Däne Werden Oder - Sandro Petersen - E-Book

Däne Werden Oder E-Book

Sandro Petersen

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Beschreibung

Däne werden oder... nicht Däne werden? Die Provinzidylle von Schäferpoet Colin Oltmann wird von Krisen erschüttert. Seine besten Freunde werden bedroht und wollen auswandern: ins hygge Sehnsuchtsland Dänemark. Colin aber zweifelt noch: Ist das die Erlösung? Wie vieles im Leben kann auch hier alles gehörig schiefgehen. Die Zeit drängt. Und die Suche nach dem Glück gebiert neue Fragen nach Liebe, Tod, dem Wolf und Behördengängen. Eine Schäfer-und-Nachportierpistole für alle und keinen!

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Über das Buch: Däne werden oder nicht? – Schäferpoet Colin Oltmann hat sich gerade in die Voreifel zurückgezogen, da wird die Provinzidylle von Krisen erschüttert. Seine besten Freunde werden bedroht und wollen auswandern, ins hygge Sehnsuchtsland Dänemark. Colin aber zweifelt noch: Ist das die Erlösung? Wie vieles im Leben kann auch hier alles gehörig schiefgehen. Die Zeit drängt. Und die Suche nach dem Glück gebiert immer neue Fragen nach Liebe, Tod, dem Wolf und Behördengängen. Ein satirischer Roman. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig.

Sandro Petersen, geb. 1979, ist Schriftsteller und lebt unter einem anderen Pseudonym im Rheinischen. 2020 erschien Trashy White Submarine. Ein Spionagegroschenheftchen.

„[J]e apokalyptischer die Nachrichten von draußen aus der Welt, desto sicherer fühle ich mich hier an Ort und Stelle – […] bei jedem kleinen oder großen Weltuntergang wachsen mir Flügel. Ich denke sogar heimlich bei mir: So ist das Leben. Recht so. Endlich Ernst. Endlich die Welt schleierlos.“

Peter Handke, Zdeněk Adamec

“I might be movin' to Montana soon

Just to raise me up a crop of dental floss

Raisin' it up

Waxin' it down

In a little white box

That I can sell uptown

By myself I wouldn't have no boss

But I'd be raisin' my lonely dental floss”

Frank Zappa, “Montana“

„Tigereingeweid' hinein,

Und der Brei wird fertig sein.“

Shakespeare, Macbeth, IV.1 (übers. Dorothea Tieck)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1Da ist diese Geschichte

Da ist diese Geschichte, die ich euch erzählen möchte, von der Auswanderung nach Dänemark. Eine Geschichte vom hyggen Glück, von einem Menschen, der es hatte und verlor. Einem der es wiederfand, und einem der durchhielt.

Sie beginnt so heiter und harmlos und ich wünschte, dabei wäre es geblieben. Aber leider sollte das Rad des Lebens einige unter sich begraben – und noch immer weiß ich nicht wie, auch weil… nun ja… manches zum Lachen war.

Wie so oft in Geschichten verdichten sich das Schöne, Befremdliche, Echte, Bekannte, das Gestelzte und das Abstoßende. Und einmal freigelassen war es mir nicht möglich die Geister noch voneinander zu trennen; die reine Poesie zu filtern, die derbste Komödie abzuschöpfen oder einen schröcklichen Thriller. Es ist weder Fantasy noch biografisches Enactment, was du, lieber Leser, vor dir siehst. Manchmal gehen und stehen die Dinge halt wie sie sind, verwickelt im Leben wie im Buche.

Es geschahen wirklich abstruse Dinge, die, wiewohl in meinen Händen, mir für mein echtes Leben zu heiß wurden, ja ich räume es ein, zu heikel. Kein Ruhmesblatt, mit dem sich noch prahlen ließe, vielleicht aber ein kurioses Lehrstück von einem Roman. Auch andere hatten daran Anteil und weshalb ich ausgerechnet den Gestalten über den Weg laufen musste, die dir, Leser, hier begegnen werden, bleibt wohl ein Rätsel. Wo immer ein Irrer auftritt, gesellt sich ein zweiter ihm zu und ich mittendrin – wie allen Halbgaren sind mir die zu kurz Gekochten suspekt. So sei bitte nicht alles hierin mein eigen und vor allem das Risiko des Dunklen teile ich, bei aller guten Absicht, gern unter meinen Figuren auf und mit dir, geneigter Leser.

Eine innere Stimme rät mir nun, hüte dich, Petersen, erfinde noch schnell einen andern! Vieles, vor dem uns graut, wird dann einfacher, Lustiges angenehmer. Also denn… ich verschwinde und lasse mich hier nie wieder blicken. Rutsche mit mir, Leser, streife mit mir… Schlüpfen wir gemeinsam und wie einer in diese zweite Haut: Man stelle sich wie ich vor dieser, nämlich Colin Oltmann zu sein!

Was so vielen fehlt, ist Colin Oltmann wahr geworden: Er fand zurück zur Natur. Wiesen und Schafe in der Voreifel, sanfte Landschaften. Die Textur des Tierfells auch in der Sprache, ja selbst im Traum. Durch alles ging der seichte Wind, manchmal der Inspiration, manchmal allein zur Kühlung des Mutes. Ein Kaltgetränk nie weit und der Feierabend gewiss, drohte und mangelte mir in der Muße nichts. Es sind in diesen Jahren viele verängstigt, weil die Spirale unerwarteter Schrecken nie stillsteht. Wie sehnt man sich nach der goldenen Zeit. Mir, Colin Oltmann, war der Schritt in die Bukolik, ins beschauliche Schäfertum, gelungen und ich möchte dich, Leser, zu einem Stück Poesie einladen, in dem du daran teilhaben wirst.

Mir wurde so lehmig wohlig in dieser Zeit. Sicher, manche sagen, es passierten ein paar komische Sachen, als ich Schäfer war, auch noch danach. Als läge das an mir! Man ist ja nicht allein. Wer tut nicht alles dabei mit. Am wenigsten ist es die Schuld des sanftmütigen Hirten, der das flauschige Weiß der Erde hütet. Wenn das nicht offensichtlich ist. Festhalten will ich außerdem eines, weil immer jemand behaupten wird, das mit dem Schafehüten wäre gar nicht authentisch gewesen: Das sind Feinheiten.

