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Tyler scheint alles zu haben: Er sieht unverschämt gut aus, ist mit einem bildhübschen Mädchen zusammen und zieht mit seinen Freunden von Party zu Party. Doch immer öfter gerät er in Schwierigkeiten. Der Grund dafür liegt in seiner Vergangenheit – und niemand scheint ihm helfen zu können. Bis Eden auftaucht, die Tochter seines Stiefvaters und das Mädchen, das hinter seine Fassade blickt. Kann er sich mit ihr seinem großen Geheimnis stellen und erstmals echte Liebe wagen? Mitreißend erzählt Estelle Maskame die dunkle Kindheitsgeschichte Tylers und seine Rettung durch Eden – aus seiner Sicht!
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Seitenzahl: 817
Estelle Maskame
Ohne dich bin ich verloren
DARK LOVE 4
Roman
Aus dem Englischen von Bettina Spangler
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Das Buch
»Ich wünschte wirklich, ich wäre der Tyler, den ich so überzeugend spiele. Der Typ ist cool. Der Typ hat eine heiße Freundin, ein tolles Auto, einen großen Freundeskreis. Der Typ ist glücklich. Was die Leute nicht wissen, ist, dass das alles nur Show ist …«
Tyler Bruce ist 17 und extrem gutaussehend, er scheint alles zu haben – und niemand merkt, wie kaputt er innerlich ist. Bis seine Stiefschwester Eden auf den Plan tritt. Sie ist clever, ehrlich, direkt und in seinen Augen viel zu attraktiv für eine Stiefschwester. Vor allem aber durchschaut sie seine Bad-Boy-Fassade sofort. Sie erkennt den verletzlichen Jungen, der dahintersteckt. Der früher all die Schläge einstecken musste. Und je näher sie Tyler kommt, desto brüchiger werden die Mauern, die er um sich errichtet hat. Kann er sich endlich dem Trauma seiner Kindheit stellen und durch Edens Liebe zu sich selbst finden? In »Ohne dich bin ich verloren« lässt Estelle Maskame Tyler selbst seine Geschichte erzählen!
Die Autorin
Estelle Maskame, 1997 geboren, lebt in Peterhead, Schottland, wo sie auch zur Schule ging. Bereits mit 13 Jahren begann sie die DARK-LOVE-Serie zu schreiben, die auf Wattpad vier Millionen Reads erreichte und in Buchform auch international ein sensationeller Erfolg wurde. Zuletzt bei Heyne erschienen ist ihr eigenständiger Roman »Falling – Ich kann dich nicht vergessen«.
Lieferbare Titel
DARKLOVE – Dich darf ich nicht lieben
DARKLOVE – Dich darf ich nicht finden
DARKLOVE – Dich darf ich nicht begehren
Falling – Ich kann dich nicht vergessen
Für meine Leserinnen und Leser, ihr seid der Wahnsinn – diese Story ist für euch!
Kapitel 1
Fünf Jahre zuvor
Mit steifer Hand fahre ich mir durch das feuchte, wirre Haar. Eine Stunde bin ich in der Wanne gelegen und immer wieder mit dem Kopf untergetaucht, um zu testen, wie lange ich es unter Wasser aushalte. Meine absolute Rekordzeit liegt bei dreiundneunzig Sekunden, aber da geht noch mehr.
Ich setze mich auf den Wannenrand und greife nach der Packung Schmerzmittel am Waschbecken. Es sind nur noch wenige Pillen übrig, Mom besorgt hoffentlich bald Nachschub. Ich drücke zwei Tabletten aus dem Blister und umschließe sie mit der Faust, während ich mich zum Wasserhahn beuge und mir ein Glas einlaufen lasse. Ich schlucke die erste, dann die zweite, dann kippe ich das restliche Wasser in den Abfluss.
Mein Blick wandert zu meinem Schulterblatt. Die Haut ist abgeschürft, aber zum Glück hat es aufgehört zu bluten. Um die frische Verletzung herum blüht bereits ein farbenprächtiger Bluterguss auf, irgendwo zwischen Rot und Violett und Blau. Vorsichtig betaste ich ihn, doch der Druck löst tief unter der Haut einen dumpfen Schmerz aus. Ich würde aus der Küche Eis holen, aber ich will auf keinen Fall, dass mich irgendjemand dabei erwischt. Es ist schon fast Mitternacht. Ich sollte längst schlafen. Morgen habe ich Schule.
Ich richte mich auf und räume die Tabletten zurück in das Schränkchen über dem Waschbecken, ganz hinten in das zweite Fach von oben – höher komme ich nicht. Außerdem werde ich sie morgen ohnehin wieder brauchen. Als ich die Spiegeltür mit einem leisen Klicken schließe, starrt mir mein ausdrucksloses Gesicht entgegen. Erst jetzt fällt mir der winzige Schnitt in der Unterlippe auf. Ich schiebe mich näher heran, nehme die Lippe zwischen Daumen und Zeigefinger und inspiziere die Wunde genauer. Ich könnte nicht sagen, wann und wo das passiert ist, frisch ist sie jedenfalls nicht, also kann sie nicht von heute Abend sein.
Kopfschüttelnd trete ich zurück. Es spielt keine Rolle, woher ich die Verletzung habe, denn sobald sie verheilt ist, wird eine neue an ihre Stelle treten. Genau wie weiteres Blut fließen wird, es mehr blaue Flecken geben wird.
Mein Spiegelbild fixiert mich immer noch, die Augen ausdruckslos und mit dunklen Schatten darunter, die Schultern hängend, der Mund verkniffen, wie ein ständiges Stirnrunzeln. Mit einer Hand schiebe ich die Haare vorne hoch. Eine tiefe Schnittwunde, die parallel zu meinem Haaransatz verläuft, wird sichtbar. Sie will und will nicht verheilen, langsam mache ich mir Sorgen, es könnte sich eine Narbe bilden. Hastig streiche ich die feuchten Fransen darüber und wende mich vom Spiegel ab.
Ich greife nach meinem T-Shirt und schlüpfe hinein. Eine Reihe blassbrauner Flecken zieht sich über meinen unteren Rücken. Das darf niemand sehen, deshalb zeige ich mich nie ohne Oberteil. Ich steige in meine Shorts, schmeiße das Handtuch in die abgelassene Wanne und werfe einen letzten Blick in den Spiegel. Nichts zu sehen. Gut.
Ich ziehe vorsichtig die Tür des kleinen Badezimmers einen Spaltbreit auf und trete möglichst lautlos hinaus auf den Flur. Nirgends brennt Licht, alles ist dunkel. Unten im Wohnzimmer läuft der Fernseher, und ich höre meine Eltern über die laufende Sendung lachen. Leise schiebe ich mich die Treppe hinunter, doch im Näherkommen fällt mir auf, dass die Wohnzimmertür nur angelehnt ist. Statt schleunigst den Rücktritt nach oben anzutreten, schleiche ich darauf zu und spähe am Türstock vorbei hinein.
Mom und Dad sitzen auf dem Sofa, eng aneinandergekuschelt. Er hat die Arme um sie geschlungen und hält sie fest an sich gedrückt, das Kinn auf ihren Scheitel gestützt. Sie wirkt müde, aber glücklich. Immerhin ist sie erst vor einer Stunde von der Arbeit heimgekommen, gerade als ich die Badezimmertür hinter mir zugesperrt hatte und in die Wanne gestiegen war.
Schlagartig weiche ich von der Tür zurück und wirble herum. So schnell mich meine Füße tragen, stürme ich die Treppe nach oben, zwei Stufen auf einmal nehmend. Zum Glück dämpft der Teppich meine Schritte. Die Tür zu meinem Zimmer steht sperrangelweit offen. Ich mache das Licht an, doch bevor ich mich hineinrette, halte ich noch einmal inne und werfe einen Blick in das Zimmer zu meiner Rechten. Es ist das von meinen Brüdern.
Blinzelnd starre ich in die Dunkelheit, bis meine Augen sich daran gewöhnt haben. Mein jüngster Bruder, Chase, liegt auf dem Bauch im linken Bett und schläft seelenruhig. Er hat das Gesicht im Kissen vergraben, ein Bein baumelt über den Rand der Matratze. Im anderen Bett schnarcht Jamie leise vor sich hin. Er hat eine Beule an der Stirn, weil ihm ein Junge aus seinem Baseballteam versehentlich den Ball an den Kopf geknallt hat.
Ich wünschte, meine Verletzungen ließen sich auch auf Unfälle zurückführen.
Leise trete ich den Rückzug an und ziehe die Tür hinter mir zu, lasse sie aber einen Spalt offen stehen. Chase hat Angst im Dunkeln.
