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Zwei Jahre nach der ersten Begegnung zwischen Mila und Blake sind die beiden kein Paar mehr. Ihren letzten Sommer vor dem College verbringt Mila aber dennoch auf der Farm der Hardings in Tennessee, diesmal in Begleitung ihres Vaters, der sich von Milas Mutter getrennt hat. Viele Erinnerungen stürmen auf sie ein, in diesen heißen Sommertagen, in denen sie eigentlich nur ihre Freiheit genießen wollte. Teddy, der attraktive neue Stallbursche auf der Farm, ist da eine willkommene Ablenkung. Dann geschieht das Unvermeidliche: Mila trifft auf Blake – und bekommt sofort weiche Knie. Die verdrängten Gefühle kehren mit aller Macht zurück. Doch Blake hat nun eine neue Freundin und mit seiner Vergangenheit abgeschlossen. Gibt es für ihn und Mila eine zweite Chance?
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Seitenzahl: 348
DASBUCH
Blake lacht über meine hohe, kindliche Stimmlage, aber ich kann nicht anders. Jeder, der in seinem normalen Tonfall mit Hunden redet, ist fraglos komisch und nicht vertrauenswürdig.
Ich kraule Bailey hinter den Ohren und richte mich auf. »Deshalb bist du hergekommen?«, frage ich. »Damit ich Bailey sehe? Sonst nichts?«
»Doch«, sagt Blake. Er schließt die Trucktür, schiebt die Hände wieder in die Taschen und fängt seine Unterlippe mit den Zähnen ein, als er zu dem Sand unter seinen Turnschuhen schaut. »Ich dachte, dass du mich vielleicht auch sehen willst.«
Ich neige den Kopf zur Seite. »Eingebildet bist du gar nicht, oder?«
»Okay, na gut.« Er sieht auf. »Ich wollte dich sehen.«
Mein Bauch macht einen kleinen Hüpfer und ist auf einmal voller Schmetterlinge. Ich habe mich auf einen entspannten Abend mit endlosem Scrollen durch TikTok eingestellt, während ich meine Hautpflegeroutine betreibe. Stattdessen stehe ich jetzt im Pyjama hier draußen mit Blake.
DIEAUTORIN
Estelle Maskame, 1997 geboren, lebt in Peterhead, Schottland, wo sie auch zur Schule ging. Bereits mit 13 Jahren begann sie, die DARK-LOVE-Serie zu schreiben, die auf Wattpad vier Millionen Reads erreichte und in Buchform auch international ein sensationeller Erfolg wurde. Mit MILA & BLAKE, ihrer zweiten großen Serie, dürfen die Leser*innen sich nun auf ein weiteres unwiderstehliches Paar freuen.
ESTELLE MASKAME
Starry Nights
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe The Making of Mila and Blake erschien erstmals 2022 bei Ink Road, Black & White Publishing Ltd
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Copyright © 2022 by Estelle Maskame
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur, München,
unter Verwendung von Motiven von © FinePic®, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-28809-9V001
www.heyne.de
Meinen wundervollen Neffen Anders und Jaxson
Das konstante Brummen der Motoren und das gelegentliche sanfte Wippen bei Turbulenzen wirken schon immer entspannend auf mich. Tausende Meter über den Wolken, unter uns Berge und sanft geschwungene Felder. Ich mag, wie friedlich es hier oben ist. Ich habe alle Zeit der Welt, einfach zu denken, und solche Momente fühlen sich wie eine Seltenheit an.
In meiner Nische in der ersten Klasse, von Trennwänden abgeschirmt in meiner eigenen kleinen Blase, bin ich der Inbegriff der Entspanntheit – die Füße auf der Fußstütze, der Sitz ganz nach hinten geklappt, weiche Kissen im Nacken und die Musik über meine AirPods auf volle Lautstärke gedreht, springe ich durch meine gegenwärtige Playlist auf Spotify. Gerade höre ich »Truth About You« von Mitchell Tenpenny. Ich gestehe, dass ich den Song schon peinlich oft gehört habe.
Ich befinde mich in einem nebligen Halbschlummer, schlafe nicht richtig, habe aber alles um mich herum ausgeblendet und die Augen fest geschlossen. Mir schwillt das Herz bei dem Text an, der in meinen Ohren klingt. Eine Stunde geschafft, bleiben noch drei bis …
Jemand packt meine Schultern, und ich verschlucke mich an dem Schrei, der mir unwillkürlich entfährt. Als ich mich ruckartig aufsetze, rutschen meine AirPods heraus und verschwinden irgendwo unter der Decke der Airline, in die ich mich gehüllt habe.
»Dad!«, stöhne ich, reibe mir die Augen und drehe mich wutentbrannt zu ihm.
Seine Nische ist hinter meiner, doch er steht auf dem Gang und ist über die Trennwand gebeugt. Er stützt einen Arm auf die Wand und steckt sich seinen Füller hinters Ohr. »Schläfst du?«
»Verzeih mir«, sage ich spitz und suche in der Decke nach meinen Kopfhörern. Mitchell Tenpenny wartet darauf, mich wieder in den Schlaf zu singen. »Es ist ja nicht so, als wäre ich von den Abschlussprüfungen, dem Ball und der Zeugnisverleihung komplett erledigt. Dies war mein erstes Nickerchen seit einer Ewigkeit.«
»Wenn du denkst, dass du jetzt erschöpft bist, warte ab, bis du in meinem Alter bist«, sagt Dad. »Keine Ruhe den Verderbten, Mila.« Er öffnet das Gepäckfach oben und zieht einen dicken Stapel Papiere aus seinem Rucksack, auf deren Umschlag in dicken Großbuchstaben »VERTRAULICH« steht. So vertraulich sogar, dass nicht einmal ich weiß, worum es bei den Unterlagen geht.