Maskerade hin oder her, die Welt war in Ordnung wie sie war und alle Geister, die wer ruft oder gehört haben will, müssen doch am Ende aushauchen, in Schwaden zerfließen und verhallen. Aber das Poltern bis dahin zu ertragen…

2Die Zauberer allen Anfangs

Alles fließt, so sehr muss man fast gar nichts tun. Etliche Kubikmeter Grünschnitt liegen am Boden. Im Blatt- und Zeichensalat schwimmt ein schläfriges Teppichmuster zusammen. Mit dem Fuß schieb ich den Laubbesen beiseite. Seine dürren Zähne machen Kratzgeräusche. Ando fragt mich nach der Rundsichel. Auf dem Wagen, sage ich.

Die Hecke nimmt Form an. Zur Linken ein langer Quader, zur Rechten Buschwerk, in dem der Wind noch sucht. Er ist schwach und kann nichts greifen. Schon rücke ich näher. Schnapp und schnipp, fassen die Metallblätter zu, schleifen die Klingen wieder auseinander, führe mit Kraft ich erneut beide zusammen und reiß dann die Arme auseinander… einatmen und ausatmen, zusammen und auseinander, vor und zurück. Trance entsteht mir.

In fernöstlicher Meditation schleiche ich seitschritts die Böschung lang und hinterlasse beiläufig ein Werk wohlgefälliger Kontemplation. Hole in Gebüschen die Welten ein, die noch schlummern. In allen Grünanlagen von Mittelstadt, wo immer die öffentliche Hand die Natur ordnet, ist es die meine: Stadt und Land gestaltend.

Den Tag heut mit Parkbänken begonnen. Beim Teich an der Kirche frische Sitzflächen, mattgelb lackiert, aufgebracht und morsche abgeschraubt, eingesammelt und zum Bauhof gefahren. Die alten dort neu zu überholen. So geht’s übers Jahr, alle drei Jahr alles Holz einmal reihum zu pflegen. Doch das nur der Anfang.

Mit der Baumsäge in die Äste empor, Arbeit über Kopf, so kam bald der Mittag. Das Handbeil an den niederen Strünken, den Rechen dann aus der Hüfte geschwungen, sahen das Blätterdach über den Parkplätzen und diese darunter manierlich bald aus. Die Karossen kamen und gingen. Fährt eine, kratz ich die Fugen schnell aus und fege ins Reine. Ein Ahorn noch vor Mittag, dann zum Metzger nebenan und ein knackiger Pfefferbeißer auf die Hand. Dazu Brötchen und Bier, hinterm Bulli im Schatten der Kastanie. Sie ist früh dran dieses Jahr. Ahnt sie die drohende Trockenheit des Sommers?

Die Hecke entlang der Ausfallstraße wird wohl das letzte sein, was wir schaffen. Für heut ist’s genug. Schon hör ich die Turmuhr, drei Schläge. Noch gut eine Stunde.

Ich senkte die Arme, dehnte den Rücken und dachte genau dies und nicht mehr: noch gut eine Stunde. Gemächlich harrte ich eines heulenden Gähnens, das sich mir innerlich ankündigen wollte. Tatsächlich gähnte ich. Der Wind, der die Zweige leis bewegt, strich auch über meine Stirn und befreite mich von jeder Schwere. Ando kam mit einem Besen statt der Rundsichel zurück. Egal, dachte ich, hatte doch auch ihn die Turmuhr erinnert: Für heute lohnt es nicht mehr.

„Kein Grund zur Aufregung“, sprach er und blickte doch leicht unverständig aufs Werkzeug, um alsdann schulterzuckend fortzufahren: „Die Verwirrung ist unser Schicksal nicht. Wir sind da schon durch, du und ich, oder? Machen wir langsam Feierabend.“

„Machen wir Feierabend“, bestätigte ich. In der nun tiefen Ferne des nebenstehenden Gebüschs fauchte eine Katze. Oder eine Ratte? Müdigkeit senkte sich herab und Faulheit wurde mir Befehl. Ich streifte den Schweiß des Wachsamen von meiner Schläfe.

Nach rechts hin noch viele Meter Arbeit, ergab ich mich ins Kontemplieren. Wo wenig Dynamik ist, muss Entschleunigung nicht falsch sein. Abwechslung tut gut. Ich bückte mich nach dem Rechen und erfrischte die Seele durch das gleichförmige Harken des Grünschnitts. Ando dachte offenbar gar nicht mehr, oder schon an den Feierabendtrunk, denn er kam schon wieder auf mich zu und hielt mir den Besen hin. Den hatte er für die groben Schnittreste gar nicht brauchen können. Mechanisch und denktot streckte ich ihm meinen Laubrechen entgegen, er nahm ihn grinsend und begann. Nun, wohlan. So würde ich warten und hängte mit festem, sicherem Griff mein Gewicht auf den Besenstiel, klemmte ihn unten zwischen die Beine und hinter die Schuh. Fast ritt ich, hinaus aus dem Kamin in die Nacht. Es war die Mitte des Nachmittags, die Rushhour floss in Blech dahin, das Brummen der KFZ über der Blumenwiese.

Ando kehrte zusammen, und erwacht aus meinem leerlaufenden Tagtraum ging ich bald hinter ihm und fegte und schob die Haufen zusammen. Gabel um Gabel hievten wir den Schnitt auf die Ladefläche.

„Jetzt sind wir zu früh fertig“, nickten wir und ermaßen beide zugleich, jeder in Stille und mehrmals großzügig nachrechnend, um wieviel. Es tat meine Uhr, wie zu erwarten war, gleich mehrere Minuten lang hintereinander das gleiche, wieder und wieder.

„Stimmt, zu früh.“ Wir gähnten.

Und wieder gähnten wir.

„Schauen wir noch nach den Ziegen“, schlug ich vor.

„Schafen!“

„Mein ich doch.“

Ando warf den Motor an und wir krochen in den Verkehr hinein. Kaum im Wagen, neben ihm, strich mir der Sekundenschlaf über die Lider.

