Dark Hope - Gebieter der Nacht - Vanessa Sangue - E-Book
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Vanessa Sangue

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Beschreibung

Empathin Hailey Williams weiß vom ersten Moment an, dass ihr neuer Fall sie an ihre Grenzen bringen wird. Seit dem Wendejahr 2024, als sich magische Wesen auf der ganzen Welt der Menschheit zu erkennen gaben, arbeitet sie für The Last Hope, eine Organisation zur Vermittlung zwischen den magischen Arten. Als Beraterin musste sie schon mehr als einen heiklen Fall zwischen übernatürlichen Wesen schlichten. Doch mit Kyriakos, dem Herrscher des größten Vampirclans in Amerika, und Rave Jones, Anführer eines Rudels Wolf-Gestaltwandler, stehen sich zwei erbitterte Feinde in ihrem Büro gegenüber: Eine tote Wölfin wurde auf dem Territorium der Vampire gefunden und jemand scheint einen Krieg zwischen den Arten lostreten zu wollen, der die gesamte Weltordnung ins Wanken bringen könnte. Hailey bleibt wenig Zeit, doch wie soll sie als unparteiische Instanz vermitteln, wenn der geheimnisvolle Vampirfürst dabei viel zu tief in ihre Seele blickt und eine Leidenschaft in ihr weckt, der sie unmöglich widerstehen kann?

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VANESSA SANGUE

Dark Hope

Gebieter der Nacht

Roman

Zu diesem Buch

Empathin Hailey Williams weiß vom ersten Moment an, dass sie ihr neuer Fall an ihre Grenzen bringen wird. Seit dem Wendejahr 2024, als sich magische Wesen auf der ganzen Welt der Menschheit zu erkennen gaben, arbeitet sie für The Last Hope, eine Organisation zur Vermittlung zwischen den magischen Arten. Als Beraterin musste sie schon mehr als einen heiklen Fall zwischen übernatürlichen Wesen schlichten. Doch mit Kyriakos, dem Herrscher des größten Vampirclans in Amerika, und Rave Jones, Anführer eines Rudels Wolf-Gestaltwandler, stehen sich zwei erbitterte Feinde in ihrem Büro gegenüber: Eine tote Wölfin wurde auf dem Territorium der Vampire gefunden und jemand scheint einen Krieg zwischen den Arten lostreten zu wollen, der die gesamte Weltordnung ins Wanken bringen könnte. Hailey bleibt wenig Zeit, doch wie soll sie als unparteiische Instanz vermitteln, wenn der geheimnisvolle Vampirfürst dabei viel zu tief in ihre Seele blickt und eine Leidenschaft in ihr weckt, der sie unmöglich widerstehen kann?

Für dich, Kyriakos. Danke, dass du mich gefunden hast. Ich werde dir ewig dafür dankbar sein, dass du mich in diese Welt geholt hast. Du wirst immer der Erste sein.

Außerdem widme ich dieses Buch meinem Vater. Dafür, dass du mich immer unterstützt. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet. Ich hab dich lieb.

Das Schicksal kann uns auf zwei Weisen zerstören: Indem es uns unsere Wünsche verwehrt … oder indem es sie erfüllt.

Henri Frederic Amiel

Prolog

Das Jahr 2024 markierte eine Wende in der Geschichte der Menschheit.

Es war ein Samstagnachmittag gewesen. Am 16. Juli 2024. Die Sonne stand hoch am Horizont und badete die Stadt in ihr gleißendes Licht. Es waren nicht mehr viele Menschen auf den Straßen unterwegs. Es war zu heiß und die Luftfeuchtigkeit viel zu hoch, als dass es irgendjemand gewagt hätte, auf die Straße zu gehen.

Und dann, von einem Moment auf den anderen, veränderte sich das Angesicht der Erde für immer.

Heute nennen es manche Magie, andere nennen es Natur. Und wieder andere denken, dass es die Rache unbekannter Götter war. Ich persönlich denke, dass es Magie ist, nur hatte die Menschheit längst vergessen, dass Magie ein Teil ihrer Natur ist.