In meinem Zimmer ist alles so, wie ich es verlassen habe. Meine Mathehausaufgaben liegen zerknittert und zerfetzt auf dem Boden, völlig unbrauchbar. So kann ich das nächste Woche unmöglich abgeben. Eins der Blätter ist in drei Teile zerrissen. Es ist das mit der einen Gleichung, die ich verpatzt habe. Aber ein simpler Fehler ist offensichtlich immer noch ein Fehler zu viel, völlig egal, dass es sich nur um Siebte-Klasse-Algebra handelt. Jetzt muss ich die Aufgaben morgen noch einmal machen und dann beten, dass ich seinen Ansprüchen endlich gerecht werde.
Ich sammle die zerfetzten Blätter auf und stopfe sie in meinen Rucksack; zuletzt knipse ich das Licht aus und klettere ins Bett. Nur leider tut es höllisch weh, der Schmerz lässt mich zusammenzucken. Langsam lasse ich die Luft aus meinen Lungen entweichen, während ich mich vorsichtig auf meine rechte Seite drehe. Ich ziehe mir die Decke hoch bis unter die Nase, und dann liege ich eine gefühlte Ewigkeit wach und starre Löcher in die Dunkelheit. Ich brauche immer etwas länger zum Einschlafen.
Ich hebe die linke Hand und halte sie hoch. Vorsichtig krümme ich die Finger, lasse das Handgelenk dreimal kreisen. Diese Übung soll ich eigentlich jeden Tag mehrere Male wiederholen, aber ich vergesse es ständig. Nachdem meine Hand einen Monat lang eingegipst war, ist sie immer noch ziemlich steif. Es wird vermutlich noch mehrere Wochen dauern, bis der Bruch endgültig verheilt ist.
Plötzlich sind auf der Treppe Schritte zu hören, sofort lasse ich den Arm fallen, schließe die Augen und stelle mich schlafend. Das mache ich regelmäßig, ich bin mittlerweile ein richtiger Experte darin. Damit es noch überzeugender wirkt, öffne ich sogar ganz leicht den Mund und bemühe mich um tiefe und gleichmäßige Atemzüge.
Die Tür geht auf, gefolgt von einem Moment der Stille. Er scheint kurz innezuhalten, bevor er den ersten Schritt ins Zimmer macht. Ich weiß, dass er es ist.
Mit einem sanften Klicken schließt er die Tür. Eine Weile ist nichts zu hören außer seinen tiefen Atemzügen, dann spüre ich, wie er sich langsam durchs Zimmer bewegt. Ich weiß nicht, was er vorhat, und so gern ich herumrollen und mit eigenen Augen sehen würde, was er macht, will ich kein Risiko eingehen. Deshalb verhalte ich mich weiter mucksmäuschenstill.
Ein Rascheln ist zu hören, möglicherweise durchsucht er meinen Rucksack, es klingt, als würde er in meinen Unterlagen blättern. Wenn ich daran denke, was am frühen Abend passiert ist, scheint es mir am naheliegendsten, dass er nach meinen Mathehausaufgaben sucht. Wieder herrscht Stille. Noch mehr Geraschel, gefolgt von einem Seufzen, das fast verzweifelt klingt.
Und dann fängt er an zu reden, seine Stimme beendet die Stille. Seine Worte klingen leise und gedämpft, als er sagt: »Tut mir leid, Tyler.«
Ich kann nicht sagen, ob er denkt, ich schlafe, oder ob er weiß, dass ich wach bin. Jedenfalls entschuldigt er sich. Das ist nichts Neues, nur dass er es nie ernst meint. Denn wenn er es ernst meinen würde, müsste er es nicht gleich am nächsten Tag wieder sagen, genauso wie am darauffolgenden. Ich habe Angst, dass es immer etwas geben wird, wofür er sich entschuldigen muss.
Ich verhalte mich weiter ruhig, denn je schneller ich ihn davon überzeuge, dass ich schlafe, desto schneller verschwindet er wieder. Und er scheint es mir sogar abzunehmen, weil er nämlich nichts weiter von sich gibt. Ich glaube nicht, dass er sich von der Stelle bewegt hat, aber ich könnte auch nicht sagen, wo in meinem Zimmer er sich befindet.
Einige Minuten verstreichen, ohne dass etwas geschieht, ich konzentriere mich voll und ganz auf meine Atmung und bete zu Gott, er möge bald gehen. Endlich sind wieder Schritte zu hören, die vom Teppich fast verschluckt werden, eine Tür wird geöffnet, gefolgt von einem letzten Innehalten. Erneut ein Seufzen, doch diesmal klingt es genervt, und ich weiß nicht, ob er sich über mich oder über sich selbst ärgert. Wahrscheinlich über mich. Wie immer.
Die Tür wird zugezogen, dann ist er fort.
Erleichtert atme ich aus und schlage die Augen auf. Wenigstens kann ich mir nun sicher sein, dass die Gefahr für heute Nacht gebannt ist. Ich kann getrost schlafen; nur dass mir das nicht gelingen wird, weil ich schon seit Monaten nicht mehr richtig schlafe. Schon nach wenigen Stunden werde ich hochschrecken und eine Zeitlang an die Decke starren, bis ich erneut einnicke, und dann geht alles wieder von vorne los.
Doch obwohl ich selten erholsamen Schlaf finde, ist das der Höhepunkt des Tages. Zumindest in den nächsten sieben Stunden kann ich mich darauf verlassen, dass ich sicher bin. Ich genieße dieses Gefühl, denke aber gleichzeitig mit Schrecken daran, dass mich morgen das gleiche Spiel erwartet.
Morgen werde ich zur Schule gehen und vorspielen, dass alles in bester Ordnung ist.
Morgen werde ich wie immer alles tun, um die frischen Verletzungen vor meiner Mom zu verbergen.
Morgen werden neue Blutergüsse, neue Schnittwunden dazukommen.
Und sie werden alle auf Dads Konto gehen.
Kapitel 2
Gegenwart
Irgendwas stimmt nicht mit meinem Bier. Es schmeckt auf einmal anders. Ich kneife ein Auge zu und neige den Flaschenhals, um hineinzulinsen. Ob mir jemand heimlich was reingekippt hat, als ich kurz mal weggeschaut habe? Irgendwie riecht es verdächtig nach Rum. Verstohlen werfe ich einen Blick in Richtung Küche. Jake steht mit dem Rücken zu mir über den Tresen gebeugt und gießt verschiedene Zutaten in einen Mixer. Er tut so, als wäre er ein professioneller Barkeeper. Wie ich diesen Typen hasse.
»Was hast du?«
Ich senke den Blick zu Tiffani, die schon seit mindestens fünf Minuten wie eine Klette an mir klebt. Sie hat ihre langen Beine über meinen Schoß gelegt, ihr Kopf lehnt an meinem Bizeps. Mit kreisenden Bewegungen fährt sie mir mit den Nägeln über die Brust, bis ich plötzlich registriere, dass sie innegehalten hat. Den Kopf in den Nacken gelegt, sieht sie zu mir auf und mustert mich eindringlich unter dem dichten Kranz ihrer Wimpern hervor.
»Jake hält sich wohl für besonders witzig. Er hat mir Rum ins Bier gekippt«, sage ich. Mürrisch presse ich die Lippen zusammen und stelle die Flasche auf das kleine Tischchen gleich neben der Couch. »Komm her«, fordere ich sie leise auf. Ich ziehe den Arm unter ihr hervor und lege ihn um ihre Schultern, um sie fest an mich zu drücken. Im Gegenzug schmiegt sie sich noch enger an meine Brust, und ich weiß jetzt schon haargenau, dass mindestens fünf Schichten Make-up auf meinem T-Shirt landen werden. Aber das ist schnell vergessen, als ich den Blick an ihren langen Beinen abwärts wandern lasse. Behutsam lege ich ihr die freie Hand aufs Knie und lasse sie zart über die glatte Haut ihres Oberschenkels gleiten. Das schwarze Kleid ist eigentlich viel zu kurz und viel zu eng, aber darüber werde ich mich garantiert nicht beschweren. »Wann wollen wir los?«
»Ich dachte, so gegen elf«, antwortet sie abwesend. Sie scheint sich viel mehr für das zu interessieren, was sich aktuell zwischen uns abspielt, denn jetzt legt sie ihre Hand auf meine und schiebt sie aufmunternd an ihrem Oberschenkel nach oben unter ihr Kleid. Ich spüre die Spitze ihrer Unterwäsche, und als ich den Blick senke, lächelt sie mich an. Sie reckt den Hals, streift mit den Lippen über mein Ohr und haucht mit verführerischer Stimme: »Bleibst du heute Nacht bei mir?«
Früher hat es mich total scharfgemacht, wenn sie ihre Stimme zu diesem rauen Flüstern gesenkt hat. Aber mittlerweile lässt mich das völlig kalt. Sie stellt mir den Sex ohnehin nur in Aussicht, um mich bei der Stange zu halten.