»Ich dachte, du willst Urlaub machen«, sage ich mit einem Nicken zu den Papieren in seinen Händen. »Warum arbeitest du immer noch?«
Dad schürzt die Lippen, und seine dunklen Augen funkeln. Vor Jahren hätte er sich während des gesamten Flugs hinter einer Sonnenbrille verschanzt, doch in letzter Zeit hat er den Mut aufgebracht, sich von diesem Selbstschutz zu entwöhnen. Er ist immer noch eine große Nummer in Hollywood, auch wenn es zwei Jahre her ist, dass sein letzter Film in die Kinos kam. Aber er ist nicht aktuell. Die Presse konzentriert sich dieser Tage nicht mehr so sehr auf ihn – deren Fokus gilt grundsätzlich denjenigen, die hier und jetzt im Scheinwerferlicht stehen. Also auch wenn Dad immer noch täglich angehalten und um ein Foto gebeten wird, sind die Leute längst nicht mehr so besessen von ihm. Deshalb fühlt er sich nicht ganz so sehr allen Blicken ausgesetzt wie früher.
»Es ist ein vierstündiger Flug, Mila«, sagt Dad und schließt die Klappe oben. »Und ich muss einigen Lesestoff nachholen. Oh, Verzeihung, Ma’am!«, spricht er eine nahende Flugbegleiterin an, die ihm strahlend zulächelt. »Könnte ich bitte einen Wein bekommen? Den Sauvignon Blanc.«
Die junge Frau eilt zurück durch den Gang zur Bordküche, um ihm ein Glas zu holen. Ich halte mich auf absehbare Zeit an Sprite, denn ich kann noch den Wodka von all den Abschlusspartys am letzten Wochenende schmecken. Mom war wenig begeistert, als ich lange nach Mitternacht zu Hause aufschlug, verstand aber, dass das Abschlusswochenende eine Art Übergangsritual ist. Der Kater am nächsten Tag war nicht annähernd so gnädig mit mir.
»Ihr Wein, Sir«, sagt die Flugbegleiterin, während sie vorsichtig an Dad vorbeigeht und das Glas perfekt auf dem Tisch in seiner Sitznische abstellt. Wieder fixiert sie ihn mit einem charmanten Lächeln.
Dad nimmt den Stift hinter seinem Ohr hervor und setzt sich wieder auf seinen Platz. Ich drehe mich auf meinem um und spähe über die Trennwand zu ihm. Sein Sitz ist ganz aufrecht gestellt und sein Fernseher aus. Ich wette, dass er schon zu arbeiten angefangen hat, bevor wir überhaupt das Rollfeld verlassen hatten. Er trinkt einen Schluck von seinem Wein und breitet seine vertraulichen Papiere vor sich aus. Dann blickt er zu mir auf.
»Schnüffelst du?«
»Nein«, lüge ich und lehne meine verschränkten Arme auf die Trennwand.
Offensichtlich ist es ein Drehbuch. Dad hat die letzten anderthalb Jahre damit verbracht, Geld in Projekte zu stecken, von denen er glaubt, dass sie ein Kinoerfolg werden. Er hat gerade als Produzent die Verfilmung eines Actionromans abgeschlossen – die nächstes Frühjahr in die Kinos kommen soll – und sollte jetzt eigentlich einen verdienten Urlaub einlegen. Kein Recherchieren, kein Durcharbeiten von dicken Papierstapeln, keine Konferenzschaltungen mit anderen Produzenten. Und jetzt sitzt er wieder mit Papieren hier, was bedeutet, dass sein nächstes Projekt schon im Werden ist und null Chance besteht, dass er den Arbeitsstress ausblenden kann.
»Schlaf weiter«, sagt Dad, lässt seine Augenbrauen hüpfen und breitet die Hände aus, um das Drehbuch vor mir abzuschirmen.
Ich frage mich, was das für ein Film wird. Ich habe Dad schon so viele Waffen auf der Leinwand schwenken sehen, dass ich die Nase voll habe von superschnellen Actionfilmen. Eine Rom-Com wäre meine bevorzugte Genrewahl für Dads nächsten Film, und ich würde für Zac Efron auf der Shortlist der Hauptdarsteller stimmen. Eines jedoch habe ich in letzter Zeit gelernt: Es ist sehr viel einfacher, sich am Set herumzutreiben, wenn man die Tochter des Hauptdarstellers ist als die des Produzenten. Die Privilegien sind futsch, also verdammt, keine Begegnungen mit Zac Efron am Set.
»Versprichst du mir, dass du eine Pause einlegst, wenn wir da sind?«, frage ich ein klein wenig flehend. Dad ist definitiv nicht mehr so angespannt wie früher, aber seine neue Rolle ist immer noch anstrengend, und man hat so viel mehr Spaß mit ihm, wenn er mal lockerlässt. »Vielleicht kannst du mit mir reiten gehen. Denk an all die frische Luft, Dad. Sheri kann es dir beibringen!«
Dad beäugt mich über den Rand seiner Lesebrille hinweg. Vielleicht liegt es an der Kabinenbeleuchtung, doch zum ersten Mal bemerke ich ein winziges bisschen Grau in seinem Haar. »Mich wirst du nie auf einem Pferd sehen, Mila, aber du darfst natürlich reiten und Spaß haben. Nutze den letzten Sommer aus, bevor die harte Arbeit anfängt.«
Ich verdrehe die Augen und sinke zurück auf meinen Platz, wo ich die Ohrstöpsel wieder einsetze und mich Mitchell Tenpenny in voller Lautstärke umfängt. Gleichzeitig krampft sich mein Magen zusammen, und ich schaue hinaus auf die trockene Prärie von Arizona, die sich unter uns erstreckt.