Die Magie erhob sich wie eine wutschnaubende Bestie, zusammengesetzt aus all den Albträumen, die im Laufe der Jahrhunderte in den Köpfen der Menschen entstanden waren. Erzürnt darüber, dass man sie so lange vergessen und ignoriert hatte.

Und dann kamen die Monster.

Jedenfalls nannte ein Teil der Menschheit sie so, zu Beginn jedenfalls. Kreaturen erhoben sich aus den Schatten, wie man sie nur aus Legenden kannte. Zottelige Bestien mit scharfen Klauen und riesigen Zähnen, denen niemand etwas entgegensetzen konnte. Wesen, die aussahen wie Menschen, aber für solche viel zu schön, ja viel zu perfekt waren. Doch in ihrem Inneren lauerte eine nicht minder gefährliche Bestie. Getrieben von einem unersättlichen Hunger, der nur mit Blut gestillt werden konnte. Aber niemals gänzlich verschwinden würde. Männer und Frauen, die eine seltsame Sprache benutzen und unter deren Händen sich die Magie formen ließ, zu Dingen, für die niemand einen Namen hatte. Und das war noch nicht alles. Plötzlich sah sich die Menschheit damit konfrontiert, dass all die Geschichten, die in Büchern oder früher am Lagerfeuer erzählt wurden, wahr waren. Alle Legenden waren wahr. Es gab diese Kreaturen plötzlich wirklich, die vorher nur in Gruselgeschichten existiert hatten.

Die nächsten Wochen waren das reinste Chaos. Tausende starben, flohen oder wurden verrückt. Das Antlitz der Welt hatte sich verändert und niemand wusste, wie man damit umgehen sollte. Aber der Mensch hätte nicht so lange überlebt, wenn er kein Überlebenskünstler wäre. Und so, nachdem sich der erste Schock gelegt hatte, erhob sich die Menschheit wieder.

Zum Ende des Jahres 2024 bestand die Bevölkerung der Erde nicht mehr nur aus Menschen. Es gab Vampire, Gestaltwandler, Magier, Feen … Um es einfacher auszudrücken: Die Menschen lebten nun Seite an Seite mit magischen Kreaturen.

Die Weltordnung hatte sich geändert.

Es wurden Räte und Organisationen gegründet. Es gab Gruppierungen, die die anderen Wesen vom Antlitz dieser Welt tilgen wollten. Doch schon bald mussten sie einsehen, dass dies nicht funktionieren konnte. Es wurde eine neue Ordnung der Dinge geschaffen. Die anderen Wesen bekamen Rechte, Gesetze änderten sich, und sie wurden ein Teil der Gesellschaft. Eine ganze Weile später stellte sich heraus, dass es überall auf der Welt geschehen war. An manchen Orten stärker als an anderen. Aber dennoch, die Menschen waren nun nicht mehr die Einzigen, die diesen Planeten bevölkerten.

Und heute, fast zehn Jahre später, leben die Menschen neben Gestaltwandlern und Vampiren und anderen magischen Wesen. Manche führen Ehen mit einem magischen Wesen, andere haben Freunde, denen regelmäßig Fell und Klauen wachsen.

Wir haben uns angepasst. Wir haben überlebt.

Ich habe ja gesagt, wir sind Überlebenskünstler.

Aus dem Tagebuch eines Beobachters

1

Hailey starrte an ihre Zimmerdecke. Der Ventilator drehte müde seine Kreise, aber irgendwie schaffte er es dennoch nicht, die gewünschte Kühlung zu bringen. Wen wunderte es? Es war mitten im Frühling, und der Sommer war nicht mehr weit entfernt. Und in Louisiana war der Sommer milde gesagt schwül. An manchen Tagen fühlte es sich an, als könnte man die Luft mit einem Messer zerschneiden, wenn man sich nur genug Mühe gab.

Aufseufzend warf sie das dünne Laken von sich, das ihr in diesen Tagen als Decke diente, und stampfte ins Badezimmer. Der Wecker auf ihrem Nachttisch zeigt 3.46 Uhr in der Früh. Draußen regte sich nichts außer ein paar Vögeln und dem Zirpen der Grillen. Ein Albtraum hatte Hailey aus dem Schlaf gerissen, und die jahrelange Erfahrung sagte ihr, dass sie Schlaf jetzt vergessen konnte. Also war die wahrscheinlich beste Entscheidung, eine Dusche zu nehmen, eine kalte wohlgemerkt, und sich auf den Tag vorzubereiten.

