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Eigentlich läuft alles gut für Kenzie – sie hat tolle Freunde, schulischen Erfolg, und ihr gutaussehender Exfreund will sie unbedingt zurückerobern. Aber tief innen weiß Kenzie, dass das Wichtigste in ihrem Leben fehlt. Und dass dieses Wichtigste Jaden ist – groß, athletisch, einfühlsam. Vor einem Jahr hatte sie sich unsterblich in ihn und sein schiefes Lächeln verliebt. Bevor ein Schicksalsschlag alles zerstörte. Nun ist Jaden plötzlich wieder da und kämpft um Kenzie. Aber kann sie sich ihm ganz öffnen und ihm ihr dunkelstes Geheimnis offenbaren? Kann sie sich wirklich fallen lassen?
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Seitenzahl: 460
Das Buch
»Einen Moment lang stehen wir uns gegenüber. Alles ist so ruhig und still, dass ich nicht wage, mich zu rühren und die stillschweigende Verbindung zwischen uns zu zerstören. Ich kann seine Züge gerade so erkennen, und ich frage mich, was ich eigentlich hier im Dunkeln vor Jaden Hunters Haustür mache. Ich dachte, ich wäre wegen meines schlechten Gewissens hergekommen. Aber ich glaube, eigentlich ist das nicht der Grund …«
Ein Jahr ist es her, dass Jaden Hunters Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind und er aus Kenzies Leben verschwand. Nun ist er wieder da und wirbt um sie. Und Kenzie spürt, wie sehr sie ihn immer noch liebt. Aber ein dunkles Geheimnis aus ihrer eigenen Familie hält sie zurück. Wird sie sich je wieder auf Jaden und die echte Liebe einlassen können?
Die Autorin
Estelle Maskame ist 20 Jahre alt und lebt in Peterhead, Schottland, wo sie auch zur Schule ging. Bereits mit 13 Jahren begann sie die DARK-LOVE-Trilogie zu schreiben, die auf Wattpad vier Millionen Reads erreichte und in Buchform auch international ein sensationeller Erfolg wurde. »Falling« ist ihr neuer großer Roman.
ESTELLE MASKAME
FALLING
Ich kann dich nicht vergessen
Roman
Aus dem Englischen vonCornelia Röser
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Die Originalausgabe DARE TO FALLerschien bei Ink Road, an imprint of Black & White Publishing Ltd. Edinburgh
Vollständige deutsche Erstausgabe 5/2018Copyright © 2017 by Estelle MaskameCopyright © 2018 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,unter Verwendung von Shutterstock (James Wheeler, ArtOFPhotos, Rohappy, Neil Podoll)Satz: Fotosatz Amann, MemmingenISBN 978-3-641-22829-3V003www.heyne.de
Für dich, Mum, meine beste Freundin,mein Ein und Alles. Hab dich sehr lieb.
Kapitel 1
Ich habe nie verstanden, wieso der Montag die ganzen Lorbeeren als schlimmster Tag der Woche erntet. Das sehe ich nämlich ganz anders: Es ist der Sonntag. Sonntage haben so etwas Ruhiges, Stilles an sich, das ich mittlerweile richtig hasse. Vielleicht liegt es daran, dass die halbe Stadt morgens in die Kirche geht, während alle anderen versuchen, einen Schmorbraten zuzubereiten, es irgendwann aufgeben und etwas vom Lieferdienst bestellen. So ist es bei mir zu Hause jedenfalls meistens. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Hälfte meiner Mitschüler zu Hause hockt und in aller Eile den Berg Hausaufgaben erledigt, den sie bis zur letzten Minute haben liegen lassen, und die andere Hälfte den Tag bei Dairy Queen verbringt, weil man sonst nirgendwo hingehen kann. Wir gehören zur zweiten Hälfte.
»Willst du noch einen?«
Erst jetzt merke ich, dass ich in Gedanken versunken war. Ich sehe blinzelnd zu Holden auf und setze mich ein bisschen aufrechter hin. Ich habe nicht mal mitbekommen, dass er aufgestanden ist. »Was?«
Holden deutet mit dem Kinn auf meinen Iced Coffee, von dem nur noch ein paar Tropfen übrig sind. »Ob du noch so einen willst?«
»Oh«, sage ich. »Nein, danke, für mich nichts mehr.«
Er dreht sich um und geht nach vorn zur Kasse, um bestimmt schon zum fünften Mal heute Abend das Gleiche zu bestellen. Ich reibe mir das Gesicht, bis mir – zu spät – einfällt, dass ich zwei dicke Schichten Mascara aufgetragen habe. Leise fluchend nehme ich mein Smartphone vom Tisch und rufe die Kamerafunktion auf. Meine Augen haben jetzt eine schwarz verschmierte Umrandung. Mit einer Serviette versuche ich, den angerichteten Schaden zu beheben, aber damit mache ich es nur noch schlimmer.
Will fängt an zu lachen, und ich schieße einen wütenden Blick in seine Richtung. Er kaut auf dem Strohhalm seines Schokoshakes, duckt sich aber geschickt weg, als ich meine zusammengeknüllte Serviette nach ihm werfe. »Man könnte meinen, du wärst verkatert«, sagt er, als er sich wieder aufrichtet und sich die Haare aus den Augen schüttelt. Keine Ahnung, wann er zuletzt beim Friseur war, aber es wird definitiv mal wieder Zeit.
»Bin nur müde.« Seufzend wende ich mich dem Abfallberg zu, der sich auf unserem Tisch angesammelt hat. Wir essen sonntags immer so viel, weil man in diesem Kaff einfach nichts anderes machen kann. Es sind mindestens sechs leere Becher, drei davon meine, die Burger-Verpackungen gehen fast alle auf Holdens Konto, die Eisbecher auf Wills.
»Hast du gesehen, wer hier ist?« Will hat den Kopf gesenkt und spricht mit gedämpfter Stimme, er beugt sich ein Stück über den Tisch, um unauffällig einen vielsagenden Blick über meine Schulter zu werfen. »Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich sie ausgehen sehe.«
Langsam drehe ich mich auf meinem Platz um, riskiere einen flüchtigen Blick und entdecke sie sofort: Danielle Hunter.
Sie sitzt an einem Tisch neben der Tür, die Hände um einen Becher gelegt, die schwarzen Haare fallen ihr über die Augen. Die drei Mädchen, mit denen sie da ist, sind alle in ein Gespräch vertieft, nur Danielle starrt mit ausdrucksloser Miene vor sich hin, als würde sie von ihrer Umgebung nichts mitbekommen. Während ich sie vom anderen Ende des Restaurants aus beobachte, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Ich bin überrascht, dass sie hier ist. Sie geht so gut wie nie aus. In letzter Zeit sieht man Danielle Hunter nie außerhalb der Schule.
»Tja«, sage ich leise zu Will. »Das ist neu.« Verstohlen schaue ich sie noch mal an. Ihr Anblick macht mich seltsam nervös, und ich bete, dass sie mich nicht entdeckt, weil ich so lange nicht mehr mit ihr gesprochen habe. Aber es lässt mich nicht los, wie allein sie wirkt.
Erst als Holden mit dem nächsten Burger – es ist sein fünfter heute Abend –, an den Tisch zurückkommt und sich neben mich setzt, reiße ich den Blick von ihr los. Holden hat heute miese Laune und ist unzufrieden mit sich, weil das Footballteam gestern gegen Pine Creek verloren hat. Will und ich haben abgemacht, kein Wort darüber zu verlieren. »Ist der letzte, wirklich«, sagt Holden und nimmt einen großen Bissen, und ich werfe ihm einen angewiderten Seitenblick zu.
»Na klar«, sagt Will mit einer Spur Sarkasmus. Ich glaube, er provoziert Holden manchmal einfach nur aus Spaß, aber es ist nie bösartig, und ich finde es lustig. Er lehnt sich ans Fenster, schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken.