Mila Harding, offiziell ab diesem Herbst Erstsemesterstudentin an der San Diego State University – der erste Schritt auf ihrem Weg zum Bachelor in Krankenpflege. In die Vorfreude auf das College mischt sich genauso viel Nervosität. Neben einer Handvoll Ablehnungen – mein Abschlusszeugnis war nicht berauschend – gab es zwei Zusagen. Eine von der San Diego State und eine von der Belmont University in Nashville, auf der meine Eltern früher beide waren. Und ich wartete bis zum letzten Tag mit meiner Entscheidung. Belmont war die bessere Uni, aber da kann ich einfach nicht hin. Ich kann mich ihm nicht stellen. Und ich will meine eigene Uni, deshalb habe ich beschlossen, in Kalifornien zu bleiben und den Platz an der SDSU anzunehmen. Was nicht heißt, dass ich keine Zweifel hätte, ob ich das Richtige tue. Sie nagen täglich an mir.
Ich schließe die Blende vor dem Fenster und blicke hinauf zu den Lüftungsklappen. Vielleicht trete ich einer Studentinnenverbindung bei, aber wahrscheinlich nicht. Und mit wem werde ich zusammenwohnen? Die Zimmereinteilungen kommen nicht vor August. Mir wird das Smaragdgrün des Tanzteams von der Thousand Oaks High fehlen, aber sicher kann ich in ein neues Tanzteam an der SDSU kommen. Es wird schon gut werden. Ja, garantiert wird alles gut.
Doch fürs Erste muss ich mir keine Gedanken über die Uni machen. Ich habe Sommerferien und werde meine letzten Monate Freiheit genießen, bevor die Arbeit losgeht. Die nächsten drei Wochen werde ich mit Verwandten und Freunden in Fairview verbringen, bevor ich zu den Einführungsveranstaltungen zurück nach Hause fliege. Den Rest des Sommers werde ich in Los Angeles sein und mich auf die Uni vorbereiten – neue Bettwäsche aussuchen, meinen Kleiderschrankinhalt in Koffer verstauen und meinen Ficus umzugsbereit machen –, aber ich kann nicht umhin mir zu wünschen, bis August in Fairview zu bleiben. Es ist viel friedlicher und entspannter als L. A., und ich bin seit den Weihnachtsferien nicht mehr dort gewesen. Es gibt so viel zu tun und so wenig Zeit. Ausflüge zum Einkaufszentrum mit Savannah und Tori; mit Tante Sheri und meinem Lieblingspferd Fredo über die Felder galoppieren; Popeyes warme Umarmungen spüren. Ich glaube, meinen Großvater vermisse ich am meisten. Er beherrscht das Videotelefonieren nach wie vor nicht richtig, und neunundneunzig Prozent der Zeit ist die Kamera auf die Zimmerdecke gerichtet, also kann ich es nicht erwarten, sein seidiges weißes Haar in natura zu sehen. Es sind lange sechs Monate gewesen, und ich frage mich, wie ich jemals Jahre zwischen den Besuchen aushalten konnte, als ich noch jünger war. Sie alle bedeuten mir jetzt so viel.
Ich tippe an meinen linken AirPod, um die Musik zu stoppen und runzle die Stirn. »Du, Dad?«
»Ja?«, ruft er über die Trennwand zwischen uns.
»Meinst du, dass es okay sein wird?«
Zunächst ist es still, abgesehen von einem Geschäftsmann auf der anderen Seite des Gangs, der die Flugbegleiterin um einen Scotch bittet. Ich warte mit angehaltenem Atem, während ich auf die Flugkarte auf dem Bildschirm vor mir starre. Schließlich lenkt Dad mich ab, indem er wieder neben mir auftaucht. Er ist so groß, dass sein Kopf beinahe die Kabinendecke berührt.
»Was genau meinst du?«, fragt er leise und blickt mir in die Augen.
Es gibt eine Menge Dinge, die gerade nicht okay sind.
Angefangen mit seinem angespannten Verhältnis zu Popeye und Sheri. In den letzten zwei Jahren hat Dad mich bei einigen meiner Besuche auf der Ranch begleitet, wenn auch nicht so oft, wie ich es mir gewünscht hätte. Er ist zu sehr damit beschäftigt gewesen, seine neue Karriere in Schwung zu bringen, sodass er schlicht nicht die Zeit hatte, obwohl er uns allen versprochen hatte, dass die Schauspielerei aufzugeben besser für uns als Familie sei. Allerdings ruft er Popeye jeden Monat an, und oft bekomme ich mit, dass er und Sheri sich schreiben. Die Dinge entwickeln sich in die richtige Richtung, nur geht es frustrierend langsam voran. Andererseits hatte er nicht ganz unrecht, als er Popeye einmal fragte, warum er uns nie besucht. Es war eine deutliche Erinnerung daran, dass die Bemühungen nicht einseitig sein sollten.
Und dann ist da Dads Trennung von Mom. Die fand in diesem Frühjahr endlich statt. Es war ein Segen, als sie zu dem Entschluss kamen, denn das dauernde Streiten war unglaublich kräftezehrend. Ich hasste es, wie sie sich gegenseitig voller Verachtung ansahen, während sie versuchten, sich aus dem Weg zu gehen. Und ich hasste es, dass sie nicht gemeinsam abends ausgingen, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr bei den Händen hielten und nicht mehr zusammen lachten.
Die letzten paar Jahre sind ein langer, holpriger Weg gewesen. Sie kämpften mit dem zerstörten Vertrauen, und der Schaden ließ sich nicht beheben, ganz egal wie verzweifelt sie es versuchten oder wie sehr sie es wollten. Da ist immer noch Liebe, keine Frage, aber was ist Liebe ohne Vertrauen? So blöd es sein mag, war es einfach ungesund, und jetzt schon sind meine Eltern beide viel glücklicher, als wäre ihnen eine Last genommen, seit sie nicht mehr probieren, ihre Ehe zum Funktionieren zu zwingen. Mom ist vorerst in eines unserer vielen Gästezimmer gezogen, bis sie etwas Neues für sich gefunden hat, und ich freue mich schon darauf, ins Studentenwohnheim der SDSU zu ziehen, weil es mich vor der Entscheidung bewahrt, bei welchem Elternteil ich wohnen will. Ich bin erwachsen, achtzehn Jahre alt, und will nichts mehr mit den Dramen meiner Eltern zu tun haben.
