Dancing Queen - Ella Kingsley - E-Book

Dancing Queen E-Book

Ella Kingsley

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Beschreibung

Maddie kann nicht singen. Eigentlich keine Schande, wären ihre Eltern nicht DAS 80er-Jahre-Popduo – und Inhaber einer Karaoke-Bar. Die soll Maddie plötzlich managen, während ihre Eltern auf Revival-Tour gehen. Als sie erkennt, wie heruntergekommen die Bar ist, verzweifelt Maddie erst mal. Doch dann erwacht in ihr der Ehrgeiz: Vor laufender Kamera soll die Bar ein Comeback erleben! Dumm nur, dass die Kamera auch läuft, als Maddie sich in den charmanten Nick verliebt – und gleichzeitig ihr Ex wieder aufkreuzt …

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Das Buch

Ein Unglück kommt selten allein! Erst macht Maddies Freund, ein erfolgloser Schauspieler, mit ihr Schluss, dann wird ihre Bewerbung abgelehnt, und zu allem Überfluss erhält sie noch einen Notruf von ihren Eltern. Sie rechnet mit dem Schlimmsten, doch was sie erfährt, stellt all ihre Befürchtungen in den Schatten. Ihre Eltern, DAS80er-Jahre-Popduo, planen doch tatsächlich eine Revival-Tour durch Osteuropa. Und natürlich soll Maddie währenddessen ein Auge auf ihre Karaoke-Bar haben. Diese ist, wie könnte es anders sein, eingerichtet im 80er-Jahre-Retro-Style und leider auch ziemlich heruntergekommen. Kurzerhand funktioniert Maddie die Bar in einen Schauplatz für eine neue Fernseh-Reality-Show um. Doch schon bald muss sie feststellen, dass es nicht nur Vorteile hat, sich gleich ein ganzes Kamerateam ins Leben zu holen. Denn die Kamera läuft ebenfalls, als Maddie sich in den charmanten Nick verliebt. Und als dann auch noch Maddies Ex aufkreuzt und an der Show teilnimmt, scheint das Chaos perfekt …

Die Autorin

Ella Kingsley ist das Pseudonym einer erfolgreichen englischen Autorin. Bevor sie mit dem Schreiben anfing, arbeitete sie in einem Verlag, woher ihre Besessenheit mit korrekter Rechtschreibung rührt. Ella Kingsley ist Mitte zwanzig und lebt in London. Ihre Karaoke-Darbietung von »Ice Ice Baby« ist äußerst überzeugend.

Ella Kingsley

Dancing Queen

Roman

Aus dem Englischen von Rasha Khayat

Ullstein

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www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2012© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012© 2011 by Ella KingsleyTitel der englischen Originalausgabe: Confessions of a Karaoke Queen (Sphere, London)Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenTitelabbildung: Hamster: © Gettyimages/amana images/Neo Vision; Brille: © FinePic®, MünchenSatz und eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN978-3-843-70274-4

1 Total Eclipse of the Heart

Ich kann nicht singen.

Voilà, ich gebe es zu. Ich, Maddie Mulhern, von meinen Eltern in den exotischen Gefilden des 80er-Jahre-Synthi-Pop aufgezogen, wo farbenfrohe Kreaturen mit Kaftan und Eyeliner experimentierten, kann nicht einmal einen geraden Ton halten. Vielleicht liegt es daran, dass meine Eltern früher mal große Berühmtheiten waren, ihr einziger Top-Ten-Hit im ganzen Land heutzutage aber nur noch bei Hochzeiten gespielt wird. (Ja, man kennt ihn, den Song. Und würde garantiert sagen: »Du lieber Gott, die alte Kamelle?«) Möglicherweise stand ich dabei die ganze Zeit »im Schatten« und muss jetzt »meine eigene Bühne erst finden« (das zumindest meint meine Freundin Lou. Sie studiert Psychologie). Der Grund für meine unterirdischen Sangeskünste könnte natürlich auch in meinem persönlichen Kindheitstrauma liegen, das unauslöschlich mit meinem achten Geburtstag verbunden ist. Meine Eltern hatten nicht den bei Kinderfesten üblichen und oft so verstörenden Clown engagiert, sondern ihre eigene Horrorshow inszeniert: Sie gaben Jean-Michel Jarres »Oxygene« zum Besten. Abgesehen davon, dass all dies schon schrecklich genug war, dauerte das Stück auch noch ganze vierzig Minuten.

Mein Vater und meine Mutter sind … nun ja … Originale. Jeder hält seine Eltern für merkwürdig, doch meine sind es tatsächlich. Ich liebe sie wirklich von ganzem Herzen, aber sie sind mir peinlich. Das hört sich schlimm an? Wie sonst sollte man Szenen wie diese beschreiben: Man sitzt gemütlich vor dem Fernseher und zappst herum. Irgendwann landet man bei Top of the Pops von 1987. Andrew und George (und die beiden Mädels, aber ich kann mich nie an ihre Namen erinnern – außerdem war George doch sowieso der Wichtigste) stehen auf der Bühne, mit ihren blütenweißen Jogginganzügen und den aufwendig gefönten Locken, die ein wenig an diese geeisten Butterflöckchen erinnern, die man in schicken Restaurants bekommt. WHAM! sind schon super. Und gerade als man sich fragt, was eigentlich damals falsch gelaufen ist – ist er wirklich schon wieder verhaftet worden?? –, endet der Song, und andere, sehr vertraute Akkorde erklingen. Pineapple Mist (ja, ganz richtig!) betreten die Bühne – die vierte Woche in Folge auf dem dritten Platz! Mum tanzt wie Rumpelstilzchen in Schulterpolstern und trägt eine wattierte weiße Leggings, in der sie aussieht wie das Michelin-Männchen. Und Dad hat Dreadlocks. Dreadlocks!

Andere Leute staunen, mich schaudert es nur. Ich meine – warum?

Eine Zeitlang haben sie versucht, mich auch für das Musikbusiness zu begeistern. Sie haben nie Druck ausgeübt wie diese typischen Eislaufeltern, aber sie dachten einfach, Musik liege mir im Blut. Auf eine gewisse Weise haben sie wahrscheinlich sogar recht; ich liebe Musik und wollte schon immer einen Job haben, der irgendetwas mit Medien zu tun hat. Aber definitiv hinter den Kulissen. Diese Arbeit ist doch genauso wichtig, oder etwa nicht? Wo wären Boyzone ohne Louis Walsh, wo die Spice Girls ohne Simon Fuller?

Ich kann gut organisieren, bin eine Planerin und, wie ich hoffe, auch eine gute Stütze für sensible Künstlerseelen. Aber nein, singen kann und werde ich mit Sicherheit nicht.

Und womöglich erklärt diese Tatsache auch ein Stück weit, warum ich nun im verregneten Londoner Grau vor der U-Bahn-Station Baker Street stehe und mir ungläubig anhöre, wie mein Freund mit mir Schluss macht.

»Wir sind einfach … so unheimlich verschieden, Mads«, sagt Lawrence und lehnt sich gegen eine Werbetafel für Kreuzfahrten. Er hat einen pastellrosafarbenen Pulli locker um die Schulter geschlungen, wie ihn sonst nur Männer mit orangefarbener Haut und Zigarre auf einer Yacht bei Capri tragen. »Ich glaube einfach, ich brauche jemanden … der ein bisschen … extrovertierter ist …«

»Extrovertierter??!«

»Du weißt schon … mehr aus sich herausgeht.«

Ich verschränke die Arme. Übelkeit kriecht in mir hoch, und ich versuche zu verdrängen, dass ich gerade sechzig Mäuse in einer Brasserie hingeblättert habe, weil Lawrence sich unbedingt zum Mittagessen treffen wollte (als die Rechnung kam, meinte er plötzlich, seine Kreditkarte wäre schon vor vier Wochen abgelaufen). Ich weiß genau, was jetzt kommen wird.

»Machst du etwa gerade mit mir Schluss?«, frage ich. Ein Teil von mir will die Antwort gar nicht hören, lieber aufschieben, der andere Teil möchte diese ganze Farce nur schnell zu Ende bringen, wie ein Pflaster, das man hastig abreißt. In meiner Kehle spüre ich einen Kloß, der gefährlich nach Tränen schmeckt.