Ich schaue auf meinem Handy nach der Uhrzeit, während Will vor sich hindöst und Holden sich diesen ekelhaften Burger reinzieht. Es ist kurz nach halb zehn, bald wird der Geschäftsführer von Tisch zu Tisch gehen und uns alle rausschmeißen, damit sie schließen können. Ich stupse Holden an. »Lass mich mal kurz raus.« Den Burger immer noch fest in beiden Händen, dreht er mürrisch die Beine zur Seite, damit ich an ihm vorbeirutschen kann. Dabei gebe ich ihm einen sanften Klaps auf den Oberarm. »Und hör auf, dich deswegen zu quälen«, sage ich seufzend, womit ich gegen meinen Pakt mit Will verstoße. Die Football-Saison hat gerade erst angefangen, ich habe keine Lust, dass Holden nach jeder Niederlage seines Teams so mies drauf ist. Launisch wird er in jeder Spielzeit, aber dieses Jahr ist es schlimmer als sonst. Den ganzen Abend hat er kaum ein Wort mit uns gewechselt. »Freitag spielt ihr gegen Broomfield, oder? Das Match gewinnt ihr garantiert!«, versichere ich ihm, während ich mich an ihm vorbeiquetsche.
Holden zuckt die Schultern und ringt sich widerwillig ein kleines Lächeln ab. »Das werden wir dann wohl sehen, schätze ich«, sagt er.
»Und ich schätze, wir sind immer noch ein bisschen einsilbig«, entgegne ich augenrollend.
Will seufzt schwer und zieht ein Augenlid hoch, rührt sich aber kein Stück. »Broomfield ist doch kein so schwerer Gegner, oder? Vielleicht kriegst du dann diesmal endlich einen Pass.« Feixend schließt er das Auge wieder, und Holden nutzt die Gelegenheit, ihm sein zusammengeknülltes Burger-Papier an die Stirn zu schmeißen.
»Fang doch das hier, du Arsch.« Er grinst. Idioten.
Ich lasse die zwei weiter rumalbern und gehe zur Toilette. Je näher es auf zehn Uhr zugeht, desto leerer wird es im Dairy Queen, aber ein paar unserer Mitschüler sind noch hier. Wenn uns der Geschäftsführer erst mal rausgeschmissen hat, dann war’s das: Man kann nirgendwo anders hingehen als nach Hause. Ich lächle Jess Lopez kurz zu und sage an ihrem Tisch im Vorbeigehen »Hey«, bleibe aber nicht stehen, um mich mit ihr zu unterhalten, weil sie mit ein paar Mädchen da ist, die ich nicht so gut kenne.
Ich gehe weiter in den engen Toilettenvorraum und schließe mich in einer der winzigen Kabinen ein. Von hier aus schreibe ich meinem Dad, dass ich innerhalb der nächsten Stunde nach Hause komme. Der Sonntag ist so gut wie gelaufen, damit habe ich mich abgefunden. Während ich die Tür öffne, stecke ich das Handy wieder in meine Hosentasche, und als ich den Kopf hebe, bleibt mir für den Bruchteil einer Sekunde das Herz stehen. Ich habe nicht gehört, dass jemand hereingekommen ist, doch jetzt steht Danielle Hunter regungslos am Waschbecken. Sie dreht mir den Rücken zu, aber unsere Blicke begegnen sich im Spiegel.
Seit letztem Jahr habe ich kaum ein Wort mit Danielle gewechselt. Ich habe sie nur selten gesehen, und bei den wenigen Gelegenheiten wusste ich nicht, wie ich mich verhalten oder was ich sagen sollte. Deshalb habe ich einfach überhaupt nichts gesagt. Was soll man auch zu jemandem sagen, der um seine Eltern trauert? Ich weiß es nicht. Das weiß niemand.
Aber jetzt kann ich nicht einfach wieder auf den Boden gucken und weitergehen, wie ich es sonst tun würde. Plötzlich wird mir bewusst, wie eng es hier im Vorraum ist, und Danielle fixiert mich mit ihren blauen Augen. Sie stehen in so starkem Kontrast zu ihren tiefschwarzen Haaren, dass es irgendwie falsch wirkt. Ihre Miene ist völlig leer und ausdruckslos. Ich muss schlucken, als ich mich an ihr vorbei zu dem am weitesten entfernten Waschbecken schiebe. Starr wie ein Roboter blicke ich auf meine Hände, während das Wasser darüberströmt. Soll ich etwas sagen? Ja, ich sollte, aber ich weiß nicht, was, und ich weiß nicht, wie. Ich wäge ab, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, Danielle Hunter endlich anzusprechen, und unter dem Druck, der auf mir lastet, steigt mir die Hitze in die Wangen. Die ganze Zeit habe ich mir gewünscht, wieder mit ihr zu reden, es aber nie fertiggebracht.
Wieder schaue ich in den Spiegel und merke, dass sie meinen Blick erwidert. Ich muss es riskieren. Ich muss mit ihr reden, und ich werde es jetzt sofort tun, bevor ich es mir anders überlege. Mit allem Mut, den ich aufbringen kann, zwinge ich mich, sie direkt anzusehen. Ich setze ein Lächeln auf, das normal und offen sein soll, aber sie merkt, dass ich mich zu sehr bemühe. »Hi, Dani.« Ich bekomme eine Gänsehaut davon, ihren Namen auszusprechen. »Freut mich so, dass du wieder ausgehst.«
Sie mustert mich unter zusammengezogenen Brauen, und ich lasse mein Lächeln langsam in sich zusammenfallen, weil sie die Wahrheit hinter meiner aufgesetzten Miene ohnehin erkennt. Mitleid. In ihren Augen liegt eine Spur Überraschung darüber, dass ich sie wirklich angesprochen habe, aber sie erwidert nichts. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, starrt sie ihr Spiegelbild an, die Hände fest auf den Waschbeckenrand gestemmt.
Ihr Schweigen ist schlimmer, als es jede andere mögliche Reaktion gewesen wäre, denn jetzt weiß ich nicht, wie ich wieder aus der Situation herauskommen soll. Ich habe doch das Richtige getan und ihr gesagt, wie schön es ist, sie wieder hier zu sehen. Das ist das, was man sagen sollte; aber sie scheint sich nicht darüber zu freuen. Ihre Miene ist absolut unlesbar.
Die Hunters haben ein hartes Jahr hinter sich, und jeder hier in Windsor weiß das. Ich habe miterlebt, wie drastisch sich Danielle verändert hat, wie sie am Tod ihrer Eltern zerbrochen ist. Sie hatte dreimal so lange Haare wie jetzt, die ihr in blonden Wellen auf den Rücken fielen, ihre Wangen waren immer gerötet, und sie hellte jeden Kurs mit ihrem lauten Lachen auf. Sie ist nicht mehr derselbe Mensch wie noch vor einem Jahr, aber wer könnte ihr das vorwerfen? Niemand hier hat die Hunter-Tragödie vergessen, und niemand weiß, wie er mit den Hinterbliebenen umgehen soll. Vor allem ich nicht.
Das Problem ist, dass ich nicht nur Danielle seit einem Jahr aus dem Weg gehe, sondern auch ihrem Bruder Jaden, der anderen Hälfte der Hunter-Zwillinge. Jaden, der mich immer noch jedes Mal anlächelt, wenn er mich sieht. Jaden, bei dem mir der Mut fehlt, ihn anzusprechen. Jaden, in dessen Nähe ich nicht mehr weiß, wie ich mich verhalten soll. Jaden, bei dem ich solche Angst habe, er könnte sich genauso verändert haben wie seine Schwester. Ich halte es nicht aus, mit den beiden zusammen zu sein. Ich halte die ständige Angst nicht aus, etwas Falsches zu sagen. Ich komme nicht mit den Auswirkungen klar, die ein so verheerender Verlust auf die beiden gehabt haben muss. Nicht, dass ich es nicht wollte. OGott, wie sehr ich es will. Aber ich … ich kann einfach nicht.