»Ach, schon gut«, sage ich und sehe zum Fenster. Es kommt keine Antwort, weil man wohl nie garantieren kann, dass alles okay sein wird. Der nächste Stolperstein kommt immer.
Und wie aufs Stichwort wird das Flugzeug von einer Turbulenz geschüttelt.
Ich schalte meine Musik wieder ein – »Right Where You Left It« von Eric Dodd spielt jetzt, bäh – und lehne mich an die Blende, wo ich meine Augen wieder zufallen lasse.
Eine Stunde geschafft, noch drei übrig, bis ich wieder da bin, wo ich hingehöre.
Die vierzigminütige Fahrt in unserem Mietwagen vom Nashville International Airport nach Fairview ist mir jetzt sehr vertraut. Der Übergang vom chaotischen Verkehr in Nashville zu den ruhigen Landstraßen, die zum Harding Estate führen, ist wie ein Highway zwischen zwei vollkommen verschiedenen Welten – die beiden trennen bloß fünfunddreißig Meilen, die sich jedoch wie eine Million anfühlen.
Als die hohen Mauern der Familienranch auftauchen, kribbelt in mir alles vor Freude. Die Sonne glüht am meerblauen Himmel, und kaum nähern wir uns dem elektrischen Tor, löse ich automatisch meinen Sitzgurt und greife nach der Autotür, bereit, meinen Sommer zu beginnen. Je mehr Zeit ich hier in meiner kleinen Heimatstadt verbringe, desto besser fühlt es sich jedes Mal an herzukommen.
»Na los, Mila, klingle mal«, fordert Dad mich auf, als er den Wagen anhält.
Das muss er mir nicht zweimal sagen. Ich stoße die Tür auf, springe hinaus und genieße die feuchte Tennessee-Hitze, atme den Geruch von frischem Heu und gemähtem Gras ein. Alle Gerüche hier draußen sind so natürlich, so anheimelnd, was an sich schon verrückt ist, bedenkt man, dass ich mir wie eine Fremde vorkam, als ich vor zwei Sommern an genau diesem Tor stand. Jetzt liebe ich es, wie wild auf die Klingel zu drücken, um Tante Sheri wissen zu lassen, dass ich hier bin. Im Ernst, ich sollte inzwischen längst eine eigene Fernbedienung für das Tor haben!
Ich winke der Kamera oben am Tor zu und bewege die Hand zur Klingel, als ich stocke. Das System ist geändert worden, seit ich vor sechs Monaten zuletzt hier war. Da ist eine neue Tafel mit unterschiedlichen Klingeln und Beschriftungen neben ihnen: Harding Estate, Stallbesucher & Anfragen.
Mein Blick wandert zu dem goldenen Schild auf der Mauer, das ebenfalls neu ist, wie mir jetzt klar wird, denn es ersetzt das frühere, und dort steht nun: THEHARDINGESTATERIDINGSCHOOL.
Und ich merke, dass ich zu lächeln anfange, als ich klingle. Hier geht es wirklich voran. Nur das schrille Bimmeln, als das Tor sich zu öffnen beginnt, ist so schmerzhaft in den Ohren wie eh und je.
»Willkommeeen!«, trällert Tante Sheri aus der Gegensprechanlage.
»Hi, Sheri! Bis ganz gleich!«, antworte ich, drehe mich zum Wagen um und winke Dad durchs Tor. Die sengende Nachmittagssonne fühlt sich zu gut auf meiner Haut an, und die sanfte Brise in meinem Haar ist erfrischend. Ich verfalle in einen halbherzigen Sprint den Sandweg hinauf, während Dad mir vorsichtig hinterherfährt.
Auf der Ranch mag manches ein wenig anders sein – warum stehen da drüben Zementmischer? –, aber das Haus hat sich nicht verändert und wird es wohl auch nie. Es ist traditionell und altmodisch, aber das macht es so liebenswert. Dies ist das Heim von einer Million Erinnerungen an meine verstorbene Großmutter, an Dads und Sheris Kindheit, an meine Zeit, als ich hier aufgewachsen bin. Die frische Farbe, mit der ich vor zwei Jahren sämtliche Fenster versehen hatte, hält noch gut, aber die Brüstung der Holzveranda muss nach wie vor dringend renoviert werden.
»Mila!«, quiekt jemand, und ich sehe als Erstes einen rotblonden Schopf in der Haustür. Die beste Freundin meiner Kindheit, Savannah, kommt die Verandastufen heruntergestürmt und wirft sich mir in die Arme.
Ich stolpere einige Schritte rückwärts, als ich sie fest umarme. »Hey!«
»Du darfst nie wieder sechs Monate zwischen deinen Besuchen vergehen lassen«, sagt Savannah mit einem sehr drohenden Blick, als sie sich von mir löst. Doch ihr breites, strahlendes Lächeln ist gleich wieder da und so vertraut und wohltuend, dass ich es sofort erwidere.
»Hey! Lass noch ein bisschen was von dem Geherze für mich übrig!«, höre ich Tori sagen, als sie selbstsicher die Verandastufen herabkommt und diese Haltung ausstrahlt, die ich an ihr kenne und für die ich sie liebe.
Sie läuft auf Savannah und mich zu und schlingt ihre Arme um unsere Schultern, sodass wir in einer Gruppenumarmung sind. Alle drei stecken wir die Köpfe zusammen und lachen, als wäre gar keine Zeit vergangen seit dem Abend zwischen Weihnachten und Neujahr letztes Jahr, als wir beschlossen, einen Spaziergang durch den Ort zu machen, heißen Kakao aus Thermoskannen zu trinken und gegen Erfrierungen zu kämpfen, als die Temperaturen unter fünfzehn Grad plus fielen. Savannah war mit einem Fuß in den Eingang eines Kaninchenbaus gerutscht, und Toris und unsere Rettungsversuche wurden von unkontrollierbaren Kicheranfällen verlangsamt.