Lawrence verzieht traurig das Gesicht, als müsse er einem Kind etwas Einfaches, aber Unvermeidliches erklären, wie den Tod eines Hamsters.

»Ich bin eben Künstler, Mads«, sagt er und streicht sich eine dunkle Strähne aus der Stirn. »Ich muss auf die Bühne, mein eigenes Ding machen. So ist das mit Leuten wie mir.« Der Regen wird langsam immer heftiger, und Lawrence schlägt seinen Mantel über den Kopf, so dass er aussieht wie ein großer grauer Vogel. Mir bietet er keinen Schutz an, aber das wäre wohl auch zu viel verlangt. Ich könnte seine Geste ja falsch verstehen.

Ich warte darauf, dass er mir erklärt, was er meint, doch anscheinend hat er nichts mehr zu sagen. Ja, Lawrence ist Schauspieler – sogar ein sehr guter, meiner Ansicht nach –, und irgendwie scheint diese Tatsache eine ganze Reihe von Ticks und schlechten Angewohnheiten zu entschuldigen. Wenn ich mich allein an die letzten Monate erinnere, fallen mir da sein egoistisches Verhalten, der chronische Geldmangel und das ewig währende Melodrama unserer Beziehung ein. Plötzlich bin ich unfassbar wütend.

»Ich weiß«, erwidere ich patzig. »Und ich habe dich immer nur unterstützt. Das kannst du wirklich nicht leugnen!«

In diesem Moment wäre es passend und wunderbar, auszusehen wie Kate Winslet in Titanic – zart und leicht vom Wind zerzaust. Ich hingegen ähnele wohl mehr einem begossenen Pudel in billigen Flipflops. Ein Blick in das Fenster eines vorbeifahrenden Busses bestätigt meine Befürchtungen. Mein sommerliches Flatterkleid, das ich im Schlussverkauf bei Warehouse ergattert habe, hängt klamm und traurig an mir herunter wie ein Stück Segeltuch, und meine Haare kleben am Kopf wie bei einem Cockerspaniel. Innerlich verfluche ich mich dafür, meinen kleinen roten Anorak nicht angezogen zu haben, auch wenn ich darin aussehe wie einer von den sieben Zwergen.

Lawrence schnaubt genervt, und einen Moment lang glaube ich, dass er mein Begossener-Pudel-Outfit angewidert mustert. Dann sagt er ruhig, aber mit bitterem Unterton: »Denkst du etwa, mir macht das Spaß?«

Er meint einen Job, den ich ihm durch Simply Voices, die Synchronsprecher-Agentur, bei der ich arbeite, vermittelt habe. Zugegeben, es handelte sich nur um die Synchronisation eines französischen Werbespots für Hämorrhoidencreme, aber einem geschenkten Gaul schaut man bekanntermaßen nicht ins Maul. Immerhin hatte Lawrence seit Monaten kein Geld mehr verdient.

»Moment mal«, fauche ich. »Es ist ja nicht so, als hättest du für den Spot den neusten Scorsese-Film absagen müssen. Was hättest du denn ohne meine Hilfe gemacht?«

Er zieht seinen Mantel enger um sich. »Keine Ahnung, Maddie, vielleicht nicht so tun, als müsse ich mir in die Hose scheißen?«

Ich sollte wohl erklären, was ich fast ein Jahr lang an diesem Mann gefunden habe, zumal ich ihn hier nicht gerade in ein schmeichelhaftes Licht rücke. Ein gemeinsamer Freund hat uns bei einer Party im Juli einander vorgestellt – sein bester Kumpel war einer meiner Studienkollegen aus einem Medienseminar. Anfangs war Lawrence ein charmanter, unheimlich unterhaltsamer Begleiter gewesen. Außerdem war er ein ausgezeichneter Alleinunterhalter, was mir eine sehr angenehme Rolle im Hintergrund einbrachte. Außerdem sagte er mir, »in dem Kleid« würde ich aussehen wie Rachel MacAdams in »Wie ein einziger Tag« (diese Bemerkung hat mich nachhaltig beschäftigt. Nur in dem Kleid? Warum nicht auch ohne das Kleid? Und wie sehe ich ganz ohne Kleider aus?). Aber ich wusste damals nicht, wer das ist, also habe ich mir den Film ausgeliehen und mich anschließend gefragt, ob ich meinen neuen Vielleicht-Freund dazu würde überreden können, sich einen Bart wie Ryan Gosling in dem Film stehen zu lassen. (Auch wenn Lou meint, der Bart ließe Ryans Augen schrumpfen, so dass sie wirken wie Rosinen in einem Weihnachtskuchen.)

Die ersten sechs Monate mit Lawrence waren einfach himmlisch. Wir haben sogar überlegt zusammenzuarbeiten – ich wollte unbedingt in den Managementbereich, und Lawrence hätte mein erster Star werden können. Aber die folgenden Monate waren dann – nun ja, ganz einfach beschissen. Die Realität der Medienbranche holte uns ein, Jobs wurden weniger und weniger, ebenso wie das Geld, und sein Selbstbewusstsein folgte seinem Kontostand auf dem Weg in den Abgrund. In dem Moment fiel es mir wieder auf: Lawrence’ cholerische Ausbrüche hatten nichts mit seiner Persönlichkeit zu tun, sondern mit seinem Frust. Es muss ja auch wirklich furchtbar sein, sein Potential nicht voll ausschöpfen zu können.

Mit einem Mal klingt meine Stimme wieder viel sanfter: »Wir können uns doch einfach auch mal zwei Wochen lang nicht sehen? Dann hätten wir ein bisschen Zeit, darüber nachzudenken, was wir beide wirklich wollen.«

Er schüttelt nur seinen Kopf. »Nein.« Er klingt so laut und nachdrücklich, dass eine Gruppe Schulkinder auf dem Weg zu Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett sich neugierig nach uns umdreht. »Ich muss mich weiterentwickeln«, sagt er, nun ein wenig ruhiger. »Es tut mir leid, Mads, aber es ist vorbei. Ruf mich nicht an, okay?«

Ich merke, wie sich ein Tränenschwall langsam, aber sicher seinen Weg bahnen will. Warum muss ich denn heulen? Ich wusste doch, dass die Geschichte mit Lawrence nirgendwohin führt. Trotzdem. Es ist einfach schrecklich, verlassen zu werden.

»In Ordnung«, murmle ich mit dem letzten bisschen Würde, das ich noch aufbringen kann. Meine Füße sind nass. Warum zur Hölle hab ich nur Flipflops angezogen? Und auch noch die mit der Korksohle. Genauso gut hätte ich mir Schwämme unter die Füße binden können.

Lawrence quält sich ein gönnerhaftes Lächeln ab. Der Regen plätschert laut auf den Mantel, den er immer noch über sich gespannt hält, und schlagartig fällt mir der Slogan auf dem Werbeplakat für Kreuzfahrten hinter ihm auf: Ein großer Dampfer mit der Überschrift »KLARSCHIFF« in dicken Lettern. Das Plakat ist an den Enden ausgefranst, so dass nur noch »ARSCH« dort steht. Ich versuche, das Bild für den Rest des Tages einzusaugen.

»Leb wohl, Lawrence«, sage ich stolz und beschließe, sein Lächeln nicht zu erwidern. Ich werde mich erhobenen Hauptes abwenden und aus seinem Leben verschwinden, in der leisen Hoffnung, dass er sich irgendwann daran erinnert, einmal Rachel MacAdams in mir gesehen zu haben. Ich werde in den Menschenfluten von London untertauchen wie ein Schiff auf hoher See und Lawrence in meinem Heckwasser zurücklassen, wie er da steht und mir nachblickt, voller Wehmut und Bedauern.

Vor dem überfüllten Eingang der U-Bahn-Station drehe ich mich noch einmal um, nur um dieses Bild festzuhalten. Aber er hat sich schon längst aus dem Staub gemacht.

Erst auf der Rolltreppe zum Bahnsteig, den Kopf traurig hängen lassend, trifft es mich wie ein Blitz – Lawrence ist einer der wenigen Menschen auf der Welt, die meinen echten Namen kennen. Meinen vollen Namen. Den Namen, den meine Eltern mir gegeben haben. Dieselben Eltern, die ihre Band Pineapple Mist getauft haben.

