Kings of the Underworld - Maxim - Vanessa Sangue - E-Book
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Kings of the Underworld - Maxim E-Book

Vanessa Sangue

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Beschreibung

Er ist gnadenlos. Er ist blutrünstig. Und der heißeste Mann, den ich je gesehen habe

Anya Grace Krylows Leben gleicht einem goldenen Käfig. Als Tochter des mächtigsten Mafiabosses von New York ist sie behütet aufgewachsen und musste sich bisher um nichts in ihrem Leben selbst kümmern. Doch an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag setzt Anya ihrem Vater die Pistole auf die Brust: Sie will studieren und das auf keinen Fall in New York! Zähneknirschend stimmt ihr Vater einem Studium an der University of Baltimore zu - ausgerechnet dem Hoheitsgebiet von Maxim "The King" Gromow. Der beste Freund ihres Bruders beschert Anya seit Jahren schlaflose Nächte. Jeden Tag in seiner Nähe zu sein, ist das Letzte, was sie sich für ihre Zukunft ausgemalt hat. Oder etwa doch nicht?

Band 1 der KINGS OF THE UNDERWORLD-Reihe von Bestseller-Autorin Vanessa Sangue

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Seitenzahl: 441

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Playlist

Prolog

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Die Autorin

Die Romane von Vanessa Sangue bei LYX.digital

Impressum

VANESSA SANGUE

Kings of the Underworld

MAXIM

Zu diesem Buch

Anya Grace Krylows Leben gleicht einem goldenen Käfig. Als Tochter des mächtigsten Mafiabosses von New York ist sie behütet aufgewachsen und musste sich bisher um nichts in ihrem Leben selbst kümmern. Doch an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag setzt Anya ihrem Vater die Pistole auf die Brust: Sie will studieren und das auf keinen Fall in New York! Zähneknirschend stimmt ihr Vater einem Studium an der University of Baltimore zu – ausgerechnet dem Hoheitsgebiet von Maxim »The King« Gromow. Der beste Freund ihres Bruders beschert Anya seit Jahren schlaflose Nächte. Jeden Tag in seiner Nähe zu sein, ist das Letzte, was sie sich für ihre Zukunft ausgemalt hat. Oder etwa doch nicht?

Playlist

I’m Gonna Do My Thing – Royal Deluxe

A Little Wicked – Valerie Broussard

Trouble Finds You – Juliet Simms

Devil’s Playground – The Rigs

Big Bad Wolf – Roses & Revolutions

Obsession – Beds and Beats

Guys My Age – Hey Violet

Protector – City Wolf

Prolog

Anya

Mit einem dumpfen Geräusch landete der Umzugskarton auf dem Fußboden. Ich richtete mich mit einem tiefen Seufzer auf und stützte mir mit einer Hand den unteren Rücken.

»Das war schwerer als erwartet«, murmelte ich zu mir selbst in den leeren Raum hinein.

Ein leises Ping kündigte das Eintreffen des Aufzugs und damit auch das Erscheinen meines Bruders an. Anfangs hatte ich heftig dagegen protestiert, musste mich aber schließlich gegen die geballte Front, die aus meinem Vater und Bruder bestand, geschlagen geben. Anstatt also wie die meisten anderen Studierenden auf dem Campus der Uni zu leben, bewohnte ich das Penthouse in einem Gebäude ganz in der Nähe, nur ein paar Haltestellen mit der Metro entfernt.

Ich drehte mich genau in dem Moment um, in dem sich die Aufzugtüren öffneten. Drei aufeinandergestapelte Kartons, die von den muskulösen Armen meines Bruders getragen wurden, kamen in mein Blickfeld.

Ich pustete mir eine aschrosa Haarsträhne aus dem Gesicht und verschränkte die Arme vor der Brust. »Angeber.«

Nikolai stellte die Umzugskartons auf den Boden neben den einzelnen, den ich gerade noch getragen hatte, und grinste mich an.

»Was soll ich sagen? Wer kann, der kann!«

Ich streckte ihm die Zunge raus und musste schon im nächsten Moment mit einem flinken Manöver seinem Griff ausweichen, der mich in den Schwitzkasten ziehen wollte.

»Nicht schnell genug«, rief ich ihm noch hinterher, als ich in die Küche flüchtete.

»Ich kriege dich noch!«, kam es zurück, bevor das Geräusch des Aufzugs mir mitteilte, dass er erneut verschwunden war.

Ich sah aus den großen Fenstern, die mir – genauso wie die Fensterfront im Wohnbereich – einen direkten Blick auf den inneren Hafen von Baltimore gewährten. Das Sonnenlicht spiegelte sich in der glänzenden Wasseroberfläche.

Baltimore.

Mein neues Zuhause.

Ich konnte es selbst noch nicht richtig glauben, dass ich es tatsächlich geschafft hatte, meinen Vater davon zu überzeugen, mich aus seinem direkten Machtbereich zu entlassen. Natürlich hatte es Bedingungen gegeben, auf die ich lieber verzichtet hätte, aber einen Tod musste man sterben. Ich hatte New York City verlassen dürfen, doch er hatte die Stadt ausgewählt, in die ich ziehen durfte. Wenigstens hatte er hierbei tatsächlich Rücksicht auf meinen Studienwunsch genommen und mich in eine Stadt geschickt, die eine der führenden Jura-Lehrstätten des Landes beherbergte. Obendrein hatte ich meinen Bruder Nikolai mitnehmen müssen. Damit war ich natürlich noch lange nicht frei, aber ich versprach mir trotzdem davon, etwas mehr Unabhängigkeit in meinem Leben zu haben.

Ich klappte einen Karton auf und enthüllte das zarte Porzellangeschirr, das ich von meiner Mutter geerbt hatte. Die verschiedenen Teller, Tassen und Schüssel mit dem eleganten Rosenmuster fanden ihren neuen Platz in den Schränken, während ich darüber nachdachte, was mich demnächst erwarten würde.

Nach zweiundzwanzig Jahren war ich zum ersten Mal auf mich allein gestellt. Oder zumindest sehr nah dran. Ja, mein Bruder wohnte in der Wohnung direkt unter mir und würde vermutlich jeden meiner Schritte überwachen wollen, aber ich hatte meinen Vater davon überzeugen können, dass er nicht auch noch mindestens zwei Leibwächter mit mir nach Baltimore schickte. Hier in Baltimore war ich nicht länger Anya Grace Krylow, Tochter von Anatoli »The Redeemer« Krylow und kleine Schwester von Nikolai »The Silencer« Krylow. Das verletzliche Küken in einer sonst Furcht einflößenden Bratwa-Familie.

Hier war ich einfach nur Anya, frisch gebackene Jurastudentin an der University of Baltimore.

Ich hatte hart gegen meinen Vater kämpfen müssen, um mir dieses neue Leben zu ermöglichen. Aber ich machte ihm nicht unbedingt einen Vorwurf deswegen. Er wollte nur, dass es mir gut ging und dass ich in Sicherheit war. Allerdings hatte er nach wochenlangen Diskussionen einsehen müssen, dass sein übertrieben stark ausgeprägter Beschützerinstinkt mich schlussendlich nur unglücklich machte. Und das war auch mein überzeugendstes Argument gewesen.

Mit einem Lächeln betrachtete ich den ersten fertig eingeräumten Küchenschrank.

Ja, das hier würde gut werden. Ich konnte es spüren. Und dass ich jetzt in Maxims Hoheitsgebiet lebte, würde mit Sicherheit keinerlei Probleme bereiten.

Oder?

1

Anya

Mein Einzug war inzwischen ein paar Tage her. Mit der Hilfe meines Bruders hatte ich bereits die meisten der Umzugskartons ausgepackt. Es waren sowieso nicht mehr sonderlich viele gewesen, da mein Vater es sich nicht hatte nehmen lassen, ein paar seiner Jungs damit zu beauftragen, meine Habseligkeiten von New York City nach Baltimore zu transportieren. Im Prinzip hatte ich also nur Kartons packen und wieder ausräumen müssen. Außerdem hatte Nikolai mir erzählt, dass Maxim sich um das Penthouse gekümmert hatte, in dem ich jetzt lebte. Anscheinend gehörte ihm das gesamte Wohngebäude.