»Ihr habt mir so gefehlt! Und ich wusste gar nicht, dass ihr hier seid.« Ich trete einen Schritt zurück, um beide anzusehen. Tori hat keine neonpinken Strähnen mehr wie noch letztes Jahr, sondern ihr natürliches pechschwarzes Haar, und Savannah hat ihre Vorliebe für verrückte Ohrringe beibehalten. Heute baumeln Pferde an ihren Ohrläppchen, und ich bemerke ein neues Helix-Piercing.
»Na, Savannah wohnt jetzt praktisch hier, und ich dachte, ich komme mal vor meiner Spätschicht vorbei und sehe mir deinen Dad an«, sagt Tori. Sie geht an mir vorbei und winkt, als Dad aus unserem Mietwagen steigt. »Hey, Everett! Willkommen zurück in Fairview!«
Dad schwingt mühelos unser Gepäck aus dem Kofferraum, sodass seine Hände voll sind und er Tori nur zunickt. »Hi, Mädchen. Mila wollte unbedingt herkommen und bei euch sein«, sagt er, als er näher kommt und unsere Koffer hinter sich herzieht. Er bleibt vor uns stehen, und Savannah ringt nach Luft.
Mit einem nervösen Lachen bringt sie »Hi, Mr. Harding« heraus.
»Savannah«, sagt Dad und sieht sie streng an. »So nennst du mich jedes Mal, wenn wir uns sehen. Ich bin nur Milas Dad, okay?«
Aber er hat ja keine Ahnung, dass Savannah ein gerahmtes Foto von ihnen beiden über ihrem Bett hängen hat. Mich schüttelt es bei dem Anblick, weshalb ich ihr Zimmer nicht mehr betrete.
Savannah wird rot, doch Tante Sheri rettet sie, indem sie auf die Veranda kommt und unsere Aufmerksamkeit auf sich lenkt.
»Mila, Schatz!«, ruft sie, und ich laufe die Stufen hinauf, um sie zu begrüßen. Sheri ist nicht bloß meine Tante; sie ist meine coole Tante. Unsere Beziehung ist in den letzten Jahren richtig aufgeblüht, und ich liebe es einfach, sie hier zu besuchen. Auf Sheri kann ich immer zählen. Sie ist wie eine große Schwester, die mir verlässlich beisteht.
Ich vergrabe mein Gesicht in ihren Locken, und sie drückt mich fester als sonst. Sheri muss es nicht aussprechen – sie fragt sich, ob es mir gut geht. Es ist das erste Mal, dass wir uns seit Moms und Dads offizieller Trennung sehen. Und via FaceTime lässt sich nur begrenzt Trost spenden.
Dad räuspert sich und schiebt unser Gepäck zur untersten Stufe. »Wie geht es, Sheri? Wo ist Dad?«
Es gibt keine Umarmung zwischen Dad und Sheri, aber das ist nichts Neues. Sheri lächelt immerhin echt und antwortet: »Gut! Wie du siehst, tut sich hier einiges, also entschuldigt bitte das Chaos. Dad ist auf dem Weg nach unten.«
Und prompt kommt Popeye an die Tür und stützt sich mit einer Hand am Rahmen ab. Sein weißes, seidiges Haar ist schütterer, als ich es in Erinnerung habe, und die Falten um seine Augen sind tiefer. Doch sein Lächeln ist so strahlend und rein wie immer, und mir geht das Herz über, als er mich mit einem Zwinkern in seinem guten Auge ansieht.
»Mila!«
»Popeye!« Ich laufe zu ihm, gebe ihm einen Kuss auf die Wange und ergreife seine Hand. Wie kommt es, dass Großeltern so viel älter wirken, wenn man sie länger nicht gesehen hat? Es ist nicht fair, wie schnell Popeye zu altern scheint. Ich drücke seine Hand und grinse glücklich, weil es seine ist, die meines Großvaters, die von seiner Zeit in der Army in Vietnam und von den Jahrzehnten Arbeit auf der Ranch erzählt.
»Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Schnell laufe ich zurück zum Wagen, hole meinen Rucksack aus dem Fußraum auf der Beifahrerseite und eile damit wieder zu Popeye. Dann ziehe ich eine Riesenpackung Jolly Ranchers aus dem Rucksack.
»Du weißt ja, dass die vom Flughafen besser schmecken«, sage ich.
Popeye lacht und will mir die Tüte abnehmen, bekommt sie jedoch nicht richtig zu fassen. Zweimal versucht er es, und beide Male rutscht sie ihm aus der Hand.
»Vielen Dank, meine süße Mila«, sagt er, und Sheri kommt, um die Tüte für ihn zu nehmen. Besorgt runzle ich die Stirn – die Packung wiegt nicht mal ein Pfund –, aber Popeye wechselt das Thema. »Wie geht es dir, Everett?«
Wie jedes Mal, wenn Popeye ihn direkt anspricht, tritt Dad von einem Bein auf das andere. »Alles gut, Dad. Was baut ihr da drüben?« Er zeigt zu den Stahlträgern auf dem Feld, die das Grundgerüst von etwas Neuem bilden. Und es ist ein sicheres Thema, denn solange sie über nichts Persönliches sprechen, kommen Dad und Popeye gut miteinander aus.
»Eine Reithalle für den Winter!«, antwortet Sheri und breitet die Arme weit aus, als sie über das große Land um uns zeigt, als wollte sie, dass sich der Rest von uns ihre Zukunftsvision vorstellt. »Die Halle wird ganz modern, und wir bauen einen neuen Stallblock gleich links von ihr. Die Koppeln verbessern wir auch. Hier wird nichts ausgelassen, sondern alles erneuert, und im nächsten Frühjahr sind wir betriebsbereit.«
»Es wird fantastisch«, sagt Savannah verträumt. »Ich meine, das ist es jetzt schon, aber es wird noch besser.«
»Wie wäre es, wenn du mir die Baupläne zeigst? Es hört sich großartig an«, fragt Dad Popeye, und ich weiß, dass er sich Mühe gibt. Deshalb hat er mich in den letzten zwei Jahren bei einigen meiner Besuche begleitet: um Dinge wiedergutzumachen und ein besserer Sohn und Bruder zu sein.