Seltsamerweise scheint es zu funktionieren. Ich setze mich aufrechter hin und ziehe sie ganz auf meinen Schoß, die Hand immer noch unter dem Kleid an ihrer Hüfte. Mit der anderen streiche ich ihre blonden Haare zur Seite, um ihr einen Kuss auf den Hals zu drücken. Genießerisch legt sie den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und fährt mir langsam mit den Fingern durch die Haare. Ich sauge ihre Haut zwischen meine Zähne und hinterlasse sichtbare Spuren, mittlerweile so etwas wie mein Markenzeichen. Tiffani behauptet steif und fest, sie würde Knutschflecken hassen, aber das nehme ich ihr nicht ab, weil sie mich nämlich nie davon abhält.
Als sie unvermittelt von meinem Schoß herunterspringt, sich blitzschnell aufrichtet und anfängt, am Saum ihres Kleides zu zupfen, sehe ich mich irritiert nach dem Grund ihrer plötzlichen Hektik um. Wegen der lauten Musik habe ich gar nicht mitbekommen, dass sich die Haustür geöffnet hat. Zum Glück hat Tiffani es aber rechtzeitig bemerkt. Sie stellt ihren Drink auf das kleine Tischchen und versucht, ihr Kleid über die Schenkel zu zerren, was leider vergebens ist: Es geht ihr auch jetzt nur knapp über den Hintern.
»Mom!«, stammelt sie mit hochrotem Kopf und macht barfüßig ein paar Schritte auf ihre Mutter zu. »Hast du nicht gesagt, du müsstest heute länger arbeiten?«
»Sicher, aber es ist ja schon halb neun«, bemerkt Jill spitz. Mit klackernden Absätzen marschiert sie in die Küche, einen schwarzen Aktenordner an die Brust gedrückt. »Das ist lang!« Missbilligend schiebt sie die Unterlippe vor und sieht sich vorwurfsvoll um. Erst fällt ihr Blick auf die Batterie an alkoholischen Getränken, die auf dem Tresen steht, dann mustert sie Jake, der sich hektisch daranmacht, die Musik leiser zu stellen. Als Letztes nimmt sie wieder Tiffani ins Visier. »Du hast gar nicht erwähnt, dass du Freunde einladen willst.«
Tiffani wirkt immer noch nervös, was mich kaum wundert, denn wenn ich eines über ihre Mom sagen kann, dann das, dass sie gerade nicht begeistert ist. »Weil ich dachte, wir wären längst weg, bis du heimkommst«, gibt sie kleinlaut zu. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt, offensichtlich um zu verbergen, wie nackt sie in dem Kleid aussieht.
»Und wo wollt ihr noch hin?«, erkundigt sich Jill in dem für sie typischen knallharten Ton. In den drei Jahren Beziehung mit Tiffani habe ich ihre Mom glaube ich noch nie auch nur ansatzweise lächeln sehen. Sie ist eine richtig fiese Bitch. Genau wie ihre Tochter.
»Zu einer Party«, räumt Tiffani ein und zieht eine Schnute. »Ich dachte, wir könnten vorher hier abhängen. Du weißt doch, Mom. Bei solchen Feiern sollte man auf keinen Fall zu früh aufkreuzen. Das wäre megapeinlich.«
»Na schön«, meint Jill, doch ihr strenger Ton lässt keinen Zweifel daran, dass sie nicht glücklich darüber ist, uns alle hier zu sehen. »Aber stellt die Musik leise. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen.« Sie reibt sich die Schläfen, wie um ihre Aussage zu bekräftigen. Dann streift sie die Haare über die Schulter zurück, macht auf dem Absatz kehrt und stöckelt wieder hinaus. Im Vorbeigehen wirft sie mir noch einen vorwurfsvollen Blick zu und verengt die Augen zu schmalen Schlitzen. Ich hebe die Hand und winke ihr mit einem schiefen Grinsen zu. Natürlich nur, um sie zu ärgern.
Die Sache ist die: Tiffanis Mom kann mich auf den Tod nicht ausstehen. Von unserer ersten Begegnung an hatte sie eine Abneigung gegen mich, und dabei waren Tiffani und ich anfangs nur Freunde. Sie fand schon damals, dass ich kein Umgang für ihre Tochter bin. Ihrer Ansicht nach habe ich einen schlechten Einfluss auf sie, und in mancher Hinsicht trifft das wohl zu. Mit den Jahren ist aus ihrer Aversion gegen mich so etwas wie Verachtung geworden, und sie versucht noch nicht mal mehr, das zu verbergen. Dabei mache ich mir gar nicht so viel aus Tiffani, von ihrer Mom ganz zu schweigen. Diese Beziehung hat in meinen Augen ohnehin keine Zukunft, deshalb kümmert es mich nicht, ob ihre Eltern mich mögen oder nicht.
Kaum ist Jill zur Tür hinaus, atmet Tiffani erleichtert auf und schnaubt: »Sie ist manchmal echt so eine Spaßbremse.« Sie wendet sich an Jake und erklärt, dass er die Musik wieder lauter stellen soll. Er dreht jedoch nicht mehr ganz so stark auf wie vorher.
Ich stemme mich vom Sofa hoch, stehe auf und gehe zu ihnen rüber. Die beiden lehnen am Küchentresen und diskutieren laut darüber, welche Songs sie als Nächstes in die Playlist schieben und was sie noch trinken sollen. Unsanft dränge ich mich dazwischen und lege Tiffani den Arm um die Schultern. Als sie sich an mich schmiegt, merke ich, wie Jake uns aus dem Augenwinkel beobachtet. Jake Maxwell kann jedes verdammte Mädchen haben, auf das er ein Auge geworfen hat, aber Tiffani kriegt er nicht. Wahrscheinlich wird er nie verkraften, dass sie sich vor drei Jahren für mich entschieden hat und nicht für ihn. An manchen Tagen genieße ich es richtig, mit einem Mädchen zusammen zu sein, für das sich viele Jungs ein Bein ausreißen würden. Und manchmal wünsche ich mir, Tiffani hätte sich damals für Jake entschieden. Dann würde sie nämlich ihm das Leben zur Hölle machen und nicht mir.
Ich greife mir gerade eine neue Flasche Bier aus dem Sixpack, als Jake den Kopf hebt und spöttisch fragt: »Was ist denn mit dem Bier von vorhin?« Der Arsch wagt es, mich dabei schief anzugrinsen, und wieder einmal kommt mir der Gedanke, dass dieses ganze »Tun wir den anderen zuliebe so, als wären wir beste Freunde« nichts als ein Haufen Bockmist ist. Am liebsten würde ich dem Typen eine aufs Maul hauen.
Meine Miene verdüstert sich, und ich werfe ihm einen warnenden Blick zu. Meistens muss ich nicht viel sagen, um den Leuten deutlich zu machen, dass sie sich nicht mit mir anlegen sollen. Aber bei Jake ist es anders: Er ist mittlerweile daran gewöhnt, deshalb lacht er nur höhnisch und reicht mir den Flaschenöffner. Ernsthaft, ich glaube, er provoziert mich absichtlich, weil er hofft, ich könnte irgendwann doch die Beherrschung verlieren und zuschlagen. Offenbar hat er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, meine Geduld auf die Probe zu stellen.
»Was treiben eigentlich Dean und Megs so lange oben?«, will er nun wissen und mimt wie immer den Obercoolen. Demonstrativ wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr. Als er den Kopf wieder hebt, deutet er auf den Drink, den er vorhin zusammengepanscht hat. »Ich habe einen ziemlich exotischen Cocktail gemixt. Jetzt brauche ich nur noch Dean als Versuchskaninchen.«
Ich beuge mich vor und spähe angewidert in den Becher, aber das einzig Exotische daran ist die tiefgrüne Farbe. »Ich sehe lieber mal nach den beiden«, sage ich mit gerümpfter Nase.
Behutsam mache ich mich von Tiffani los, öffne das Bier und nehme auf dem Weg zur Treppe den ersten Schluck. Ohne Eile steige ich die Stufen nach oben und lasse die Bierflasche dabei locker zwischen Daumen und Zeigefinger baumeln, während ich mir mit der anderen Hand durch die Haare streiche. Es ärgert mich ein bisschen, dass ich noch nicht betrunken bin. Da uns aber noch ein paar Stunden bis zur Party bleiben, lässt sich das problemlos ändern. In nüchternem Zustand überstehe ich nämlich keine Feier.
Die Tür zu Tiffanis Zimmer ist nur angelehnt, durch den Spalt sehe ich Meghan, die allem Anschein nach gerade einen Nervenzusammenbruch hat. Hektisch rennt sie im Zimmer auf und ab, beide Hände vors Gesicht geschlagen, und seufzt unentwegt vor sich hin. Dean beobachtet sie stillschweigend und kratzt sich verlegen im Nacken.