Ich war immer noch unschlüssig, was ich davon halten sollte. Begeistert war ich jedenfalls nicht, aber ich wusste auch, wann es Sinn hatte zu diskutieren und wann nicht. Und in diesem Fall hätte sich mein Vater niemals umstimmen lassen. Er vertraute Maxim genauso sehr wie Nikolai und mir.

Allein die Erwähnung von Maxims Namen löste bei mir immer noch eine leichte Gänsehaut aus, die meine Wirbelsäule nach oben kroch.

Es war eine geradezu lächerlich klischeehafte Geschichte. Die kleine Schwester verliebte sich in den besten Freund ihres großen Bruders. Und wie so häufig hatte es kein gutes Ende genommen.

Nach dem Tod seiner Eltern hatte meine Familie Maxim bei sich aufgenommen. Mein Bruder und er waren von Beginn an unzertrennlich gewesen. Man hatte die beiden nur zusammen angetroffen, egal wann oder wo. Und so hatte es sich ganz natürlich ergeben, dass Maxim sehr oft in meiner Nähe gewesen war. Irgendwann hatte sich meine Einstellung dann von »Jungs sind doof« zu »Maxim ist irgendwie süß« geändert. Von da an hatte das Elend seinen Lauf genommen. Denn für Maxim war ich nie etwas anderes gewesen als die kleine Schwester seines besten Freundes. Ich hatte mich ein paar Jahre mit den Vorstellungen einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Liebe und romantischem Happy End gequält, bis Maxim schließlich New York City verlassen hatte. Mehr als einen kühlen Abschied hatte es damals nicht gegeben, und ich hatte das zum Anlass genommen, meine unerfüllten Träume zu begraben. Endgültig und ohne Möglichkeit zur Wiederbelebung.

Aber jetzt hatte ich mir meine Freiheit mit dem Preis erkauft, dass ich wieder in Maxims Nähe war. Was sollte da schon schief gehen?

Gar nichts!, erklärte ich mir bestimmt. Denn ich war nun bald eine Woche in Baltimore und hatte Maxim noch nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Das sagte ja wohl alles, oder? Es interessierte ihn nicht einmal, dass ich hier war. Davon abgesehen, war ich längst nicht mehr in ihn verliebt. Er stellte nur noch ein winzig kleinen Teil meiner Vergangenheit dar. Ich war über Maxim hinweg, und er würde mich nie wieder aus der Bahn werfen. Außerdem wollte ich ihn auch gar nicht sehen.

Ich schnaubte und setzte mich anders hin, den Laptop noch immer auf meinen Oberschenkeln balancierend. Es sah mir ähnlich, dass ich mir schon wieder den Kopf über Maxim zerbrach. Dabei hatte ich doch genau das nicht mehr gewollt.

»Konzentrier dich auf deine eigentliche Aufgabe«, schimpfte ich leise mit mir selbst. Morgen war mein erster Tag an der Uni, und ich hatte mir vorgenommen, mich heute Abend ausgiebig mit dem Stundenplan zu beschäftigen und mir online schon einmal eine Übersicht über das Unigelände zu verschaffen. Das hatte auch ganz gut geklappt, bis meine Gedanken abgeschweift waren. Leider. Aber damit war jetzt Schluss! Jetzt würde ich mich wieder konzentrieren.

Ich hatte mir gerade den Plan von dem Gebäude aufgerufen, in dem morgen meine erste Vorlesung stattfinden würde, als das Geräusch des Aufzugs einen Besucher ankündigte. Wenn das so weiterging, musste ich wirklich mit Nikolai sprechen. Er war der Einzige außer mir, der einen Schlüssel für den Aufzug besaß, mit dem er direkt in meine Wohnung fahren konnte. Doch dass er einfach kam und ging, wann er wollte, musste aufhören. Das hier war jetzt meine Wohnung. Ich spazierte ja auch nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit in seine Bude.

Ich hob den Blick nicht vom Bildschirm, als ich hörte, wie sich die Aufzugtüren öffneten.

»Hey Anya!«

»Hast du schon mal was von vorher anrufen gehört?«, murrte ich.

»Warum? Ich habe doch einen Schlüssel.« Die Stimme meines Bruders hallte durch den Eingangsbereich.

»Aber offensichtlich keinen Sinn für Höflichkeit!«

Nikolai lachte nur, während er näherkam.

»Was machst du da?«, fragte er schließlich hinter mir.

»Mich auf morgen vorbereiten«, antwortete ich, ohne ihn anzusehen.

»Fleißig«, kommentierte er mit leicht sarkastischem Unterton. Nikolai war vieles schon immer einfach zugeflogen. Sein Studium hatte er in Rekordzeit absolviert und mit Bestnoten abgeschlossen. Und dabei hatte er meines Wissens nicht eine Vorlesung besucht, sondern war nur zu den Prüfungen erschienen. Aber ich wollte das Studium auch nutzen, um endlich so etwas wie ein Privatleben zu entwickeln. Andere Leute in meinem Alter kennenlernen und vielleicht sogar den ein oder anderen Freund finden. Auf Dates und Partys gehen – flirten, lachen, Spaß haben.

»Hallo Anya.«

Ich erstarrte zur Salzsäule. Mein Blick verlor sofort seinen Fokus, und der Gebäudeplan verschwamm vor meinen Augen. Ganz langsam hob ich den Kopf und blickte zu den großen Fenstern gegenüber von mir. Dahinter lag Baltimore im Dunkeln. Nur die Lichter der Stadt beleuchteten die Skyline. Allerdings konnte ich mich an diesem Anblick im Moment nicht erfreuen. Denn in der Spiegelung der Scheiben erkannte ich Maxim »The King« Gromow. Er trug ein schwarzes Hemd und Sakko. Die Hände in den Taschen der Anzughose vergraben. Und nach all der Zeit, in der wir uns nicht gesehen hatte, raubte allein sein Spiegelbild mir den Atem. Die dunkelblonden, kurzen Haare. Sieben-Tage-Bart. Stechende, hellgrüne Augen. Und eine Ausstrahlung, mit der er sofort einen gesamten Raum einnehmen konnte. Schließlich trug er seinen Beinamen nicht ohne Grund. Er war der König dieser Stadt. Der König der Unterwelt. Und einst war er der König meiner Gedanken.

Maxim hatte in mir schon immer den Eindruck erweckt, als hätte man versucht, ein Gewitter in einen Körper zu packen. So viel geballte, ungezähmte Energie. Genauso angsteinflößend wie faszinierend. Und dann gab es noch hin und wieder diese Momente, in denen ich den Eindruck hatte, dass Blitze in seinen Augen tanzten.

Ich versuchte, so unauffällig wie möglich tief durchzuatmen, bevor ich antwortete. In der Hoffnung, dass weder mein Bruder noch Maxim meinen rasenden Herzschlag bemerkten.

»Hallo Maxim.«

Aber noch während ich mich bemüht hatte, mich wieder zu sammeln, hatte er den Blick bereits abgewandt. Die nervöse Aufregung in mir zerplatzte wie ein Ballon, in den man ein Messer stieß. Es hatte sich absolut nichts geändert.

»Ich wollte nur kurz bei dir vorbeischauen«, schaltete sich mein Bruder ein, ohne etwas von meinem inneren Aufruhr zu bemerken.

»Unnötig … aber nett.« Letzteres fügte ich schnell hinzu, als ich sah, wie Nikolai die Stirn runzelte. Ich liebte meinen Bruder heiß und innig und konnte ihm selten böse sein. Doch es wäre trotzdem schön, wenn sein Beschützerinstinkt mir gegenüber etwas weniger ausgeprägt wäre. Ich war mir sicher, dass das nicht nur mein Leben deutlich einfacher machen würde, sondern auch seins.

Ich stellte den Laptop neben mir auf das dunkelgraue Sofa und drehte mich zu meinen beiden Besuchern um.

»Danke für die Wohnung, Maxim.« Ich fühlte mich verpflichtet das zu sagen. Schließlich gehörte er irgendwie zur Familie. Außerdem wollte vielleicht ein kleiner Teil von mir sehen, wie er reagierte, wenn ich ihn direkt ansprach.