Er wird sich nicht erinnern. Traumbilder von Schafen und Bäumen bleiben ihm vielleicht. Wenn er glücklich ist, wird er über Landschaften geflogen oder nackten Frauen begegnet sein. Oder die Beete im Schlaf noch einmal geharkt haben. Aber sein unausweichliches Schicksal, das er sehen soll, wird er vergessen haben. Zu tief vergraben liegt das Unbewusste.

Lange schläft er nicht. Aber erholsam. Überhaupt schläft er gut, hat in seinem Leben vielleicht eine Mitte gefunden, wie man so schön sagt. Hälfte des Lebens, Hölderlin. Ein Mann mit dem Kopf im heilignüchternen Wasser des Traums. Es gibt Künstler in der Welt, die möchte man kuscheln und in den Schlaf wiegen, so viel Klage reproduzieren sie, als wäre davon nicht genug in der Welt. Dieser hier, Peters…, ich meine: Oltmann, scheint mit seinen Schafen im Reinen und Trockenen. Wo alle hinwollen, in die Natur, ist er schon. Und deshalb hat er das Zeug den Untergang mit ruhiger Hand abzuwenden.

Welchen Untergang? Nun, da wäre noch dieser menschliche Makel… Helden werden ja von Hexen versucht, von Geistern zwar gewarnt, von Verwandten aber betrogen, müssen widerstehen und am Ende geht eigentlich immer einer vor die Hunde. So viele Tragödien. Auch wenn man immer denkt, ein Gott könnte es noch richten, das Schicksal drehen: Nein, wird er nicht. Schicksal. Da kann ja jeder kommen.

Aber vielleicht gelingt es ihm hier, dem Oltmann, nicht nur seinen eigenen Hintern, sondern vielleicht auch andere zu retten. Er hätte das Zeug zur Komödie. Packt das ganze zivilisatorische Unbehagen bei den Ohren, ringt es nieder. Und diese alte Leier hört endlich mal auf: Ob es einer schafft gut zu sein, damit die Geister beruhigt schlafen. Ob der Held den süßen Verfehlungen widerstehen kann, mit denen die Sirenen… – aber ich schweife ab.

Oltmann hält sich für einen Hirten und deshalb schon für einen naturgegebenen Dichter, vielleicht auch umgekehrt. Bestimmt lamentiert er bald über verflossene Liebschaften. Das tun sie häufig und es kann ziemlich anstrengend sein. Hoffentlich merkt er das und besinnt sich, dass seine beste Fähigkeit im Nichtstun liegt. Deshalb wird man ja klassischerweise Hirte: dekadente, selbstgenügsame Faulheit. Sich selbstverliebt in seine Kunst versenken. Zwecklose Muße. Herrlich…

Ich kann meine Welt ja selbst oft nicht leiden. Alles so schön geformt und dann geht immer irgendwo was aus den Fugen. Wenn man es nur alle Jahrmillionen tut, unterlaufen einem Konstruktionsfehler, vermute ich. So wie diese ist auch keine zweite, so viel kann ich vielleicht verraten… Vielleicht ist dieses Hirtentum da wirklich ein Ausweg. Dann wäre auch diese ewige Frage nach Sein oder Nichtsein mal egal. Solange das Leben auf Erden für einen Augenblick so traumhaft beschaulich und entrückt ist… aber leider, leider muss meistens irgendwer dafür zahlen, die Zeche, am Ende. Trifft es den richtigen? Welches ist dein moralischer Preis, Colin? Einer wird untergehen müssen. Einer zahlt den Preis…

Hee, du!

Wer, ich?

Genau. Wer bist du?

Mmh, Petersen, ich schätze, du weißt, wer ich bin.

Grauer Vollbart, gütige Altmännerstimme, Sonnenbrille, Hexenmontur – hee, auch ich bin eine… wir sind… Hexen??

Im Augenblick schon, ja. Wann sehen wir beide uns hier wieder?

Wie bitte??

Wann sehen wir beide uns hier wieder. Wenn es blitzt, donnert oder regnet?

Was soll das? Willst du mich auf den Arm nehmen, alter Mann? Das ist Shakespeare. Und nenn mich nicht… wieso nennst du mich Petersen?

Wir sind unter uns. Eine Art Traum.

Ah. Und wieso die Hexenmontur, ist das auch ein Shakespeare-Bezug? Dann müssten wir zu dritt sein, wo ist die dritte? Und was sollen die Sonnenbrillen?

Es ist ein inoffizielles Treffen. Und die dritte, mal sehen…

Ah…huch! Jetzt sind wir zu dritt! Dein Gesicht kommt mir bekannt vor, trotz Brille… aber irgendwie auch nicht.

Tschuldige, bin ich zu spät?

Wer bist du?

Ich bin Leser. Oder Leserin.

Das kann jeder sagen.

Ja sicher, sofern er liest. Ich bin’s jedenfalls.

Ehrlich gesagt, ist mir hier ein bisschen viel ‚Ich‘. Vor allem so ganz ohne Redezeichen.

Ich bin ich.

Eben, ich ja auch.

Gut, also, ihr beiden, hört zu. Zurecht schaut ihr mich in Ehrfurcht an, zu mir auf, will ich sagen –

Was machen wir hier? Das mit den Hexen ist offensichtlich Camouflage, ganz schön billig karnevalesk. Aber warum? Soll ich mir das ausgedacht haben? Ich fühle mich… falsch… Wackelpeter in den Knien, Götterspeisegelenke.

Verständlich. Du träumst. Was ich sagen wollte…

Mir geht’s auch so… aber ganz cool, eigentlich, übrigens, mal hier drin zu sein…

Wenn ich träume, kann ich einfach aufwachen.

Sekunde! Und Stille! Warte, Oltmann. Eine Prophezeiung sei dir geschenkt. Aber du wirst sie wieder vergessen.

Wozu ist sie dann gut?

Was? Was soll das heißen, als Vorausdeutung natürlich.

Aber ich vergesse sie doch, sagtest du.

Also mich zumindest würde es interessieren, was er zu sagen hat. Vielleicht hilft’s beim Lesen. Weißt du, Petersen, ich komm nicht ganz mit…

Oltmann bitte.

Von mir aus auch Oltmann… aber wenn ich auch Ich bin, also Du, bin ich dann nicht auch Oltmann?

Mmh, ja eigentlich war das der Clou. Was meinst du, Alter?