»Oh, und du musst dir anschauen, was wir mit dem Haus vorhaben, Everett«, sagt Sheri. Sie nimmt die Tüte Jolly Ranchers von dem alten Verandastuhl auf, bugsiert Popeye zurück nach drinnen und bedeutet Dad, ihnen zu folgen. Er trägt unser Gepäck mit ins Haus.
Ich gehe von der Veranda nach unten zu Savannah und Tori, aber mir schwirrt der Kopf von all den Möglichkeiten der Harding Estate Riding School. Sheri hat den Sprung ins kalte Wasser gewagt und die Idee letzten Sommer ausprobiert, um zu sehen, ob der Bedarf für noch eine Reitschule in Tennessee gegeben war. Schnell stellte sie fest, dass Dads Berühmtheit auch Vorteile hat, denn die Leute wollen ganz dringend hier Reitstunden nehmen. Sie dürfen auf das Grundstück, und auch wenn sie zunächst pure Neugier hertreibt, bleiben sie letztlich, weil Sheri so eine hervorragende Reitlehrerin ist.
»Hey, Mila, ich muss los«, lenkt Tori meinen Blick von der Baustelle ab. »Aber versprecht mir, dass ihr später zum Essen vorbeikommt, ja? Samstagsschichten nerven, und ich brauche euch, damit ihr mich rettet.«
»Machst du Witze? Würde ich verpassen, die Buffalo-Shrimps zu probieren, von denen du pausenlos redest?« Es ist ein Scherz (aber ernsthaft, wenn ich Tori noch ein einziges Mal von den verfluchten Buffalo-Shrimps schwärmen höre …), und ich stoße sie mit dem Arm an. »Auf keinen Fall! Wir kommen. Halte uns einen Tisch frei.«
»Tisch für zwei um sieben«, sagt Tori und salutiert. »Bis dann!«
Tori geht zu ihrem alten Civic, den sie letztes Jahr für zweihundert Dollar auf dem Schrottplatz gekauft hat, und Savannah und ich schauen zu, wie er röhrend und qualmend zum Tor und hindurch rollt. Zurück bleibt eine Abgaswolke. Aber Tori hatte das fabrikneue Auto zu Schrott gefahren, das ihre Eltern ihr zum Geburtstag geschenkt hatten. Deshalb kellnert sie jetzt im Jefferson’s in der Stadt, denn sie zahlt noch ihre Kollision mit einer Straßenlaterne in der Main Street ab.
Savannah dreht sich zu mir. »Also, willst du jetzt Fredo begrüßen oder was?«
»Ja!«
Vielleicht liegt es daran, dass meine Eltern mir nie den Welpen erlaubt haben, um den ich ständig gefleht habe, dass Fredo solch einen besonderen Platz in meinem Herzen hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich ein Pferd wie ein Haustier betrachten würde; doch es fühlt sich an, als gehörte er zu mir. Und ich habe ihn seit Dezember nicht mehr gesehen.
Savannah nimmt meine Hand, und wir laufen zu dem bereits vorhandenen Stall, ganz altmodisch und traditionell, und ich kann nicht aufhören zu lächeln, als der Wind mein Haar einfängt und die Luftfeuchtigkeit meine Haut klebrig macht. Ich liebe es hier. Ich liebe es, liebe es, liebe es. So sehr, dass ich sogar meine eigenen Reitstiefel in meinem Zimmer hier habe. Die Tage, in denen ich mich mit meinen Flip-Flops im Steigbügel verhake, sind längst vorbei.
»Fredo, sieh mal, wer da ist!«, ruft Savannah, die durch das offene Stalltor nach drinnen tänzelt.
Ein kollektives Wiehern erklingt, als ich durch den Gang laufe, vorbei an den Boxen der anderen und direkt zu Fredo. Sein schwarz-weißes Fell schimmert im Neonlicht, und er neigt den langen Kopf, um mich mit seinen großen, glänzenden Augen anzusehen.
»Hey, Kumpel! Ich bin’s, ich bin zu Hause!« Ich öffne die Box und gehe zu ihm nach drinnen, wo ich mit den Fingern durch seine glatte Mähne streiche. Als ich ihn unterm Kinn kraule, stupst er mit seinen Nüstern an meine Schulter. »Ja, Fredo, ich habe dich auch vermisst!«
Das Pferd nebenan, Princess, stampft mit dem Huf auf, um sich über meine offensichtliche Bevorzugung Fredos zu beschweren.
»Ihr habt mir alle gefehlt!«, rufe ich über die Trennwand, und Savannah verdreht die Augen, bevor sie Princess zum Trost streichelt. Ich blicke zu ihr und bin kurz neidisch, weil sie jeden Tag auf dieser Ranch, in diesem Stall, bei diesen Pferden sein kann. »Du hast den besten Job der Welt, Savannah.«
Sie hebt den Kopf, und ihre Ohrringe schwingen. »Habe ich. Es ist super, mit Sheri zu arbeiten. Und ich werde dafür bezahlt!«
»Wie wäre es, wenn du dir deinen Lohn auch verdienst und hier mal hilfst?«, erklingt eine Stimme, und wir erschrecken.
Ich linse über die Boxentür und den Gang hinunter, und mein überraschter Blick landet auf einem Jungen, der aus dem Futterraum tritt und einen Heuballen auf seiner Schulter trägt. Er kommt mit schmutzverkrusteten Gummistiefeln auf uns zu und bleibt vor Fredos und Princess’ Boxen stehen.