Ich drehe den Wasserhahn zu und trockne mir die Hände eilig an der Jeans ab. Dann wende ich mich wieder zu Danielle, kann ihr aber nicht direkt in die Augen schauen. Sie sind Jadens so ähnlich. Nachdem die Zeit für eine Antwort verstrichen ist und sie nach wie vor schweigt, muss ich wohl noch etwas sagen. Es macht mich nervös, von ihm zu sprechen, aber ich schlucke die Angst hinunter und flüstere: »Wie geht’s Jaden?«
Ich weiß wirklich nicht, wie es ihm geht. Das liegt daran, dass ich ihn nie gefragt habe, obwohl ich es hätte tun sollen. Aus Angst, die Antwort könnte anders als »gut« oder »in Ordnung« lauten, warte ich mit angehaltenem Atem und mitfühlender Miene.
Sofort legt Danielle den Kopf schief, die Ponysträhnen fallen ihr in die Augen. »Warum fragst du?«, entgegnet sie leise. Ihr abwehrender Tonfall erschreckt mich. »Das ist dir doch sowieso egal.«
Sprachlos starre ich sie an. Vor einem Jahr waren Danielle und ich Freundinnen. Sie hat immer Scherze darüber gemacht, dass wir praktisch Schwestern wären, wenn Jaden und ich heiraten würden; sie habe sich immer eine Schwester gewünscht. Auch ich habe mir immer eine Schwester gewünscht, aber das habe ich ihr nie gesagt. »Dani …«
»Wenn es dir nämlich nicht egal wäre«, sagt sie langsam und dreht sich jetzt ganz zu mir um, »dann hättest du diese Frage vor einem Jahr gestellt, als …« Sie bricht mitten im Satz ab, aber ich weiß, was sie sagen wollte. Vor einem Jahr, als ihre Eltern umgekommen sind.
»Dani …« Ich schüttle den Kopf und gehe einen Schritt auf sie zu. Das Letzte, was ich heute Abend erwartet habe, war eine Konfrontation mit Danielle Hunter auf der Dairy Queen-Toilette. »Du weißt, dass es mir nicht egal ist.«
»Du hast eine seltsame Art, das zu zeigen, MacKenzie«, sagt sie in milderem Ton. Sie streicht sich den Pony aus den Augen und streckt die Hand nach der Tür aus. Doch dann hält sie inne, wirft mir einen Blick über die Schulter zu und murmelt im Hinausgehen: »Ich richte Jaden aus, dass du gefragt hast.«
In diesem Moment, während ich Dani hinterhersehe und ihre Worte noch in der Luft hängen, komme ich mir wie der kleinste Mensch auf der ganzen Welt vor. Ich weiß selbst nicht, warum es mich so überrascht. Ich hatte nicht erwartet, dass sie mich so wie früher behandeln würde, ich hatte sie schließlich auch nicht so behandelt wie früher. Wahrscheinlich hatte ich genau deshalb so lange solche Angst vor diesem Moment. Von der Sekunde an, als ich die Hunters aus meinem Leben verbannt habe, wusste ich, dass es zwischen uns nie wieder so sein würde wie früher. Aber ich konnte nicht anders.
Ich atme noch einmal tief durch und gehe dann an unseren Tisch zurück, damit sich Holden und Will nicht wundern, wo ich so lange bleibe. Außer uns sind schon alle gegangen, nur Danielle und ihre Freundinnen sitzen noch da, sind aber ebenfalls gerade im Aufbruch. Ich stoße Holden an, damit er auf der Bank durchrutscht und ich mich wieder neben ihn setzen kann. Mein Gesicht ist ganz heiß.
Offenbar ist mir mein Unbehagen anzusehen, denn Will setzt sich sofort auf. »Was ist los mit dir?«, fragt er.
»Ich habe gerade mit Danielle gesprochen«, erkläre ich flüsternd. »Zum ersten Mal seit …« Selbst ich bringe es nicht über die Lippen. Schnell sehe ich von einem zum anderen, um ihre Reaktionen einzuschätzen. Holden runzelt die Stirn und rückt ein Stück von mir ab. Er lehnt sich ans Fenster und schaut nach draußen auf den Parkplatz.
Will hingegen wirkt neugierig. »Du hast mit ihr gesprochen?«, hakt er nach.
»Mir blieb nichts anderes übrig. Sie stand direkt vor mir.« Ich vergrabe meinen Kopf in den Händen und unterdrücke ein Stöhnen. Das Letzte, womit ich heute Abend gerechnet habe, war ein Zusammentreffen mit Danielle Hunter, und für den Ort, an dem ich zum ersten Mal wieder mit ihr rede, hätte ich mir ganz bestimmt nicht die Toiletten im Dairy Queen ausgesucht. Ich wünschte, ich hätte mehr gesagt – oder wenigstens etwas anderes. »Sie hasst mich, so viel ist sicher«, nuschele ich hinter meinen Händen.
»Tja«, sagt Will. Er spricht leise und vorsichtig, und ich hebe den Kopf, um ihn anzusehen. »Etwas anderes kannst du wohl kaum erwarten. Schließlich weiß sie nicht mal, warum du den Kontakt abgebrochen hast.«
»Das ist jetzt nicht gerade hilfreich«, wirft Holden ein. Er wendet sich vom Fenster ab. »Ja, sie ist ihnen aus dem Weg gegangen, aber das haben doch alle irgendwie gemacht. Sie macht das doch nicht, um ihnen wehzutun.« Er sucht in meiner Miene nach Bestätigung. »Manchmal muss man einfach tun, was man tun muss. Stimmt’s, Kenzie?«
Ich kann nur nicken.
Bevor Holden oder Will noch etwas sagen können, taucht aus dem Nichts der Geschäftsführer an unserem Tisch auf und sagt, wir sollen uns ein bisschen beeilen, damit sie saubermachen können, weil sie in zehn Minuten schließen. Als ich mich umsehe, stelle ich fest, dass wir nun wirklich die Letzten sind.
Wir sammeln unser Zeug ein und gehen nach draußen auf den Parkplatz, wo Wills leuchtend roter Jeep Renegade auf uns wartet. Der Lack glänzt im Licht der Straßenlaternen, Will hat ihn heute Morgen erst poliert, und Holden zieht ein finsteres Gesicht, als wir darauf zu schlendern. Wills Eltern sind ziemlich reich, während Holdens Schulden haben. Letzten Herbst haben sie sein Auto verkauft, und jetzt ist er ebenso wie ich auf Will angewiesen. Manchmal darf ich den Wagen meiner Mutter benutzen, aber das ist nicht dasselbe.
Ich rufe »Ich sitz vorne!«, springe auf den Beifahrersitz und knalle die Tür zu, bevor Holden darüber Streit anfangen kann. Seine Miene verdüstert sich noch mehr, und ich strecke ihm die Zunge heraus, während Will auf der Fahrerseite Platz nimmt. Automatisch stelle ich die Heizung an. Es ist September, und mit dem nahenden Herbst wird es abends immer kühler. Holden steigt hinten ein. Er ist über eins achtzig groß und muss sich selbst in diesem Riesenschlitten ein bisschen ducken. Ich finde es immer wieder zum Totlachen, wenn er mit dem Kopf an den Wagenhimmel stößt.
Sonntagabends um diese Uhrzeit kann man in Windsor nicht viel unternehmen. Fast alles hat zu, die meisten Menschen sind zu Hause. Die Nächte sind kühl und dunkel. Morgen ist Schule. Arbeit. Trotzdem fahren wir noch ein bisschen rum, drehen eine kleine Runde durch den Ort, vorbei an den Geschäften und Fast-Food-Restaurants an der Hauptstraße und dann hinaus durch die umliegenden Felder. Irgendwann fragt Will, ob er uns jetzt nach Hause bringen soll.
Er setzt mich als Erste ab; es ist kurz vor elf, und ich verabschiede mich von beiden bis zum nächsten Tag, wenn Will uns auf dem Weg zur Schule abholt. Als ich ausgestiegen bin, fahren sie nicht sofort los, sondern warten, bis ich die Haustür geöffnet habe und ihnen noch einmal zuwinke, dann wenden sie, und bald ist Holdens Musik nicht mehr zu hören.
Dafür höre ich meine Eltern. Hauptsächlich Dads Stimme. Sie streiten sich auf diese leise Art, die sie an sich haben, wenn sie eher besorgt als wütend aufeinander sind. Eine leise Meinungsverschiedenheit, wie sie in diesem Haus allzu oft vorkommt.