»Ihr braucht verdammt lang hier oben, findet ihr nicht?«, sage ich spöttisch und schiebe die Tür ein Stück weiter auf. Sie sehen beide zu mir, als ich ins Zimmer trete, wobei Meghan weniger erschrocken als total genervt wirkt. Mit einem unterdrückten Fluch schmeißt sie sich schließlich auf Tiffanis Bett. Erst jetzt fällt mir auf, dass ihr Kleid hinten offen ist; ihr nackter Rücken ist zu sehen. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und schaue zu Dean. »Habt ihr zwei rumgemacht?«
»Sehr lustig«, sagt Dean. Dann schüttelt er den Kopf und deutet mit dem Kinn auf Meghan. »Der scheiß Reißverschluss klemmt.«
Meghan richtet sich wieder auf und seufzt theatralisch. »Ich werde mir was von Tiffani borgen müssen.« Als könnte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen. Ich weiß haargenau, dass sie mich umbringt, wenn ich jetzt die Augen verdrehe. Aber mal ehrlich, wie kann man wegen eines bescheuerten Kleides so ausrasten? Nach drei Jahren Beziehung mit Tiffani bin ich an solche lächerlichen Outfitprobleme allerdings gewöhnt.
»Komm her«, fordere ich sie auf. Ich stelle mein Bier auf die Kommode, halte Meghan die Hand hin und ziehe sie hoch. Dann trete ich hinter sie und lasse den Blick über ihre blasse Haut wandern, hinunter zu der Stelle knapp oberhalb ihrer Taille, an der der Reißverschluss sich in dem blauen Stoff festgefressen hat. Mit einem kräftigen Ruck nach unten gelingt es mir, ihn zu lösen. Problemlos ziehe ich ihn nun nach oben, um ihn zu schließen. Meghan atmet erleichtert auf, wirbelt herum und bedankt sich so überschwänglich, als hätte ich ihr das Leben gerettet.
Mein Blick wandert zu Dean, während Meghan fröhlich durchs Zimmer hopst, um ihre Schuhe aufzusammeln. Er verzieht das Gesicht, nimmt einen Schluck von seinem Bier und rollt demonstrativ mit den Augen. Offensichtlich wartet er nur darauf, dass ich ihn damit aufziehe. Und ich kann es mir tatsächlich nicht verkneifen.
»O Mann«, fange ich an. »Ernsthaft, du hast ihn nicht hochgekriegt?« Meine Lippen verziehen sich zu einem höhnischen Grinsen. Entschlossen mache ich einen Schritt auf ihn zu, betaste prüfend seinen Oberarm und tue so, als wäre ich enttäuscht, weil er keine Muckis hat. Dean ist ein irre netter Kerl, aber er sollte sich mehr Biss zulegen, weil er manchmal einfach zu nett ist.
»Ich dachte, das überlasse ich lieber dem Experten. Wenn man bedenkt, wie viele Reißverschlüsse du in deinem Leben schon geöffnet hast …«, zahlt er es mir heim. Das ist maßlos übertrieben, aber trotzdem lache ich mit ihm über seinen Witz. Versöhnlich reicht er mir mein Bier, damit wir anstoßen und trinken können.
Während ich mir mit dem Handrücken über den Mund wische, werfe ich einen verstohlenen Blick zu Meghan. Sie sitzt auf der Bettkante und schiebt ihre Füße gerade in die hohen Schuhe. »Wo steckt eigentlich Rachael?«, frage ich. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich sie noch nicht gesehen habe, dabei sind wir schon seit Stunden hier. Normalerweise ist sie immer mit von der Partie, und es ist eigentlich immer ganz lustig mit ihr, sie wird nämlich irrsinnig schnell betrunken. Dean stützt sie dann meistens, weil sie überhaupt nicht mehr von alleine stehen kann, und Jake versorgt sie in solchen Fällen trotzdem weiter mit Drinks und lacht sich kaputt über sie. Rachael denkt, dass ich ein Idiot bin, deshalb kann es mir im Grunde egal sein, ob sie hier ist oder nicht.
»Ihre Mom wollte, dass sie was für sie erledigt«, erklärt Meghan, »sie stößt später auf der Party zu uns. Weiß eigentlich noch irgendjemand, wie das Mädchen heißt, das die Party schmeißt? War das zufällig Lucy?«
Ich habe nicht die leiseste Ahnung, deshalb schaue ich hilfesuchend zu Dean. Er kennt alle und jeden, ganz egal, ob einer seinen Abschluss vor drei Jahren gemacht hat oder gerade erst mit der Highschool angefangen hat. Ehrlich, ich kapiere nicht, warum er sich die Mühe macht, sich sämtliche Namen zu merken. »Genau. Lucy«, bestätigt er. »Elfte Klasse, glaube ich.«
»Keinen Schimmer«, murmle ich. Wer auch immer sie ist, es überrascht mich jedenfalls nicht, dass wir zu ihrer Party eingeladen sind. Wir werden dauernd von irgendwelchen Leuten eingeladen, die wir kaum kennen.
Von der Tür her ist ein Räuspern zu hören. Alle drei wenden wir die Köpfe und sehen Tiffani an den Türrahmen gelehnt stehen. Ihr Lächeln wirkt angespannt und verschlossen, gedankenverloren zwirbelt sie sich eine Locke um den Zeigefinger, den Blick auf Dean und Meghan gerichtet. Mich scheint sie zu ignorieren. »Jake hat Drinks gemixt«, sagt sie langsam, als wäre sie nicht richtig bei der Sache, dann fügt sie mit festerer Stimme hinzu: »Ihr solltet runtergehen und sie probieren.« Ihr Lächeln wird breiter, und ihre Zähne blitzen auf.
»Mit anderen Worten: Raus aus meinem Zimmer! Du willst uns loswerden, oder?«, witzelt Dean, aber er hat recht. Was anderes hat sie nicht im Sinn. Doch statt auf die Sticheleien einzugehen, lässt Tiffani nur ihre irre langen Wimpern flattern. »Komm mit, Megs«, lenkt er ein. »Lassen wir die zwei allein.«
Er fasst Meghan an der Hand, zieht sie vom Bett hoch und stützt sie, als sie auf ihren hohen Absätzen ins Straucheln gerät. Auf dem Weg hinaus wirft er mir über die Schulter einen verschwörerischen Blick zu, und ich ertappe mich dabei, wie ich grinse. Tiffani ist nicht gerade ein Ass darin, ihre Absichten zu verschleiern. Normalerweise ist allen sofort klar, was sie bezweckt. So wie jetzt – zufrieden sieht sie zu, wie Dean und Meghan die Treppe nach unten gehen, dann schließt sie die Tür und wendet sich mir zu. Jetzt sind wir allein.
»Konntest es wohl nicht mehr erwarten, wie?«, ziehe ich sie mit einem anzüglichen Grinsen auf, setze die Bierflasche an und leere sie in einem Zug. Dann stelle ich sie auf der Kommode ab, kremple die Ärmel meines Flanellhemds bis knapp unter die Ellbogen hoch und gehe auf sie zu. Alle diese Bewegungen sind mir so vertraut, so sehr zu einem Teil der Routine geworden, dass meine Hände fast wie von allein nach ihren Hüften fassen und mein Mund sich seitlich auf ihr Kinn presst. Der überwältigende Duft ihres Parfüms raubt mir fast den Atem.
Aus irgendeinem Grund aber macht sie nicht mit, und nach wenigen Augenblicken legt sie mir eine Hand an die Brust und schiebt mich weg. Fragend starre ich sie an, die Lippen zu einem verwunderten O geformt. Ich bin völlig perplex, denn Tiffani hat mir noch nie einen Korb gegeben. Mit einem Mal wirkt ihre Miene gequält und angespannt. »Du hast dein Handy unten vergessen«, sagt sie mit einem schneidenden Unterton und hält es hoch.
Obwohl ich genau weiß, dass das mein Handy ist, klopfe ich unwillkürlich meine hinteren Jeanstaschen danach ab. Als ich mit einem gleichgültigen Schulterzucken die Hand danach ausstrecke, reißt sie den Arm zurück. Langsam, aber entschieden schüttelt sie den Kopf. Es ist nicht zu übersehen, dass sie wegen irgendetwas auf mich sauer ist, und ich weiß haargenau, dass ich das für den Rest des Abends büßen werde, es sei denn, ich finde eine Möglichkeit, sie wieder gnädig zu stimmen. Seufzend kratze ich mich an der Schläfe.
»Ich habe gelesen, was du und Declan euch geschrieben habt«, stellt sie nach einem kurzen Moment klar.
»Und?« Ich kapiere nicht, wo das Problem liegt. Klar, er soll mir für später ein paar Tüten besorgen, aber das ist schließlich nichts Neues. Tiffani weiß Bescheid, deshalb sollte es sie nicht wundern.