Später. Seid so gut und lasst es mich loswerden, bitte, ja? Die Prophezeiung…

Und wieso müssen wir überhaupt Oltmann heißen, wieso nicht Petersen?

Nun ja, sagen wir, es hat… auch was mit Camouflage zu tun. Zwischen dem Ich und mir selbst, also dir selbst, ist ein Unterschied.

Wir sind schizophren?

Nein-nein.

Versteh ich nicht. Mir wär’s egal.

Du wirst es später verstehen, Leser. Kann ich jetzt meine Prophezeiung? Sonst geht die Spannung kaputt.

Also bitte, leg los.

Entschuldigung?

Warte…

Sag schon.

Ich fürchte, ich habe sie vergessen.

Darf nicht wahr sein!

Tss! Nicht zu fassen.

Zu dumm. Aber vergessen ist vergessen, wie schade, ich und Prophezeiungen…

Die Schafe, es waren ihrer nur ein leichtes Dutzend, standen in einer teilnaturierten Senke unterhalb der hinabrollenden Wiesen mit ihren hinein gesprenkelten Büschen, Wildwuchsbüscheln und vereinzelten Bäumen, wie sie aus der Eifel zur Stadt hin rutschen. Wie zum Bollwerk hat man kasernenartige Siedlungen gegen die Natur gestemmt, die die Mittelstadt abschotten gegen das Land. Käme hier statt Landluft ein Angriff, würde er an den Fenstern dieser günstigeren Wohngegend zerschellen. Sonst ein Garant für steigende Grundstückspreise war diese Randlage das Gegenteil: weiter raus aus der Stadt konnte man diese Siedlungsbewohner nicht abschieben. Die Luft anhaltend presste man sich durch diese letzte Schneise von Zivilisation. Mancher Reisende wollte schnell fort. Kommend aus der Stadt, aus gepflegteren Gegenden und besseren Nachbarschaften, spürten auch Ando und ich an diesem Tag Beklemmung.

Vor zwei Wochen hatten wir hier zu tun, harkten mit langstieligen Werkzeugen den Rasen und kratzten das Unkraut aus den Steinen. In meiner Konzentration war mir der Körper in zeremonielle Schwingbewegungen verfallen, die buddhistisch, aber auch vage dämlich aussehen konnten. Drei Frauen blieben in einiger Entfernung stehen und schienen, in unterschiedlichen Zungen, zu fachsimpeln. Es waren deutsche Stückchen darunter, aber ich meinte vor allem Romanisches oder Slawisches zu vernehmen. Dem Klang nach gaben sich Beschreibung, Befremden, Anerkennung und Verlachen die Hand. Da rief eine dem „Herr Gärtner“ eine Einladung zum Plausch herüber.

Ich hob den Rücken, stützte mich auf die lange Pendelhacke und sah einige Sternchen. Wieder lächelte und sprach man mich an. Ich hob die Hand zum Gruß, tat einen lockeren Schritt auf die Damen zu, öffnete schon den Mund…

…und knallte gegen den Stiel der Harke! Booiinng!, mein Schädel wie Kirchenglocken. Wer hatte das Ding falschrum liegen lassen? Die Damen lachten, aber jauchzten zugleich vor Mitleid. Eine eilte herüber und drückte mir ein Bonbon in die Hand, eine zweite einen kleinen, silbernen Kruzifix-Anhänger und die dritte warf mir von drüben eine Kusshand zu. Während sie noch vor meinen Augen Karussell fuhren, liefen sie schon die Straße herunter, drehten sich noch einmal um und winkten. Ich stand rum und rieb die Stirn, heiliger Bimbam.

Ando und ich fuhren heute stracks weiter. Wie befreit flogen unsere Herzen im Paarschritt des Balletts der Natur zu, als wir die Stadt hinter uns ließen: fruchtiger Wind hauchte uns an. Da grasten sie schon! Schafskacke würzte die Luft und düngte auch unser Empfinden. Auf dem Band der Straße schwebten wir dahin und es fiel die Mühe des Tages von uns ab. Heute passierte nichts mehr!

Wir parkten den Bulli im Graben neben dem Feld. Schon kamen einige gelaufen. Ich fischte den Hirtenstab hinter den Sitzen hervor, auch wenn Ando mich belächelte. Der eigentliche Hirte war er. „Was willst du mit dem Ding? Schmeiß es weg, du vermüllst mir den Wagen!“

Ich fand, Hirten sollten einen Stab haben. „Glaubst du, wenn eins von den Tieren gerissen wird, ändert der Stock irgendwas?“ Ich ignorierte seinen Realitätssinn, grinste mir eins und stapfte pittoresk ins Land.

Wir überstiegen den Elektrozaun, blickten ringsum und befanden alles ordentlich, die Tiere vollzählig und gesund. Die lieben Dinger entwickelten eine beeindruckende Anhänglichkeit und liefen dauernd um uns her. Die Wiese hinab zum Bach folgten sie uns und stupsten Ando treu mit Nase oder Zunge an der Schulter, als wir uns niederließen.

„Gib mir ein Bier“, bat ich. Er stellte den Rucksack mit der Verpflegung zwischen uns. Es waren Würste vom Mittag übrig, Brot und hartgekochte Eier und Senf. Erdbeeren von einem Hof aus der Nähe und Äpfel von einem Baum längs des Wegs heute Morgen. Wir ließen es uns gut gehen und stießen mit kühlem Pils an. „Vom feinsten.“ Hinterm Fahrersitz hatte Ando eine über die Batterie betriebene Kühlbox installiert. Die Sonne stand hoch, zwei Bäume am Bachlauf spendeten Schatten. Eine leichte Brise ging durch die Zweige. Schöner konnte es nicht sein. Ich zog Schuh und Socken aus und legte die Füße ins plätschernde Wasser.

„Herrlich.“

„Ja.“

„Alles kannst du von hier aus sehen.“ Was meinte er, wir befanden uns in einer Senke, ringsum Hügel. „Das hier ist der absolute Ruhepol. So stell ich mir das vor“, er strich mit den Händen Kurven in die Luft, „der Höhepunkt des Tages und zugleich der Nullpunkt seiner Steigung. Der einzige stillgestellte Augenblick.“

„Wie in einer Achterbahn.“

„So ähnlich.“

Uns beiden gab das zu denken.