»Jetzt ist mal gut, Teddy! Ich arbeite gerade gar nicht«, empört sich Savannah mit einem übertriebenen Zungenschnalzen, geht hinaus auf den Gang und legt eine Hand auf seine freie Schulter. »Das ist Mila, Sheris Nichte, von der ich dir erzählt habe. Sie bleibt die nächsten Wochen hier.«
Der Junge mustert mich mit blassblauen Augen. Er ist fraglos umwerfend mit rauen, schmutzigen Händen und Schweißperlen auf der Stirn unter seinem dichten blonden Haar. Mit dem Heu noch auf der Schulter reckt er sein Kinn und lächelt mich freundlich an.
»Hi, Mila«, sagt er. Seine Stimme ist wie Honig. Er streckt eine Hand über die Boxentür. »Teddy.«
Ich schüttle seine Hand und bemerke, dass er Schwielen in der Handfläche hat, genau wie Popeye. Ein Arbeiter. Ein Ranchjunge. »Hi«, antworte ich und ziehe meine Hand zurück, um Fredos Hals zu streicheln. »Savannah hat dich erwähnt. Du arbeitest auch für Sheri, oder?«
Teddy nickt, lässt das Heu auf den Boden fallen und wischt sich die Hände an seiner verblichenen Jeans ab. Seine Bizepse spannen sich, als er sich das klamme Haar aus der Stirn streicht. Zum ersten Mal wird mir klar, wie sexy ein Junge sein kann, der dringend eine Dusche braucht.
»Ja, einer muss hier ja die schwere Arbeit machen, wenn Savannah die Hälfte ihrer Schichten damit verbringt, Mähnen zu flechten.« Dabei zwinkert er Savannah zu, die rot wird.
Ich sehe sie an. Savannah hat über Teddy geredet – sehr viel sogar – und geschwärmt, wie gut ihr Kollege aussieht, aber ich hätte nie gedacht, dass er so heiß ist. Und ich weiß, dass er älter ist. Zwanzig? Einundzwanzig? Ich erinnere mich nicht mehr. Hätte ich doch besser zugehört.
»Klar, sie liebt Pferde«, sage ich lahm.
»Und wie«, bestätigt Savannah, zeigt auf ihre Ohrringe, und wir alle lachen. »Wir sehen uns morgen früh, Teddy. Mila, machen wir uns fertig.«
»Wo wollt ihr hin?«, fragt Teddy.
»Ins Jefferson’s.«
»Ah, nett«, sagt er. »Viel Spaß an deinem ersten Abend in der Stadt, Mila.«
»Danke. Viel Spaß bei der Arbeit«, erwidere ich, und er geht grinsend aus dem Stall und hinaus auf die Weiden.
»Siehst du?«, zischt Savannah, während sie Fredos Boxentür öffnet und mich nach draußen zieht. »Siehst du, was ich meine? Er ist definitiv von Engeln geschnitzt worden. Und er ist kein Idiot! Er ist supernett und hilfsbereit, und wann sind solche sexy Typen jemals nett? Nie! Er ist ein Geschenk Gottes.«
Ich schüttle den Kopf und verkneife mir ein Lachen. Im echten Leben ist Savannahs Schwärmen so viel unterhaltsamer als in einem Videotelefonat, und ich mag erst vor fünf Minuten angekommen sein, aber schon jetzt schwebe ich auf Wolke sieben. Bei dieser Reise habe ich ein gutes Gefühl. Die perfekten Sommerwochen – um für neue gemeinsame Erinnerungen mit Savannah und Tori zu sorgen (bei denen hoffentlich keine Kaninchenlöcher ins Spiel kommen), Fredo zu reiten und Umarmungen von Popeye zu genießen.
»Machen wir uns bereit zum Essen«, sage ich und hake mich bei Savannah ein. »Es wird Zeit, diesen Sommer zu beginnen.«
Das Jefferson’s ist ein Franchise auf dem Fairview Boulevard in einem rustikalen Holzbau gleich neben einer Tankstelle. Wir parken hinter dem Gebäude, direkt neben Toris alter Rostlaube, und ich folge Savannah nach drinnen, wo mir ein köstlicher Duft entgegenschlägt. Habe ich einen Hunger! Sogar in der ersten Klasse hasse ich es, wie chemisch das Essen im Flugzeug schmeckt.
Wir bleiben vorn am Empfangspult stehen, und ich schaue mich in dem vollen Restaurant um. Holzwände, auf den Fernsehern läuft der Sportsender, das Essen wird in Körben serviert, und auf einer Wand hinten ist eine komische Collage aus Dollarscheinen. Ich blinzle und erkenne, dass auf jeden der Geldscheine etwas gekritzelt ist.
»Hi!«, sagt die muntere Empfangsdame, die herbeigeeilt kommt und sich zwei Speisekarten greift.
»Hi, Tori hat für uns für sieben Uhr reserviert«, antwortet Savannah.
»Der Name?«
»Ähm, Bennett? Oder Harding?«
Die Empfangsdame geht die Liste der Reservierungen durch, bevor sie mit einem wissenden Lächeln aufblickt. »Keine Bennett, keine Harding, aber ich habe eine Reservierung für Miss Ohrring. Ich schätze mal, das bist du?«
Ich lache schnaubend, während Savannah automatisch an ihre Ohrläppchen greift und rot wird.
»Ich hasse Tori«, murmelt sie mir zu, als uns die Empfangsdame zu einer Sitznische am Fenster mit Blick zur Tankstelle führt.
Und da wir vom Teufel sprechen, erscheint Tori aus der Küchentür. Sie hat eine Schürze um, ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, einen Stift hinterm Ohr und einen Notizblock in der Hand. Sie sieht uns sofort und kommt beschwingten Schrittes zwischen den Tischen hindurch zu uns.