O Gott. Lieber Gott, o nein, o nein! Ich kann nur hoffen, dass mein verdammter Exfreund in die Tiefen seiner Seele blickt, in seine reine Menschlichkeit, und sich für das einzig Richtige entscheidet – mein Geheimnis mit in sein Grab zu nehmen.

Sich von jemandem zu trennen gibt dem Anspruch auf Persönlichkeitsschutz eine vollkommen neue Bedeutung.

2 I should be so lucky

»So ein Vollidiot«, sagt Lou, während sie in ihrer Schreibtischschublade nach einem Paar Schuhe in Größe 38 wühlt. Es ist durchaus nützlich, eine Freundin wie Lou zu haben, die mindestens einmal am Tag die Schuhe wechselt und deshalb einen kompletten Schuhladen in ihrer Schublade aufbewahrt, der bei Gelegenheiten wie dieser unmittelbar griffbereit ist.

Erst wenige Minuten zuvor war ich völlig zerzaust und tränenüberströmt zurück in das Büro von Simply Voices an der Bond Street gestolpert, woraufhin sämtliche Kolleginnen entsetzt aufschreckten. Durch irgendeine seltsame Form weiblicher Intuition schienen sie alle genau zu wissen, was passiert war: Offenbar stehen 25-jährige Frauen nicht einfach an einem kalten, regnerischen Apriltag mitten auf der Straße herum, außer wenn jemand mit ihnen Schluss macht. Wie aufs Stichwort folgten eine Menge freundlich-besorgter Bemerkungen, Angebote, mir eine Tasse Tee zu kochen, und – wie von Zauberhand – eine Schachtel teurer Schokopralinen mit dickem Zuckerguss.

»Kann sein«, murmle ich und versuche, mein tropfnasses Haar mit einem kleinen Handtuch abzutrocknen, das uns ein Klient letzte Woche als Werbegeschenk geschickt hat.

Lou taucht unter ihrem Schreibtisch auf und überreicht mir ein unglaublich hässliches Paar Turnschuhe – und zwar diese Dinger, die angeblich die Oberschenkel schon beim Gehen trainieren, mit superdicker, abgerundeter Sohle, die aussehen wie kleine Schlauchboote. Nicht gerade das, was eine Frau braucht, die gerade verlassen wurde und an ihrem Sex-Appeal zweifelt.

Lou versteht meinen Gesichtsausdruck richtig und lacht. »Nun zieh schon die nassen Latschen aus«, kommandiert sie und zeigt mit dem Kopf in Richtung der traurig-durchgenässten Flipflops an meinen Füßen. »Die Turnschuhe sind wenigstens bequem.«

»Er hat mir vorgeworfen, ich würde ihn blockieren«, sage ich und folge brav Lous Anweisungen. »Glaubst du, das stimmt? Ich meine, vielleicht habe ich ihn ja wirklich, ich meine, unterbewusst, daran gehindert, seine Ziele zu erreichen, um mich … …«

»Maddie, halt die Klappe«, unterbricht Lou mich und nimmt mich in den Arm.

»Aber du bist doch Psychologin«, murmle ich.

»Und du eine Heulsuse. Lawrence weiß ja nicht, was er verloren hat.« Sie gibt mir einen Kuss auf den Kopf, auch wenn es sich für sie anfühlen muss, als würde sie ihr Gesicht in das Fell eines nassen Hunds drücken. Lou ist einfach die Beste.

Und diese Turnschuhe sind wirklich wahnsinnig bequem. Sie sind so … federnd. Ich habe plötzlich den unwiderstehlichen Drang, aufzuspringen und Tausende Kilometer zu laufen wie Forrest Gump. Ich könnte weit weg laufen, weg von Lawrence, weg von dieser Sackgasse von Job, weg von allem, und ich würde so schnell laufen, dass ich irgendeinen Rekord breche und man mich als Marathonläuferin zur Olympiade schickt, und dann würde Lawrence zu mir zurückgekrochen kommen und vergessen, dass er vor mir weggelaufen ist, und dann vielleicht … Ach, drauf gepfiffen. Ich hasse Joggen. Und außerdem drücken die Schuhe an den Zehen doch ein bisschen.

Lou lehnt sich an meinen Schreibtisch und beißt in einen Apfel. »Hör mir jetzt mal zu«, sagt sie und streicht eine ihrer blonden Locken hinters Ohr. »Ich finde, Law und du, ihr habt eigentlich nie zusammengepasst.«

Ich schaue sie fragend an. »Das hast du mir nie erzählt.«

»Natürlich nicht. Aber ich wusste immer, ihr würdet euch über kurz oder lang trennen. Und jetzt kann ich es dir ja beichten.«

»Hmhm …«

»Egal. Was ich eigentlich meine – es ist völlig klar, dass du dich im Moment beschissen fühlst. Aber früher oder später wirst du schon sehen, dass diese Trennung nur zu deinem Besten ist. Du bist einfach zu gut für ihn, glaub mir!«

Ich schenke meiner Freundin ein dankbares Lächeln.

Im selben Moment erscheint Jennifer, die Sekretärin unseres Chefs, mit einer Tasse Kräutertee in der Hand. »Schön austrinken, Sonnenschein«, befiehlt sie, knallt die Tasse auf meinen Tisch und verpasst mir eine rigorose, nahezu schmerzhafte Rückenmassage. Ich werfe Lou einen panischen Blick zu, die unterdrückt jedoch nur ein Lachen. Jennifer ist wirklich ganz reizend, aber beim Massieren ungefähr so sanft wie ein tätowierter LKW-Fahrer. Traurigkeit muss genauso behandelt werden wie eine Sportverletzung. Effizient, aber sensibel. Wenn das überhaupt möglich ist.

»Warum macht ihr beiden nicht eine kurze Pause?«, sagt sie und deutet in Richtung Küche. »Zehn Minuten sollten wohl genügen?«

»Zehn Minuten sind mehr als genug Zeit, um Maddies Leben wieder geradezurücken«, stimmt Lou zu.

Jennifer nickt kurz zufrieden, und Lou greift sich mit einer Hand die Teetasse und mit der anderen meinen Arm. Sie zieht mich in den kleinen Küchenbereich, wo wir uns morgens immer Kaffee kochen und unsere Klatschmagazine lesen. In diesen Turnschuhen bin ich fast einen Meter neunzig groß.

»Willst du meine ehrliche Diagnose?«, fragt Lou und stellt eine Tasse unter die Düse der neuen Cappuccinomaschine. Das Ding zischt und ruckelt wild, und Lou macht einen kleinen Satz nach hinten, ehe das Gerät in ein wohltuendes Aaahh ausbricht und eine Welle duftender und dampfender brauner Flüssigkeit in den Becher fließen lässt.

Ich lasse mich auf der kleinen Arbeitsplatte nieder und nippe an meinem eigenen Getränk. »Dann leg mal los«, sage ich düster.

»Er hat dich einfach nicht verstanden. Nicht so, wie deine Freunde dich verstehen.« Lou löffelt etwas Zucker in ihren Kaffee und setzt sich neben mich. »Das ist vermutlich nicht weiter ungewöhnlich, nehme ich an. Männer sehen einen nie so, wie Freundinnen es tun. Aber Lawrence hat es scheinbar auch überhaupt nicht interessiert.«

Ich muss ziemlich verletzt wirken, denn sie versucht sofort, das Ruder noch herumzureißen. »Nicht dass du ihn nicht interessiert hättest, aber er hatte überhaupt nicht den Wunsch, dich wirklich kennenzulernen. Dein wahres Ich, meine ich.«

»Vielleicht hast du recht.«

»Und es ging doch immer nur um ihn. Immer und immer wieder hast du ihn aus der Scheiße gezogen. Jedes Mal, wenn ich dich angerufen habe, steckte er in irgendeiner Krise, und du musstest springen, weil er ein offenes Ohr oder eine Schulter zum Anlehnen oder Geld für ein Taxi brauchte. Überhaupt, warum kann er nicht den verdammten Bus nehmen wie jeder andere Mensch auch?«

»Okay, okay, ich verstehe, was du sagen willst.« Ich kippe den Rest meines kalten Tees in das Spülbecken. Kräutertee wird mich heute wohl nicht mehr beruhigen.