Als das kalte Wasser ihren verschwitzten Körper traf, erschauerte sie erst, um dann einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen. Es waren halt immer noch die simplen Dinge im Leben, die einen glücklich machen konnten. Nachdem sie fertig geduscht war und sich in eine alte Jeansshorts und ein übergroßes T-Shirt gekleidet hatte, machte Hailey sich auf den Weg in die Küche. Diese unchristliche Zeit schrie geradezu nach einer warmen Tasse Tee. Ja, sie wusste, dass die meisten Menschen, die sie kannte, sich wohl eher Kaffee einflößen würden, und das am besten intravenös, doch Kaffee war nie ihr Ding gewesen. Während das Wasser zu kochen anfing, setze Hailey sich an die Theke in ihrer Küche, die diese vom Wohnzimmer trennte, und starrte aus dem gegenüberliegenden Fenster. Ihre Schicht begann erst in etwa vier Stunden. Was sollte sie bis dahin tun?

Mehr aus Gewohnheit als aus wirklicher Lust griff sie nach der Akte, die auf der Theke vor ihr lag und klappte sie auf. Ihr aktueller Fall. Ein Mädchen, vierzehn Jahre, Opfer eines gewalttätigen Vampirangriffs, Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung. Das arme Ding hatte seit über einem Monat nichts mehr gesagt, bevor sie zu Hailey gekommen war. Niemand durfte sie anfassen. Ihre Wunden konnten damals nur versorgt werden, weil ein Sanitäter es geschafft hatte, ihr ein Narkotikum zu spritzen. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie sofort angefangen zu schreien, wenn jemand sie anfasste. Bis gestern wusste niemand, wie sie hieß, da sie kein Wort sprach. Es war so gut wie nichts über sie bekannt, und es schien auch niemand nach ihr zu suchen. Ja, die schwierigen Fälle landeten immer bei Hailey.

Sie arbeitete für eine Organisation, die sich The Last Hope, die letzte Hoffnung, kurz TLH, nannte. Für diese Organisation waren die verschiedensten Menschen tätig. Männer und Frauen unterschiedlichsten Alters, Kämpfer, Ärzte, Psychologen und viele andere. Hailey war offiziell eine Beraterin. Inoffiziell bedeutete das, dass sie aufgrund ihrer Fähigkeiten einen speziellen Draht zu Menschen aufbauen konnte, und das innerhalb weniger Momente. Damit war ihr Aufgabenspektrum riesig. Sie beriet einzelne Parteien in magischen Angelegenheiten, von Menschen bis zu Vampiren, verhandelte zwischen Organisationen, Gruppierungen oder verschiedenen Spezies, sie vermittelte auch zwischen einzelnen Parteien, zum Beispiel zwischen einem angepissten Werwolf und einer selbstgefälligen Fee, und manchmal, was gar nicht so selten vorkam, wie man annehmen sollte, versuchte sie die geschädigte Psyche eines Menschen zu reparieren, wie in ihrem aktuellen Fall.

Hailey war eine Empathin.

Es gab nur sehr wenige von ihnen, und vor der Wende hatte sie nicht einmal gewusst, was so komisch, so falsch an ihr gewesen war. Und danach ging alles ganz schnell. Die Menschen merkten ziemlich fix, dass es auch unter ihnen eine gewisse Andersartigkeit gab. Nicht unbedingt gleich magische Kreaturen, aber doch Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Akademien wurden aus dem Nichts errichtet, und Menschen wie Hailey bekamen dort eine Ausbildung. Sie war damals noch sehr jung gewesen, dreizehn Jahre alt, und ihre Kräfte waren noch formbar und konnten geschult werden. Andere hatten nicht so viel Glück gehabt. Die Zeit der Wende brachte viele Opfer mit sich.