Tiffani macht einen Schritt auf mich zu und hebt den Kopf. Wütend funkelt sie mich an. »Ich habe alle deine Nachrichten an Declan gelesen«, formuliert sie es mit einem gewissen Nachdruck in der Stimme neu. Diesmal brauche ich nur einen Sekundenbruchteil, um zu verstehen, worauf sie anspielt. Ich zermartere mir das Hirn, was ich sagen könnte, um mich zu rechtfertigen. Aber in meinem Kopf herrscht gähnende Leere, und ich stehe wie ein Reh im Scheinwerferlicht vor ihr, zu keiner Reaktion in der Lage.
»Das ist nicht dein Ernst, oder?«, fragt sie, und ihr Ton wird weicher. Ihre schmalen Schultern sacken eine Spur nach unten. »Das kann nicht dein Ernst sein. Du machst schon genug dummen Scheiß. Aber ich schwöre bei Gott, Tyler, das lasse ich nicht zu. Das geht eindeutig zu weit. Ich will garantiert nicht das Mädchen sein, dessen Freund im Knast sitzt. Wie stehe ich denn dann da?«
Ich presse die Lippen zusammen, immer noch unsicher, wie ich mit dieser unerwarteten Konfrontation umgehen soll. Mit den Jahren habe ich die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, sich nicht mit Tiffani zu streiten, sondern einen Fehler schleunigst einzuräumen, damit wieder Ruhe herrscht. Ich habe außerdem gelernt, dass es ihr im Grunde egal ist, was ich mache; sie interessiert sich nur dafür, was für ein Licht es auf sie wirft.
»Ist doch noch nichts passiert«, protestiere ich schwach. Ehrlich, ich finde nicht, dass das so ein Riesending ist. »Wir haben nur mal überlegt.«
»Aber warum?«, bedrängt sie mich und wirft frustriert die Hände hoch, weil ich offenbar immer die falschen Entscheidungen treffe. »Wie kommst du überhaupt auf diese Idee? Ist ja nicht so, als bräuchtest du die Kohle. Was hat dich geritten, an so was Bescheuertes überhaupt zu denken?«
Mir fällt nichts anderes ein, als mit der Schulter zu zucken, weil ich darauf tatsächlich selbst keine Antwort weiß. »Was habe ich zu verlieren?«
Völlig entgeistert sieht Tiffani mich an, als hätte ich endgültig den Verstand verloren. »Äh. Alles?«, sagt sie mit einem gewissen Sarkasmus in der Stimme. »Wenn du glaubst, ein Leben als Drogendealer wäre eine prima Idee, dann bist du sogar noch beschränkter, als ich dachte.«
Ich schließe die Augen und atme ganz langsam aus. Es kostet mich allergrößte Mühe, Ruhe zu bewahren. Sie bauscht das alles viel zu sehr auf; aber heute Abend neige ich eher dazu, in die Defensive zu gehen, statt sofort klein beizugeben und mich zu entschuldigen. »Ist doch bloß ein bisschen Gras.«
»Eben, genau das Gleiche hast du gesagt, als du angefangen hast, das Zeug zu rauchen. Und jetzt schau dir an, wo das hingeführt hat.« Unsanft packt sie meinen Arm und drückt mir das Handy in die Hand. »Erst verkaufst du Hasch an Neuntklässler, und am Ende vercheckst du im großen Stil Koks an genau solche Loser wie dich.«
Wieder schüttelt sie den Kopf, dieses Mal sichtlich verärgert, und wendet sich von mir ab. »Ich will heute Abend nichts mehr von dir hören. Du widerst mich an. Und wenn ich Declan über den Weg laufe, bekommt er von mir eine gescheuert.«
Ich presse die Kiefer zusammen und kann mir nur mit Müh und Not eine Antwort verbeißen. Wenn ich jetzt auch nur einen Ton sage, eskaliert es, so viel steht fest. Ich bin stinksauer, aber ich darf mich nicht provozieren lassen, sonst flippe ich nämlich richtig aus, und dann kriegt sie was zu hören. Der Alkohol macht die Situation auch nicht besser, im Gegenteil. Als Tiffani mir den Rücken zukehrt und auf die Tür zuhält, zwinge ich mich, ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Dieses Gespräch wäre damit wohl beendet. Zumindest habe ich jetzt für ein paar Stunden meine Ruhe und kann runterkommen. Hinterher kann ich ihr ja wieder Honig ums Maul schmieren. Doch dann tut sie etwas, das ich nicht erwartet habe. Sie bleibt unvermittelt stehen, dreht sich zu mir um und öffnet ihren kleinen Schmollmund noch einmal.
»Weißt du, Tyler«, zischt sie, und ihre Lippen verziehen sich zu einem selbstgefälligen, grausamen Lächeln, »manchmal habe ich das Gefühl, du willst ins Gefängnis, genau wie dein Dad.«
Der letzte Rest Selbstbeherrschung, an den ich mich die ganze Zeit geklammert habe, ist dahin. Das hat sie nicht ernsthaft gesagt. Ich balle die Hände zu Fäusten. Rasende Wut kocht in mir hoch und breitet sich in mir aus wie ein Lauffeuer. Ich muss meinem Ärger irgendwie Luft machen. Mit einer blitzschnellen Bewegung schnappe ich mir das Erstbeste, das ich zu fassen kriege: die leere Bierflasche auf der Kommode. Blind vor Wut schleudere ich sie an die gegenüberliegende Wand, wo sie zerschellt und in einer Kaskade aus unzähligen Scherben zu Boden rieselt. Mein Atem geht stoßweise, in meinen weit aufgerissenen Augen liegt ein wilder Ausdruck. Als ich mich zwinge, Tiffani anzusehen, steht ihr der Mund vor Entsetzen offen.
»Ich haue ab«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich stecke mein Handy weg und fische den Autoschlüssel aus der anderen Hosentasche, bevor ich mich an ihr vorbeischiebe.
»Gut!«, brüllt Tiffani und deutet auf die Scherben. »Du bist so ein verdammtes Arschloch!«
Ich könnte ganz andere Dinge über sie sagen, viel üblere Sachen, aber ich weiß, dass ich verschwinden muss, bevor die Pferde noch mehr mit mir durchgehen. Ich wünschte, ich hätte meine Aggressionen besser unter Kontrolle, aber ich wurde nun mal dazu erzogen, und irgendwie liegt es mir wohl auch im Blut.
Kaum habe ich die Zimmertür aufgerissen, schlägt mir von unten aus der Küche die laute Musik entgegen. Ich höre Meghan lachen, bin aber absolut nicht in der Stimmung, heute Abend noch mit den anderen zu feiern. Wütend stürme ich die Treppe hinunter, will nur noch möglichst weit weg von hier und Tiffani. Ich halte den Blick fest auf die Haustür gerichtet und laufe stur darauf zu, ohne Dean, der meinen Namen ruft, auch nur eines Blickes zu würdigen. Wenig später bin ich zur Tür hinaus und schlage sie hinter mir zu.
Mein Auto steht direkt vor dem Haus am Straßenrand. Ich habe zwar schon mehrere Flaschen Bier intus, aber mein Wunsch, von hier zu verschwinden, ist zu groß, um mich noch an die Gesetze zu halten. Im Moment interessiert mich das alles einen feuchten Dreck.
Ich schließe auf und klemme mich hinters Steuer, während ich gleichzeitig die Tür hinter mir zuknalle und hektisch am Sicherheitsgurt zerre. Der Motor erwacht mit einem lauten Röhren zum Leben, und sofort ramme ich den Fuß aufs Gaspedal und beschleunige derart aggressiv, dass die Reifen durchdrehen. Und ich denke nicht daran, das Stoppschild direkt vor mir zu beachten und das Tempo zu drosseln. Das mache ich nie.
Kapitel 3
Fünf Jahre zuvor
Der Bluterguss auf der Schulter scheint über Nacht schlimmer geworden zu sein. Er ist angewachsen und tut doppelt so weh, und selbst jetzt, da ich am Küchentisch sitze und das Müsli in mich hineinzwinge, merke ich, wie höllisch er schmerzt.
Es ist kurz vor halb acht. In zehn Minuten muss ich los zur Schule, aber ich will nicht. Wir haben heute Sport, und ich habe Angst, dass in der Umkleide alle sehen, wie schlimm mein Rücken zugerichtet ist. Allein bei dem Gedanken daran wird mir schlecht. Mir bleibt also gar nichts anderes übrig, als zu schwänzen.
»Schläfst du noch?«, zieht meine Mutter mich lachend auf. Ihre fröhliche Stimme holt mich in die Realität zurück. Mit flatternden Lidern sehe ich zu ihr auf, der Löffel in meiner Hand auf halbem Weg zum Mund. Ich war wieder mal völlig weggetreten. Mom verteilt Teller auf dem Tisch und lächelt mir mit hochgezogener Braue liebevoll zu. Sie ist bereits für die Arbeit angezogen, inklusive Stöckelschuhen und allem. Das zum Rock gehörige Jackett hängt an der Tür bereit.
