen, dann löst er sich von seinem Platz. »Honey, worauf wartest du? Alles okay?« Er nimmt ihr den Wohnungsschlüssel aus der Hand und steckt ihn ein. Hilflos sieht sie ihn an.
»Ich hab Schiss«, gesteht sie ihm kleinlaut. »Angst vor meiner eigenen Courage. Warum hab ich bloß das Gefühl, dass es bei der ganzen Sache um mehr geht als nur eine Auszeit?«
Jeff nickt verständnisvoll. Dann legt er den Arm um sie und küsst sie liebevoll auf die Wange.
»Schluss jetzt, stop thinking! Du warst einfach ewig nicht mehr weg. Los geht’s! Die anderen warten schon auf dich. Mach dir keine Sorgen, hier wird alles easy laufen. Ich kümmere mich um deinen Laden, wie versprochen. Wer kennt sich besser damit aus als ich? Nobody! Schließlich liegt auch mein Herz zwischen den Regalen.«
»Ja, okay.« Lou nickt unsicher und seufzt.
Schnell redet er ihr weiter gut zu: »Klar schau ich bei deiner Untermieterin vorbei, dass die dir deine Bude nicht abfackelt. Lass los, Baby, vertrau mir! Du hast diese Auszeit verdient, und eine Chance wie diese gibt es nicht oft im Leben. So, nun aber rein mit dir. Sonst hätte ich Friedhelm ja umsonst gewaschen!«
Kurz muss Lou überlegen, wen er mit Friedhelm jetzt meint, den Bus oder seinen Mann. Da der alte Bus jedoch in neuem Glanz erstrahlt, besteht keine Verwechslungsgefahr. Sie gibt sich einen Ruck. »Ja, ja. Bin schon weg. Tschüss, mein bester Buddy, pass auf dich auf.« Sie drückt Jeff fest an sich und versucht, nicht zu weinen.
»Bye, Darling, du schaffst das«, verabschiedet er sich liebevoll und gibt ihr einen weiteren dicken Kuss auf die Stirn. Lou ist eine elende Heulsuse, das weiß sie. Bei jeder Gelegenheit kommen ihr die Tränen, und sie fühlt mit jedem und allem mit.
Jeff riecht nach Zimt und Orange, fast weihnachtlich, und das im Juni, was sie seltsam beruhigt. Sie kuschelt sich ein letztes Mal an ihn, dann steigt sie schweren Herzens ein. Im Rückspiegel kann sie seine Gestalt noch sehen. Er wirkt wie ein lila Bär, die Hand zum Abschiedsgruß hochgehalten, bis sie um die Ecke biegt.
Mit jedem Kilometer wird Lou freier, und die Sonne kitzelt ihre Nase. Das Glück liegt auch auf dem Asphalt, denkt sie. Unterwegs zu sein, tut gut. Sie setzt ihre Schmetterlingssonnenbrille auf und kurbelt das Fenster herunter, sodass der Fahrtwind ihren Pferdeschwanz samt Tupfenband wild flattern lässt.
Als sie Berlin hinter sich gelassen hat, stellt sie das Radio an. »Video Killed the Radio Star« tönt es ihr entgegen. Sie muss schmunzeln, damit hat Nette sie zu Schulzeiten monatelang beschallt. Die Erinnerung wärmt Lou, und sie singt lauthals mit.
Nach gut drei Stunden hat sie ihre alte Heimat Hamburg erreicht. Immer wenn sie die Stadtgrenze passiert und ihr erster Blick über die Elbe gleitet, überkommt sie Fern- und Heimweh gleichzeitig. Sie ist und bleibt doch eine echte Hamburger Deern. Lou lenkt den Bus nach Eimsbüttel, wo Nette wohnt, und sieht schon von Weitem ihre beiden Freundinnen schnacken und warten. Sie stehen mit Sack und Pack an der Straße. Als sie Lou erkennen, beginnen beide, wie verrückt zu winken. Auf einmal spürt sie ein riesiges Glücksgefühl.