Aber Hailey hatte Glück, und sie gelangte auf eine der besagten Akademien. Ihre Eltern waren schon lange tot, und ihre Pflegefamilie war froh, das komische Mädchen loszuwerden, das grundlos zu weinen anfing und im Allgemeinen einen sehr labilen emotionalen Zustand hatte. Fünf Jahre später machte sie ihren Abschluss mit Auszeichnung und begann danach direkt für TLH zu arbeiten. Es war ein guter Job, der sie erfüllte und ihr die Möglichkeit gab, ihre Fähigkeiten für etwas Gutes einzusetzen. Dennoch sehnte sie sich manchmal nach mehr. Aber sie konnte nie genau sagen, worin dieses »mehr« eigentlich bestehen sollte. Es fühlte sich einfach so an, als würde ihr etwas fehlen. Sie hasste dieses Gefühl.

Das Pfeifen des Teekessels holte sie wieder in die Gegenwart zurück. Hailey erhob sich von dem Hocker und machte sich an die Zubereitung ihres Tees, während sie über ihren aktuellen Fall nachgrübelte. Vampire machten sie immer nervös. Sie wusste nicht, woran es lag, aber etwas an ihnen weckte in Hailey den Wunsch, die Fähigkeiten, die sie während ihrer Grundausbildung bei TLH erlernt hatte, anzuwenden. Jeder, der bei TLH anfing, von der einfachen Sekretärin bis zum Krieger, durchlief eine Grundausbildung, bestehend aus mentalem Training, Basiswissen in den verschiedensten Kampfkünsten sowie in Selbstverteidigung und Deeskalation (worüber sich die Kämpfer in der Regel nur amüsierten, da ihre Deeskalation meist in einem blutigen Gemetzel endete). Dazu kamen weitere psychische und physische Trainingseinheiten.

Die Gestaltwandler hatten eine strenge Ordnung und blieben meist in den Reihen ihres Rudels, die Magier stellten in den seltensten Fällen eine Bedrohung dar, genauso wie die Hexen und die meisten anderen magischen Kreaturen waren sie entweder Einzelgänger, oder es gab so wenige von ihnen, dass sie einfach keine Bedrohung darstellen konnten. Nicht, dass es hier zu Missverständnissen kommt: Alle magischen Wesen waren gefährlich und konnten großen Schaden anrichten, ohne gleich in einer großen Anzahl aufzutreten, dennoch entschieden sich die meisten für ein friedliches Miteinander.

Aber Vampire … Es jagte ihr jedes Mal einen Schauer über den Rücken, wenn sie auf die eiskalte Wand von deren Gefühlen traf. Jeder sandte auf einer unterschwelligen Frequenz Emotionen aus. Immer. Das war wie ein Gesetz. Nur Vampire nicht. Bei den meisten fühlte es sich an, als hätten sie gar keine, obwohl Hailey wusste, dass das nicht stimmen konnte. Jedes Wesen hatte Gefühle. Es ging gar nicht anders.

Mit der Tasse in den Händen lief Hailey wieder zu ihrer Theke und starrte in ihre Mappe. Große, vor Angst dunkle Augen sahen sie an. Aus einem kleinen Gesicht, das eigentlich von der Unschuld eines Kindes geprägt sein sollte, war es aber nicht. Das blonde Haar fiel ihr in leichten Wellen um den Kopf und endete knapp über ihrem Schlüsselbein. Auf der linken Seite ihres Halses befand sich eine widerliche Narbe. Mehrere dicke, gezackte Linien zogen sich über die gesamte Seite und entstellten die ansonsten makellose Haut. Sie waren ein paar Nuancen heller als das restliche Gewebe und schimmerten leicht rosa. Die Narbe würde nie völlig verschwinden. Es sah nicht immer so aus, wenn ein Vampir jemanden biss. Nein, in der Regel blieb nicht der kleinste Beweis ihrer Nahrungsaufnahme zurück. Nur wenn ein Vampir verrücktspielte und wie eine tollwütige Bestie einen Menschen angriff, wie im Fall des kleinen Mädchens, dann blieben am Ende solche Narben zurück. Falls das Opfer überlebte.

Seit gestern wussten sie, wie das Mädchen hieß: Nina. Hailey hatte es in einer fünfstündigen Sitzung geschafft, ihr ihren Namen zu entlocken. Aber das war auch schon alles gewesen. Heute würde sie wieder mit Nina sprechen. Das Ziel war es, die emotionalen und psychischen Wunden dieses Kindes so weit zu heilen, dass sie in staatliche Obhut übergeben werden konnte. Mehr konnte Hailey nicht für sie tun.