Ich ziehe die Schuhe an der Tür aus und schließe hinter mir ab. Auf Socken laufe ich über den Teppich im Flur ins Wohnzimmer, wo bei leise gestelltem Ton die Football-Highlights des heutigen Abends über den Bildschirm flimmern. Mom sitzt kerzengerade auf der Couch, ihre Augen wirken eingefallen und müde, die schmalen Lippen sind fest zusammengepresst. Sie trägt einen Jogginganzug, hat die Haare zurückgesteckt und ist abgeschminkt – für einen Sonntagabend um diese Zeit nichts Ungewöhnliches. Dad steht am anderen Ende des Zimmers, ein leeres Weinglas mit Lippenstift am Rand auf dem Couchtisch. Mir fällt ein, dass Mom sich ein Glas Chardonnay eingeschenkt hat, als ich gegangen bin. Aus einer vollen Flasche. Sie hat versprochen, es würde das erste und letzte für heute sein, aber das sagt sie immer, und Dad hält die leere Flasche wie ein Beweisstück in der Hand.
»Oh, MacKenzie.« Er versteckt die Flasche hinter seinem Rücken, als hätte ich sie nicht schon längst gesehen, und runzelt die Stirn. »Ich hab dich gar nicht reinkommen gehört.«
Ich lächle mit geschlossenen Lippen, sage aber nichts; meine Aufmerksamkeit gilt Mom. Die Größe habe ich von meinem Dad geerbt, aber in allem anderen komme ich nach ihr. Wir haben die gleichen dunkelbraunen Augen, die gleichen hohen, markanten Wangenknochen, das gleiche ausgeprägte Kinn. »Ich geh jetzt ins Bett, Mom«, sage ich leise zu ihr, knie mich neben sie und sehe sie mit sanfter Miene an. Sie ist nicht betrunken, nicht nach einer Flasche, das reicht nicht mehr. Aber da ist dieser hässlich verzerrte Zug auf ihrem Gesicht, der sich immer erst nach ein paar Gläsern Wein zeigt. »Vielleicht solltest du das auch tun?«, schlage ich vor und reiche ihr die Hand.
Einen Augenblick lang starrt sie auf den Boden, ohne sich zu rühren, dann hebt sie die schweren Lider und wirft Dad einen Blick zu, als wäre das alles seine Schuld, als hätte nicht sie die Flasche aufgemacht, sondern er. Dann fällt die Spannung von ihr ab, sie seufzt, sieht mich an und nickt.
Ich nehme ihre Hand, die Finger mit ihren verschränkt, und ziehe sie beim Aufstehen mit mir hoch. Ihre Hände sind warm, und ein paar Fingernägel sind abgebrochen. In letzter Zeit macht sie sich nicht mehr die Mühe, sie zu pflegen. Dad sieht mich mit dankbarer Miene an, doch sein Blick erzählt eine andere Geschichte; er bittet beinahe schuldbewusst um Verzeihung. Ich scheuche ihn mit der freien Hand weg und begleite Mom ins Schlafzimmer. Dort schalte ich das Licht ein und muss die Zähne zusammenbeißen, als ich die Unordnung sehe, die uns hier empfängt. Ein Berg frischer Wäsche liegt achtlos ausgekippt auf dem Boden, das Bett ist ungemacht, und die Vorhänge sind zugezogen, als wären sie den ganzen Tag noch nicht offen gewesen. Ich werte es inzwischen als einen guten Tag, wenn dieses Zimmer Tageslicht zu sehen bekommt.
Mom setzt sich auf die Bettkante. Sie sieht mich mit einem traurigen Lächeln an, das meinen Ärger jedoch kaum besänftigen kann. »Es waren nur ein paar Gläser«, sagt sie und verdreht die Augen. »Dein Vater übertreibt.«
Ich glaube nicht, dass er übertreibt, genauso wenig wie ich glaube, dass es nur ein paar Gläser waren. Doch statt das zu sagen, hebe ich die Kleidung vom Boden auf, falte sie zusammen und räume sie in den Schrank. Auf der Kommode – neben einem viele Jahre alten gerahmten Foto von Dad und mir, auf dem er noch Haare hat und ich keine Vorderzähne – finde ich noch ein Weinglas. Es ist von gestern, leer und liegt auf der Seite.
Ich presse meine Lippen zusammen und halte den Kopf gesenkt, während ich langsam die Schublade schließe. Mom ist wieder aufgestanden und schlurft hinter mir durch das kleine Zimmer. Ich nehme das Glas an mich, und als ich mich zu Mom umdrehe, verberge ich es hinter meinem Rücken. Um den ziehenden Stich der Enttäuschung in meiner Brust zu überspielen, zwinge ich mich zu einem Lächeln. »Ich bin total müde, lass uns morgen reden, ja?«, sage ich. »Will holt mich um halb acht ab.«
Mom sagt nichts mehr, doch als sie bemerkt, dass ich das Weinglas von der Kommode genommen habe, verdüstert sich ihre Miene. Ihre Mundwinkel zucken, und ihre Augen verengen sich leicht, trotzdem tut sie so, als hätte sie sein Fehlen nicht bemerkt. Während sie langsam ihr Kopfkissen aufschüttelt, gehe ich rückwärts aus dem Zimmer und ziehe die Tür hinter mir zu.
Im Flur halte ich das Weinglas hoch, um es näher zu betrachten. Für einen Sekundenbruchteil umschließe ich es so fest mit den Fingern, dass es jeden Moment zerspringen muss. Doch ehe ich noch fester zudrücken kann, ist Dad da. Er lehnt in der Wohnzimmertür und sagt mit schuldbewusster Miene: »Lass mich das machen.« Er kommt auf mich zu, legt seine Hand auf meine und löst das Glas aus meinem unnachgiebigen Griff. In der anderen Hand hält er bereits das zweite Weinglas, das aus dem Wohnzimmer.
Dad ist zu jung für eine Glatze, und er ist auch zu jung für so viele Falten. Aber er hat eine Glatze, und er hat so viele Falten, und ich hasse diesen traurigen Ausdruck, der jedes Mal in seine Augen tritt, wenn wieder ein Glas abzuwaschen ist, weil ihn das noch älter aussehen lässt. Er geht an mir vorbei in die dunkle Küche, und ich bleibe einfach stehen, warte und lausche auf das Geräusch des Wasserhahns.
Während Dad Moms Lippenstift unter fließenden Wasser vom Weinglas schrubbt, fällt mein Blick unwillkürlich auf das Tischchen im Flur. Ein Foto von Mom und Dad an ihrem Hochzeitstag, eines von meinem ersten Tag im Kindergarten, auf dem ich scheußliche rosa Haargummis trage, und der Rahmen in der Mitte – er ist hellrosa und setzt niemals Staub an, weil Mom ihn mindestens zweimal am Tag putzt. In diesem Rahmen stehen fünf hellrosa Buchstaben in zierlicher Schreibschrift. Diese fünf Buchstaben sind alles, was uns von ihr geblieben ist, ihr Name, mehr nicht. Das ist unsere einzige Erinnerung an sie, uns blieb keine Zeit, um andere zu erschaffen.
Die kleine Grace. Wir durften sie nie kennenlernen, aber wir werden sie nie vergessen.
Danielle Hunter denkt vielleicht, sie und Jaden wären mir egal, doch das stimmt nicht. Wahrscheinlich liegt mir mehr an ihnen als den meisten anderen. Aber die Wahrheit ist, dass mir ihre Nähe Angst macht. Sie macht mir Angst, weil ich weiß, welche Folgen es haben kann, jemanden zu verlieren. Ich weiß, wie dramatisch sich Trauer auf Menschen auswirken kann. Ich weiß, wie sehr sie Menschen verändert.
Ich weiß es, weil ich es bei uns selbst gesehen habe.