„Auch wenn das Leben nicht so rasant ist.“

„Aber verzwickter. Es ist zu viel Verwirrung.“

„Aber hier bist du dein eigener Herr. Ein wahrer Edelmann. Der Edelmann sieht klar und behält den Überblick. Oder Ausblick. Wie du willst.“

Ich nickte. Wir zwinkerten ins Licht. Folgten mit den Köpfen den Vögeln in der Luft. Vielleicht bedeutungsvolle Schleifen, die man nicht sah. Ando holte eine Flöte aus der Tasche hervor und fing zu spielen an. Ambitioniert aber nicht schlecht.

„Woher kannst du das? Ich wusste nicht, dass du spielst.“

„Ich bin Hirte.“

„Aber einen Stab hast du auch nicht.“

„Was will ich damit, einen scharfen Hund werd ich wohl nicht vertreiben. Ich leb ja nicht mit den Viechern. Ein Stab mag in deiner Alman-Ordnung gesetzt sein, aber er ist sinnlos. Wenn ich im Feld schliefe, wär es was andres. Wenn eins gerissen wird, merk ich’s eh immer zu spät. Da müsst ich’s Gewehr holen.“ Er setzte die Flöte wieder an und kreierte eine liebliche Melodei. „Mit der Flöte ist es ja anders: Damit kann man was anfangen.“

So war es.

„Bist du Autodidakt oder hattest du Unterricht?“

„Nie. Aber vielleicht liegt’s mir im Blut. Mein Großvater soll mal Ziegen gehütet haben, damals in Kroatien, als er ein Kind war. Und meine Mutter hat immer mit uns Kindern gesungen…“

Ich glaube, Andos Seele luftwurzelte in Kroatien. Die Karlovac-Verwandten, Karstwanderungen, Vater-Mutter-Großvater, der Schnaps, das Bier in Istrien, Hunde, Heu und Ziegen, Ausflüge zur Donau – alles Verklärte hatte damit zu tun; Kroatien meist, denn er war Kroate, sagte er, war von Nostalgie durchtränkt für die gesamte zerbrochene jugoslawische Utopie, dass alle Südslawen eins wären. Dem späten Vielvölkerstaat aber hatte seine Familie in den späten Siebzigern den Rücken gekehrt, wegen irgendwas mit Grundstücksgrenzen und Sozialismus. Auswanderung, nach Nordwesten, nach Deutschland. Und er wurde hier grau, leicht behäbig, klebte mit beiden Beinen im neuen Boden, fester als ich selbst es konnte und richtig auf dem Dorf, allein in seinem schlichten Häuschen. „Einen Hund bräucht‘ ich noch“, sagte er. Die Eifel war Andos Wiederholung der Idylle.

„Liegt da der Gedanke nahe, ein Hirt mit einer Flöte zu werden?“

„So ist es“, gab er zurück und nahm das Motiv von vorhin wieder auf. Ich noch ein Bier und noch ein Ei. Es war einfach zu beschaulich und ich summte der Flöte hinterdrein.

Geistesabwesend saß Colin Oltmann da und der Wind der Inspiration durchfuhr ihn. Er dachte plötzlich an eine Dichtung, wie es sie schon gäbe, mit Schäfern und Oden an das Wetter und ähnliches, das er alles einmal schreiben und der Nachwelt widmen wollte. Darüber wurde er schläfrig.

Wir schreiben ein Jahr nahe unserer Zeit. Colin und Ando, die da in den hügeligen Wiesen bei den Schafen wachen, haben nicht die leiseste Ahnung, welche Unruhen uns tatsächlich noch heimsuchen werden, selbst wenn sie das Leben verzwickt finden. Bewusst haben sie sich gegen Hektik und für Natur entschieden, alles Fernere ist ihnen verschlossen. Es sind keine Zauberer, sondern Männer im Jetzt.

In der Senke, bei Bachlauf, Schafen und Bier, ruht man sicher. Die Sense der Geschichte zischt drüber weg und damit wäre für heut alles gut. Man wird aber sehen, wie Colin Oltmann die Dummheiten der Welt aufspürt. Und leider auch ausbadet. Ihm und seinen Freunden wird bald zu wohl sein. Manch einer wird vor der Zeit nicht bestehen. Sie wollen es dem Landmann bequem gleichtun und die Behaglichkeit des einfachen Lebens für sich gewinnen. Was man alles aufs Spiel setzt, wenn das Ideal aufleuchtet, Colin! Welche Kämpfe man dafür heute durchsteht, bis am Ende… Colin…

„Wie bitte?“ Ando reagierte nicht. Ich fragte nochmal, in sein Flötenspiel hinein: „Wie bitte?“ Er setzte ab.

„Mmh? Was meinst du?“

„Hast du was gesagt? Du hast über mich gesprochen.“

„Nein. Ich hab doch Flöte gespielt.“

Das stimmte. Nun ja. Mir war, ich hätte ein Bündel von Ansagen gehört.

Nur weil die Sonne ihren Lauf vollenden musste, wurde es irgendwann frischer, denn sie verschwand hinter Hügeln im Westen. Wetter, Landschaft, Tiere, Essen, Trinken und die Musik hatten mir eine vollkommene Harmonie in die Seele gezaubert. Die Brotzeit aufgezehrt und kein Bier mehr da, erhoben wir uns und kehrten zum Wagen zurück. Ando hatte Schluckauf und wie ich einen sitzen. Aber er war einer von denen, die auch mit Alkohol fahren können.

„Eigentlich lass ich mir gern eine Flasche für den Heimweg.“ Wie ich schon sagte.

„Nächste Woche kommt mein Bruder aus Koblenz. Dann machen wir die Schur. Hilfst du mit?“

„Sicher.“

„Danach gibt’s ein Fest. Meine Schwägerin kocht Erbsensuppe und bringt Schnaps mit.“

„Fein.“

Das war ein Leben.

Dudine goss Tee auf. Drinnen der Dunst eines Wasserkochers, draußen regnete es einen wohligen, alles dämpfenden Hochfrühlingsregen. Bindfäden. Amseln sausten auf den Rasen und zupften Würmer. Allerlei Pilze hatten in der letzten Viertelstunde ihre Zahl in dem Grün verdoppelt. Ich hätte es beeidet, auch wenn es übertrieben klang. Überall ploppte und knospte es. Ich war bereit mich in eine genüssliche Stimmung zu steigern.