»Hier lang!«, ruft Lou Kati weitere viereinhalb Stunden später zu, die zuletzt das Steuer übernommen hat. Mittlerweile sind sie auf Sylt in der Kersig-Siedlung angekommen, die ihrem Spitznamen »Schlumpfhausen« wirklich alle Ehre macht: Traumhaft liegt sie zwischen den Dünen nahe am Meer.
»Da steht’s, Greth-Skrabbel-Wai, du musst rechts abbiegen!«
Kati reißt das Lenkrad herum und erwischt gerade noch so die kleine Straße. »Gretsabbelwei, was ist das denn überhaupt für ein Name?« Sie muss lachen.
»Skrabbel, nicht Sabbel«, verbessert Lou.
»Die heißen hier alle so niedlich. Gefällt mir«, stellt Nette fest, die neugierig hin und her schaut.
Lou dreht sich zu ihr um. »Guckst du mal auf deiner Seite mit, wo die richtige Hausnummer ist?«
»Muss das da oben sein, seht ihr? Auf der einsamen Düne«, meint Nette kurz darauf, und alle schauen auf das verfallene weiße Haus mit sichtlich ramponiertem Reetdach. Verloren steht es in der Landschaft inmitten eines verwilderten Grundstücks, auf dem eine Miniaturausgabe des Anwesens zwischen ungepflegten Büschen und Sträuchern gerade noch zu erkennen ist. Das gesamte Ambiente wird von einem alten Holzzaun eingerahmt, dem offensichtlich einige Latten fehlen – genauso wie Gästen, die sich hier freiwillig einmieten, denkt Lou. »Das darf nicht wahr sein …«, flüstert sie, als Kati den sandigen Weg hochfährt.
Kurze Zeit später stehen die drei Freundinnen wie begossene Pudel vor dem verlassenen Gelände. Eine Weile sagt keine etwas, jede betrachtet nur entsetzt das mitgenommen aussehende Haus, das für die nächsten drei Monate ihre Bleibe werden soll und das gar nicht zu der überschwänglichen Beschreibung im Internet passt.
Kati fängt sich als Erste. »Das soll ein friesisches Kapitänshaus sein? Ist es das richtige? Das ist ja baufällig«, stellt sie fachkundig fest. Mit einem einzigen Blick hat sie als Architektin den Zustand professionell gescannt.
»Eine Bruchbude«, sagt Nette. »Jetzt wissen wir auch, warum es im Netz keine einzige Bewertung gab und das Haus in der Hochsaison noch frei war!«
Lou wird zunehmend nervöser. Erneut prüft sie die Adresse auf der Buchung. »Ja doch, das ist es, wir sind richtig. Hmmm …«
»Na super, herzlichen Glückwunsch zum Hauptgewinn! Können wir nur hoffen, dass uns der erste Sturm nicht gleich das Dach überm Kopf wegbläst.« Ärgerlich sieht Kati aus, als bereue sie es jetzt schon, trotz ihrer Bedenken mitgefahren zu sein. Lou fühlt sich elend.
»Ach was, mal nicht gleich den Teufel an die Wand! Bestimmt sieht es innen besser aus, wenn der Typ regelmäßig vermietet.« Nette versucht, positiv zu bleiben. »Vielleicht hat dem Besitzer nur das Geld für die Renovierung der Fassade gefehlt.«
»Wir werden sehen. Na los. Auf in den Kampf!« Lou wappnet sich, geht langsam zur Haustür und drückt, immer noch halb in Schockstarre, die altmodische Türklingel aus Messing.
»Ich muss aufs Klo. Das wird’s ja wohl geben; hoffentlich ist es kein Klohäuschen wie vor hundert Jahren«, meckert Kati, während sie warten, und stapft abwechselnd mit den Füßen auf.