Er wandte mir wieder den Blick zu. Ein minimales Schulterzucken begleitete seine Antwort:

»Kein Problem.« Danach sah er meinen Bruder an. »Sollen wir los?«

Wow. Ich hatte jetzt wirklich nicht erwartet, dass Maxim mir freudestrahlend um den Hals fallen und mir seine unsterbliche Liebe gestehen würde. Aber dieses völlige Desinteresse traf mich dann doch ein wenig. Ja, ich hatte mich von der Vorstellung einer gemeinsamen Beziehung verabschiedet. Trotzdem waren wir quasi zusammen aufgewachsen, und ich hatte mir eingebildet, dass wir immer gut miteinander zurechtgekommen waren. Die Betonung lag wohl auf eingebildet.

»Was habt ihr denn vor?«

»Maxim will mir ein bisschen die Stadt zeigen.«

»Dann lasst euch nicht aufhalten.«

»Und was hast du noch vor?«

Ich deutete auf den Laptop. »Ich beschäftige mich noch ein bisschen mit der Uni und gehe dann ins Bett.«

»Abendessen?«

Grinsend rollte ich mit den Augen. »Ja, großer Bruder. Ich werde auch noch eine Kleinigkeit essen. Es sind noch ein paar Reste von unserem Mittagessen übrig.«

Nikolai lächelte zufrieden und wuschelte mir einmal kurz durch die Haare.

»Dann sehen wir uns morgen früh.«

Irritiert blickte ich ihn an.

»Was denn? Ich fahre dich natürlich zu deinem ersten Tag an der Uni.«

»Weil?«

»Weil ich dein großer Bruder bin und mir das nicht nehmen lassen werde.«

»Aber du bist heute Abend doch unterwegs?«

Nikolai verschränkte die Arme vor der Brust. »Na und?«

Ich winkte ab. Ich kannte diesen störrischen Blick. Diskussionen waren völlig zwecklos. »Vergiss es. Wir sehen uns morgen früh. Um acht Uhr muss ich da sein.«

»Alles klar, dann bis morgen früh.«

Ich sah ihn noch kurz scharf an. »Aber das wird nicht zur Regelmäßigkeit, dass du mich zur Uni fährst. Nur damit wir uns direkt richtig verstehen!«

Mein Bruder zwinkerte mir zu, hob flüchtig die Hand zum Abschied und ging dann mit Maxim, der überhaupt kein Wort an mich verlor, zum Aufzug. Ich sah ihnen hinterher und versuchte dabei die Tatsache zu ignorieren, dass Maxim einen wirklich äußerst knackigen Hintern hatte. Denn das interessierte mich nicht im Geringsten. Nein, nicht das kleinste Bisschen.

Seufzend wandte ich mich wieder dem Laptop zu.

Warum hatte mein Vater mich ausgerechnet nach Baltimore schicken müssen?

2

Anya

Am nächsten Morgen wachte ich mit einem leicht nervösen Gefühl im Magen auf. Mein erster Tag an der Uni. Der erste Tag in meinem neuen Leben. Und ich freute mich darauf. Schließlich hatte ich auch lange genug dafür gearbeitet, und es hatte mich viele Diskussionen mit meinem Vater gekostet, um an diesen Punkt zu kommen. Und ich hatte mir vorgenommen, jeden einzelnen Moment davon zu genießen.

Das Einzige, was mich jetzt etwas nervös machte, war die Tatsache, dass ich eigentlich losmusste, aber Nikolai noch nicht hier war. Ich hatte schon befürchtet, dass es keine gute Idee war, dass er mich zur Universität fahren wollte, nachdem er am Abend zuvor mit Maxim unterwegs gewesen war. Die beiden hatten es schon früher ordentlich krachen lassen und waren nicht selten erst nach dem Sonnenaufgang zu Hause gewesen. An solchen Tagen hatte ich Nikolai meist nie vor dem Mittagessen zu Gesicht bekommen.

Wenn ich jetzt wegen ihm zu spät kommen würde …

Genau in diesem Augenblick öffneten sich die Aufzugtüren und Nikolai spazierte in meinen Flur. Er hielt einen Thermobecher in der Hand, der vermutlich bis zum Rand mit Kaffee gefüllt war, und trug eine schwarze Sonnenbrille auf der Nase. Anstatt seines sonst gewohnt selbstbewussten Gangs schien er jetzt förmlich zu schlurfen.

Ich schob den Riemen des Rucksacks auf meiner Schulter zurecht und verschränkte grinsend die Arme vor der Brust.

»Guten Morgen, Bruderherz!«, flötete ich unnötig laut und besonders fröhlich.

Nikolai sah mich mit einem nahezu tödlichen Blick über die Brillengläser hinweg an.

»Lass uns einfach fahren, ja?« Er klang wie ein Bär, den man aus dem Winterschlaf gerissen hatte.

Ich folgte ihm zurück in den Aufzug und beobachtete ihn dabei, wie er einen großen Schluck Kaffee trank.

»Weißt du, das hier war deine Idee.«

»Ich weiß«, grummelte Nikolai. »Der letzte Drink gestern Abend war einfach schlecht.«

Ich lachte kurz auf. »Wohl eher die letzten zehn, hm?«

Darauf bekam ich keine Antwort mehr.

Im Erdgeschoss angekommen, spazierten wir durch die elegante Eingangshalle, vorbei an dem Empfangstresen, hinter dem der Portier stand, den ich ungefähr auf Nikolais Alter schätzte. Warme Erdtöne beherrschten das Design und die Lichter der Lampen an der hohen Decke spiegelten sich in den glänzenden Steinfliesen.

Die automatischen Glastüren glitten mit einem leisen Geräusch auseinander, als wir uns ihnen näherten. Vor der Tür wartete bereits Nikolais schwarze Limousine.

»Bist du wirklich sicher, dass du fahren kannst?«, fragte ich übertrieben skeptisch.

Mein Bruder schnaubte. »Dich werde ich jedenfalls nicht hinters Lenkrad von meinem Auto lassen.«

»Du weißt genau, dass ich inzwischen einen Führerschein habe.«

»Ja, ich weiß aber auch, dass du wie ein Henker fährst, und der Wagen ist gerade ein paar Monate alt.«

Ich rollte mit den Augen und stieg ein.

»Wie spät ist es denn geworden?«, fragte ich auf der Fahrt zur Uni.

Nikolai zuckte mit einer Schulter. »Bin vor ein paar Stunden ins Bett gekrochen, denke ich.«

»Du hättest mir auch einfach eine Nachricht schreiben können. Dann hätte ich mir ein Uber gerufen oder wäre mit der Metro gefahren.«

Er grinste mich von der Seite an. »Und deinen ersten Tag an der Uni verpassen? Nicht in diesem Leben, Anya. Das will ich mir nicht entgehen lassen.«

Ich lächelte. Man konnte meinem Bruder bestimmt viele Dinge vorwerfen, aber dass er sich nicht um mich kümmerte oder sich nicht für mein Leben interessierte, war keins davon. Er war schon immer für mich da gewesen, und ich wusste, dass sich daran auch nie etwas ändern wurde.

Schließlich kam die University of Baltimore, kurz UB, in Sicht. Der Campus mit den sandsteinfarbenen Gebäuden füllte mein Blickfeld. Ich konnte die vielen Studierenden sehen, die eilig hin und her huschten, um zu ihren Vorlesungen zu gelangen. Jetzt doch wieder etwas nervös, biss ich mir auf die Unterlippe.

Plötzlich spürte ich Nikolais Hand auf meiner Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.«

Ich nickte und griff nach meinem Rucksack. »Dann bis später, großer Bruder. Wünsch mir Glück!«

»Viel Glück, kleine Schwester!«

Ich stieg aus und nahm einen tiefen Atemzug. Die Morgenluft fühlte sich frisch an. Und die Sonnenstrahlen, die durch die dünne Wolkendecke brachen, wärmten mich.

Auf dem Campus war wirklich schon viel los, mehr als ich vom Auto aus hatte sehen können. Studierende strömten von einem Ort zum anderen, manche allein, andere in Gruppen. Hin und wieder sah ich ein paar Jungs und Mädchen in einem Bees Trikot. So hießen die verschiedenen Sportteams der UB.

Ich kam an der Statue von Edgar Ellen Poe vorbei und nahm mir einen Moment Zeit, um die Tafel darunter zu lesen. Allerdings gab sie nicht viel mehr preis als den Namen und das Geburts- und Sterbedatum des Schriftstellers.