„Danke, ja, ich auch. Schöne Kanne.“

„Von meiner Oma.“

Ich saß im Fensterkasten der Küche, schlürfte meinen Tee und bekam Regentropfen auf die Nase. Dudine räumte Zeitungen beiseite, fläzte sich auf einen Küchenstuhl und legte die Füße auf den Tisch. Mit den Augen glitt ich verstohlen ihre Beine hinauf, die am Bademantel endeten, auf dem Kopf trug sie noch den Handtuchturban. Es war Sonntagmorgen, Richtung Mittag.

Dudine war irgendwas Anfang zwanzig, ein keckes, blondes Ding und seit einiger Zeit meine Mitbewohnerin.

„Du wirkst müde, warst du aus?“

Verzögert nickte ich. „Andos Schafe. Geschoren und Schnaps getrunken.“

„Wie geil! Ist das der Typ, mit dem du arbeitest?“ Genau der. „Wie – und wieviel Schafe sind das so? Ne ganze Herde?“ Ein Dutzend Schafe. „Wie – und die habt ihr… die armen Tiere! Und was macht ihr mit dem Fell? Ich mein: Machen die das mit? Tut denen das weh?“

Schafe machen so einiges mit, wenn man weiß, was man tut, und machen gar nichts, beziehungsweise laufen davon, wenn man das nicht weiß. Schafe zu scheren ist im Sommer nötig, sonst wird ihnen zu warm. Man tut den Tieren einen Gefallen. Selbstverständlich verwertet man die Wolle. All das erklärte ich Dudine, die zwar Studentin war, aber nicht alles wusste. Häufig, dachte ich, sei das Gegenteil der Fall. Dafür glich sie Unwissen mit doppelter Überzeugung, Empörung oder Lautstärke aus.

„Hast du auch mitgemacht? Oder nur Schnaps gekippt.“ Sie machte eine lustige Geste und fiel fast hintenüber mit ihrem Stuhl: „Huuch! Hihi.“

„Zu dritt. Ando, sein Bruder und ich.“

„Krass.“ Dudine fand echtes Leben immer beachtlich. So etwas ist verständlich, wenn man außer Schule, Uni, Elternhaus und Ferienlager nichts kennt und plötzlich Dinge erleben darf. Oder Leute kennt, die es tun.

„Es ist nicht besonders schwer zu lernen. Aber hinterher weißt du, was du getan hast.“ Ich hatte Muskelkater.

„Wieso der Schnaps? Ist das immer so? Schnaps und Schafe?“

„Ando ist Kroate. Oder halber Kroate. Jedenfalls war’s ein Sliwowitz von seiner Schwester, oder der Tante, ein heiliges Zeug, verdammt selbstgebrannt, in so… nicht etikettierten Literflaschen.“ Dudine staunte Bauklötze. Ich gab mich bescheiden. „Für mich hätt’s auch ein leichtes Bier getan. Aber es war Ehrensache, gewissermaßen.“

„Ach du je!“

„Und ob.“

„Und jetzt hast du nen Kater?“

„Geht so. Hab zu dem Zeug kannenweise Wasser getrunken. Außerdem war es gut. Kein gepanschter Scheiß, und wir waren an der frischen Luft, draußen im Engen Bruch. Bis um zwei haben wir beisammengesessen, ein Feuerchen gemacht. Herrlich. Wie ein Olivenhain. Zikaden überall und Glühwürmchen.“

„Romantisch.“ Sie strahlte verträumt. „Nur ihr drei?“

„Und Andos Schwägerin.“

„Hat die nicht geschoren?“

„Die hat die Suppe gemacht und den Sliwowitz gebracht.“

„Da habt ihr’s aber gut.“

Sie stand auf, klimperte mit den Wimpern und kokettierte mit einem Trockentuch, das sie sich straff um den Nacken legte, wie ein Tennisspieler nach dem Match. „Soll ich auch mal ein bisschen für dich da sein?“

Ja bitte, hätte ich sagen wollen. Wusste aber nicht, wo das hinführen sollte. Sie war fast halb so alt wie ich, führte ein vollkommen anderes Leben und machte sich beinah täglich über mich lustig. Was sollte ich sagen.

Sie spielte weiter: „Ich könnte euch helfen, nächstes Mal. Mit den Tieren.“ Wie eine Revuetänzerin stolzierte sie vor der Küchenzeile auf und ab, schwang das Trockentuch wie einen Spazierstock, mimte mit leicht geöffneten Beinen eine Rodeoreiterin. Ihr Bademantel reichte nicht bis zum Knie und seine zwei Hälften wippten vorn auseinander. „Traust du mir nicht zu? Bin ich nicht gut zu dir? Mein lieber Oltmann.“ Sie spielte den Kussmund von Marylin Monroe, biss dann auf die Unterlippe, kehrte den Blick nach innen, stoppte mitten in der Bewegung und zog, beiläufig züchtig, den Bademantel wieder zurecht. Um ein Haar.

Der Schlüssel in der Wohnungstür kratzte und knackte die Nuss, für die er da war. „Haallo!“

Felia, die dritte in unserem Bunde.

Wir waren eine WG. In Mittelstadt bewohnten wir zu dritt die mittlere von drei Etagen fast auf der Ecke der mittleren Seitenstraße einer Hauptstraße. In der Mitte zwischen dem Zentrum und der Peripherie. Pfennigstraße 3. Aus der Türe fiel man in alles, was man brauchte, den Bus, den Privatwagen, die Läden: Bäcker, Metzger, Friseur, Florist. Außerdem führte diese Straße zum Friedhof. Da standen Bäume vorm Haus und ein paar Verkehrsschilder, blühte versehentlich wilder Mohn in den Wegritzen, krabbelten Feuerkäfer darunter, hingen mehrere Plakatrestschichten an einer Hausecke, manchmal klebte ein Kaugummi unterm Schuh oder Hundekot. Am Zebrastreifen neben der Bankfiliale parkte immer ein etwas unzeitgemäßer, überdimensionierter Ferrari, sehr seltsam. Bei Regenwetter flüchteten Passanten in den Busunterstand unter unserm Fenster.