»Nein, nein«, schwindle ich. Mit der freien Hand reibe ich mir die Augen, dann widme ich mich wieder meinen Frühstücksflocken und schaufle mir schweigend Löffel um Löffel in den Mund. Morgens bin ich am liebsten mit Mom allein, aber die Zweisamkeit hält leider nie lange an. Jamie und Chase werden bald nach unten gestürmt kommen, sobald Mom ihnen zugerufen hat, dass sie sich sputen sollen. Und auch Dad wird sich zu uns gesellen, sobald er mit Rasieren fertig ist und er seine Krawatte gefunden hat.
»Und, wie sieht dein Stundenplan für heute aus?«, erkundigt sich Mom. Sie bemüht sich morgens für meinen Geschmack immer ein bisschen zu sehr um mich, weil sie findet, ich wäre immer so in mich gekehrt. In Wirklichkeit suche ich nur krampfhaft nach Gründen, warum ich weiteratmen sollte.
»Bio, Mathe – und Sport«, antworte ich zerknirscht.
»Hmm«, macht Mom und hört auf, geschäftig durch die Küche zu wirbeln. Mit ernster Miene sieht sie mich an. »Apropos Sport, ich habe gestern einen Brief aus der Schule bekommen. Von deinem Sportlehrer.« Mein Blick schnellt hoch. Aufmerksam behält sie mich im Auge, als würde sie eine Erklärung von mir erwarten. Aber ich habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Reglos sitze ich da und knete die Hände im Schoß, während sie sich umdreht und ein gefaltetes Blatt Papier aus einer Schublade holt. Sie öffnet den Brief und räuspert sich. Die einleitenden Worte scheint sie zu überspringen, sie kommt direkt zum eigentlichen Kern des Schreibens. »Langsam mache ich mir Sorgen um Tyler. Er hat im vergangenen Monat mehrfach nicht an meinem Unterricht teilgenommen, und bislang habe ich ein Auge zugedrückt, aber wenn das so weitergeht, werde ich Direktor Castillo in aller Form Bericht erstatten müssen«, liest sie vor und mustert mich anschließend über den Rand des Briefes. »Was ist los? Ich dachte, du magst Sport.«
»Tu ich auch«, beeile ich mich zu sagen, aber ich weiß haargenau, dass ich keine Wahl habe, als sie zu belügen. Betreten wende ich den Blick ab. »Es ist echt merkwürdig, aber mir ist vor Sport in letzter Zeit immer total schlecht. Also so richtig kotzübel. Deswegen schwänze ich immer. Weil ich ganz dringend frische Luft schnappen muss.«
Mom scheint mir das nicht ganz abzukaufen, aber eine bessere Ausrede fällt mir auf die Schnelle nicht ein. Ich kann ihr ja schlecht die Wahrheit sagen – dass ich schwänze, weil ich mich nicht vor den anderen ausziehen will, weil da zu viele blaue Flecken sind, die keiner sehen darf, weil mir beim Sport jeder Knochen im Leib wehtut.
»Vielleicht sollte ich mit dir zu Dr. Coleman gehen. Wenn dir dauernd schlecht ist«, sagt sie mit besorgter Miene und stemmt die Hände in die Hüften.
»Nein, nicht nötig«, wehre ich sofort ab und richte mich kerzengerade auf. Mein Puls fängt an zu rasen, und meine Kehle ist mit einem Mal staubtrocken. Ich muss mehrmals schlucken, bevor ich wieder ein Wort herausbringe. »Ich versäume keine Sportstunde mehr, versprochen.« In meine Stimme schleicht sich ein flehender Unterton, doch das Gespräch findet abrupt ein Ende, als auf der Treppe lautes Trampeln zu hören ist. Jamie und Chase sind im Anmarsch.
Kurz darauf kommen meine Brüder in die Küche geschossen, mit viel Geremple und Gestoße, weil jeder der Erste sein will. Jamie schubst Chase gegen die Wand und nimmt mit zufriedener Miene auf dem Stuhl neben mir Platz. Chase dagegen wirkt weniger glücklich.
»Mooom!«, jammert er und reibt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter. Er wirft einen wütenden Blick in Jamies Richtung. Dann rennt er schmollend zu Mom.
»Könnt ihr zwei nicht endlich mal vernünftig werden«, schnaubt sie, nimmt Chase aber trotzdem in den Arm, um ihn fest an sich zu drücken und ihm durch die Haare zu strubbeln. »Ach, Chase«, seufzt sie und lacht, »du hast dein Oberteil falsch herum an.« Schnell macht sie sich daran, ihm das T-Shirt über den Kopf zu ziehen.
Sofort wendet sich Jamie mit hellwachen Augen mir zu. »Ich wusste schon, dass er das falsch herum anhat«, flüstert er, »aber ich hab nichts gesagt.« Jamie sprüht schon morgens immer voller Energie, ich bin richtig neidisch.
»Warum nicht?«, frage ich leise zurück.
»Weil dann alle denken, er ist blöd, das finde ich lustig«, sagt er. Er zieht die Beine hoch, kniet sich auf den Stuhl und schnappt sich die Schachtel mit den Frühstücksflocken. Dann lässt er seine Hand darin verschwinden.
»Jay«, ermahnt Mom ihn mit erhobenem Zeigefinger. »Nimm eine Schale.« Sie hilft Chase auf den gegenüberliegenden Stuhl und schiebt ein Schüsselchen über den Tisch. Ich glaube nicht, dass sie den morgendlichen Trubel mag. Sie lässt sich schnell stressen von uns, vor allem Jamie kostet sie einiges an Nerven. Sie seufzt nur matt, als er beim Einfüllen in die Schale die Hälfte der Cornflakes über dem Frühstückstisch verteilt.
»Ups«, meint er nur und fängt an, Chase damit zu bewerfen.
»Also«, sagt Mom und atmet tief durch, während sie Brot in den Toaster steckt. Als sie sich wieder umdreht, lehnt sie sich gegen den Küchentresen, verschränkt die Arme vor der Brust und mustert uns einen nach dem anderen. »Habt ihr auch alle eure Hausaufgaben gemacht?«
Wir nicken einträchtig. Ich für meinen Teil erledige meine Hausaufgaben immer sofort. Dafür sorgt Dad.
»Sind eure Rucksäcke gepackt?«, fährt sie fort. »Habt ihr alles, was ihr braucht?«
Wieder nicken wir. Ich hasse diese morgendliche Routine. Immer die gleichen Fragen, immer die gleichen Antworten. Und dabei habe ich die ganze Zeit ein flaues Gefühl im Magen, weil Dad jeden Moment reinkommen könnte.
Jamie mampft genüsslich sein Müsli und schmatzt mir mit offenem Mund absichtlich ins Ohr. Mom hat ihre Aufmerksamkeit mittlerweile aber auf den Fernseher an der Wand gerichtet und kämpft mit der Fernbedienung, weil sie die Frühnachrichten sehen will. Als sie endlich den richtigen Sender gefunden hat, stellt sie die Lautstärke leiser und linst aus dem Augenwinkel immer wieder auf den Bildschirm, während sie für Chase einen Toast mit Butter beschmiert. Dann stellt sie den Teller vor ihn hin, und er grinst breit. Jeden Morgen das Gleiche, nur glückliche und zufriedene Gesichter.
Nur ich habe den Eindruck, weit weg zu sein – als hätte ich nichts mit alldem zu tun, als wäre ich gar nicht wirklich hier. Ich fühle mich so taub, so leer. Ich bin inzwischen so abgestumpft gegen alles, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es ist, sich auf sein Umfeld einzulassen. Ich befinde mich in einem Schwebezustand und scheine überall zu sein, nur nicht hier.
Ein Geräusch aus dem Flur reißt mich aus meiner Trance. Mit schweren Schritten nähert sich Dad, eine fröhliche Melodie vor sich hin pfeifend, wie er es nur an guten Tagen tut. Ich glaube, außer mir fällt das niemandem auf. Mom hat noch nicht mal mitgekriegt, dass es auch schlechte Tage gibt.
Ich schnappe nach Luft und kneife die Augen zu, um mich zu wappnen. Als ich sie wenig später wieder aufschlage, kommt er gerade lächelnd zur Tür hereinspaziert. Ich hasse es, wenn er morgens so gut gelaunt ist. Hat er denn vergessen, was gestern Abend passiert ist?
Falls er sich erinnert, ist er sich keiner Schuld bewusst, und bei dem Gedanken könnte ich kotzen.
»Oh, was würde ich alles geben für eine schöne Tasse Kaffee«, witzelt Dad. Er streicht sich mit der Hand übers Haar und lässt sie in den Nacken gleiten, während er am Tisch vorbei direkt auf Mom zugeht.
Ich behalte ihn aufmerksam im Auge, wie immer.