Kurz danach hatte ich das Gebäude gefunden, in dem ich den Großteil des Tages verbringen würde. Der erste Hörsaal, den ich betrat, war schon ziemlich voll. Eine nahezu ohrenbetäubende Geräuschkulisse empfing mich, und für einen Moment war ich vollkommen überwältigt. Ich war es gewohnt, dass immer jemand in meiner Nähe war, der auf mich aufpasste. Und so plötzlich völlig auf mich allein gestellt zu sein, fühlte sich irgendwie sonderbar und befremdlich an. Aber genauso hatte ich es gewollt, oder nicht? Also würde ich das jetzt hier auch durchziehen. Es gab keinen Weg zurück.

Ich suchte mir einen Platz in einer der mittleren Reihen und stellte den Rucksack zwischen meine Beine. Ich war gerade noch dabei meine Sachen auszupacken, als sich jemand neben mich setzte.

Ich sah auf und erblickte eine junge Frau mit lockigen, schulterlangen Haaren, die ein schmales Gesicht umrahmten. Sie strahlte mich an, und ich bemerkte erstaunt, dass sie zwei verschiedene Augenfarben hatte. Das eine Auge war haselnussbraun und das andere eine Mischung aus grün und blau. Sehr ungewöhnlich. Ihre Haut war hellbraun, was selbst bei dem schrecklichen Licht der Neonröhren gesund und lebendig aussah. Ganz im Gegensatz zu meinem hellen Teint – ich wirkte eher so, als hätte ich seit über einer Woche nichts mehr gegessen und wäre gleich ein Fall für den Notarzt.

Sie streckte mir die Hand entgegen. »Hi! Ich bin Rachel!«

Etwas überrumpelt ergriff ich ihre Hand und schüttelte sie kurz. »Ich bin Anya. Nett, dich kennenzulernen.«

»Ebenso!« Sie legte den Kopf leicht schräg. »Ein sehr ungewöhnlicher Name. Woher kommt er?«

Ich strich mir eine lange Haarsträhne hinters Ohr. »Russland.«

»Oh, wie spannend!«, erwiderte sie strahlend.

Ich grinste. Rachel war augenscheinlich sehr extrovertiert.

»Na ja, es geht, meine Familie lebt mittlerweile seit mehr als zwanzig Jahren in den Staaten.«

»Trotzdem.« Sie grinste ebenfalls. »Meine Familie lebt schon immer in Baltimore. Das ist total langweilig.«

Ein Student ging hinter ihr vorbei. »Hi, Rachel!«

Sie sah über ihre Schulter und winkte kurz. »Selber hi!«

»Du kennst hier schon welche?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin hier aufgewachsen, und ein paar Freunde haben sich auch eingeschrieben.«

Ich musste gestehen, dass ich etwas neidisch war. Auf den ersten Blick schien Rachel ein ausgeprägtes Sozialleben zu haben.

Auf einmal wurde es merklich ruhiger im Hörsaal. Rachel und ich blickten nach vorn. Ein älterer Mann in Jeans und braunem Sakko hatte den Raum betreten und breitete gerade seine Unterlagen auf dem Pult vor sich aus. Rachel zwinkerte mir zu.

»Los geht’s!«

Nach den ersten Vorlesungen rauchte mir der Kopf. Die Informationen prasselten geradezu auf uns ein, aber wenigstens war dieses Gefühl der totalen Überwältigung inzwischen verschwunden. Ich war zuversichtlich, dass ich das alles – mein Studium, die neu gewonnene Unabhängigkeit und ein echtes Privatleben – schaffen konnte. Außerdem erwies sich Rachel als gute Unterstützung. Genauso quirlig wie sie auf den ersten Blick wirkte, so schnell war auch ihre Auffassungsgabe, und gemeinsam gelang es uns, lückenlos Notizen aufzuschreiben.

Als wir später zusammen in Richtung der Mensa liefen, stupste sie mich leicht mit der Schulter an.

»Hm?«

»Was machst du nachher, wenn wir hier fertig sind?«

»Nach Hause gehen?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Das ist doch langweilig! Sollen wir nicht lieber einen Kaffee trinken? Meine Tante besitzt ein kleines Café gar nicht weit von hier entfernt. Außerdem backt sie die besten Kuchen der Welt. Versprochen!«

Ich grinste. »Klingt gut. Ich schreibe nur kurz meinem Bruder. Er wollte mich abholen.«

Rachel seufzte, und ich sah sie fragend an, während ich mein Handy aus der Hosentasche zog. »Alles okay?«

Sie winkte ab. »Ja, ja. Ich wollte nur immer einen Bruder. Dazu kam es aber nie«, ergänzte sie schulterzuckend.

Schweigend gingen wir weiter. Da ich selbst kein Fan davon war, wenn jemand seine Nase in meine Angelegenheiten steckte, erwies ich Rachel den gleichen Respekt. Falls sie mir diese Geschichte detaillierter erzählen mochte, würde sie es tun.

Auch wenn mir Nikolai manchmal wirklich auf die Nerven ging, wollte ich ihn doch um nichts in der Welt missen.

Anya: Hey, ich gehe nach der Uni noch einen Kaffee trinken. Brauchst mich also nicht abholen.

Nikolais Antwort kam augenblicklich. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass der Mann mit seinem Handy verheiratet war.

Nikolai: Einen Kaffee? Mit wem? Und wo?

Anya: Mit einer anderen Studentin. Wir haben uns heute kennengelernt. Ihre Tante hat ein Café in der Nähe.

Nikolai: Okay, schreib mir, wenn du fertig bist. Dann sammle ich dich ein.

Anya: Nein, ich laufe nach Hause. Aber danke!

Nikolai: Mir wäre es lieber, wenn ich dich abholen könnte.

Anya: Und mir wäre es lieber, wenn du es nicht tun würdest.;-)

Schnell verstaute ich das Handy in der Tasche und wandte mich wieder Rachel zu. »Welche Vorlesung steht gleich an?«

Rachel verzog das Gesicht. »Strafrecht.«

Ich musste schmunzeln. Bei meiner Familiengeschichte sollte ich da wohl besser gut aufpassen.

Fragend sah Rachel mich an. »Was ist daran denn so lustig?«

Ich versuchte, mir das Grinsen zu verkneifen. »Ach, nichts!«

3

Anya

Mein erster Tag an der Universität schien sich beinahe endlos zu ziehen. Aber als ich endlich mit Rachel zu dem Café ihrer Tante ging und den Tag Revue passieren ließ, hatte ich gleichzeitig das Gefühl, dass die Stunden wie im Flug vergangen waren. So viele Eindrücke waren auf mich eingeprasselt, dass ich gar nicht wusste, was ich zuerst verarbeiten sollte. Aber ich fühlte mich gut, geradezu aufgedreht und voller Vorfreude. Ich konnte es kaum erwarten, die nächsten Jahre hier zu studieren. Ich freute mich darauf, hier etwas Eigenes aufzubauen, etwas, worauf ich am Ende stolz sein konnte, die Grundlage für meine Zukunft zu schaffen. Außerdem wollte ich das Studentenleben in vollen Zügen genießen. Und Rachel schien es ganz ähnlich zu gehen. Sie grinste von einem Ohr zu anderen. Obwohl ich mir noch nicht völlig sicher war, ob das bei ihr nicht vielleicht einen Dauerzustand darstellte.

»Seit wann hat denn deine Tante das Café?«, erkundigte ich mich.

»Schon seit ich denken kann. Die ältesten Erinnerungen an meine Tante drehen sich um sie und ihr Café. Sie riecht immer nach frisch gemahlenem Kaffee und Gebäck, das gerade aus dem Ofen kommt.«

Ich lächelte. »Das klingt sehr sympathisch.«

»Ja, oder?« Rachel zwinkerte mir zu.

Wir liefen gemütlich und locker plaudernd noch ein paar Minuten die Straßen von Baltimore entlang, als Rachel schließlich auf ein hellgelbes Gebäude mit weißen Fensterrahmen zeigte. Die Bewegung ließ ihre Locken wie wild tanzen.