Sie stand auf und spülte ihre Tasse aus, bevor sie sie zum Abtropfen liegen ließ. Es war jetzt beinahe fünf Uhr morgens, und Hailey entschied, dass es Zeit war, zur Arbeit zu fahren. Seit der Wende hatte sich das Gesicht der Welt verändert. Wie sich bald herausgestellt hatte, waren Gestaltwandler und Co. etwas weiter entwickelt, als die Menschen. Inzwischen gab es Automotoren, die keine schädlichen Abgase mehr produzierten, die Medizin hatte einen großen Sprung gemacht, und Hailey wollte gar nicht wissen, was in geheimen Labors noch so alles entwickelt wurde.

Sie schnappte sich die Mappe vom Tresen und verstaute sie in ihrer Tasche, bevor sie sich ihre Schlüssel griff und das Haus verließ. Es war nicht nötig, sich etwas Formelleres anzuziehen. Und außerdem war es selbst um diese Uhrzeit definitiv zu warm für ein Kostüm oder etwas in der Art.

Sie lebte etwa dreißig Minuten Autofahrt entfernt von New Orleans. Hier war es etwas ruhiger und weniger dicht bevölkert, während das geschäftige Treiben von New Orleans sie wahrscheinlich irgendwann in den Wahnsinn treiben würde. Es gab dort einfach zu viele Emotionen, zu viele, um sie alle verkraften zu können. Zwar hatte Hailey mentale Barrieren und Schilde, die sie schützten, aber man konnte schließlich nicht sein gesamtes Leben immer in Habtachtstellung verbleiben. Von Zeit zu Zeit musste man auch mal loslassen.

Und das ging in einer Stadt wie New Orleans nicht. Jeder ließ ein gewisses Maß an Emotionen in seine Umwelt entweichen. Eigentlich war es ganz einfach. Jedes Wesen hatte eine Art Tür, hinter der sich die Emotionen verbargen, und in den meisten Fällen war diese Tür halb offen oder zumindest einen Spaltbreit offen. In den seltensten Fällen verschließen wir diese Tür vollständig. Wir wollen uns mitteilen und verstanden werden. Das ist ein Grundbedürfnis der meisten Menschen und auch anderer Wesen. Und da Haileys Sinne darauf programmiert waren, die kleinste Nuance der Gefühlswelt ihrer Umgebung wahrzunehmen, würde das stetige Eindringen in ihre Sinne sie irgendwann verrückt werden lassen.

Selbst für eine Empathin waren Haileys Sinne ausgesprochen fein. Das war auch der Grund, warum Haileys Tür aus massivem Stahl war, umgeben von einer nie enden wollenden Mauer. Außerdem hingen Ketten an der Tür, so dick wie ihre Oberarme und mit mehr Vorhängeschlössern, als sie zählen konnte. Ja, man konnte sagen, dass sie es sehr genau nahm mit der Sicherheit ihrer Gefühlswelt.

Knapp vierzig Minuten später betrat Hailey ihr Büro bei The Last Hope. Trotz der frühen Stunde herrschte bereits geschäftiges Treiben. Hier war in der Regel immer was los. Das lag einfach daran, dass es in einer Welt, in der Menschen und magische Wesen koexistieren mussten, immer etwas zu tun gab für eine Organisation wie ihre. Sie kümmerten sich um alles, was zwischen den verschiedenen Gattungen passierte. Manchmal gegen Bezahlung und manchmal, wenn ihre Klienten nicht genug Geld hatten, eben ohne. Sie hatten genug private wie auch staatliche Unterstützer, sodass sie nicht auf das Geld eines jeden Klienten angewiesen waren. Die schlichte Wahrheit war, dass sich sonst auch niemand um Streitigkeiten oder Angriffe oder was auch immer zwischen den Arten vorfiel, kümmern wollte.