»Kati!«, ermahnt sie Nette. »Hör auf. Siehst du nicht, dass Lou gleich losheult?«
Kati schmollt und verzieht den Mund. Lou klingelt erneut.
Keiner öffnet. Sie schauen die Hauswand hoch. Nichts. Dann klingelt Lou wieder, diesmal länger. Wieder nichts.
»Der müsste uns eigentlich erwarten …«
»Seltsam. Hallo! Jemand zu Hause?«, ruft Nette laut.
Die anderen beiden fallen mit ein: »Haaallooo?«
Da öffnet sich plötzlich ein kleines Fenster unterm Dach. Lou kann das Gesicht nicht genau erkennen. Aber eine kauzige Männerstimme in friesischem Slang und der typischen Aussprache des »st« als »s-t« und nicht »scht« brüllt zu ihnen herunter: »Was soll der Lärm? Wer s-tört?«
»Äh, w-w-wir sind’s«, stottert Lou, »ihre neuen Mieterinnen für den Sommer. Herr Mattissen?«
»Sieht so aus«, grummelt er schlecht gelaunt. »Macht ma keinen Radau! Bin unterwegs.« Mit diesen Worten schließt er das Fenster und verschwindet. Lou dreht sich zu den Freundinnen und zuckt mit den Schultern.
»Großartig. Das fängt ja gut an.« Kati schüttelt empört den Kopf. Als Nette ihr beruhigend die Schulter tätscheln will, tritt sie abrupt einen Schritt zurück und verschränkt die Arme. »Lass mich! Hier halte ich es keinen Tag aus.«
»Das sah im Internet wirklich ganz anders aus. Okay, das Bild war sehr verschwommen, aber die Beschreibung stimmt vorne und hinten nicht«, räumt Nette ein.
»Von wegen Karma«, stellt Lou bekümmert fest. »Da hat Jeff so was von danebengelegen.« Beinahe kommen ihr die Tränen. Wie sehr hat sie sich auf diese drei Monate Auszeit an einem schönen Ort gefreut, alles dafür getan, und dann soll sie verarscht worden sein und sich mit dieser ollen Bude zufriedengeben?
»Lasst uns Ruhe bewahren und abwarten. Vielleicht ist der Kasten ein echtes Juwel. Ein Schätzchen, das es zu entdecken gilt.« Bevor Lou zu weinen anfangen kann und Kati Reißaus nimmt, hakt sich Nette mit einem Lächeln bei ihnen unter. In diesem Moment geht die Haustür auf. Ein alter Mann mit schlohweißen Haaren und Bart, in Seemannshemd, mit Halstuch und Kapitänsmütze steht grummelig vor ihnen. Lou erkennt Flecken auf dem Hemd. Sein gebräuntes Gesicht sieht wettergegerbt aus. Die auffallend leuchtend hellblauen Knopfaugen, umsäumt von Krähenfüßen, verraten, dass er in seinem Leben immerhin ein paarmal gelacht haben muss. Davon scheint jedoch kein Funken Freude mehr übrig zu sein. Mürrisch blickt er die Eindringlinge an. Für sein Alter, bestimmt weit über siebzig, sieht er top in Form aus, als bewege er sich oft und gerne. Und wäre da nicht dieser verbitterte Blick, könnte Lou ihn sich wunderbar in einem Seemannsfilm vorstellen.
»Was is nu? Wollt ihr draußen Wurzeln schlagen oder endlich reinkommen? Ich hab heute noch was Besseres vor«, meckert er ohne jede Begrüßung und scheinbar wie selbstverständlich im nordischen Du. Er tritt einen Schritt zurück und öffnet die Tür ein Stück weiter. Wieder wechseln die Freundinnen einen irritierten Blick.