»Da ist es! Das Tasty Bean!«

Ich lachte über den Namen. »Tasty Bean? Ernsthaft?«

»Meine Tante hat einen ausgeprägten Sinn für Humor«, erwiderte sie grinsend. »Und die Kunden finden es irgendwie auch witzig.«

»Kann ich mir vorstellen.«

Als wir das gemütliche kleine Café betraten, bimmelte über der Tür eine kleine Glocke, die unsere Ankunft ankündigte.

Das Café war gut besucht. Die meisten der weißen Holztische waren besetzt, und hinter dem Tresen wirbelte eine Frau von einem Ende zum anderen. Ein Teil des Tresens diente als Auslage, in der die absolut appetitlichsten Kuchen und Gebäckteilchen lagen, die ich je gesehen hatte. Und die Luft war erfüllt vom Geruch nach frisch gemahlenem Kaffee und selbst gebackenen Torten. Genau der gleiche Duft, mit dem Rachel ihre Tante beschrieben hatte.

»Hey, Tante M!«, rief Rachel, als wir uns dem Tresen näherten.

»Rach!« Eine ältere Frau, deren einst schwarze Haare von grauen Strähnen durchzogen waren, sah uns freudestrahlend an. Ein paar Falten hatten sich in das gebräunte Gesicht geschlichen, aber etwas an ihrem Ausdruck und ihrem Auftreten ließ sie dennoch jung wirken. »Was machst du denn hier? Deine Schicht beginnt doch erst in einer Stunde?«

Fragend blickte ich Rachel an.

»Ich dachte, ich bringe meine neue Freundin her und zeige ihr, wo man den besten Kaffee der Stadt bekommt. Sie ist neu in Baltimore.«

Irgendwann im Laufe des Tages hatte ich Rachel erzählt, dass ich gerade erst hier hingezogen war und ursprünglich aus New York City kam.

»Oh, hey!« Jetzt sah Rachels Tante mich lächelnd an. »Dann herzlich willkommen in der Stadt. Ich bin Monica.« Sie reichte mir die Hand.

»Schön, dich kennenzulernen, Monica. Ich heiße Anya.« Ich schüttelte ihre Hand und genoss den warmen Händedruck. Ich konnte ein paar Schwielen fühlen, die vermutlich von ihrem Handwerk als Bäckerin kamen.

»Ihre Familie kommt aus Russland!«, verkündete Rachel aufgeregt.

»Ah, daher dieser spezielle Namen.«

Ich lächelte und nickte.

»Was kann ich euch zwei Hübschen denn bringen? Geht natürlich aufs Haus.«

»Für mich das Übliche.«

»Danke für die Einladung«, sagte ich an Monica gewandt. »Ich nehme einen Cappuccino.«

»Alles klar, kommt sofort!«

Nur einen kurzen Augenblick später wurden unsere Getränke vor uns abgestellt und Rachel führte uns an einen der letzten freien Tische.

Nachdem wir uns gesetzt hatten, trank ich einen Schluck von meinem Cappuccino und schloss verzückt die Augen.

»Gut, was?«, fragte Rachel grinsend.

Ich nickte lächelnd. »Sehr gut!« Ich sah mich in dem Café um und bewunderte die heimelige Atmosphäre. »Es ist sehr schön hier.«

Rachel deutete auf die Fotografien in Schwarz-Weiß, die hinter mir an der Wand hingen. »Siehst du die?« Ich blickte über meine Schulter und nickte. »So sah es hier früher mal aus, bevor meine Tante den Laden übernommen hat. Die kleine Fotostrecke ist quasi eine Dokumentation der Renovierung. Und das glückliche Ende.«

Ich schaute mir das letzte Bild an, das ein deutlich jüngeres und sehr verliebt dreinschauendes Pärchen vor dem Café zeigte.

»Wer ist der Mann auf dem Foto?«

»Das ist mein Onkel James.«

»Sie sehen sehr glücklich aus«, kommentierte ich.

»Oh ja, das sind sie auch heute noch.«

Ich nahm noch einen Schluck von meinem Cappuccino, nachdem ich mich wieder Rachel zugewandt hatte. »Und du arbeitest hier?«

Sie nickte. »Ja, seit Kurzem. Tante M hatte vor ein paar Wochen einen Schwächeanfall im Laden.«

Ich verzog das Gesicht. »Das tut mir leid. Geht es ihr gut?«

»Gott sei Dank, ja. Aber Onkel James hat verlangt, dass sie jetzt etwas kürzertreten muss. Also habe ich angeboten, dass ich aushelfen kann.«

»Das ist sehr nett von dir«, erwiderte ich lächelnd.

Rachel grinste. »Ja, und außerdem kann ich das Geld gut gebrauchen, jetzt so neben dem Studium.«

Ich schmunzelte. »Klar.«

»Wo arbeitest du denn neben dem Studium? Oder bist du noch auf der Suche?«

Ich trank etwas, um mir Zeit zum Überlegen zu geben. Natürlich ging Rachel davon aus, dass ich aus einer normalen Familie stammte und mir neben dem Studium etwas Geld dazu verdienen musste. Sie konnte ja nicht ahnen, dass Geld tatsächlich eine der letzten Sorgen meiner Familie war. Die Frage war nur, ob ich sie jetzt deswegen anlügen wollte oder nicht. Ich musste mir meine Ausreden gut überlegen, damit ich mich am Ende nicht im Netz meiner Unwahrheiten verstrickte. Und in diesem Fall konnte ich vermutlich ruhig ehrlich sein.

»Ich arbeite nirgendwo, um ehrlich zu sein.«

Rachels Augen fingen plötzlich an zu funkeln, und ich wusste nicht, was ich von diesem speziellen Glitzern halten sollte. Es hatte etwas sehr Schelmisches.

»Interesse an einem Nebenjob?« Sie wackelte mit den Augenbrauen, was mich zum Lachen brachte.

»Ich weiß nicht?«, antwortete ich ausweichend.

»Komm schon! Tante M sucht noch nach einer weiteren Aushilfe, und du wärst perfekt!«

»Ich wäre perfekt?«, hakte ich skeptisch nach. »Wir kennen uns gerade ein paar Stunden. Und ich habe noch nie in einem Café gearbeitet.«

»Na und?«, fragte Rachel zurück. »Ich habe eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass du ein guter Mensch bist und dich bestimmt schnell zurechtfinden wirst. Warum solltest du also meiner Tante nicht unter die Arme greifen können?«

Das klang in meinen Ohren irgendwie überzeugend. Und außerdem reizte mich die Idee, dass ich mein eigenes Geld verdiente. Ein weiterer Schritt in Richtung Unabhängigkeit.

»Okay.«

Rachel grinste breit. »Okay?«

Ich nickte. »Wenn es für deine Tante in Ordnung geht, würde ich gerne hier arbeiten.«

Sie klatschte aufgeregt in die Hände. »Perfekt!«

Ich lachte. Dieser erste Tag in der Uni war deutlich aufregender gewesen, als ich erwartet hatte.

Kurz bevor Rachels Schicht im Tasty Bean begann, verabschiedete ich mich.

Ich schulterte meinen Rucksack und holte mein Handy aus der Tasche. Eine kurze Recherche offenbarte mir, dass ich eine knappe halbe Stunde laufen würde. Natürlich könnte ich auch mit der Bahn fahren oder mir ein Taxi rufen, aber die Vorstellung, mir ein bisschen was von der Stadt ansehen zu können, begeisterte mich.

Ich steckte mir noch meine Kopfhörer in die Ohren, startete die Playlist mit meinen Lieblingssongs und machte mich auf den Weg. Im Vergleich zu heute Morgen war die Luft etwas kälter geworden, aber ich genoss die kühle Brise auf meiner Haut. Den ganzen Tag in staubigen Hörsälen zu sitzen, hatte in mir ein gewisses Bedürfnis nach frischer Luft geweckt. Außerdem war ich aufgrund der Vorlesungen und des gemütlichen Plauschs bei heißem Kaffee mit Rachel ein wenig müde geworden. Ganz offensichtlich arbeitete sich das Koffein bislang durch meinen Körper und war noch nicht in meinem Gehirn angekommen.

Ich kam mir ein wenig wie eine Touristin vor, als ich vor dem Maryland Line Monument stehen blieb und die säulenartige Skulptur mit dem römisch gekleideten Mann an ihrer Spitze betrachtete.