»Bitte schön«, schmunzelt Mom und drückt ihm einen dampfenden Becher in die Hand. Sanft schließt er seine Finger darum und berührt dabei die ihren, sie wechseln einen liebevollen Blick. So läuft das jeden Morgen; sie hat immer einen Kaffee für ihn vorbereitet. Das ist auch ein Teil der morgendlichen Routine, an die wir uns alle so gewöhnt haben.
Dad bedankt sich, führt die Tasse an den Mund und nimmt einen großen Schluck. Dann hält er ihr die blaue Krawatte hin. Er hebt sein Kinn an und beobachtet sie mit zärtlicher Zuneigung dabei, wie sie die oberen Knöpfe seines Hemdes schließt, ihm die Krawatte um den Nacken legt und sie sorgfältig bindet. »Danke«, sagt er schließlich noch einmal und drückt ihr einen Kuss auf die Wange.
»Dad«, macht Chase ihn auf sich aufmerksam. »Jamie hat mich geschubst.«
»Das nennst du schubsen?«, wehrt sich Jamie empört. Er kniet wieder auf dem Stuhl und hat drohend die Faust erhoben. »Ich zeig dir gleich, was schubsen ist.«
Damit kenne ich mich auch aus, denke ich.
Dad dreht sich zu den beiden Streithähnen um, runzelt missbilligend die Stirn und lässt den Blick zwischen meinen Brüdern hin und her wandern. Dann zieht er sich den Stuhl neben Chase heraus, lässt sich darauf nieder und lehnt sich zurück. »Wann hört ihr beide endlich auf, euch andauernd zu streiten? Also bitte, Jay, du wirst im Januar zehn Jahre alt. Das ist schon zweistellig. Da sollte man seinen kleinen Bruder eigentlich nicht mehr ärgern.«
Jamie sackt in sich zusammen. »Echt?«
»Echt«, bestätigt Dad mit einem feierlichen Nicken, ehe er in schallendes Gelächter ausbricht und Chase, den er jetzt verschwörerisch mit dem Ellbogen knufft, zublinzelt. Er nimmt einen weiteren Schluck von seinem Kaffee, dann fällt sein Blick zum ersten Mal an diesem Morgen auf mich. Er sieht mich über den Rand seiner Tasse an, und die Wärme in seinem Ausdruck weicht einer gewissen Härte. »Da ist aber heute jemand besonders gesprächig, wie?«, meint er spöttisch und stellt die Tasse ab.
»Ich weiß auch, warum«, höre ich Mom sagen, und mir weicht augenblicklich alle Farbe aus dem Gesicht, als sie die Hand nach dem Brief ausstreckt. Bitte zeig ihm das nicht. Bitte, bitte nicht. »Wie es aussieht, hat er fünf Mal hintereinander Sport geschwänzt«, teilt sie ihm mit. Mein Magen ist wie zugeschnürt, als sie sich über seine Schulter beugt und ihm das Schreiben reicht. »Ich werde Mr. Asher mitteilen, dass es nicht wieder vorkommen wird. Stimmt’s, Tyler? Du versprichst es doch, ja?«
Mir ist so schlecht, dass ich keinen Piep rauskriege. Hastig nicke ich. Dad liest den Brief, sein Mund nur noch eine schmale, harte Linie. Mit Schrecken beobachte ich, wie sich der Ausdruck in seinen Augen mit jedem gelesenen Wort weiter verdüstert. Als er fertig ist, heftet er seinen Blick wieder auf mich. »Verdammt, warum schwänzt du den Unterricht? Das ruiniert deine Noten.«
»Jemand kriegt jetzt Ärger«, kichert Jamie neben mir, und er hat recht: Ich werde Ärger kriegen.
Damit wäre es nun offiziell keiner von Dads guten Tagen mehr. Von dieser Sekunde an ist er einer von den schlechten, und ich werde die Konsequenzen später schmerzhaft zu spüren bekommen.
Immer noch wartet Dad auf eine Erklärung. Einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Wenn wir zwei alleine wären, würde ich ihm auch nicht antworten, aber mir ist klar, dass ich etwas sagen muss, egal was. Also halte ich mich an meine Ausrede von vorhin. »Mir war schlecht«, murmle ich kaum hörbar.
Misstrauisch wandern Dads Augenbrauen nach oben. »Fünf Mal hintereinander?«
Ich hätte mir was Besseres ausdenken sollen. Er glaubt mir nicht. Warum auch? Es ist gelogen, und das entgeht ihm keineswegs. Hilflos zucke ich mit der Schulter, halte den Blick in meinen Schoß gesenkt und starre die kleine Abschürfung auf meiner Handfläche an. Sie war mir noch gar nicht aufgefallen.
»Kein Schwänzen mehr«, ermahnt auch Mom mich noch einmal, und diesmal klingt ihr Ton richtig streng. Ich nicke, ohne den Kopf zu heben, und ich bin erleichtert, dass sie danach den Fernseher lauter stellt. Ich bin erleichtert, dass Chase um einen zweiten Toast bittet. Ich bin erleichtert, dass das Gespräch damit beendet ist.
Gefühlte fünf Minuten lang halte ich den Blick gesenkt. Ich kann niemandem in die Augen sehen, schon gar nicht Dad. Ich habe immer noch Magenkrämpfe. Ich weiß haargenau, dass er sauer auf mich ist, und natürlich ist mir klar, dass er mich nicht ungeschoren davonkommen lassen wird. Ich hasse Mr. Asher für diesen Brief.
»Also gut«, verkündet Dad schließlich. Ich zwinge mich, ihn anzusehen, während er seinen Kaffee leert, sich den Mund mit der Kuppe seines Daumens abwischt und dann aufsteht. Er schaut auf die goldene Rolex an seinem Handgelenk. »Dann bringe ich dich besser mal zur Schule.« Er schaut mich zwar nicht an, aber ich weiß genau, dass ich gemeint bin. Jeden Morgen setzt Dad mich auf dem Weg zur Arbeit vor der Schule ab. Und Mom nimmt Jamie und Chase mit.
»Geh und mach dich fertig«, weist Mom mich vom Spülbecken aus an. Ich glaube, sie hat sich noch kein einziges Mal hingesetzt. Dazu fehlt ihr morgens die Zeit. »Und vergiss nicht, dir die Zähne zu putzen.«
Ich kann es kaum erwarten, aus der Küche rauszukommen; weil ich Dads finsteren Blick fürchte. Im Moment würde ich alles tun, um nicht bei ihm mitfahren zu müssen. Ich wünschte, ich müsste mich in echt übergeben, dann könnte ich zu Hause bleiben. Aber natürlich hoffe ich das vergebens, also rutsche ich von meinem Stuhl und gehe mit unsicheren Schritten durch die Tür.
Gerade als ich den Fuß auf die erste Treppenstufe setzen will, tritt Dad in den Flur.
»Tyler«, ruft er, und ich bleibe wie angewurzelt stehen. Ich drehe mich nicht um, sehe aber über die Schulter, wie er das Jackett anzieht und seine Krawatte geradezieht. Er wirkt nicht mehr ganz so aufgebracht, aber auch nicht freundlich. Mit einem knappen Nicken und ausdrucksloser Miene sieht er mich an. »Ich warte im Wagen auf dich.«
Als ich die Treppe hinaufeile, wünsche ich mir einfach nur, er würde es nicht tun.
Kapitel 4
Gegenwart
Scheiße, denke ich. Die Grillparty.
Das Gartenfest ist schon in vollem Gange, als ich direkt vor unserem Haus derart heftig bremse, dass ich kurz ins Schleudern gerate. Am Straßenrand sind keine Autos geparkt, was daran liegt, dass Mom ausschließlich Nachbarn eingeladen hat. Einmal im Jahr veranstaltet sie so eine Grillparty, und jedes Mal kommt zuverlässig die halbe Nachbarschaft mit Kisten voller Bier anspaziert. Ich weiß nicht, warum Mom nach wie vor jedes Mal auf meiner Anwesenheit besteht. Ich kann mir nämlich nichts Lahmeres vorstellen als so eine Grillfeier, vor allem wenn man bedenkt, dass ich die Hälfte der Nachbarn ohnehin hasse. Mrs. Harding, die ein paar Häuser weiter wohnt, zum Beispiel. Sie hat mir einmal die Bullen auf den Hals gehetzt, nur weil ich es gewagt habe, ihren Rasen zu betreten. Oder Mr. Fazio von gegenüber? Er musste es meiner Mom unbedingt brühwarm erzählen, als ich einmal eine Party geschmissen habe, während sie verreist war. Und dann Mrs. Baxter ganz am nördlichen Ende der Deidre Avenue … Sie beschwert sich andauernd, mein Auto sei so laut.
Also ja, normalerweise spare ich mir diese jährlich wiederkehrende Tradition sehr gerne.