Ich spüle die Tasse schnell aus und werfe dann einen verstohlenen Blick in den Kühlschrank, während ich über Lous Worte nachdenke. Sie ist zwar noch keine echte Psychologin, aber schon im vierten Semester Psychologie, und meint, ihr Studium verleihe den Ratschlägen, die sie an ihre Freundinnen verteilt, noch mal mehr Gewicht (ich bilde mir ein, dass sie mit ihren Analysen recht hat, da sie immer den Anti-Ex-Standpunkt einnimmt).

Ich habe Lou empfohlen, als Simply Voices nach weiteren Teilzeitkräften suchte. Wir kennen uns schon, seit wir sechs Jahre alt sind. Eine Zeitlang hatten wir uns aus den Augen verloren, in den letzten Jahren ist unsere Freundschaft aber wieder aufgeblüht. Ich denke, eine wahre beste Freundin wird man nie im Leben verlieren.

»Außerdem hat er, glaube ich, einen Stock im Arsch«, fügt Lou hinzu.

Ich muss wieder an Lawrence denken und seufze traurig. Wem gehört wohl diese Tupperdose mit dem Karamellkuchen?

»Stimmt schon«, murmle ich. »Er ist wirklich ziemlich verkrampft.« Auf dem Deckel ist kein Namensschild. »Als ich zum Beispiel einmal seine superteure, laktosefreie Sojamilch zum Backen benutzt habe, ist er völlig ausgerastet.«

Lou zog eine Augenbraue hoch.

»Oder das eine Mal, als ich sagte, ich stünde auf Brad Pitt, und er daraufhin Luft schnappen musste und zwei Stunden lang wie vom Erdboden verschluckt war.«

Lou schüttelt den Kopf. »Nein, ich meine das wörtlich, er hat vermutlich einen Stock im Arsch. Wenn ihr bei mir wart, hat er nie die Toilette benutzt.«

Schockiert drehe ich mich zu ihr um. »Echt?«

Sie senkt ihre Stimme. »Niemals. Nachdem es mir erst einmal aufgefallen war, habe ich jedes Mal drauf geachtet.«

Vorsichtig öffne ich die Tupperdose und stibitze ein Stückchen Karamellkuchen. Lou streckt mir ihre Hand entgegen, und ich reiche ihr auch eines. Und da ist sie dahin, unsere Essig-Diät (Lous neueste Erfindung: Man tunkt alles, was man isst, in Balsamico-Essig, weil das den Appetit zügelt. Außerdem enthält der Essig angeblich irgendein Superenzym, das Fett in Lichtgeschwindigkeit verbrennt, oder so). Vermutlich nicht die schlechteste Idee, da ich mich allmählich ein wenig übersäuert fühle.

»Das ist wirklich sehr seltsam«, erwidere ich mit vollem Mund.

Eine Weile sitzen wir schweigend nebeneinander. Es ist nahezu unmöglich, sich zu unterhalten, wenn man den Mund voll Karamellkuchen hat – er scheint sich auch irgendwie zu vermehren, je länger man ihn im Mund behält.

»Ich glaube, Law war eingeschüchtert«, sagt Lou, nachdem sie runtergeschluckt hat.

»Wovon?«

»Von der ganzen Pineapple-Mist-Geschichte.«

Unwillkürlich muss ich lachen. »Ach komm, das ist doch absurd.«

»Warum?«

»Weil …« Mir fehlen die richtigen Worte. »Mum und Dad sind ja vieles, aber einschüchternd sind sie nun wirklich nicht. Sie sind … wahnsinnig und seltsam und ein bisschen verrückt, aber bestimmt nicht einschüchternd.«

Lou zuckt mit den Schultern. »Nicht die beiden als einzelne Personen, sondern die Tatsache, dass sie mal berühmt waren. Okay, es ist schon lange her, dennoch waren sie damals echte Promis. Wie viele Menschen können das schon von sich behaupten?«

Ich ziehe eine Grimasse.

»Pineapple Mist war die heißeste Band in den Charts! Na gut, 1987, aber trotzdem. Und du bist mit all dem aufgewachsen. Da muss so jemand wie Lawrence doch einfach eifersüchtig werden. Deine Eltern und du, ihr hattet das, was er immer schon wollte – all die Aufmerksamkeit und den Ruhm.«

»Aber er hat mich nie gedrängt, dass ich sie ihm vorstelle!«, sage ich nachdrücklich. »Im Gegenteil, ich musste ihn fast zwingen, mich dorthin zu begleiten.« Bei der Erinnerung an jenen Abend läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. »Sie haben uns gezwungen, Love lifts us up where we belong zu singen.«

»Oooh«, machte Lou. »Hast du wenigstens Joe Cockers Part übernommen?«

»Sie mussten mich ewig überreden, bis ich überhaupt was gemacht habe. Du weißt ja, wie man sich bei ihnen immer fühlt – es ist, als würde man in den inneren Kreis der Hölle hinabsteigen. Eine Hölle mit einer Discokugel.«

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle kurz erwähnen, was meine Eltern heutzutage beruflich machen. Irgendwann im letzten Jahr sind die beiden von so einem Journalisten angerufen worden, der einen Bericht über frühere Popstars und ihr jetziges Leben machen wollte. Er hat Leute wie David Van Day und den Typen von Haircut 100 interviewt und vermutlich den Schock seines Lebens bekommen, als er Sing It Back betreten hat, wo sich Pineapple Mist inzwischen als lokale Größe etabliert hat.

Sing It Back ist die Karaoke-Bar meiner Eltern. Sie liegt in Soho und ist eine wahre Bastion der 80er- und 90er-Jahre-Kultur, bis unter die Decke vollgestopft mit Showdevotionalien und mit einer hoffnungslos überholten Palette von Songs ausgestattet, darunter diverse Flops von East 17 und Peter Andres »Mysterious Girl«. Wenn man diese Art Bars mag (was bei mir definitiv nicht der Fall ist) und genug getrunken hat (wann immer ich mit Karaoke zu tun habe, muss ich zu den harten Sachen greifen), hat Sing It Back durchaus seinen Charme, aber es müsste einfach mal von Grund auf renoviert werden. Die beste Werbung für die Bar sind meine Eltern selbst – Rick und Sapphire sind inzwischen fast so bekannt wie Pineapple Mist zu ihren besten Zeiten. Doch das Publikum bleibt ein recht kleines und spezielles: Frauengruppen, die einen Junggesellinnenabschied feiern und auf der Jagd nach Retro-Charme sind, die übliche Samstagabend-Truppe, bestehend aus Freunden und Angehörigen des Barpersonals, und ein Typ, der meistens einsam in der Ecke sitzt, »Bat out of Hell« in Dauerschleife singt und sich nur »Loaf« nennt. (Keine Sorge, es ist nicht der echte Meatloaf. Zumindest glauben wir das.)

»Ach, komm schon, ist doch cool, die Bar!«, grinst Lou. Wie immer verteidigt sie meine Eltern. Ihre eigenen haben sich früh scheiden lassen, und Lou hatte keine einfache Kindheit, deshalb steht sie Rick und Sapphire sehr nah.

»Das sagst du nur, weil du auf Simon abfährst.« Ich meine den süßen Barkeeper. Lou ist schon seit Ewigkeiten in ihn verknallt.

»Tu ich gar nicht!« Doch sie läuft knallpink an.

Ich seufze und denke an die lange Liste von E-Mails, die noch auf uns wartet. »Na komm, wir sollten heute Nachmittag wenigstens noch ein bisschen arbeiten.«

»Bist du sicher, dass es dir wieder gutgeht?«, fragt sie und scheint froh zu sein, dass ich das Thema wechsle.

»Das wird schon«, antworte ich und bringe ein schwaches Lächeln zustande. »Es gibt ein Leben nach Lawrence. Danke, Lou.«

»Ganz genau.« Lou nickt nachdrücklich und nimmt meinen Arm. Dann flüstert sie mir zu: »Es ist ja nicht so, als hättest du ihm deinen echten Namen verraten, oder?«

Ich verziehe das Gesicht.