Danach führte mich mein Weg einmal komplett durch den Pearlstone Park. Ich schlenderte die Gehwege entlang, bewunderte dabei die sehr einladend wirkenden Grünflächen und beobachtete eine Gruppe von Kindern, die in der Nähe Fangen spielten. Auf einer Bank, die ich passierte, saß eine ältere Dame und fütterte ein paar Tauben. Dabei schien sie vor sich hin zu murmeln, weil ich sah, dass sich ihre Lippen bewegten. Aufgrund meiner Kopfhörer konnte ich sie aber natürlich nicht verstehen.

Nachdem ich den Park verlassen hatte, ließ ich mich einfach vom Treiben der Stadt tragen. Riskierte hier und da einen Blick in die Schaufenster der Geschäfte, an denen ich vorbeiging, oder beobachtete die Menschen, die mir entgegenkamen.

So versunken in meine neue Heimatstadt bekam ich erst viel zu spät mit, dass ich wohl irgendwo falsch abgebogen war. Denn ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass ich mehr oder weniger an meinem Wohngebäude vorbeigelaufen war.

Mit einem Augenrollen, das mir selbst galt, drehte ich mich um und lief einen Teil des Weges wieder zurück, bis ich auf die richtige Straße einbiegen konnte.

Inzwischen fing es auch langsam an zu dämmern, und ich war froh, dass ich jetzt gleich zu Hause war.

Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass mein Bruder auf dem Gehweg vor dem Wohnhaus stand und mich, als ich näherkam, mit einem entschuldigenden Lächeln ansah.

»Bevor du dich aufregst, ich bin nicht hier, um dich zu kontrollieren!«, rief er mir entgegen.

Ich sah ihn skeptisch an, als ich vor ihm anhielt. »Sondern?«

Er begrüßte mich mit einer schnellen Umarmung und lächelte mir zu. »Ich war neugierig. Meine kleine Schwester hatte ihren ersten Tag an der Uni. Kannst du mir das verübeln?«

»Nicht wirklich«, gab ich zu. »Aber wie kommt es, dass du passenderweise hier stehst, wenn ich nach Hause komme?«

Nikolai deutete mit dem Daumen hinter sich, und ich folgte der Geste mit dem Blick. Nicht weit vor uns stand sein geparktes Auto.

»Ich bin schon etwas länger hier und hab einfach gehofft, dass wir uns nicht verpassen. Als ich dich dann am Ende der Straße gesehen habe, bin ich ausgestiegen.«

»Na gut. Das glaube ich dir jetzt mal.« Mein Tonfall verriet ihm hoffentlich, dass das besser die Wahrheit war.

»Und? Schon Freunde gefunden?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Irgendwie schon. Wobei sie wohl eher mich gefunden hat.«

»Wie meinst du das?«

»Rachel hat sich in der ersten Vorlesung neben mich gesetzt und irgendwie waren wir dann den ganzen Tag zusammen. Sie scheint sehr nett zu sein.«

»Und jetzt wart ihr im Café von Rachels Tante Monica?«

»Ja, genau …« Ich stockte. »Moment mal. Woher kennst du ihren Namen?«

Nikolai sagte nichts, aber ich sah, wie seine Mundwinkel zuckten.

»Nikolai«, mahnte ich. »Was hast du gemacht?«

»Nur eine oberflächliche Hintergrundrecherche.«

Ich ließ stöhnend den Kopf in den Nacken sinken. »Du alter Kontrollfreak!«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich will ja nur, dass dir nichts passiert.«

Ich versuchte, ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, hielt aber nicht lange durch. Ich war so etwas von Nikolai schon gewöhnt, und er meinte es wirklich nicht böse. Außerdem hatte er es jetzt bereits getan. Es war also die Mühe einer Diskussion nicht wert. Dennoch sollte das nicht zur Gewohnheit werden – oder er musste diese Gewohnheit endlich ablegen –, und das sagte ich ihm auch. Als Antwort bekam ich nur ein Schulterzucken.

»Und was hast du herausgefunden?«, fragte ich schließlich, weil ich doch etwas neugierig war.

»Nichts Auffälliges. Rachel und ihre Familie leben schon lange in Baltimore. Sie scheinen ganz normal zu sein.«

»Okay, können wir uns dann bitte darauf einigen, dass du nicht jeden Menschen durchleuchtest, dem ich über den Weg laufe?« Dieser Punkt lag mir wirklich am Herzen, weswegen ich es noch einmal betonte.

»Anya …«, setzte Nikolai an, aber ich schüttelte vehement den Kopf.

»Nein!«, erklärte ich bestimmt. »Du weißt genau, dass einer der Gründe, warum ich New York City verlassen wollte, war, dass ich nicht länger hinnehmen konnte, dass mein gesamtes Leben von Personen kontrolliert und überwacht wurde, die nicht ich waren. Ich will das nicht mehr!«

»Aber …«

»Nein«, fiel ich ihm ins Wort, »kein Aber! Damit muss jetzt Schluss sein, Nikolai.«

Ich straffte die Schultern und sah Nikolai direkt in die Augen.

»Ich meine es wirklich ernst. Das hier ist mir wichtig. Verstehst du das?«

Für einige Herzschläge starrte mein Bruder mich nur an, ohne eine Regung zu zeigen. Dann seufzte er schließlich lang und tief.

»Okay, ich verstehe. Aber du musst auch einsehen, dass du vorsichtig sein musst. Du bist nicht einfach irgendwer, Anya. Unsere Familie hat viele Feinde.«

»Das ist mir bewusst. Doch hier bin ich einfach irgendwer. Und ja«, ergänzte ich, als ich sah, wie Nikolai Luft holte, »mir ist trotzdem klar, dass ich vorsichtig sein muss. Komm schon, Bruderherz. Du kennst mich und weißt ganz genau, dass ich nicht einfach jedem Menschen, der mir über den Weg läuft, blindlings vertraue und das auch in Zukunft nicht machen werde. Ich werde vorsichtig sein, nur möchte ich hier mein eigenes Leben leben!«

»Na schön«, knickte er ein. »Aber du musst mir versprechen, dass du wirklich aufpasst.«

»Versprochen. Oh, da ist noch etwas«, fügte ich hinzu, als mir noch ein kleines Detail einfiel.

Skeptisch beäugte mich mein Bruder. »Und das wäre?«

»Ich habe einen Nebenjob in dem Café angenommen. Das ist doch kein Problem, oder? Cool!«

Damit ließ ich meinen verdutzt dreinblickenden Bruder zurück und marschierte schnell in Richtung Eingang des Wohngebäudes, gab ihm gar nicht erst die Chance zu antworten. Ich war mir sicher, dass Nikolai noch einiges dazu zu sagen hatte, aber ich hatte keine Lust auf eine weitere Diskussion. Und wenn ich schnell genug im Aufzug verschwinden konnte, würde ich ihm vielleicht entgehen.

Womit ich allerdings nicht mehr gerechnet hatte, war, dass sich vor mir plötzlich eine Wand aufbaute. Eine große, muskulöse, tätowierte Wand, die so unheimlich vertraut roch.

Ruckartig blieb ich stehen, taumelte aber trotzdem noch gegen Maxim, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Wo zum Teufel war der denn hergekommen?

»Warum hast du es so eilig, Anya?«

Seine Hand lag an meinem Ellbogen, und ich war noch damit beschäftigt, meinem Körper zu sagen, dass das kein Grund war, um überall eine Gänsehaut zu bekommen, sodass ich nicht direkt antworten konnte.

»Sie ist anscheinend auf der Flucht vor mir«, hörte ich da meinen Bruder hinter mir sagen. Maxim trat sofort einen Schritt zurück und ließ seine Hand fallen.

»Auf der Flucht? Wieso?«

»Weil sie eine neue Freundin gefunden und einen Nebenjob im Café von deren Tante angenommen hat.«

Maxim runzelte die Stirn und sah mich an. »Du brauchst dir doch wirklich kein Geld dazuzuverdienen.«

»Darum geht es auch nicht.«

Jetzt sah Maxim ehrlich verwirrt aus. »Sondern?«

»Sie will ihr eigenes Leben leben«, antwortete Nikolai für mich.

»Aber das tut sie doch?«

»Hallo?«, rief ich genervt. »Ich bin noch hier!« Ich richtete meinen Rucksack, der nach dem Zusammenstoß mit Maxim verrutscht war. »Was ist so falsch daran, dass ich mir einen Nebenjob gesucht habe?«

Ich hob die Hand, als beide Männer zu einer Antwort ansetzten.