Kapitel 2
Wer auf die Idee gekommen ist, Physik auf die erste Stunde am Montagmorgen zu legen, ist ganz klar ein Sadist. Ich mag Physik, ehrlich, aber nicht um acht Uhr früh, und obwohl es erst die vierte Woche im Semester ist, bereue ich es schon, mich für den Schwerpunktkurs entschieden zu haben. So früh am Tag, wenn die halbe Klasse noch zu müde zum Denken ist, dürften einfach keine Ausdrücke wie »statisches Gleichgewicht« benutzt werden.
Ich liege halb auf dem Tisch, den Kopf auf die Hausaufgaben gebettet, die Will heute Morgen auf dem Parkplatz in aller Eile von mir abgeschrieben hat. Keine Ahnung, warum er überhaupt Probleme damit hatte. Er ist viel klüger, als ich es je sein werde, und ist der Einzige von uns dreien, der außerhalb von Colorado aufs College gehen wird. Holden und ich werden höchstwahrscheinlich an der Colorado State landen, aber Wills Eltern haben genug Geld, dass er so weit von Windsor weggehen kann, wie er will. Manchmal wünschte ich, ich könnte auch woanders hingehen.
Ich öffne die Augen, hebe aber nicht den Kopf. Am Tisch neben mir tippt Kailee Tucker mit einer Hand unter dem Tisch Nachrichten auf ihrem Smartphone, während sie sich mit der anderen Notizen macht. Allerdings glaube ich kaum, dass sie etwas Lesbares zustande bringt. Direkt hinter ihr kaut Will auf seinem Stift und hört mit schiefgelegtem Kopf aufmerksam Mr. Acker zu, der wieder mal über die Anwendung der newtonschen Gesetze schwadroniert. Ich beobachte, wie sich bei jedem neuen Ausdruck, den Mr. Acker benutzt, Falten auf Wills Stirn bilden, und muss ein bisschen grinsen. Es kommt mir vor, als würde ich ihn mindestens zehn Minuten lang so anstarren, bis er es endlich bemerkt.
»Was soll das alles?«, flüstert er und zeigt zur Tafel. Ich kann nur mit den Schultern zucken, weil ich die letzte halbe Stunde nicht mehr richtig zugehört habe. Will legt seinen Stift weg, als würde er es jetzt ebenfalls aufgeben, und schüttelt sich wohl zum hundertsten Mal an diesem Morgen die Haare aus den Augen.
Ich weiß noch, wie damals im ersten Jahr auf der Highschool keiner glauben wollte, dass Will und ich nur Freunde und nicht mehr waren, genauso wenig, wie sie es bei Holden glauben wollten. Mit einem von beiden musste ich doch zusammen sein, hieß es. Will ist niedlich mit zerzausten Haaren, Dauerlächeln und Sinn für Humor, während Holden groß und sportlich und einschüchternd ist, eher der düstere, sexy Typ. Zwei absolute Gegensätze – auf einen von beiden musste ich doch zwingend stehen. Aber die beiden waren meine besten Freunde, und allein der Gedanke, irgendetwas anderes in ihnen zu sehen, war einfach nur absurd. Außerdem hat Will in der zehnten Klasse irgendwann mal dezent angedeutet, dass er sozusagen fürs andere Team spielt, und damit war das Thema erledigt. Die Möglichkeit, dass wir jemals miteinander ausgehen würden, war ein für alle Mal aus der Welt.
In diesem Moment schrillt die Pausenklingel über den Campus und reißt die Klasse aus dem Schlaf. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass die Zeit schon fast um ist. Es folgt das kollektive Scharren von Stühlen auf dem Teppich, als alle ihre Bücher zusammenpacken und aus dem Raum strömen.
»Ich glaube, die erste Hälfte des Kurses habe ich komplett verschlafen«, sage ich zu Will, während wir uns auf dem Weg zu unseren Schließfächern geschickt durch die Menge manövrieren und den großäugigen Neuzugängen ausweichen.
An meinem Schließfach lehnt Holden und wartet auf uns – mit leeren Händen, nur einen Stift hinter dem Ohr. Er tut gern so, als wäre ihm die Schule total egal, als wäre es peinlich, mit einem Schulbuch unter dem Arm erwischt zu werden. Aber in Wahrheit ist es ihm sehr viel wichtiger, seine Kurse zu bestehen, als er zugeben möchte. Ich werde wohl nie kapieren, warum er alle glauben machen will, er interessiere sich nur für Football.
»Wie war Physik?« Er grinst und gibt den Platz vor meinem Schließfach frei, damit ich die Kombination eingeben kann. Ich schmeiße mein Physikbuch ins Fach und werfe Holden einen Seitenblick zu. Er weiß genau, wie sehr wir Physik am Montagmorgen hassen, deshalb halten weder Will noch ich eine Antwort für nötig.
Ich schnappe mir mein Spanischbuch und knalle die Tür zu. »Ich gehe heute schon nach dem dritten Kurs nach Hause«, sage ich.
»Und ich hab Training«, fügt Holden hinzu und sieht dabei Will an. Was wir ihm damit eigentlich mitteilen wollen, ist, dass er nach der Schule nicht auf uns zu warten braucht.
In gespielter Überraschung öffnet Will den Mund. »Moment mal. Ihr meint, ich kann heute Nachmittag direkt nach Hause fahren, ohne den Chauffeur für euch zu spielen? Womit habe ich diesen Luxus verdient?«
Wir legen einen kurzen Stopp an Wills Schließfach ein, damit er sein Biobuch holen kann, dann trennen wir uns. Es sind nur anderthalb Stunden Spanisch, die ich durchstehen muss, bis ich die beiden beim Mittagessen wiedersehe, doch während ich auf dem Weg zum Klassenraum Lippenbalsam auftrage, überkommt mich plötzlich Angst davor, den Raum zu betreten. Holden und Will sind nicht in diesem Kurs, jemand anderes aber schon.
Vor Miss Hernandez’ Klassenraum verstecke ich mich hinter der massigen Gestalt von Caleb aus dem Footballteam und suche eilig den Raum ab. Zu meiner Erleichterung ist Danielle Hunter noch nicht da. Nach dem gestrigen Gespräch bin ich immer noch ein bisschen auf der Hut, deshalb lande ich schließlich an einem Tisch in der hintersten Ecke. Ich halte den Kopf gesenkt und starre zwanghaft auf eine zufällig aufgeschlagene Seite in meinem Buch.
Als es klingelt, sehe ich auf. Genau mit dem Ende des Klingelns kommt sie herein, ihr Spanischbuch mit beiden Armen an die Brust gedrückt. Der Pony fällt ihr in die Augen, und ich frage mich, ob sie überhaupt etwas sieht. Doch während sich alle schnell auf ihre Plätze setzen, schlängelt sie sich zwischen den Tischen hindurch und sucht sich einen Platz in der anderen hinteren Ecke des Raums. Erst als sie den Kopf hebt und mich mit ihren blauen Augen direkt ansieht, wird mir bewusst, dass ich sie anstarre.
Ich wende mich sofort ab, wobei ich fast meine Wasserflasche umwerfe. Gerade noch rechtzeitig kann ich sie auffangen. Miss Hernandez steht von ihrem Pult auf, um uns auf Spanisch zu begrüßen und uns nach unserem Wochenende zu fragen, aber ich fixiere die ganze Zeit Calebs Hinterkopf. Von dem, was sie darüber hinaus sagt, kriege ich nichts mehr mit. Mein Puls pocht, und ich versuche alles, um Danielles Blick zu ignorieren, doch es ist unmöglich. Es fühlt sich zu unbehaglich an. Er bohrt sich geradezu in meinen Körper.
Ich finde es schrecklich, dass ich Angst vor den Hunters habe. Normalerweise bin ich nicht so schwach. Im Laufe der Jahre habe ich mich an dieser Schule einer ganzen Reihe von Konflikten gestellt. Dem Jungen aus der Neunten, der mich immer wegen meiner Größe geärgert hat, Lehrern, die meine Tests falsch bewertet haben und sich standhaft weigerten, es zuzugeben, oder auch den Mädchen, mit denen ich Streit hatte. Aber bei Danielle und Jaden Hunter schaffe ich es einfach nicht. Ich kann ihnen nicht gegenübertreten. Sie sind der Inbegriff meiner größten Schwäche: Sie sind die Verkörperung von Trauer.