»Maddie, das hast du nicht getan!«

»Es ist mir einfach so rausgerutscht.«

»So etwas rutscht einem nicht einfach heraus!« Sie dreht mich einmal um die eigene Achse und schiebt mich geradewegs zurück in die Teeküche. Ihr Kopf ist hochrot und droht, gleich zu explodieren.

»Ist es aber …«

Sie schüttelt ihren Kopf. »Dann bist du erledigt, Maddie. Wenn das jemals, JEMALS herauskommt …«

Na toll. Jetzt muss ich schon wieder heulen.

Zurück an meinem Schreibtisch, finde ich eine E-Mail von Big Ideas, der Schauspielagentur, bei der ich mich letzten Monat um einen Job beworben habe.

Vielleicht ist meine Pechsträhne ja endlich vorbei, denke ich aufgeregt und gleite zurück auf meinen Stuhl. Vielleicht dreht sich der Wind, und nach drei Jahren des ziellosen Jobbens kann ich mit meinem Unidiplom endlich etwas anfangen. Vielleicht ist die Trennung von Lawrence gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen, weil ich auf dem Sprung bin, die beste neue Staragentin der Stadt zu werden, und dann würde er merken, was für ein furchtbarer Fehler es war, mich fallen zu lassen, und er würde auf allen vieren angekrochen kommen und um eine zweite Chance betteln.

Aufgeregt klicke ich die Nachricht an.

Sehr geehrte Ms. Mulhern,

vielen Dank für Ihre Bewerbung als Trainee in unserem Unternehmen. Aufgrund der Vielzahl an Bewerbungen konnten wir leider nicht alle Kandidaten einladen und haben die Stelle inzwischen anderweitig vergeben …

Scheiße!

Ich lese den Rest schon gar nicht mehr. Beleidigt verschiebe ich die Nachricht in den Papierkorb und lasse den Kopf auf die Tischplatte fallen. Kann dieser Tag noch beschissener werden?

Wie aufs Stichwort klingelt mein Handy. Meine Mutter.

Ich kann dem Drang, meinen Kopf so lange gegen die Tischplatte zu knallen, bis ich ohnmächtig werde, nur schwer widerstehen, verkneife es mir aber trotzdem und gehe ans Telefon.

Kaum höre ich Mums Stimme, ahne ich, dass irgendwas nicht stimmt.

»Schätzchen«, keucht sie atemlos ins Telefon. »Gott sei Dank erwische ich dich. Es ist sehr dringend, du musst sofort nach Hause kommen. Es ist etwas passiert.«

3 Bad

Die Fahrt zur Wohnung meiner Eltern scheint ewig zu dauern. In Wirklichkeit sind es eigentlich nur zehn Minuten von Simply Voices aus, aber das funktioniert nur dann, wenn man sich tatsächlich bewegt. Mein Bus steckt seit einer kleinen Ewigkeit vor Marks & Spencer im Stau fest. Also steige ich aus und versuche, eine Fahrrad-Rikscha heranzuwinken. Ich könnte schwören, dass diese ganzen superathletischen, hart trampelnden Typen absichtlich einen riesigen Bogen um mich machen … Vermutlich wirkt eine etwas zerzauste junge Frau in einem feuchten Kleid und mit betonklotzartigen Turnschuhen an den Füßen, die am Straßenrand auf und ab springt und brüllt: »Ich bin federleicht, ich bin federleicht«, nicht gerade attraktiv. Wahrscheinlich halten sie mich für eine Anhängerin einer dubiosen Yogisekte oder für einen Junkie.

Also beschließe ich zu laufen, und plötzlich – wie ein Puma, den man endlich aus dem Käfig gelassen hat – zeigen die Schuhe ihr wahres Potential. Diese Dinger müssen einfach eine technische Revolution sein. Ich fühle mich, als würde ich fliegen. Doch ob Puma, Raubvogel oder auch nicht, ein Blick ins Schaufenster des nächsten Kaufhauses zeigt, dass ich aussehe wie der letzte Vollidiot.

Wahrscheinlich würde mir dieser Lauf trotz allem noch Spaß machen, hätte ich nicht dieses drückende, ungute Gefühl im Magen, das mich seit Mums Anruf nicht mehr loslässt. Was mag nur passiert sein? Ist mein Vater krank? Ist meiner Mutter etwas zugestoßen? Liegt jemand im Sterben? Verdammt, bestimmt liegt jemand im Sterben. Jemand ist schon gestorben. Meine Großmutter? Meine Tante Sylvie? Tante Sylvies Katze, die zwar echt miesen Atem hat, die ich aber über alles liebe? Oder mein Großcousin Jim, der in Neuseeland lebt und den wir höchstens alle fünf Jahre mal treffen? (Ich hoffe, er ist es. Nein, verdammt, das klingt zu böse. Nur, falls wirklich jemand gestorben sein sollte …)

Ich versuche, mich zusammenzureißen und tief durchzuatmen. Vermutlich ist es etwas vollkommen Banales; vielleicht hat der alte lilafarbene Bentley meines Vaters einen Kratzer abbekommen, oder das Make-up meiner Mutter hat sich aufgelöst, weil sie es mal wieder auf der Fensterbank in der Sonne hat liegen lassen. Es wäre nicht das erste Mal, dass meine Eltern aus einer Nichtigkeit ein Riesendrama machen.

Beflügelt von diesem Gedanken, überquere ich den Zebrastreifen mit einem einzigen federnden Schritt. Nur wenige Augenblicke später tauche ich ein in das Labyrinth von Soho, vorbei an John Smiths Pub, dem Curry House mit dem besten Naan-Brot in ganz London und dem Friseurladen, wo sie mir vor Jahren mal einen Stufenschnitt verpasst haben, wegen dem ich einen Monat nicht schlafen konnte (neben den Alpträumen, die mir der Look verursachte, türmte sich mein Kopf ungefähr einen halben Meter über dem Kissen). Dann bin ich da.

Als Erstes fällt mir auf, dass Dads Auto vor der Tür steht. Es ist nicht zu übersehen: die Farbe von schwarzem Traubensaft, glänzende Silberfelgen und brokkoligrüne Sitzbezüge. Der Wagen ist vollgestopft mit Kisten. Okay, jetzt mache ich mir wirklich Sorgen. Was zum Teufel geht hier vor?

Ich bahne mir den Weg ins Haus hinein. Die Bar befindet sich im Keller, trotzdem läuft mir ein leichter Schauer den Rücken herunter, als ich an der knallig-pinken Leuchtreklame von SINGITBAK vorbeigehe (das C fehlt schon seit Ewigkeiten). Der Farbton ist derselbe wie der für die Schrift auf dem Filmplakat von »Cocktail« mit Tom Cruise. Nachts flackert sie leicht. Ein Stück die Straße runter gibt es noch zwei weitere Karaoke-Bars. Zwar behaupten meine Eltern, Sing It Back sei die erste gewesen, doch ich bezweifle es. Das Wort Konkurrenz wird nie ausgesprochen, und um zu konkurrieren, muss man wenigstens zum Kampf antreten. Aber die Bar meiner Eltern ist schon seit Jahren nicht mehr wirklich an- oder sonst wie in Erscheinung getreten. In ein paar Stunden wird sich hier der übliche Freitagabend dahinschleppen, und mit einem Mal überkommt mich ein Anflug von Traurigkeit.

Drinnen stapelt eine junge Frau Bierkästen und hakt Dinge auf einem abgewetzten Klemmbrett ab. Es handelt sich um die einzige Barfrau von Sing It Back, Teilzeitschauspielerin und eine meiner besten Freundinnen.

»Hi, Jaz!« Jaz wie Jasmine. Nicht wie Jazzy Jeff, wie Lou anfangs vermutete.

Jaz blickt von ihrem Klemmbrett auf und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sie hat riesige blaue Augen und einen wilden Schopf roter Locken. Die Augen wirken umso größer, weil sie so klein ist. Doch was ihr an Körpergröße fehlt, macht sie mit Selbstbewusstsein wieder wett. Jaz will der neue Superstar werden. Im Moment ist sie völlig verrückt nach Lady Gaga. Vor ein paar Wochen stand sie, nur in schwarzes Gaffa-Tape eingewickelt, hinter der Bar und trug eine Sonnenbrille mit Lamellen, die man herunterziehen konnte. Simon hat sie daraufhin Lady Gaffa getauft, was Jaz scheinbar wirklich weh getan hat. Allerdings bestimmt nicht so sehr wie das Entfernen von all dem Klebeband. Autsch, autsch, autsch!!!