»Richtig. Nichts! Und damit jetzt Ende der Diskussion!«

»Anya …«, begann Maxim, aber ich sah ihn wütend an.

»Nein, nichts ›Anya‹. Ich werde mit dir jetzt mit Sicherheit nicht die gleiche Diskussion führen wie mit Nikolai gerade. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet.«

Ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen, marschierte ich zum Haus, durch die Lobby und direkt zu den Aufzügen. Kurz bevor sich die Türen vor meiner Nase wieder schlossen, warf ich ihnen über die Entfernung noch einen bösen Blick zu.

Ich hatte die Schnauze gestrichen voll von Männern, die meinten, sie könnten mein Leben kontrollieren!

4

Maxim

Ich sah Anya hinterher, bis sie die Lobby betreten hatte und sich die Aufzugtüren wieder vor ihrem zarten, aber sehr böse dreinblickenden Gesicht geschlossen hatten. Erst dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder ihrem Bruder und meinem besten Freund Nikolai zu. Wir standen gemeinsam auf dem Bürgersteig vor dem Wohnhaus, und Nikolai schaute noch etwas verdutzt über den Ausbruch seiner Schwester drein. So ging es mir auch.

»Was war das?«

Er zuckte nur mit den Schultern. »Frag mich nicht. Sie hat mir gerade auch schon eine Predigt gehalten.«

»Und was war Thema?«

»Mehr Selbständigkeit und ihre Unabhängigkeit. Ich glaube, es ist ihr wirklich ernst damit.«

»Na ja, sie ist inzwischen ja auch erwachsen. Da steht ihr ein eigenes Leben zu.« Ich hatte schon lange damit gerechnet, dass Anya irgendwann rebellieren würde. Sie war viel zu temperamentvoll, um einfach stillschweigend die fremde Kontrolle über ihr Leben zu akzeptieren.

Nikolai fuhr sich mit einer Hand über den Kopf und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Ich weiß, ich gönne ihr das ja auch.«

»Und warum siehst du dann aus, als hätte man dir gerade ein Messer in den Bauch gerammt?«

»Weil ich derjenige sein werde, der das Ganze unserem Vater verkaufen muss.«

Ich grinste. »Tja, die Bürde des großen Bruders.«

»Ja, ja«, maulte Nikolai, »aber kannst du dir seine Reaktion vorstellen, wenn ich ihm davon berichte, dass seine süße kleine Tochter, die er in meine Obhut gegeben hat, jetzt unabhängig sein will? Und einen Nebenjob angenommen hat?«

»Fuck.« Ich lachte. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie Anatoli »The Redeemer« Krylow auf diese Nachricht reagierte. Es gab einfach Dinge, vor denen selbst ich noch Angst hatte. Und meinen Respekt hatte Anatoli sowieso. Daher würde ich sicherstellen, dass ich so weit wie möglich entfernt war, wenn Nikolai dieses kleine Detail zur Sprache brachte.

»Du bist echt nicht zu beneiden.«

Nikolai warf mir einen bösen Blick zu. »Na, besten Dank auch.«

Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Du machst das schon!«

Er schüttelte meine Hand ab. »Okay, Themenwechsel. Was machst du eigentlich hier?«

»Ich war nur kurz da, um den neuen Sicherheitschef einzuweisen.«

»Ah, okay. Für wen hast du dich jetzt entschieden?«

»Für einen von meinen Leuten. Er ist der Chef einer Sicherheitsfirma, die Geld für mich wäscht. Das passt doch ganz gut zusammen. Er weiß, worauf er sich einlässt, und kann mit dem Hintergrundwissen Situationen besser einschätzen.«

»Clever«, kommentierte Nikolai grinsend.

»Das bin ich. Und was hast du jetzt noch vor?«

»Im Büro wartet noch Papierkram auf mich. Du willst nicht zufällig mitkommen und mir helfen?«

»Nein, zufällig will ich das nicht«, antwortete ich grinsend.

»Ein super Freund bist du.«

»Der beste, den du hast.«

Nikolai zeigte mir den Mittelfinger und drehte sich dann um, um zu seinem Auto zurückzugehen. Ich wartete nicht erst, bis er verschwunden war, bevor ich die Lobby betrat, mir einen Aufzug rief und damit in die Tiefgarage fuhr, wo ich geparkt hatte. Ich war heute nur dort gewesen, um ein Gespräch mit dem Chef der neuen Sicherheitsfirma zu führen, die ich engagiert hatte, nachdem klar war, dass Anya hier einziehen würde. Ich wollte für ihre bestmögliche Sicherheit garantieren.

Auf dem Weg nach Hause dachte ich darüber nach, wie sehr sich mein Leben in den letzten paar Wochen geändert hatte. Ich konnte mich noch genau daran erinnern, wie Nikolai mich morgens angerufen hatte. Die Nacht davor war es spät geworden, und dementsprechend hatte ich es erst wenige Stunden vorher in mein eigenes Bett geschafft. An den Anfang des Gesprächs konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber wohl sehr genau an den Moment, in dem er mir gesagt hatte, dass er zusammen mit Anya nach Baltimore ziehen würde. Ich war schon lange nicht mehr so schnell so wach gewesen.

Anya Grace Krylow.

Die schönste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen hatte.

Vor mir erstreckte sich die Skyline von Baltimore. Die Sonne begann gerade unterzugehen und tauchte alles in ein orangefarbenes Licht, das sich in den unzähligen Fenstern der Wolkenkratzer spiegelte. Ein nahezu erhabener Anblick, und dennoch konnte auch diese Aussicht nicht dem Vergleich mit Anya standhalten.

Sie war anmutig in allem, was sie tat. Und das trotz ihres jungen Alters. Ihr wohnte eine Eleganz inne, die die meisten Menschen erst mit viel Lebenserfahrung oder auch nie erreichten. Sie hatte Humor – so trocken, dass auch ich oftmals ein Grinsen unterdrücken musste.

Und sie war so schön, dass sich die Männer reihenweise nach ihr umdrehten. Sehr zu Anatolis, Nikolais und meinem Missfallen. Nikolai und ich hatten bereits des Öfteren einschreiten müssen, als sich einer ihrer Verehrer ihr etwas zu offensiv hatte nähern wollen. Natürlich hatte Anya davon nie etwas erfahren. Schließlich hätte sie uns sonst die Hölle heißgemacht und uns vermutlich niemals verziehen, dass wir uns so in ihr Leben eingemischt hatten.

Denn das wohl reizvollste an Anya war ihr vorlautes Mundwerk. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund und ließ sich nichts gefallen. Sie stand für das ein, was ihr wichtig war, und machte sich dabei selten Gedanken um die Konsequenzen.

Nachdem ich also den Schock verdaut hatte, dass sie jetzt in meine Stadt ziehen würde, hatte es mich nicht mehr sonderlich gewundert. Wenn ihre Unabhängigkeit ihr neues Ziel war, dann hatte niemand von uns dem etwas entgegenzusetzen. Und schon gar nicht Anatoli.

Ich parkte meinen Wagen in der Tiefgarage meines Wohnkomplexes und fuhr anschließend mit einem der Aufzüge in die oberste Etage, während ich mich an Anatolis Gesicht erinnerte, wenn er mit Anya sprach. Er hatte dann immer dieses spezielle Funkeln in den Augen, das nur auftrat, wenn er sich in der Gegenwart seiner Tochter befand.

Der gefürchtete Boss der Bratwa in New York City konnte seinem süßen kleinen Engel absolut nichts abschlagen. Aber wer konnte es ihm schon verdenken? Ich jedenfalls nicht.

Allerdings war ich nicht sonderlich begeistert, dass er sie ausgerechnet nach Baltimore geschickt hatte. Ich hatte mich schließlich nicht ohne Grund vor ein paar Jahren aus New York City abgesetzt. Anatoli hatte sich ziemlich verwundert über meine Bitte gezeigt, aber meine vorgeschobene Intention war gewesen, dass ich mir etwas Eigenes hatte aufbauen wollen. Und auch wenn das in Teilen der Wahrheit entsprochen hatte, war doch der Hauptgrund Anya gewesen.