Ich bin eigentlich ziemlich gut in Spanisch, und normalerweise macht mir Miss Hernandez’ Unterricht Spaß, aber heute geht alles, was sie sagt, an mir vorbei, weil ich die ganze Zeit an Danielle denken muss. Eine Weile spiele ich mit dem Gedanken, sie nach der Stunde noch einmal anzusprechen, aber ich glaube, ich könnte nichts sagen, das die Spannung auflösen würde, die seit gestern Abend zwischen uns herrscht. Deshalb verwerfe ich die Idee und denke stattdessen darüber nach, ob sie Jaden von unserem Gespräch erzählt hat. Ich bin noch unentschlossen, ob ich es mir wünschen sollte oder nicht.
Als es das nächste Mal klingelt, bin ich die Erste, die aufsteht. In aller Hast stopfe ich meine Sachen in die Tasche und drängle mich mit hämmerndem Herzen, den Blick fest auf die Tür gerichtet, an Caleb vorbei. Nur noch Englische Literatur nach dem Mittagessen, dann bin ich auf dem Weg nach Hause und habe es für heute überstanden.
Fast habe ich es geschafft, ich bin beinahe aus der Tür, ich kann den Schweiß auf dem Flur schon riechen, als mich jemand leicht von hinten anrempelt und ich ein Stück nach vorn gestoßen werde. Ich bleibe stehen, um den Schuldigen auszumachen, und aus irgendeinem Grund bin ich überrascht, dass es Dani ist. Sie geht an mir vorbei in den Flur. Als sie stehen bleibt, keine zwei Meter von mir entfernt, sehe ich sie an.
Sie starrt mit ausdrucksloser Miene zurück, hat die Arme vor der Brust verschränkt und drückt ihr Schulbuch an sich. Ihre Lippen zucken, als wollte sie etwas sagen, doch sie tut es nicht, sondern wendet sich ab, fädelt sich in den Schülerstrom zur Mittagspause ein und verschwindet in der Masse. Sie ist richtig wütend auf mich. In ihren Augen funkelt eine tiefsitzende, brennende Wut. Ich versuche mir ins Gedächtnis zu rufen, dass sie zurzeit nicht nur auf mich wütend ist, sondern auf eine ganze Menge Dinge, aber davon geht es mir nicht besser. Es geht mir schlechter, weil ich weiß, dass sie von allem abgeschnitten ist und voller Zorn auf die ganze Welt. Und ich war nicht für sie da.
Vor einem Jahr haben wir uns in ihrem Zimmer gegenseitig die Haare aufgedreht und Augen-Make-up aneinander ausprobiert, und in Spanisch haben wir nicht in entgegengesetzten Ecken gesessen, sondern nebeneinander. Wir waren Freundinnen. Aber das ist vorbei.
Auf dem Weg zur Cafeteria, wo ich mit Holden und Will verabredet bin, komme ich zu dem Schluss, dass ich Danielle unbedingt und um jeden Preis aus dem Weg gehen muss – nicht nur heute, sondern für den Rest der Woche. Ich halte die Schuldgefühle nicht aus, die in mir aufsteigen, wenn sie mich ansieht. Aber Windsor High ist eine kleine Schule in einer kleinen Stadt, daher wird unter Umständen eine ausgeklügelte Strategie nötig sein, um jemandem auf diesen Fluren aus dem Weg zu gehen. Beim Essen halte ich den Kopf gesenkt und höre Holden und Will kaum zu. In Englisch bin ich konzentriert, was einfach ist, weil ich hier wirklich niemanden näher kenne. Am Ende des Kurses seufze ich vor Erleichterung darüber, dass dieser Tag vorbei ist.
Als ich gemächlich zu meinem Schließfach schlendere, hat der vierte Kurs schon angefangen. Auf den Fluren ist es leer und still, nur der leise Widerhall von Lehrerstimmen ist zu hören. Ich öffne mein Schließfach und stopfe die Hälfte des Inhalts in meine Tasche. Mir graut vor dem Berg an Hausaufgaben, den ich diese Woche noch zu erledigen habe. Bevor ich zu Fuß nach Hause gehe, fahre ich vor dem kleinen Spiegel in meiner Schließfachtür kurz mit der Bürste durch die Haare. In diesem Moment, als ich einen letzten Blick in den Spiegel werfe, sehe ich, dass jemand auf mich zukommt.
Hätte ich bloß nicht hingesehen. Es ist Jaden.
Die Hände in den Taschen, die Schultasche über der Schulter, kommt er durch den Flur auf mich zu. Die blonden Haare mit den kurz rasierten Seiten und der längeren Partie auf dem Kopf erkenne ich sofort. Ebenso seine breiten Schultern und die trainierte Brust – schließlich ist er der Linebacker im Footballteam. Ich habe es immer geliebt, ihm mit beiden Händen durch die dichten Haare zu fahren; ich habe es geliebt, wie sicher ich mich in seinen Armen gefühlt habe. Ich hatte schon fast vergessen, was für ein Gefühl das war.
Es kommt oft vor, dass wir uns hier im Flur begegnen, aber meistens sind wir dann Teil der Masse, die sich ihren Weg zu den Unterrichtsräumen bahnt; das ist gut, denn das verschafft mir ein Gefühl von Distanz. Ich kann einfach den Kopf zu Boden senken und ein bisschen schneller gehen, bis er außer Sichtweite ist.
Aber jetzt ist niemand sonst in der Nähe, nur die Stille umfängt uns, und es gibt überhaupt keine Distanz. Keine Schüler, hinter denen ich mich verstecken könnte. Ich bemühe mich, den Blick abzuwenden, doch mein Körper ist wie erstarrt. Jaden befeuchtet sich die Lippen und zieht einen Mundwinkel zu seinem typischen schiefen Lächeln hoch. Dann sieht er mich im Spiegel direkt an. Seine Augen sind so blau wie die seiner Schwester, vielleicht sogar noch strahlender. Er wird langsamer, als würde er für einen Sekundenbruchteil überlegen, ob er stehen bleiben und etwas sagen soll. Doch er tut es nicht. Er beschleunigt seinen Schritt wieder und geht weiter.
Ich klappe das Schließfach zu, kneife die Augen fest zusammen und lehne die Stirn gegen das kühle Metall. Ich kriege keine Luft mehr. Mein Kopf ist voll mit seinem Lächeln. Dem Lächeln, in das ich mich letztes Jahr verliebt habe. Mit klopfendem Herzen verfolge ich, wie er am Ende des Flurs verschwindet. Er geht mit langsamen, aber selbstbewussten Schritten. Er hat weiche, glatte Haut in seinem Nacken, wo die Haare zu einer ordentlichen Spitze zusammenlaufen, und mein Blick gleitet von seinen breiten Schultern an seiner Wirbelsäule hinunter, wo sein T-Shirt ein bisschen zu eng am Körper anliegt und seinen durchtrainierten Körper zeigt. Dann biegt er um die Ecke und ist fast so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht ist. Der Flur ist wieder leer, und ich lasse erleichtert die Schultern sinken.
Es gab eine Zeit, da habe ich zurückgelächelt, wenn Jaden Hunter mich mit diesem schiefen Lächeln angesehen hat.
Kapitel 3
Heute ist der fünfzehnminütige Fußmarsch von der Schule nach Hause besonders schlimm, und das liegt nicht nur an den vielen Schulbüchern, die ich mit mir herumschleppe, sondern auch daran, dass ich so unkonzentriert bin. Ich habe schon einen wütenden Stinkefinger von einem älteren Herrn kassiert, weil ich ohne zu gucken auf die Straße gelaufen bin – offenbar bringen mich die Hunters so aus der Fassung, dass ich jetzt ein wandelndes Verkehrshindernis bin.