»Hey, Maddie«, ruft sie in ihrem leicht schlurrenden amerikanischen Akzent. Offenbar hat sie die Panik in meinen Augen bemerkt. Besorgt fragt sie: »Ist mit dir alles in Ordnung?«

Ich atme tief durch. »Nicht wirklich«, sage ich und lehne mich gegen die Wand.

Sie legt ihr Klemmbrett weg und fängt an, mir wild über die Arme zu streichen, wie es Mütter bei ihren frierenden Kindern immer tun.

»Du bist ja eiskalt«, bemerkt sie. Ein angenehmer Zimtgeruch steigt mir in die Nase. Jaz trägt immer sehr schönes Parfum und rügt mich jedes Mal ob meiner billigen Duftwässerchen aus der Drogerie. »Du siehst … du siehst ja furchtbar aus. Was ist passiert?«

Jaz nimmt kein Blatt vor den Mund – aber man gewöhnt sich daran. Sie ist ein ziemlich schräger Vogel, aber unendlich loyal. Vor drei Jahren kam sie aus den USA nach London, nachdem ihr ein böser Mann das Herz gebrochen hatte, und seither ist sie ein fester Bestandteil der »Sing It Back«-Familie. Auch wenn sie kein Vermögen verdient und die Arbeit in der Bar nicht besonders anregend findet, liebt sie meine Eltern über alles. Das ist typisch für Rick und Sapphire – man will einfach in ihrer Nähe sein, wahrscheinlich, weil alles irgendwie ein bisschen aufregender wirkt, wenn man bei ihnen ist.

»Das ist es ja gerade«, antworte ich sorgenvoll. »Ich weiß es nicht. Mum hat mich gerade eben angerufen. Sie war völlig durch den Wind und meinte, es gebe einen Notfall und ich müsse sofort nach Hause kommen. Hast du irgendeine Ahnung?«

Jaz schüttelt den Kopf. »Da bin ich überfragt.«

»Und draußen steht das vollgepackte Auto. Es muss was Schlimmes passiert sein, ich spüre es einfach.«

Ein Rascheln hinter einer der Bierkisten unterbricht unsere Überlegungen. Jaz bückt sich, schnalzt mit der Zunge und schnipst mit den Fingern. Ich hingegen versuche, meinen angewiderten Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bringen, als Jaz’ Meerschweinchen Andre unter der Kiste hervorkrabbelt. Eigentlich wollte Jaz sich einen dieser kleinen Hunde zulegen, wie ihn Paris Hilton immer in einer dieser großen pinkfarbenen Taschen mit sich herumträgt. Doch anscheinend »stinken die«, also hat das Meerschwein den Zuschlag erhalten. Heute trägt Andre ein winziges Hausmädchenkostüm mit weißem Häubchen und berüschten Ärmeln. Seine kleinen Pfötchen schauen ungelenk aus dem weißen Stoff hervor.

»Na komm schon, Andre«, flötet Jaz und setzt sich das Tier auf die Hand. Keine Ahnung, was es mit dem Kleidchen auf sich hat, vielleicht steckt Andre ja in einer Identitätskrise. In einer Welt, in der sich Bullterrier die Nägel rot lackieren lassen, ist alles möglich.

»Mach dir keine Sorgen, Mads«, wendet sich Jaz nun an mich, während sie sich wieder aufrichtet. Mit einer Hand kitzelt sie Andres Köpfchen. »Du kennst die beiden doch. Wahrscheinlich ist es eine totale Kleinigkeit.« Sie schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln und zieht eine Zigarette aus ihrer roten Mähne. Weiß der Kuckuck, was sie da sonst noch drin versteckt hat. Cola-Dosen vielleicht, oder eine halbe Bibliothek? Oder einen Zwerg, der akrobatische Kunststücke vorführen kann …

Mit der Zigarette im Mundwinkel geht sie an mir vorbei. Andre schaut mich vorwurfsvoll an. »Hübsche Schuhe übrigens!«

Sie zieht die Tür hinter sich zu, und ich stehe wieder allein im Treppenhaus. Der Anblick der Stufen versetzt mir einen Stich. Warum nur lässt mich das Gefühl nicht los, dass mich da oben etwas Grauenvolles erwartet?

Und genau so ist es auch.

Die Wohnung meiner Eltern ist der Vorraum zur 80er-Jahre-Hölle. Eine ganze Wand ist über und über behängt mit Fotos von Pineapple Mist. Außerdem gibt es Goldene Schallplatten für die beste Single (»What You Do (Ooh ooh)« – ich habe es doch gesagt. Alte Kamelle) und das beste Video (allerdings nicht das, in dem die beiden in einem Waschsalon tanzen, bekleidet mit orangefarbenen Nylon-Jogginganzügen. Nein, das sicher nicht) und signierte Erinnerungsstücke von ihrer großen Englandtour 1988. Das Lieblingsfoto der beiden nimmt einen besonderen Platz in der Mitte der Wand ein: mein Vater in einer dieser ultraengen, karierten Hosen und Mum mit umwerfend blauem Lidschatten und streng zurückgebundenem Haar, wie bei den Frauen aus dem Video von »Addicted to Love«. Rund um dieses Bild gruppieren sich andere Fotos mit lauter bekannten Gesichtern: Neil Tennant von den Pet Shop Boys, eingewickelt in Alufolie und mit dem üblichen gelangweilten Gesichtsausdruck, der hübsche Boy George, von beiden Seiten fest umschlungen von Pineapple Mist (Das Wort »Trauma« bekommt hier eine ganz neue Bedeutung!), Sting, der seinen Arm um Mums Schultern gelegt hat, Chesney Hawkes mit beunruhigend braver Frisur …

Die Wand gegenüber ist von oben bis unten mit lilafarbenen Spiegeln beklebt, so dass der Raum ein ganz seltsames Licht erhält und man immer ein wenig den Eindruck hat, auf einem Drogentrip zu sein. Alles in der Wohnung ist sorgfältig durchgeplant und dem Thema Musik gewidmet – angefangen bei den Garderobenhaken in Form von Noten bis hin zu einem großen Wohnzimmersessel, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Cello besitzt.

»Mum?«, rufe ich, streife die Turnschuhe ab und lasse den geborgten Mantel auf den Tisch im Flur fallen. »Dad?« Die Wohnung ist nur fahl beleuchtet, und es riecht nach frisch gebackenen Keksen. Frisch gebackene Kekse? Okay, hier stimmt irgendetwas ganz gewaltig nicht.

Ein lauter Knall erschüttert die Wohnung, gefolgt von der Stimme meines Vaters: »Verdammter Mist!« Den Geräuschen folgend, erwartet mich in der Küche ein geradezu bizarres Bild: Mein Vater kriecht auf allen vieren zwischen den Schränken umher, und auf dem Boden steht ein großer Umzugskarton, gefüllt mit offenen Keksdosen.

»Dad?« Ich merke, wie sich mein ganzer Körper verkrampft. »Was geht hier vor sich?«

Mein Vater kriecht aus dem Schrank hervor und stößt sich dabei den Kopf. Er ist immer noch ziemlich attraktiv für sein Alter: groß und blond, nur ein wenig schütteres Haar und ein von Natur aus fröhliches Gesicht. Er hat die Kopfhörer seines iPods in den Ohren, und als einer der Stöpsel sich löst und herunterfällt, kann ich die Klänge von Prefab Sprout hören. Auch das beruhigt mich ganz und gar nicht.