»Natürlich, Herr Mattissen. Schön, Sie endlich kennenzulernen! Vielen Dank für die nette Begrüßung. Wie wär’s, wenn wir erst mal zusammen einen Tee trinken? Wenn Ihr Haus von drinnen so gemütlich ist wie von außen … Mensch, da sind wir schon ganz gespannt!« Mit diesen Worten schlängelt sich Nette strahlend mit Lou und Kati im Schlepptau an ihm vorbei und lässt den Alten mit offenem Mund stehen. Lou muss aufpassen, jetzt nicht loszuprusten beim Anblick von Mattissens Gesichtsausdruck. Nette weiß zum Glück oft intuitiv, was die richtige Reaktion ist. Eins zu null für uns, denkt Lou deshalb insgeheim. Trotzdem: Das kann heiter werden.
Ein Kapitän ohne Schiff ist ein Verlorener.
Nette wird am nächsten Morgen in dem Zimmer wach, das sie für sich ausgesucht hat.
Nach der gestrigen wortkargen Teatime mit ihrem muffeligen Vermieter hatten die Freundinnen ihre Zimmer bezogen. Sie hat das Schlafzimmer abbekommen, in dem ein schweres, altes Bett, ein hübscher Sekretär und Sessel stehen. Eigentlich ist sie ganz zufrieden mit ihrer Lage. Ja, hier ist alles ziemlich angestaubt – oder, wie Kati meint, ein Mix aus »verlassen und marode«. Aber sie liegt unter ihrer dicken Federdecke, und wenn sie sich aufsetzt und etwas zur Seite lehnt, kann sie sogar den Leuchtturm von ihrem Fenster aus sehen. Dafür hat sie gestern Abend extra die schweren Vorhänge mit dem Segelschiffmuster aufgezogen.
Die Kersig-Siedlung, deren Dächer wie Zipfelmützen aus den Dünen hervorragen, wurde wohl in den Sechzigerjahren gebaut, so viel haben sie vom alten Mattissen erfahren, doch sein Kapitänshaus im altfriesischen Stil muss wesentlich älter sein. Nette mag es eigentlich, die knarrenden Holzdielen oder die dunkelgrüne Tür, auf der ein ehemals prächtiges Blumenmuster zu erkennen ist. Schade, dass ihr Vermieter hier alles hat herunterkommen lassen.
Sie gähnt und versinkt noch einmal in ihrem weichen Kopfkissen. Ob die anderen schon wach sind? Jede von ihnen hat jetzt ihr eigenes kleines Reich: Lou suchte sich das kleine Arbeitszimmer aus, darin gefielen ihr besonders der Blick zur Meerseite, der altmodische Schreibtisch und die einladende Schlafcouch. Kati wählte das recht geräumige Gästezimmer zur südlichen Seite hin, das eine traumhafte Aussicht auf die Hörnumer Odde bietet. Auf ihrer Etage gibt es noch ein größeres Badezimmer und einen Abstellraum, wo Putzutensilien und Reinigungsmittel gelagert werden, die offensichtlich selten benutzt werden.
Hinnark Mattissen schläft unten im ehemaligen Esszimmer, hat er ihnen erzählt. Nette stellt sich vor, wie der alte Mann auf dem Sofa dort die Beine anziehen muss. Vielleicht bunkert er das Bettzeug in der großen antiken Truhe daneben. Die war ihr gestern sofort aufgefallen. Das Muster ähnelt sehr dem auf den Türen, leider auch der Zustand. In solchen Kisten wurde Frauen früher bei der Hochzeit die Mitgift mitgegeben, das hatte sie mal gelesen, sie wurden von Generation zu Generation weitervererbt. Was stecken da wohl für Familiengeschichten drin? Sicher mehr, als dieser schweigsame Kauz zu erzählen hat. Er scheint alleine zu leben, kein Wunder.
Das Wohnzimmer mit Kamin und die große Küche befinden sich ebenso im Erdgeschoss, die Räume dürfen sie mitbenutzen. Verboten hat Mattissen ihnen jedoch, die untere Toilette zu betreten – das wäre seine …