Gerade als Hailey ihren Hintern auf ihren Stuhl verfrachtet hatte, eine weitere Tasse Tee in den Händen, drang die Stimme der Empfangsdame in ihren Kopf. Naomi Andrews war eine mittelgroße, etwas mollige Frau mit honigfarbener Haut und zwei unterschiedlichen Augenfarben. Das eine blau, das andere grün. Ihre Haare hatten einen schokoladenfarbenen Ton und waren in einen absolut vollkommenen Bob frisiert, der ihr hervorragend stand und ihre fein geschnittenen Gesichtszüge perfekt einrahmte. Bei direkter Sonneneinstrahlung zeigten sich goldene Strähnen in ihren Haaren. Gelinde gesagt war sie schön. Außerdem war sie eine mehr als fähige Telepathin.

»Hailey, es ist gut, dass du da bist. Hier gibt es eine Angelegenheit, um die du dich kümmern musst.« Naomis Stimme klang leicht angespannt, was niemals ein gutes Zeichen war. Diese Frau konnte so gut wie nichts aus der Ruhe bringen. Sie war Anfang vierzig und die gute Seele von TLH. Sie organisierte alles und kannte jeden Mitarbeiter persönlich. Selbst die hartgesottensten Kämpfer kuschten vor ihr. Eigentlich war sie nur Jack direkt unterstellt, dem Gründer und Chef von The Last Hope, aber sie kümmerte sich um sie alle wie eine Glucke. Obwohl manche der Mitarbeiter deutlich älter waren als sie. Aber das schien sie nicht zu kümmern.

»Bin schon unterwegs«, murmelte Hailey und machte sich auf den Weg zu Naomis Schreibtisch. Er befand sich am Anfang des zweiten Stocks, den Aufzügen direkt gegenüber und auf der gleichen Etage wie die Büros der Mitarbeiter, die eher innerhalb des Gebäudes arbeiteten. Berater wie Hailey, die Psychologen, die Vermittler und so weiter. In der dritten Etage befand sich nur das Büro von Jack Hunt, des Leiters von TLH, und einzig Naomi hatte direkten Zugang zu diesem Bereich. Im Erdgeschoss war der Empfangsbereich, wo sich ihre Klienten aufhielten, deren Anliegen zwei Sekretärinnen aufnahmen, bevor sie in die höheren Etagen geschickt wurden. Im ersten Stock lagen die Büros und Schlafstätten der Kämpfer. Viele kamen oft blutüberströmt und schwer verletzt zurück zu TLH, weil sie es nicht mehr bis nach Hause schafften, und blieben dann über Nacht. Das war auch der Grund, warum sich die Ärzte ebenfalls im ersten Stock befanden. Die Wahrheit war, dass weder die Ärzte noch die Kämpfer wirklich ein Leben außerhalb der Organisation hatten.

Aber wie kam sie dazu, darüber zu urteilen? Ihr Leben bestand praktisch auch nur aus ihrer Arbeit. Selbst ihre beste Freundin war eine Mitarbeiterin von TLH. Kristina war Ärztin und eine verdammt gute noch dazu.

Als sie Naomis Schreibtisch erreichte, wirkte diese leicht nervös.

Oh, oh, kein gutes Zeichen!

Was auch immer Naomi nervös machte, bedeutete definitiv Schwierigkeiten. Große Schwierigkeiten. Hailey blieb vor dem Schreibtisch stehen und hob eine Augenbraue.

»Also, was gibt’s?«

Naomi richtete ihr graues Kostüm und musste sich räuspern, bevor sie antwortete. Für Hailey war es ein Wunder, wie sie um diese Uhrzeit und bei diesen Temperaturen so perfekt gestylt hier sitzen konnte. Nicht ein Haar saß am falschen Platz, und ihr Kostüm war frei von jeglichen Falten oder Schweißflecken.

»Du musst die Vermittlerin spielen. Niemand anders ist gerade frei, und das hier muss sofort bearbeitet werden.« Sie blickte auf ihren Schreibtisch, und kurz danach schob sie Hailey eine Akte zu.

»Sie enthält die Darstellungen der beiden Parteien. Und einen kurzen Bericht der Polizei, aber die wollen sich da nicht einmischen, also müssen wir uns darum kümmern.« Hailey klappte die Mappe auf und erstarrte, als ihr der erste Name ins Auge sprang.