»Maddie!« Er erhebt sich und streckt mir beide Arme entgegen. Im Gegensatz zu meiner Mutter hat mein Vater zugehört, als ich ihnen mitteilte, dass ich ab sofort meinen Namen abkürzen möchte. »Wie geht es meiner Lieblingstochter?«

Ich zeige auf den Boden. »Was hat das alles zu bedeuten?«

»Oh!« Er kichert. »Deine Mutter besteht darauf, dass wir genug zu essen mitnehmen. Du weißt schon, für die Reise. Die Überfahrt mit der Fähre kann ja sehr lang werden, wer weiß das schon. Und deine Mutter kann ja ohne ihre Feigenplätzchen nicht überleben …«

»Eine Sekunde … Was für eine Fähre?«

Mein Dad zieht eine Grimasse. »Hat Sapphy dir nichts gesagt? Ich dachte, ihr hättet heute Nachmittag telefoniert?«

»Ja, haben wir auch. Sie war völlig aufgelöst, meinte, ich solle sofort nach Hause kommen, und hat aufgelegt. Ich habe natürlich total Panik geschoben und bin sofort von der Arbeit weg. Und dann tanz ich hier an, und draußen steht das vollgepackte Auto, und du kriechst hier in der Küche rum und packst Kekse ein. Echt, Dad, ich flipp irgendwie grad ein wenig aus …«

Im selben Moment umschlingen mich von hinten zwei Arme, und eine Wolke von Moschus breitet sich aus.

»Rick und ich müssen etwas mit dir besprechen, Schätzchen«, sagt meine Mum und dreht mich zu sich um. Mir fällt sofort auf, dass sie unheimlich gut und frisch aussieht. Ihre Wangen leuchten geradezu, und ihre sonst etwas fahlen, schwarzgefärbten Haare sind frisch gefönt und frisiert. »Komm, setzen wir uns erst mal.«

O Gott. O Gott O Gott O Gott. Sie sind schwanger. Daher die Unmengen von Keksen. Sie hat Fressattacken – Feigenkekse und Milch mit Maggi oder so. Und die Kisten im Auto werden nicht weggebracht, nein, sie sind hierher gefahren worden; Sachen für das Baby. Ein Mobile, das Spandau Ballet spielt, und kleine Plüschmikrophone …

»Wir fahren weg«, erklärt meine Mutter, sobald ich mich nervös auf der Kante der Couch niedergelassen habe.

Jetzt bin ich so richtig verwirrt. »Was? Wohin?«

Meine Eltern werfen sich einen wissenden Blick zu. Bestimmt fahren sie in Urlaub. Ja, das muss es sein. Sie planen Urlaub.

»Für drei Monate.«

»Drei Monate Urlaub?!«

Nun schaut meine Mutter mich verwirrt an. »Kein Urlaub, Liebling. Es dreht sich um die Arbeit.«

»Arbeit?« Das Gespräch wird immer absurder.

»Genau«, stimmt nun auch Dad mit ein. Ganz stolz hebt er den Kopf. »Wir gehen wieder auf Tour.«

Unwillkürlich fällt meine Kinnlade herunter.

»Ganz richtig.« Meine Mutter grinst selig. »Rick und Sapphire sind zurück, Pineapple Mist –«, herrje, sie lässt sich wirklich jedes einzelne Wort auf der Zunge zergehen – »ist auferstanden.«

Mein Vater spricht, noch ehe ich eine Chance habe, etwas zu erwidern.

»Es wird eine Revival-Tour, Maddie«, erklärt er und klingt ganz aufgeregt. »Weißt du, was das bedeutet? Pineapple Mist bekommt eine zweite Chance!«

Einen Moment lang herrscht Totenstille im Wohnzimmer.

»Wie Tony Hedley das damals auch gemacht hat?« Von ungefähr einer Million brennender Fragen, die eine solche Ankündigung verdient hätte, ist dies die einzige Bemerkung, die ich hervorbringe.

»Genau so!« Meine Mutter nickt energisch. »Eine Retro-Tour. One Hit Wonderful. Zusammen mit ein paar alten Freunden werden wir die nächsten Monate durch Osteuropa touren.« Sie wirft meinem Dad einen liebevollen Blick zu. »Auch wenn dein Vater natürlich hofft, dass sich daraus eine längerfristige Geschichte entwickelt.«

»Irgendwas wird sich ergeben, Sapphy, ganz bestimmt!« Nun schaut auch mein Vater völlig verliebt. »Denk doch nur mal nach. Du und ich, zurück auf der Bühne, die Menge schreit unsere Namen …«

»Aber was wird denn aus der Bar und allem anderen hier?«, unterbreche ich ihn endlich.

Zwei Augenpaare sehen mich konzentriert an.

»Nun, da kommst du ins Spiel, Schätzchen«, sagt meine Mum, kniet sich vor mich hin und nimmt meine Hände in ihre. »Das ist eine ganz wunderbare Möglichkeit für dich.«

Ich verziehe das Gesicht.

»Weißt du, wir haben uns überlegt«, erklärt Dad und legt seinen Arm um mich, »das könnte doch eine ganz wunderbare Gelegenheit sein. Du sagst ja schon lange, dass es dir in deiner Agentur nicht so besonders gut gefällt, und dies hier könnte dir genau das bieten, was du brauchst, um endlich voranzukommen.«

Ich bin nicht sicher, ob ich folgen kann. »Wie meinst du das? Was für eine Gelegenheit?«, frage ich vorsichtig nach.

Ein breites Lächeln zieht sich plötzlich über Mums Gesicht, und sie drückt meine Finger so fest, dass es weh tut. »Wir wollen, dass du Sing It Back in unserer Abwesenheit managst!« Mein Gesicht muss vor Schock versteinert sein, denn sogleich versucht meine Mutter, mich zu besänftigen. »Es ist ja nur für ein paar Monate. Eine Probezeit, sozusagen …«

»Nein!«, sage ich bestimmt und springe vom Sofa auf. »Nein. Auf keinen Fall. Uh-uh, nein, nein und nochmals nein.«

»Aber warum denn nicht?« Mein Vater scheint ehrlich überrascht von meiner Reaktion. Meine Eltern erheben sich nun ebenfalls und machen ein besorgtes Gesicht.

Am liebsten würde ich laut loslachen, Stattdessen versuche ich, an Dads Vernunft zu appellieren. Kein Zweifel, diese hirnverbrannte Idee kann nur von meiner Mutter stammen. »Ihr könnt das doch nicht ernst meinen. Dad, du weißt doch ganz genau, was ich von dieser K-Sache halte. Das ist einfach nicht mein Ding, war es noch nie. Außerdem habe ich doch überhaupt keine Ahnung, wie man ein Geschäft führt.«

»Archie wird dir schon helfen, und Ruby auch.« Dad meint zwei Leute aus der Stammbesetzung der Bar. »Wir werden dich die ganze Zeit über bezahlen, es gibt also nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest …«

»Dad, nein! Das ist eine zu große Verantwortung.«

»Aber hast du nicht seit deinem Uniabschluss nach einem Job gesucht, in dem dich mehr Herausforderungen erwarten?«, setzt nun meine Mutter nach, und Dad nickt. Verdammt, warum haben Mütter nur die Gabe, die eigenen Worte immer gegen einen verwenden zu können? »Du sagst doch immer, du willst mehr Verantwortung übernehmen, Liebes. Nun, hier ist die Chance. Du bist für alles zuständig, genau die Erfahrung, die du so dringend suchst. Und nur für ein paar Monate, auf Probe …«

Ich versuche es mit anderen Mitteln. »Aber ich wäre ja doch nicht mit vollem Herzen dabei, ich würde den Job komplett in den Sand setzen, und der Laden würde binnen kürzester Zeit einen erbärmlichen Tod sterben.«

Etwas pikiert und verletzt starren meine Eltern mich an, und sofort überkommt mich das schlechte Gewissen, dass ich ihr Lebenswerk beleidigt habe. Verzweifelt suche ich nach den richtigen Worten, um die Situation zu retten, doch da unterbricht mich meine Mutter auch schon: »Aber genau davor haben wir ja Angst.« Betreten schaut sie auf den Boden. »Wir fürchten, wenn du die Bar nicht wenigstens ansatzweise über Wasser hältst, während wir weg sind, wird es Sing It Back bei unserer Rückkehr nicht mehr geben.« Langsam hebt sie wieder den Kopf und sieht mir direkt in die Augen. »Ich bitte dich, Liebes. Denk wenigstens darüber nach. Der Bar geht es ohnehin so schlecht, dass es für uns ein enormes Risiko darstellt, überhaupt wegzufahren. Aber wir müssen diese Chance einfach nutzen. Das verstehst du doch, oder?«

Natürlich verstehe ich das. Ach, verdammte Sch …

»Okay, ich denke drüber nach«, willige ich schließlich ein. »Versprochen.«

Ein paar Sekunden lang stehen wir schweigend da, ehe meine Mutter erneut den Mund aufmacht. »Hast du dich schon entschieden?«

»Wie bitte? Nein, natürlich nicht …«

»Es ist nur so, wir sollten uns wirklich langsam auf den Weg machen, Schätzchen«, erklärt mein Vater und wirft einen Blick auf seine Uhr. »Wir müssen noch ein paar Dinge ins Auto packen, und …«

Siedend heiß fällt mir der vollgepackte Bentley draußen vor der Tür wieder ein.