Ich würge den Motor ab und ziehe den Schlüssel aus dem Zündschloss. Dann stoße ich die Tür auf und steige aus. Jetzt kann ich schon die Musik aus dem Garten hören, und der widerliche Geruch nach Grillfleisch löst einen kurzen Würgereiz bei mir aus. Ich hasse es zu grillen, nicht wegen des geselligen Beisammenseins, das ist es gar nicht. Es liegt an diesem ekligen Gestank nach verbranntem Fleisch. Ich bin nämlich seit Jahren Vegetarier. Ich fahre mir mit den Fingern durch die Haare und ziehe daran, bis ich mich wieder gefangen habe. Meine Laune ist total im Keller. Dass ich jetzt auch noch das hier durchstehen muss, macht es nicht besser.
Ich verenge die Augen zu schmalen Schlitzen und mache mich auf den Weg in den Garten, entschlossen, trotz meiner Wut eine gute Show abzuziehen. Grob stoße ich das Gartentor mit der Faust auf, und sofort ebbt das Stimmengewirr ab, bis nur noch die Musik zu hören ist. Ich sehe Mrs. Harding, die mich mit angewidertem Blick beäugt.
»Entschuldigt die Verspätung«, wende ich mich an die versammelte Gästeschar. Ich halte Ausschau nach Mom, bin aber froh, sie nirgends zu entdecken. Weil mir klar ist, wie peinlich sie meinen Auftritt finden würde. Allerdings kann ich angesichts der vielen Leute hier gar nicht anders, als mich von meiner schlimmsten Seite zu präsentieren. Am Grill entdecke ich Dave, dieses Arschloch von einem Stiefvater. Er fixiert mich die ganze Zeit schon mit einem drohenden Blick, als Warnung, dass ich bloß die Klappe halten soll. Aber das spornt mich natürlich erst recht an. »Habe ich irgendwas verpasst – bis auf das Abschlachten der Tiere?« Damit zeige ich ihm verbal den Stinkefinger. Er hat es nicht anders verdient. Empörtes Gemurmel ist zu hören, aber das interessiert mich nicht. Ich könnte sogar noch eine Schippe drauflegen; zum Beispiel könnte ich den Stapel Bierkästen zu meiner Rechten mit einem kräftigen Tritt umwerfen. Weil ich aber noch an meinem Streit mit Tiffani zu knabbern habe, lasse ich es bleiben. »Hoffentlich hat euch die Kuh geschmeckt, die ihr gerade vertilgt habt.« Ich lache, weil ich gar nicht anders kann. Wenn ich es nämlich nicht täte, würde ich vielleicht doch noch jemandem die Fresse polieren.
Bevor meine Aggressionen mit mir durchgehen, wende ich mich ab. In dem Moment höre ich Dave sagen: »Will noch jemand Bier?« Betretenes Gelächter ist zu hören, während ich durch die Terrassentür im Haus verschwinde. Rücksichtslos knalle ich sie hinter mir zu, dann stoße ich die Luft aus, erleichtert, endlich abtauchen zu können. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren, in der Küche ist es angenehm kühl. Ich gehe weiter in den Flur und will nach oben in mein Zimmer, um zu chillen, bis mein Ärger verraucht ist.
Doch gerade als ich den Fuß auf die Treppe setzen will, höre ich, wie Mom meinen Namen ruft. Einen Augenblick lasse ich den Kopf hängen, um meine Gedanken zu sortieren und mir eine Ausrede zurechtzulegen, bevor ich mich zögernd umdrehe. Ich kann mich einem Gespräch mit ihr unmöglich entziehen. Nur hoffe ich, dass sie das Bier in meinem Atem nicht riecht. Sie würde ausflippen, wenn sie wüsste, dass ich angetrunken gefahren bin.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht?«, zischt sie mit gedämpfter Stimme. Aus zusammengekniffenen Augen sieht sie mich an, als ich mich zu ihr umdrehe. Im ersten Moment bringe ich nicht viel mehr als ein müdes Achselzucken zustande. Ich bin nicht gut darin, Antworten auf Fragen zu liefern, die mir selbst ein Rätsel sind.
»Wo warst du so lange?«, fügt sie dann hinzu. Sie ist richtig gekränkt, das sieht man, und sofort habe ich Gewissensbisse. Bevor sie weiterspricht, vergewissert sie sich mit einem prüfenden Blick über ihre Schulter, dass uns auch ja keiner zuhört. Dann packt sie mich am Ellbogen und zerrt mich ins Wohnzimmer. »Ich hab dich doch ausdrücklich gebeten, heute Abend hier zu sein. Und du glaubst, du kannst einfach so mir nichts, dir nichts Stunden später hier reinspazieren und dich derart ungehobelt aufführen?« Wütend schließt sie die Augen und massiert sich die Schläfen. Als wäre ich ein Kopfschmerz, den man so wieder loswird.
Ich bin mir nur allzu bewusst, dass ich getrunken habe, deshalb weiche ich zur Sicherheit ein paar Schritte zurück, um mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Schließlich will ich nicht noch zusätzlich Öl ins Feuer gießen. »Ich bin nicht mal zu spät«, protestiere ich. Streng genommen hat sie nämlich nur gesagt, dass ich hier sein soll, aber nicht, wann. Und jetzt wäre ich ja hier.
»Du bist zwei Stunden zu spät!«, herrscht sie mich an, die Augen nun wieder weit aufgerissen. Normalerweise lässt sie mich schneller vom Haken. Ich wünschte, sie würde sich nicht ausgerechnet jetzt mit mir streiten.
Wieder lache ich, aber nur, um nicht vollends die Kontrolle zu verlieren. »Hast du echt geglaubt, ich komm nach Hause, um mir euer beschissenes Grillfest zu geben?«
Mom stößt die Luft aus, und ihr Blick wird weicher. »Was ist wirklich los? Vergiss doch das Grillen.« Ungeduldig beginnt sie vor mir auf und ab zu laufen, als wäre sie ernsthaft an dem tieferen Grund für mein Verhalten interessiert. Zugegeben, ich bin normalerweise nicht ganz so schlimm. »Schon bevor du aus dem Wagen gestiegen bist, hast du dich wie ein trotziges Kind aufgeführt. Was ist los?«
Ich könnte Mom niemals in die Augen sehen, wenn ich sie anlüge, deshalb presse ich die Lippen zusammen und wende den Blick zum Fenster. »Nichts«, sage ich tonlos.
»Das ist eindeutig nicht nichts!«, gibt sie scharf zurück, und ein harter Ausdruck legt sich auf ihre sonst so weichen Züge. Ich hasse es, wenn sie so ist. Sie hat öfter eine Mordswut auf mich, aber meistens ist das auf Frust oder Hilflosigkeit zurückzuführen. Diesmal aber ist sie wirklich tierisch sauer auf mich. »Du hast mich mal wieder vor der ganzen Nachbarschaft lächerlich gemacht!«
»Na und?«, entgegne ich gleichgültig.
Für den Bruchteil einer Sekunde verstummt Mom, und als ich den Blick wieder auf sie richte, sehe ich, wie sie den Kopf schüttelt und murmelt: »Ich hätte dich gar nicht erst weglassen sollen. Ich hätte dir verbieten sollen zu gehen. Aber nein, ich wollte natürlich nachsichtig mit dir sein, und das ist der Dank, wie immer.«
»Ich wäre so oder so gegangen«, kontere ich, weil es genau so ist. Selbst wenn ich heute Abend noch nichts vorgehabt hätte, wäre ich um keinen Preis hiergeblieben, das weiß Mom haargenau. Mir ist unbegreiflich, warum sie es immer wieder versucht. Ich wünschte, sie würde mich endlich in Ruhe lassen. »Was willst du dagegen machen? Mir wieder Hausarrest geben?« Provokativ mache ich einen Schritt auf sie zu und kann mir ein weiteres höhnisches Lachen nicht verkneifen. Im Grunde habe ich seit zwei Jahren Dauerhausarrest. Aber es sind nichts als leere Drohungen, Mom zieht es ohnehin nie durch.
»Du bist unmöglich.« Enttäuscht wendet sie den Blick ab und schaut an mir vorbei, als sich ihr Gesichtsausdruck mit einem Schlag verändert. Ihr Frust scheint sich in Wohlgefallen aufzulösen, und im nächsten Moment runzelt sie die Stirn und schiebt sich an mir vorbei in Richtung Tür.
Ich atme erleichtert auf und streiche mir mit der Hand über die Haare. Dann lege ich den Kopf in den Nacken und starre zur Decke. Wenn ich mich heute Abend noch einmal mit jemandem streiten muss, explodiere ich, so viel steht fest.
Ich höre Mom reden, und als ich mich zu ihr umdrehe, sehe ich sie da draußen stehen. Nur dass sie nicht mit mir spricht. Ich kann nicht erkennen, mit wem sie sich unterhält, deshalb gehe ich zur Wohnzimmertür und spähe neugierig in den Flur hinaus.