Rave Jones.

Bitte lass den anderen Namen nicht Kyriakos sein, bitte, bitte, bitte …

Kyriakos.

Kein Nachname. Aber den benötigte sie auch nicht. Jeder in dieser verdammten Stadt – ach was, jeder auf diesem verdammten Kontinent – wusste, wer Kyriakos war! Er war der Anführer des größten Vampirclans in Amerika. Niemand wusste genau, wie viele Vampire ihm unterstanden, und niemand besaß genug Informationen über den Clan, um eine Schätzung machen zu können. Und die Vampire unterstanden ihm bestimmt nicht, weil er so diplomatisch war.

Hailey hatte das starke Bedürfnis, den Kopf ein paarmal auf den Tisch zu knallen. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Sie schaute Naomi an.

»Verarschst du mich?«

»Ich fürchte, nein.« Naomi sah genauso aus, wie Hailey sich fühlte. Geschockt und ungläubig. Rave Jones war der Anführer des hiesigen Rudels der Wölfe. Eine Streitigkeit zwischen den Vampiren und den Wölfen. Super! Einfach perfekt!

In vielen Großstädten gab es ein Rudel Gestaltwandler. In New Orleans zum Beispiel war es ein Rudel Wölfe, in New York war es ein Rudel Leoparden, und in Atlanta gab es ein gemischtes Katzenrudel. Es waren meistens Raubtiere, die herrschten. Aber es gab auch andere Rudel Gestaltwandler, wie zum Beispiel die Wervögel oder die Werbären, die zwar Raubtiere waren, aber zu selten vorkamen, um die erforderliche Größe eines herrschenden Rudels zu haben.

»Ist denn niemand anders da, der sich darum kümmern kann? Daniel? Sara? Leo? Irgendjemand?« Alle weitaus bessere Vermittler als sie, und sie klang auch nur ein kleines bisschen verzweifelt.

Hailey wollte sich wirklich nicht darum kümmern. Zum einen gab es weitaus qualifiziertere Vermittler als sie, und zum anderen wollte sie sich einfach nicht darum kümmern. Sie arbeitete doch nur manchmal als Vermittler aufgrund ihrer empathischen Fähigkeiten. Rave Jones war nicht das Problem. Das Problem war Kyriakos. Etwas an ihm ließ sie innerlich aufschreien. Er brachte ihre mühsam erarbeitete Kontrolle zum Wanken, ihre Gefühle liefen Amok, und zugleich hatte sie höllische Angst vor diesem Kerl. Sie hatte ihn ein-, vielleicht zweimal gesehen und noch nie ein Wort mit ihm gewechselt, und trotzdem verfolgte er sie bis in ihre Träume. Nicht gut.

»Nein.« Naomi schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Kannst du mir mal verraten, wie mir meine empathischen Fähigkeiten helfen sollen bei einem Vampir?« Okay, ja, jetzt wurde ihre Stimme schon etwas hysterischer. Naomi musterte sie verwundert. Sie war nicht gerade dafür bekannt, emotionale Ausbrüche zu haben.

»Ich weiß, meine Liebe. Aber ich kann die beiden schlecht warten lassen. Und du bist die Einzige, die sich darum kümmern kann.«

Innerlich kapitulierte Hailey, und Naomi schien das zu merken.

»Sie sind in Konferenzraum eins.« Sie wünschte ihr noch viel Glück, bevor sich Hailey umdrehte und sich auf den Weg machte. Konferenzraum eins war der größte, den sie hatten. Vermutlich eine gute Idee.

Die Hand auf der Klinke atmete sie noch einmal tief durch und verschloss ihre Gefühle hinter der Stahltür in ihrem Kopf. Dann betrat sie den Raum.