Unsern Vermieter sahen wir selten, der hatte sich an den Starnberger See abgesetzt, lebte vom Vermieten, zahlte uns, was er musste, und hatte seine Ruhe und sein Geld. Ich selbst kannte ihn gar nicht, war ich doch nur Untermieter. Zur Unterschrift soll er mal erschienen sein, alt, dick und gutmütig. Er mochte seine Mieterin sofort und das war nämlich Dudine, Dudine Böhm.

Genau genommen hätte sie die Miete wahrscheinlich keine zwei Wochen selbst berappen können. Sie war Studentin auf Kosten ihrer Eltern und die zahlten die Wohnung. Beides zusammen machte sie zum idealen Match für den alten Mann am fernen See, ein niedliches blondes Mädchen, dem der Onkel Gutes tat, der Sicherheit gewiss, dass ihr Papa das zahlt.

„Hallo Förster.“

„Oberförster.“

„Oberoberförster.“

„Oberoberober…“ – Dudine und ich plantschten im Kalauer, bis es suppte, aber Felia wollte hartnäckig nicht lachen. Stoisch stapfte sie herein, ignorierte uns – wir hörten auf – stellte Henkelmann und Thermosflasche zur Spüle und stapfte zurück in die Diele, sich ihrer Wald-und-Wiesen-Montur zu entledigen. Dann kam sie zurück, ließ auch sie sich auf einen Stuhl fallen. Leerer Blick in langer Unterwäsche.

„Bist du müd?“ Sie nickte. Fast fielen die Augen zu.

„Aber glücklich.“ Dazu zilperten draußen die Amseln ein Lied. Frisch einer himmlischen Leier entsprungen. Gepriesen sei’s.

Felia Hyttynens besondere Buchstabenfolge lag daran, dass sie Finnin war. Dudine frotzelte manchmal, ihr fehle ein „O“, und rutschte ins Kichern, weil sie’s bei mir fand und meinte, ich könne eins abgeben.

Aus einer nordisch verwunschenen Welt von Fichten, Birken und dornenrankenden Beerensträuchern, so stellen wir uns vor, musste ihr Gesicht eines Tages am Waldrand aufgetaucht sein. Ein letztes Mal ermutigt von den Zwergen mit rüstigen Stecken. Magie der Waldwacht, Speerspitze der Nostalgie. Wohlwollend begleitet von jedem Fliegenpilz am Wegesrand und den verspielt springenden Rehkitzen. So würde sie das Unterholz mit den kräftigen Pranken einer jungen Dame zerteilt haben und, siehe da, und ach!: voller Verwunderung die waldnahe Siedlung der Menschen erkannt haben. Gab es tatsächlich noch andere in der Welt als mich, Mutter und Vater, beziehungsweise Vater und Haushälterin, nachdem die Mutter doch schon seit Jahren tot war? Zugleich treuherzig und schüchtern würde sie an den ersten Häusern angeklopft haben, traf auf ihre ersten Spielgefährten, die – anders als Waldgeister, Elfen und Zwerge – allein dieser Welt angehörten, und eroberte sich Stück um Stück ihren Zugriff auf die Zivilisation, bis dereinst, wieder sozusagen: eines Tages, eine Stadt aus der Waldeinsamkeit auftauchte und Felia mit ihren Schulen und Universitäten verschluckte. Weder Turku noch Helsinki waren Berlin oder London, aber der Schock der Moderne ist im Märchenwald immer enorm, gerade weil er gegen ihren Strudel schützt.

Felia war Abkömmling eines alten finnischen Adelsgeschlechts. Hoch im Norden gehörte dem Vater, was schon seinem Vater und dessen Vater bis in die wilden Tage vor Menschengedenken gehört hatte, endlose Wälder, spärlich durchwegt, durchzogen dafür aber von Adern kleinster und größerer Seen und Sümpfe. So klar sah ich ihre finnische Natur vor meinem inneren Auge, als knüpften diese Adern des Seengeflechts direkt an meine Netzhaut, um das Bild einer Sehnsuchtswildnis mir in ein inneres Finnland zu übersetzen. Ganz natürlich wusste ich so um ihre Geschichte, als wär’s meine eigene, viel erzählt haben würde sie davon nicht.

So war sie ein Waldwesen. Das zutrauliche Sich-Verlaufen war die Natur dieses Mädchens und noch vor dem Sprechen hatte sie vom Großvater gelernt, in der Wildnis zu sein und im Überleben keine Kunst zu sehen. Mit nicht mehr als Messer, Axt und Kanu versorgt ging Felia auch in einsamen Weiten nie verloren. Niemand schickte Suchtrupps aus, um die Tochter zu finden, nur weil sie auch am zweiten Abend nicht nach Haus kam. Sangen nicht die guten Elfen über Meilen ihr besänftigendes Lied? Dass es ihr gutgehe? Sie würde heimkehren. Und sie kehrte heim. Ein ums andere Mal.

Aufgewachsen im abgelegenen Gutshaus, war dem Mädchen die Existenz eines Außen zwar bekannt. Schließlich gelangte doch stets Besuch an den Hof, kamen Waldarbeiter und Förster her, gab es auch Verwandtschaften und Bewohner anderer Gutssitze inmitten der finnischen Wälder. Mütterchen schulterten Kiepen und zogen von Hof zu Hof, um Pilze, Eingemachtes, Gemüse und Bastelkram zu handeln; und manchmal gelangten Schausteller in die Einöde und spielten Theater. Tatsächlich aber, so antwortete sie mir einmal nach längerem Nachsinnen, konnte sie sich nicht erinnern, vor ihrem Schuleintritt überhaupt jemals den Wald verlassen und auch nur die nächste Ortschaft etwa zum Einkaufen besucht zu haben. Auch auf elektronische Wunder wie Fernseher und das aufkommende Internet hatte sich der Vater nicht eingelassen. So schien ihr, wie auch ihren Vorfahren, weniger das Dickicht der Wälder mit seinen Wölfen, Bären und eigenbrötlerischen, betrunkenen Holzfällern eine Bedrohung. Im Gegenteil war es die Stadt, die man mied und der sie der gute Vater nicht aussetzte, bevor es unbedingt sein musste.