»Ihr wollt jetzt fahren?«

»Unsere Fähre geht um Mitternacht, und wir müssen noch nach Newcastle hochfahren«, sagt meine Mutter und eilt zum Esstisch, wo ein kleiner Stapel dunkelblauer Aktenordner liegt, den sie mir in die Arme drückt. »Da hast du die gesamte Buchführung, Liebes. Alles, was du wissen musst, steht da drin: Konten, Budget, alles eben. Du wirst das ganz wunderbar machen, mein Schatz.« Sie drückt mir einen Kuss aufs Haar, ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, bekomme aber keinen Ton heraus.

»Wir haben versucht, dich früher zu erreichen«, flötet meine Mutter nun fröhlich. »Die ganze Woche über habe ich immer wieder versucht, dich anzurufen.« Mein Vater verschwindet in der Küche, um die restlichen Kekse in Kartons zu verpacken.

Ich bin nicht sicher, ob das so ganz der Wahrheit entspricht, aber vor ein paar Tagen hatte ich tatsächlich ein paar Anrufe in Abwesenheit von meiner Mutter auf meinem Handy, daran erinnere ich mich jetzt. In letzter Zeit war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, Lawrence beim Textlernen für ein Casting zu helfen. Natürlich hoffe ich, dass er den Job auf keinen Fall bekommt.

Als könnte sie meine Gedanken lesen, nimmt meine Mutter den Faden wieder auf. »Ich bin sicher, Lawrence wird dich bei all dem hier unterstützen.«

Ich muss mich räuspern. »Ehrlich gesagt … Lawrence und ich haben Schluss gemacht …«

»O nein! Liebling!« Sofort kommt meine Mutter auf mich zugesprungen und drückt mich so fest, dass sich die Kanten der Aktenordner in meine Brust bohren. Mit einem Mal verspüre ich den übermächtigen Wunsch, mich drei Stunden lang in die Badewanne zu legen und danach das ganze Wochenende durchzuschlafen. »Was ist denn nur passiert?«

»Mum, ich mag jetzt nicht darüber reden!«

»Aber Schätzchen …«

»Echt, Mum. Bitte.«

Sie nimmt mich erneut in den Arm und hält mich diesmal noch ein wenig länger fest. »Ich rufe dich an, sobald wir angekommen sind. Liebling, das tut mir wirklich furchtbar leid – hätte ich das gewusst …«

Ich nicke nur. »Ist schon in Ordnung.«

Eine letzte Umarmung. »Ich hab dich lieb, Schätzchen.«

»Sapphy, wir müssen jetzt wirklich los!« Dad eilt durchs Wohnzimmer.

»Dein Vater hat ihn sowieso nie gemocht«, flüstert sie mir noch zu. Soll mich das etwa trösten?

»Wartet mal eine Sekunde«, rufe ich, während um mich herum die letzten Taschen eingesammelt und Küsse auf meine Wangen gedrückt werden. Nur einen Augenblick später stehen meine Eltern auch schon in der Tür. »Ihr könnt doch nicht so einfach gehen …«

»Wir rufen dich aus Amsterdam an.«

Und mit diesen Worten fällt die Tür hinter ihnen ins Schloss.

4 Things can only get better

Ein Unglück kommt selten allein, heißt es immer.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich das Gefühl, jeden Moment sterben zu müssen. Irgendwer hat meinen Kopf über Nacht in einen Schraubstock eingespannt, ich habe wahnsinnigen Durst, meine Zunge klebt richtig am Gaumen, und ich verspüre ein unerklärliches Verlangen nach einer Fanta Orange.

Nach und nach fallen mir Versatzstücke des gestrigen Abends ein und durchbrechen den Nebel meines Katers. Dunkel taucht die Szene auf, wie ich nach der Abreise meiner Eltern ganze fünf Minuten damit zugebracht habe, in die Aktenordner zu schauen, ehe ich die Schränke im Wohnzimmer nach Alkoholvorräten durchkämmt habe. Aus der hintersten Ecke eines Schrankes ließ sich schließlich eine halbvolle Flasche Bombay Sapphire hervorkramen, den ich mit einem völlig widerlichen Tropic-Saft aus dem fast leeren Kühlschrank mischte und mehr oder minder in einem Zug hinunterkippte. Vage entsinne ich mich auch, dass ich es irgendwie in den Nachtbus und zurück in meine Wohnung nach Camden geschafft habe, nicht zu vergessen den obligatorischen betrunkenen Anruf. Zum Glück und erstaunlicherweise galt der nicht Lawrence, sondern Lou, der ich die Ereignisse der vergangenen Stunden zu berichten versuchte – so gut man eben berichten kann, wenn man eine halbe Flasche Gin intus hat.

Verdammter Mist.

Langsam stehe ich auf, stelle mich unter die Dusche und ziehe mich an. Anschließend lasse ich mich wieder auf mein Bett fallen und denke nach. Okay, versuch, dich zu konzentrieren. Nein, dir ist nicht kotzübel. Mach einen Plan, Maddie, lass dir was einfallen …

Nichts passiert. Mein Hirn kann kaum verarbeiten, was die letzten vierundzwanzig Stunden passiert ist, geschweige denn Pläne schmieden, wie mit all dem umzugehen ist.

Mach eine Liste! Eine Liste – ja. Gute Idee. Ich schreibe eine Liste.

Also schnappe ich mir einen Block und einen Kugelschreiber und fange an zu schreiben:

1. Liste schreiben.

2. …

Hm … Das ist schwieriger als gedacht. Konzentriert kaue ich auf meinem Kuli herum, ehe ich weitermache.

3. Toast mit ganz viel Nutella schmieren. Und zwar so viel, dass dir fast schlecht wird.

4. Lou anrufen.

5. Über das Schwein von Exfreund und die furchtbaren Jobaussichten verzweifeln.

6. Heulen.

7. Mit den Fäusten wiederholt auf den Boden schlagen.

8. Jaulen wie ein Tier im Käfig.

9. Mittagszeit? Mittagessen.

10. Mein ganzes restliches Leben in den Griff bekommen, bitte, lieber Gott!!

11. Deal or No Deal

Am Ende trage ich noch »Aufstehen und Duschen« bei Nummer zwei ein, damit ich schon ein paar Punkte abhaken kann und das Gefühl habe, wenigstens etwas erledigt zu haben. Hm. Bis auf den Teil mit dem Heulen sieht das doch eigentlich ganz gut aus …

Erstaunlicherweise habe ich es gestern Nacht irgendwie fertiggebracht, die gesamte »Sing It Back«-Buchhaltung mit nach Hause zu schleppen, also nehme ich jetzt einen der Ordner von meinem Nachttisch und blättere durch die ersten Seiten. Die Akten sind reichlich chaotisch, aber insgesamt ist es ganz wie erwartet: Die Tabellen und Listen könnten auch auf Chinesisch geführt sein und ich würde sie genauso gut verstehen, außerdem finden sich einige recht unfreundliche Briefe von der Bank. Trotzdem – man muss kein Nobelpreisträger sein, um zu verstehen, dass die Bar knietief in den roten Zahlen steckt. Auf jedem Kontoauszug springen mir die Minuszeichen entgegen, und die Bilanzen sehen auch nicht gut aus.

Na großartig. Mum und Dad haben mir eine Schlammlawine hinterlassen und nur eine Sandkastenschaufel, um den ganzen Berg abzutragen. Mit einem tiefen Seufzer schlage ich die Ordner wieder zu und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Es gibt nur eins, was mir jetzt helfen kann: Talkshows und eine große Menge Nutella.

»Sie haben was getan?«