Gestern Danis gefühllos starrer Blick und heute Jadens schiefes Lächeln … Ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken. Diese beiden Menschen haben mir früher nahegestanden. Sie waren meine Freunde, und Jaden war sogar mehr für mich. Vor einem Jahr habe ich mich in ihn verliebt. Ich habe es von dem Augenblick an gespürt, als er mich im Schulflur anlächelte, nachdem er mich am Abend zuvor zum ersten Mal geküsst hatte. Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, dieses Gefühl einfach verdrängen zu können, wenn ich mir nur genug Mühe gäbe? Wie konnte ich glauben, mich tatsächlich von den Hunters fernhalten, sie ganz aus meinem Leben verbannen zu können? Das ist nämlich nicht möglich, und ich muss jetzt endlich aufhören, es zu versuchen. Noch immer kann ich nicht vergessen, wie Jaden mich an jenem Morgen angelächelt hat und wie mein Herz fast explodiert ist. Ich kann nicht vergessen, wie sich seine Lippen auf meinen angefühlt haben, und ich stelle mir vor, sie wieder zu spüren, nur noch ein einziges Mal.
Damals in der Zehnten waren Jaden und ich wie jedes andere angehende Pärchen. Es war nichts Ungewöhnliches daran, wie wir uns näherkamen. Unsere Geschichte war so simpel wie die von allen anderen auch. Wir kannten uns aus ein paar gemeinsamen Kursen und kamen gut miteinander aus. Ich fand ihn süß, aber auch cool, witzig und auf gute Weise ernsthaft, und dass er mehr als nur ein Freund für mich war, wusste ich seit dem Moment, in dem mir auffiel, dass mir jedes Mal schwindelig wurde, wenn ich ihn sah. Wir trafen uns öfter außerhalb der Schule, nur wir beide, und während des letzten Sommers entwickelte sich unsere Freundschaft weiter, bis wir eben nicht mehr nur Freunde waren. Es war in dem Sinne simpel, als es sich über mehrere Monate hinweg ganz natürlich entwickelte. Ich genoss jeden einzelnen Moment mit ihm. Und ich weiß noch genau, wie er mich zum ersten Mal küsste, als er mir in meinem Zimmer bei den Hausaufgaben half. Ich war bereit, darüber zu sprechen, wie es mit uns weitergehen sollte. Ich war bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Ich war bereit, mit ihm zusammen zu sein. Doch alles änderte sich im letzten August, als Will mich eines Morgens anrief und ohne Einleitung fragte: »Hast du es schon gehört?«
Seit diesem Tag haben Jaden und ich nicht mehr miteinander geredet. Die Hunter-Zwillinge versäumten die Hälfte der elften Klasse, und als sie zurückkamen, ertrug ich es nicht mehr, ihnen in die Augen zu sehen. Ich wusste nicht mehr, was ich in ihrer Gegenwart sagen oder wie ich mich verhalten sollte. Ich wollte nicht einmal mehr an sie denken, weil mir davon übel wurde. Unablässig stellte ich mir die Frage, ob sie zurechtkämen, und wenn ja, wie. Ich wusste nur zu gut, wie sehr Trauer einem das Herz zerreißen kann.
Schwer atmend biege ich in die ruhige Sackgasse ein, in der ich wohne. Ich lege einen Schritt zu, weil ich dringend nach Hause will, um den Kopf freizukriegen. Kaum habe ich die Tür aufgeschlossen und einen Fuß ins Haus gesetzt, schmeiße ich meine Tasche in den Flur. Es ist still und dunkel und kalt. Dad arbeitet lange und in wechselnden Schichten, heute Abend kommt er bestimmt nicht vor sieben Uhr nach Hause, und Mom kommt gegen vier aus der Zahnarztpraxis, wo sie ein paar Tage die Woche an der Rezeption arbeitet. Bis vor ein paar Jahren hat sie in der Vorschule hier im Ort gearbeitet, aber dorthin ist sie nie wieder zurückgegangen.
Da Mom und Dad weg sind, habe ich das Haus ein paar Stunden für mich allein, bevor meine Schicht im The Summit losgeht, einem Vergnügungszentrum am Stadtrand von Windsor. Seit gut einem Jahr jobbe ich dort, und meistens mag ich die Arbeit. Ich spare auf ein eigenes Auto. Und fürs College.
Bäh. Nach dem Frühstück hat niemand die Küche saubergemacht, deshalb räume ich erst den Tisch ab und stopfe innerhalb weniger Minuten alles wahllos in die Spülmaschine, bevor ich mich hinsetze und irgendetwas anderes tue. Inzwischen bin ich, wenn auch nicht freiwillig, Profi darin, das Haus in Schuss zu halten. Sobald ich ein bisschen Zeit erübrigen kann, so wie jetzt, bemühe ich mich, Ordnung zu schaffen. Wer soll es sonst machen, wenn nicht ich? Dad arbeitet die ganze Zeit, und Mom ist im Augenblick nicht in der richtigen Verfassung. Das ist schon eine ganze Weile so, und deshalb ist es das Einfachste, wenn ich sie ein bisschen entlaste und ihr helfe, wann immer ich kann. Manchmal frage ich mich, ob sie sich je darüber wundert, dass sich die Wäsche von selbst faltet oder das Geschirr von selbst spült, oder ob ihr das alles überhaupt nicht auffällt, denn sie verliert nie ein einziges Wort darüber. Inzwischen mache ich das seit so vielen Jahren, dass ich nicht mehr darüber nachdenke. Schnell sauge ich den Fußboden im Flur, bevor ich mich endlich mit einer Schale Erdbeeren und meinen Spanischhausaufgaben aufs Sofa fallen lasse. Eine Zeit lang knabbere ich vor mich hin, während ich meine Aufmerksamkeit abwechselnd den Hausaufgaben und dem Fernseher widme.
Ich mag es, das Haus für mich zu haben. Das bedeutet nämlich, dass Mom unterwegs ist und etwas macht, und wenn sie unterwegs ist und etwas macht, dann hängt sie nicht mit Trauermiene und Weinglas rum. Das kann sie nur hinter geschlossenen Türen.
Ich warte bis halb vier, bevor ich Will anrufe, damit er eine Chance hat, nach Hause zu kommen. Holden ist beim Training, aber selbst wenn nicht, würde er wohl kaum ans Telefon gehen. Er gehört zu den Leuten, für die es ausschließlich Textnachrichten gibt und sonst nichts, deshalb ist er völlig untauglich, wenn ich Klatsch weiß, der einfach zu gut ist, um ihn an eine Chatnachricht zu verschwenden; oder für Wutausbrüche, die zu explosiv sind, um sie niederzutippen. Will hingegen meldet sich schon nach dem zweiten Klingeln.
»Ich wollte dich gerade anrufen«, sagt er unvermittelt. »Auf dem Nachhauseweg ist mir aufgefallen, dass du … du hast mir noch nicht gesagt, welche Farbe dein Kleid hat.«
»Was?«, frage ich, den Mund voller Erdbeere, und stelle den Fernseher auf Pause.
»Der Schulball«, erklärt er. »Meine Fliege. Welche Farbe soll sie haben?«
Ach ja, richtig. Nächstes Wochenende ist Homecoming, und während Holden schon ganz heiß auf das Footballspiel am Freitagabend ist, freuen Will und ich uns mehr auf den Ball am Abend danach. Wir beide gehen immer zusammen hin; Holden fragt normalerweise jeweils das Mädchen, auf das er zurzeit steht. Dieses Jahr wird es wohl eine aus der Blaskapelle. Ich schlucke die Erdbeere hinunter und antworte ihm: »Blau.«
»Geht’s ein bisschen konkreter?«
»Dunkelblau.« Ich stelle mir mein Kleid vor, das im Schutz seiner Plastikhülle ganz hinten in meinem Kleiderschrank hängt. Es ist aus Chiffon, knielang und am Oberteil mit unzähligen silbernen Pailletten besetzt. Mom hat es nicht gefallen, als ich es ihr gezeigt habe. Es wäre zu freizügig, sagte sie verächtlich, als ich darin durch den Flur tanzte. Aber ich gehe davon aus, dass da der Wein aus ihr sprach. »Kobalt oder irgend so was.«
»Kobaltblau?«, wiederholt Will. Er schweigt einen Moment und fragt dann: »Also … was jetzt genau?«
»Äh.« Ich muss ein paarmal blinzeln und schüttle kurz den Kopf, um mich aus meiner Benommenheit zu reißen. »Kobalt.«
»Okay«, sagt Will, doch dann macht er wieder eine Pause. »Geht’s dir gut? Du klingst ein bisschen … komisch.«
»Ja, alles in Ordnung«, versichere ich ihm – obwohl das nicht ganz stimmt. Ich bin schon den ganzen Tag so durcheinander, noch mehr als gewöhnlich.