Heimgekehrt war schließlich allerdings auch er selbst, und zwar für immer. Dies ausgerechnet, als die Tochter schon in der lichten, fremden Zukunft lebte. Felia wollte Försterin werden. Den jungen freien Geist aus bestem Hause hatte es zu unbeschwerten, ausgedehnten generalistischen Studien aber erst einmal an die Sorbonne nach Paris geweht. Mondän schlendernd durch St. Germain und optimal blasiert die Zuckungen der Metropole atmend, ereilte sie ein Anruf von daheim: Der Vater ist tot.

Wie war die Trauer groß und die prompte Heimreise in schwarzer Watte stumpf vergangen. Ein letztes Mal sah sie ihn, aufgebahrt schon. Aus alter Zeit war dieser Tod erschienen und hatte den alten Herrn als Herrn, als steifen kalten Block zwar und leider viel zu jungen alten Herrn, aber doch in Anzug und präparierter Haltung angenommen. Er lag aufgebahrt auf seinem Bett in seiner Kammer, wie es sein sollte. Wie war der Tod eingetreten, war er wochenlang um den Alten herumgeschlichen, wie es Rilke aus den vormodernen Zeiten kannte? Hatte der Vater ihn nahen hören, eine geisterhafte Veränderung bemerkt? Hatten die Hunde in tierischer Vorahnung an der Türspalte gewinselt? Geheimnisvoll haucht uns eine vormoderne, nordisch-mythische Tradition ihr Kolorit in die Erzählung. Da lauerte Sinn. Es war Felia, als stünde ein kalter und erhabener Bediensteter im Raum, schwarzer Umhang und Zylinder in den Händen, der nur darauf wartete, dass man ihm das Signal zum Ablegen gäbe. Für Fragen stand er nicht zur Verfügung. Fiele nur das Wort, dann stakste dieser knochige Gondoliere den Patron heim durch die Wälder und die Wand aus Nebel. Das Herz zog sich ihr zusammen.

Neblig war es wahrlich gewesen an diesem Tag. An dies konnte sie sich deutlich erinnern, und das obwohl ihr sonst alle Erinnerung ebenfalls zu Nebel geworden war. Unmengen Kaffee hatte sie getrunken, gemeinsam mit allen anderen, die man entfernt zu Haushalt und Nachbarschaft zählen konnte und die sich Beileid bekundend die Klinke in die Hand gaben und so den Verlust der Familie federten. Trotzdem hellte kein Koffein der Welt die Düsternis dieser letzten Heimkehr mehr auf. Denn die trauernde Familie, das war neben übrig gebliebenen Einzelnen aus Seitenlinien vor allem sie selbst. Sie spürte den Zug förmlich in ihrem Nacken: Es fehlten im Tau ihrer Linie die drahtigen Stränge des Vaters. Sie allein trug nun als letzte Nachfahrin dieses großen finnischen Geschlechts die gesamte Last; und war doch eigentlich gerade dabei gewesen ein leichtes Leben in der unbeschwerten Ferne der Hauptstadt der Moderne zu unternehmen, ein flanierender Schmetterling, oh Paris mon amour!

Mit Paris war’s das damit. Eigentumsfragen galt es jetzt in Turku zu klären. Der Wald wuchs zwar von allein, verlangte aber nach ihrer ordnenden Hand, wollte man auch weiterhin davon leben. Nicht zuletzt stand ihr Anspruch gegen Begehrlichkeiten der Verwandtschaft. Cousins und Tanten, die sie kaum je gekannt hatte, schrieben ihr beileidsvolle Karten und hatten sich ihre Telefonnummer besorgt, beriefen sich auf angebliche Versprechungen des Verstorbenen zu Lebzeiten. Stellte sie sich taub, fragte man, wo sie denn gewesen sei, als der Alte dahinschied und wollte ihr die Schuldfrage einpflanzen. Felia belastete das.

Sie verkroch sich auf Tage in die Wildnis, um einen Ausweg zu finden. Campierte sicherlich malerisch unter trauernden Weiden am Seeufer. Stellte sich Gespenster vor, die Warnungen anzeigen könnten. Sie der letzte Hort des Familienerbes. Was für ein Leben wäre das, ohne ererbte Dinge, Wald, Haus, Hof und Hunde? Nach Tagen der Einkehr lautete die Einsicht nicht anders als zuvor: Sie musste zurück in den finnischen Wald und musste besser sein als alle, die nach diesem Königreich trachteten.

Ein letzter Aufschub war aber möglich. All die Ansprüche parierte sie mit einem Kunststoß, der ihr dreifachen Gewinn einbrachte: ein Auslandspraktikum bei der Forstdirektion Eifel-Nord, Waldeinsamkeit und deutsche Disziplin in einem. Paris und Deutschland, die Stempel zweier Mythen, trug Felia Hyttynen nun auf sich und versprach der alten Oberschicht im heimischen Finnland die Zugehörigkeit zum alten europäischen Ideal einzulösen. Die Erbschleicher ließen von ihr ab und erkannten in ihr eine würdige Erbin. Zugleich konnte sie als Eifelförsterin auch weiterhin abwesend bleiben, die ersehnte aber mühsame Heimkehr noch vertagen, bis sie bereit dazu war.

Am heutigen Mittag kehrte aus einer langen Försternacht mit dem Feldstecher Felia in den Schoß der WG zurück.

„Wieso trägst du lange Unterwäsche, es ist hoher Frühling?“

„Die Eisheiligen sitzen noch in allen Wipfeln.“

„Und im Unterholz? Du hast Zweige in den Haaren.“

„Ja“, sie zupfte darin herum, als wollte sie ein Nest bauen, „ich habe Rehe gezählt.“

„Viele?“

„Und Biber, Spechte und sogar einen Dachs. Meine Tasche hängt an der Garderobe. Wenn du Zahlen wissen willst, schau selbst nach, bitte.“ Nicht nötig, Felia, danke.

„Du hast einen Biber gesehen? Wie cool! Richtig mit Holznagen und so?“

„Ja klar. Er kommt, nagt und fällt.“

„Wie geil!“ Dudine jauchzte. Auch ich staunte. Herrliche Natur. „Eigentlich müsste überall Nationalpark sein. Echt! Wisst ihr“, sie beugte sich verschwörerisch vor und machte große, geheimnisvolle Augen, „übermorgen starten wir eine Aktion im Hambacher Wald!“