Nachdem wir zusammen aufgewachsen waren und mir schon früh aufgefallen war, dass die kleine Schwester meines besten Freundes für mich schwärmte, hatte sie sich irgendwann zu einer wunderschönen jungen Frau entwickelt. Und plötzlich war sie auch für mich interessant geworden. Viel zu interessant, wenn ich ehrlich war.

Schlagartig sah ich in Anya eine wandelnde Sünde, die mich mit allem, was sie tat und sagte, in Versuchung führte. Aber sie war definitiv diese eine Sünde, die ich nie begehen durfte. Sie war viel zu kostbar und besonders, als dass sie sich mit einem wie mir abgeben sollte. Mal ganz davon abgesehen, dass Nikolai und Anatoli mich in fein säuberliche Stücke hacken würden, wenn sie erführen, dass ich mich an Anya vergriff. Egal, ob wir es beide wollten oder nicht.

Inzwischen war ich endlich zu Hause angekommen und ging zu der kleinen Bar, die in der Nähe der bodentiefen Fenster stand. Ich griff mir eine schwere Whiskeyflasche. Mit der anderen Hand nahm ich ein paar Eiswürfel aus dem bereitstehenden Kühler und ließ sie achtlos in den Tumbler fallen. Ich beobachtete die bernsteinfarbene Flüssigkeit, die sich über die Eiswürfel in mein Glas ergoss.

Anya war tabu.

Das Glas fand seinen Weg an meine Lippen, und ich genoss das Brennen, als der Whiskey in meiner Kehle hinabrann.

Ab-so-lut tabu.

Ohne Wenn und Aber.

5

Anya

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug und ständig passierte irgendetwas Neues, sodass mir abends der Kopf rauchte. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass sich jeder Tag nach dem gleichen Muster verhielt: aufstehen, zur Universität gehen, nach Hause kommen, Nachbereitung, Abendessen mit Nikolai, schlafen. Und am nächsten Morgen ging dann alles wieder von vorn los. Das war nicht unbedingt schlecht, doch insgeheim hatte ich vielleicht mit ein bisschen mehr Aufregung gerechnet. Ich wusste, dass bereits einige Studentenpartys stattgefunden hatten und weitere in Planung waren, dennoch schien ich es irgendwie nie zu schaffen, diese in meinem Zeitplan unterzubringen. Aber das kam ja vielleicht noch.

Ich wusste, dass die meisten meiner Kommilitonen die ersten Tage und Wochen – vermutlich sogar Monate – deutlich entspannter angingen, doch ich hatte Ziele. Ich wollte nicht einfach irgendwie einen Abschluss machen. Nein, ich wollte die Beste sein. Und ich hatte vor, dieses Ziel von Anfang an mit Ehrgeiz zu verfolgen.

Jemand stupste mich von der Seite an, und ich zuckte überrascht zusammen.

»Passt du überhaupt auf?«, flüsterte Rachel.

Ich schüttelte den Kopf. »War kurz abwesend.«

Rachel grinste und schob mir ihre Notizen rüber, damit ich sie abschreiben konnte, und ich lächelte sie dankbar an. Wir hörten gerade die Geschichte des amerikanischen Rechts, und ich konnte mir leider tatsächlich spannendere Themen vorstellen als das hier. Außerdem war unser Professor gefühlt schon hundert Jahre alt und benahm sich, als hätte er die meisten fundamentalen Geschichtsereignisse noch selbst miterlebt. Jedenfalls hatte er ungefähr so viel Elan wie ein Faultier. Der ganze Kurs lud geradezu zum Einschlafen ein, aber schlafen würde mir mit Sicherheit keine gute Note bescheren. Also riss ich mich besser zusammen. Egal, wie schwer es mir fiel.

Nachdem ich meine eigenen Aufzeichnungen um die letzten Minuten ergänzt hatte, gab ich Rachel ihren Block zurück.

»Danke«, wisperte ich, und sie zwinkerte mir zu.

Wir verbrachten jetzt seit bald einer Woche mehrere Stunden am Tag miteinander, und ich war überrascht, wie gut wir harmonierten. Rachel und ich verstanden uns beinahe blind, und die Freundschaft mit ihr fühlte sich ganz natürlich an. So, als würden wir uns schon viel länger kennen. Sie wusste es zwar nicht und würde es auch nie erfahren, aber sie war die erste richtige Freundin in meinem Leben, die ich hatte. Und ich war unendlich froh darüber. Das war genau die Art von normalen Dingen, die ich mir von diesem Studium – von dieser Flucht aus der direkten Kontrolle meines Vaters – versprochen hatte.

Außerdem sorgte sie auch noch dafür, dass ich etwas mehr aus mir herauskam. Da ich sonst eher introvertiert war, wäre ich bestimmt immer noch völlig auf mich allein gestellt, wenn Rachel nicht meinen Weg gekreuzt hätte. Sie stellte mich beinahe täglich neuen Kommilitonen vor, die sie entweder bereits jahrelang kannte oder denen sie irgendwo begegnet war. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie nur über den Campus gehen musste und schon hatte sie drei neue Menschen kennengelernt. Während mich das alles noch irgendwie überwältigte, schien es ihr ganz leicht zu fallen.

Der Rest der Vorlesung zog sich wie Kaugummi, und als der Professor endlich verkündete, dass Schluss war, konnte ich einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken, was Rachel ein kurzes Kichern entlockte.

»Da ist aber jemand froh, dass der Tag für heute vorbei ist.«

»Du hast ja keine Ahnung. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er jeden Moment platzen.«

Sie sah mich besorgt an. »Möchtest du eine Schmerztablette?«

»Nein, danke. Es geht gleich schon wieder.«

»Und die frische Luft auf dem Weg ins Café wird dir bestimmt auch helfen.«

Eine neue Welle Enthusiasmus durchlief mich. Heute war mein erster Tag im Tasty Bean,und ich freute mich schon auf die gemeinsame Schicht mit Rachel. Zukünftig würde ich auch ohne sie in dem Café hinter dem Tresen stehen. Aber für den Anfang würden wir zusammen dort arbeiten, damit sie mich einweisen konnte. Da es sich bei dem Job auch um meinen ersten eigenen Job handelte, konnte ich ein gewisses Maß an Neugier nicht leugnen. Außerdem kribbelte mein Bauch vor nervöser Aufregung. Aber gleichzeitig freute ich mich einfach, noch ein Stück mehr Selbstständigkeit erlangen zu können.

Rachel und ich packten unsere Sachen zusammen und verließen endlich den stickigen Hörsaal. Draußen auf dem Campus empfingen uns frische Luft und Sonnenstrahlen, und ich schloss für einen Moment die Augen und atmete einmal tief durch. Meine Kopfschmerzen schienen sofort nachzulassen.

»Was für schönes Wetter!«, rief Rachel neben mir freudig, und ich konnte ihr nur zustimmen. Man spürte bereits, dass der Sommer näher kam, und ich konnte es kaum noch erwarten. Warme Sonnenstrahlen auf der Haut, luftigere Kleidung tragen und riesige Eisbecher essen.

Während Rachel und ich gemeinsam zum Café ihrer Tante gingen, plauderten wir noch ein wenig über den Tag. Kurz bevor wir unser Ziel erreichten, vibrierte mein Handy, und ich zog es aus der Hosentasche. Mein Bruder hatte mir eine Nachricht geschrieben, in der er mir viel Spaß und Erfolg für meine erste Schicht wünschte. Ich schickte ihm ein Herz-Emoji zurück und lächelte über diese kleine, aufmerksame Geste von ihm. Wenn Nikolai wollte, konnte er sehr charmant sein.

Als wir das Tasty Bean betraten, begrüßte uns der inzwischen – auch für mich – schon bekannte Geruch nach frisch gemahlenem Kaffee und süßem Gebäck. Mit Rachel an meiner Seite ging ich hinter die Theke, wo uns bereits ihre Tante Monica begrüßte und Rachel in eine kurze, aber herzliche Umarmung zog.

»Na, bereit für dein erstes Rodeo?«

Ich grinste etwas unsicher. »Ich hoffe doch.«

»Ach, mach dir keine Sorgen, Tante M!«, schaltete sich Rachel ein und legte den Arm um meine Schultern. »Wir schmeißen den Laden hier auch ohne dich. Du kannst beruhigt Feierabend machen.«