»Okay«, sagt er. »Warum rufst du an?«
Die Frage macht mir bewusst, dass ich darauf keine andere Antwort habe, als dass mich die Spanischhausaufgaben gelangweilt haben, dass ich mir das Drama bei Jerry Springer nicht länger reinziehen wollte und es satthatte, immer und immer wieder Jaden Hunters Lächeln vor mir zu sehen. Die ganze Zeit konnte ich an nichts anderes denken, weder auf dem Nachhauseweg noch beim Aufräumen, und auch jetzt nicht. Jaden Hunter und sein verdammtes Lächeln. Ich weiß nicht, wie er es nach allem noch fertigbringt zu lächeln. Ich weiß nicht, wie er sich überhaupt zu etwas aufraffen kann, aber er tut es. Er lächelt, wenn er beim Footballspiel auf den Platz läuft. Er lächelt beim Mittagessen, wenn seine Freunde um ihn herum ihre Witze reißen. Er lächelt, wenn er mich sieht, obwohl er überhaupt keinen Grund dazu hat.
»Nichts«, sage ich zu Will.
Kurz nach halb fünf kommt Mom endlich von der Arbeit. Fix und fertig für meine eigene Schicht, warte ich in der Küche auf sie. Das rote Polo-Shirt, das ich tragen muss, ist nicht gerade die attraktivste Uniform der Welt, zumal mir die Farbe nicht steht, aber es könnte schlimmer sein. Ich könnte irgendwo arbeiten, wo ich so eine dämliche Kappe tragen muss. Ich habe mich frisch geschminkt, mit einer halben Flasche Parfüm eingesprüht und mir für den Fall, dass ich heute Abend die Restaurantschicht zugewiesen bekomme, die Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Arbeit beim Lasertag ist mir lieber, weil ich es hasse, Tische abzuräumen, aber wenn es unbedingt sein muss, tue ich es. Ich brauche das Geld, deshalb bin ich für beide Bereiche geschult und arbeite fünf Schichten pro Woche.
»Hier, bitte«, sagt Mom, als sie in die Küche kommt, und wirft mir den Wagenschlüssel zu. Ich fange ihn flink mit einer Hand auf, bleibe aber sitzen und sehe zu, wie sie ihre Strickjacke auszieht und sich Kaffee aufsetzt. »Möchtest du auch eine Tasse, bevor du losmusst?«
Ich schüttle den Kopf und verfolge ihre langsamen Handgriffe, während sich die Küche mit dem Geruch nach Kaffee füllt. Sie öffnet den Kühlschrank und sieht nach, was wir dahaben. Dann wirft sie einen Blick in die Tiefkühltruhe und die Schränke und seufzt. »Meinst du, dein Vater hat was dagegen, wenn wir Essen bestellen?«
»Nein«, lüge ich. Eigentlich kann Mom gut kochen, sie macht eine sagenhafte Lasagne, die wir alle lieben, aber manchmal hat sie einfach nicht die Energie dazu. Wenn sie den Lieferdienst vorschlägt, heißt das normalerweise, dass sie einen schlechten Tag hat.
»Okay, dann bestelle ich uns was«, sagt sie, wendet sich zur Kaffeemaschine und gießt sich eine Tasse ein. Dabei starrt sie gedankenverloren aus dem Fenster in unseren kleinen Garten. Der Rasen ist ungleichmäßig gewachsen und zu lang, weil Dad keine Zeit mehr hat, ihn zu pflegen.
Ich schließe die Faust um Moms Autoschlüssel und stehe auf. Wenn ich noch länger hierbleibe, um mich mit ihr zu unterhalten, komme ich zu spät. »Um elf bin ich wieder da«, sage ich und nehme meine Jacke von der Stuhllehne. Mom antwortet nichts mehr, doch ich bin kaum draußen auf der Veranda, als ich das Platschen höre, mit dem sie ihren Kaffee in die Küchenspüle kippt. Enttäuschung überkommt mich, weil ich genau weiß, wodurch sie ihn ersetzen wird. Aber ich kann nicht zurücklaufen und mit ihr diskutieren, deshalb ziehe ich so schnell wie möglich die Haustür hinter mir zu und tue so, als hätte ich nichts gehört. Dad macht es genauso: Meistens ignoriert er alles, womit er sich nicht auseinandersetzen will. Und ich habe von ihm gelernt.
Moms alter Prius steht in der Einfahrt. Ich steige ein und fahre rückwärts aus der Einfahrt in unsere ruhige kleine Sackgasse. Windsor ist eine Kleinstadt, aber seine zwanzigtausend Einwohner verteilen sich hauptsächlich auf kleine, verstreut liegende Siedlungen außerhalb des Zentrums. Zum Summit fährt man eine Viertelstunde über Landstraßen inmitten weiter Felder. Es gibt nichts zu sehen als die endlosen grünen Hügel, aber wenn es draußen noch hell ist, mag ich die Fahrt zur Arbeit – an klaren Tagen kann man die Rocky Mountains in der Ferne sehen. Diese Kulisse, die den ganzen Staat Colorado irgendwie zu etwas Besonderem macht.
Ich parke Moms Wagen ganz hinten auf dem Parkplatz des Summit und stemple kurz vor fünf Uhr ein. Meine Chefin Lynsey hat mich für die Arbeit an der Bowlingbahn eingeteilt. Normalerweise ist es an den Abenden unter der Woche viel ruhiger als am Wochenende, aber heute taucht eine riesige Kindergeburtstagsparty auf, und es ist die Hölle los.
Ich sprühe gerade die aufgereihten Schuhe an meiner Ausgabestelle mit Geruchsvernichter ein – das Kinn auf die Brust gepresst und mein T-Shirt gegen den Gestank über den Mund gezogen – als jemand auf den Tresen klopft, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen.
»Größe sechsundvierzig«, scherzt derjenige. Ich erkenne seine Stimme sofort – vor allem wegen des unausstehlich großspurigen Tonfalls.
Ich nehme das T-Shirt vom Mund und drehe mich zu ihm um. Ein selbstgefälliges Grinsen auf den Lippen, lehnt er am Tresen und wartet auf meine Reaktion.
»Oh, hallo Darren.« Ich lächle unverbindlich, während ich die aufgereihten Schuhe vor ihm einsammle und in die entsprechenden Regale an der Wand hinter mir sortiere. Ich mag Darren, wirklich. Wir kommen gut miteinander aus, aber manchmal fehlt mir einfach die Energie, mich mit ihm auseinanderzusetzen. Ich finde seine unbekümmerte Art nicht mehr ganz so anziehend, wie ich es früher mal tat, und manchmal ist er sogar ein bisschen überheblich. »Was machst du denn wieder in der Stadt?«
»Wer würde denn nicht liebend gern das gute alte Windsor besuchen?«, fragt er mit breitem Grinsen; sein Sarkasmus entgeht mir nicht. Er beugt sich über den Tresen zu mir, um meine volle Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Außerdem«, sagt er, »wollte ich dich sehen. Ich dachte, die Chancen stehen ganz gut, dich hier zu treffen.«
»Na klar, ich bin immer hier«, witzele ich, verdrehe kurz die Augen und stelle das letzte Paar Schuhe ins Regal. Dann drehe ich mich langsam wieder zu ihm um. »Du kannst mich hier nicht so einfach überfallen, wenn ich arbeite, das weißt …«
»Du fehlst mir einfach, Kenz, das ist alles«, gesteht Darren leise. Er wirkt enttäuscht, dass sein Überraschungsbesuch bei mir nicht so gut ankommt. Warum muss er immer wieder unangekündigt auftauchen? Die Situation ist mir peinlich, und ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll, also drehe ich mich wieder um und sortiere Schuhe.