2

»Hailey!« Rave Jones’ samtig weiche Stimme begrüßte sie. Er war ein schwarzer Wolf und in seiner Tiergestalt beinahe doppelt so groß wie sein tierisches Pendant. Eins fünfundachtzig groß und mit samtig schwarzen Haaren, die manchmal kurz geschoren waren oder wie heute lang genug, um seine Ohren halb zu bedecken, und so aussahen, als wäre er gerade aus dem Bett aufgestanden. Mit Augen, die wie flüssige Schokolade glänzten, und sonnengebräunter Haut, die in einem den Wunsch weckte, ihn zu streicheln, war er das Inbild animalischer Kraft. Aber jetzt lagen dunkle Schatten in diesen sonst so funkelnden Augen. Er hatte die schlanken Muskeln eines Kämpfers, die einem verrieten, dass er in einem Fight tödlich und schnell war. Und immer tanzte der Wolf in seinen Augen. Sein Tier war nahe an der Oberfläche. Er trug eine ausgeblichene Jeans und ein blaues Shirt, das seine Muskeln wunderbar zur Geltung brachte. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und grinste sie an. Sein Gesicht war kantig und männlich und dennoch so fein geschnitten, dass Frauen leise seufzten, wenn er an ihnen vorbeiging.

»Mister Jones.« Sie nickte in seine Richtung mit einem warmen Lächeln. Von ihm gingen Ärger und Unmut, aber auch Freude aufgrund ihres Kommens aus. Doch unterschwellig brodelte tief sitzender und kaum kontrollierter Zorn. Die Gefühle eines Gestaltwandlers waren immer rein und echt. Nichts verfälschte sie. Das hatte sie für Hailey schon immer sympathisch gemacht, und meistens fühlte sie sich unter ihnen ziemlich wohl, trotz der immensen Wucht an Gefühlen die Gestaltwandler nur selten kontrollierten.

Auf der anderen Seite des Raumes war es beunruhigend ruhig, und Hailey wollte sich dem Vampirführer nicht zuwenden. Sie wusste, dass er sich erhoben hatte bei ihrem Eintreten, sie hatte die Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen. Aber es half nichts. Das hier war ihre Aufgabe, ihr Job. Sie war eine Vermittlerin. Unparteiisch, neutral.

Sie atmete tief durch und wandte sich dann um, um Kyriakos anzublicken. Dunkelheit war das Erste, was einem in den Sinn kam. Nachtschwarze Haare, die ihm ohne den Ansatz einer Welle bis auf die Schultern fielen, nachtschwarze Augen mit einem roten Ring um die Pupille. Die einzige Möglichkeit, die Pupille überhaupt zu erkennen. Bis jetzt war er der einzige Vampir mit solchen Augen, den sie je gesehen hatte. Er war mindestens eins neunzig groß und bestand nur aus Muskeln. Muskeln entstanden und geformt durch ständige Kämpfe. Er war massiger als Rave, ohne wie ein Bodybuilder zu wirken. Und anzunehmen, dass er nicht schnell war, konnte womöglich der letzte Fehler sein, den man machte. Seine Haut war gekennzeichnet von der Makellosigkeit der Vampire und war gerade genug gebräunt, um nicht kränklich zu wirken. Was an sich schon ein Mysterium war. Wie konnte ein Vampir Sonnenbräune aufweisen, auch wenn es nur ein winziger Hauch von Sonnenbräune war?

Er trug eine schwarze Lederhose, ein schwarzes T-Shirt, das sich über seinem Brustkorb spannte, und – trotz der schon warmen Temperaturen – eine schwarze Lederjacke. Seine Arme hingen locker an den Seiten und versuchten eine entspannte Haltung zu imitieren, trotzdem konnte sie sehen, dass jeder Muskel angespannt war. Plötzlich hatte Hailey das Gefühl, dass ihr selbst alle Kämpfer von TLH nicht helfen konnten, sollte dieser Vampir sich dazu entscheiden durchzudrehen. Sie fühlte sich winzig und schwach im Angesicht solcher Macht. Seine Gesichtszüge konnte man nicht anders als aristokratisch beschreiben. Ausgeprägte Kinnlinie, eine gerade Nase, ausgeprägte Wangenknochen. Es war das Gesicht eines Mannes, der schon immer über anderen gestanden hatte, schon immer einer ganz anderen Welt angehört hatte. Und seine Augen … Hailey glaubte darin versinken zu können. Und die Sonnenstrahlen, die durch die vielen Fenster im Konferenzraum, schienen, störten ihn nicht im Geringsten. Er stand einfach da, ein Vampir, während Sonnenlicht seine Haut streichelte. Äußerst beunruhigend.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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