»Ah, hallo!«, begrüßt sie uns mit einem breiten Grinsen. »Gott sei Dank, dass ihr hier seid und mir Gesellschaft leistet. Brian meckert die ganze Zeit an mir herum.«
»Vielleicht solltest du einfach versuchen, eine bessere Kellnerin zu sein«, sagt Savannah und schlägt ihre Karte auf, »und keine Witze bei den Reservierungen machen.« Sie bedenkt Tori mit einem tödlichen Blick.
»Och, Ohrring, komm schon! Das war witzig.« Tori schmollt unschuldig, doch so unterhaltsam ich die beiden auch finde, wenn sie sich so zanken, wird das Ganze schnell von einem Mann in einer Anzughose und einem Hemd mit dem Restaurantlogo auf der Brust unterbrochen, der an unserem Tisch vorbeiflitzt.
»Tori! Dies ist nicht dein Bereich. An Tisch neun muss nachgeschenkt werden«, weist er sie an.
Tori gibt sich übertrieben entsetzt. »Ups! Entschuldige, Brian.« Doch als sie sich wieder Savannah und mir zuwendet, verdreht sie die Augen und ahmt mit der Hand eine Waffe an ihrem Kopf nach. »Gebt mir eine Minute. Bin gleich wieder da«, sagt sie, drückt die imaginäre Waffe ab und verschwindet zur anderen Seite des Restaurants.
Savannah schüttelt den Kopf, als wäre Toris Arbeitseinstellung eine echte Tragödie, und unsere richtige Kellnerin erscheint, um unsere Bestellung aufzunehmen. Ich entscheide mich für Buffalo-Shrimps, klar, und lehne mich dann unter dem kühlen Gebläse der Klimaanlage zurück.
»Also.« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Teddy.«
Savannah stöhnt. »Ach, er ist so ein heißer Typ!« Sie stützt die Ellbogen auf den Tisch, lehnt den Kopf in die Hände und blickt verträumt ins Restaurant. Ausnahmsweise kann ich es ihr nicht einmal vorwerfen. Teddy ist ein heißer Typ. Trotzdem bespritze ich sie mit einigen Tropfen Limonade.
»Warum hast du dich noch nicht mit ihm verabredet? Er ist doch inzwischen seit Monaten auf der Ranch«, sage ich.
Endlich sieht Savannah zu mir und reißt entsetzt den Mund auf. »Soll das ein Witz sein? Er ist älter und so cool, und ich … ich will nicht, dass es zwischen uns komisch wird. Ich denke, es entwickelt sich ganz natürlich, weißt du? Und ich bin durch damit, den ersten Schritt zu machen.«
Tori kommt wieder durch das Restaurant gehuscht und drängt sich panisch zu mir auf die Bank, sodass sie mich ein Stück zur Seite schiebt. Sie greift über den Tisch nach Savannahs Handgelenk und zieht uns alle drei zusammen.
»Okay, vielleicht hätte ich früher auf die Reservierungsliste sehen sollen«, flüstert sie hektisch und blickt sich über die Schulter um.
»Was denn, Tori?«, frage ich.
»Ich habe gerade gesehen, wie sie alle hinten auf den Parkplatz gefahren sind«, flüstert sie.
»Wer?«
»Myles und Cindy. Barney.« Tori macht eine Pause, sieht vorsichtig zu Savannah und fährt fort:. »Nathan Hunt und diese neue Kuh von ihm.«
Savannah löst sich von uns, lehnt sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust, während sie sich ein desinteressiertes Augenverdrehen abzwingt. Ihre Verliebtheit in Nathan Hunt hatte in einer totalen Katastrophe geendet. Nach Wochen, in denen sie sich geschrieben hatten, fragte sie ihn, ob sie mal zusammen ausgehen wollten; er sagte Nein, und sie brach in Tränen aus. Ich kann ihr nicht vorwerfen, dass sie seitdem Angst hat, Teddy um eine Verabredung zu bitten.
»Ich schmuggle ihm Chili in sein Essen«, bietet Tori an.
»Und ich werfe ihm vernichtende Blicke zu«, ergänze ich.
»Tori!« Brian, der Manager, kommt wieder mit Speisekarten und Wasserkrügen in den Händen vorbei. »Wir sind mitten in der Hauptzeit, die Abholbestellungen stauen sich, und an Tisch neun muss immer noch nachgeschenkt werden!«
»Ach«, murmelt Tori, als sie aufsteht. »Als würde er allen Ernstes erwarten, dass ich arbeite. Okay, aber wartet. Der Name auf der Reservierung …«
»Tori!«
»Eine Sekunde!«, ruft sie Brian zu.
»Nein! Jetzt.«
»Geh«, sage ich und mache eine scheuchende Handbewegung. Sie mag in diesem Job mies sein, aber ich sollte sie zumindest ermuntern, es zu versuchen. Mitten im Hochbetrieb mit Freundinnen zu quatschen wird ihr nur einen Rauswurf einbringen. Mich wundert, dass sie nicht schon gefeuert wurde.
Schlurfend kehrt Tori zu einer Gruppe älterer Männer an Tisch neun zurück, und ihr Lächeln dort wirkt so angestrengt, dass ich lachen muss. Doch ich zwinge mich gleich wieder, ernst zu sein, als ich mich zu Samantha drehe.
Sie sitzt ganz vorn auf ihrer Bankkante, kaut nervös auf einem Fingernagel und sieht immer wieder zur Tür.
»Hey, hey!« Ich schnippe mit den Fingern vor ihrem Gesicht. »Nathan Hunt verdient nicht, dass du ihn beachtest. Komm schon. Konzentrier dich auf mich und dieses Philly-Cheese-Steak, das sie dir in der Küche brutzeln.«
Savannah nickt zögerlich, als die Tür aufgeht. Ihr Bruder Myles kommt als Erster mit seiner Freundin Cindy am Arm herein. Sie haben es endlich offiziell gemacht, dass sie zusammen sind. Barney betritt das Lokal so selbstsicher wie eh und je, als könnte ihm nichts auf der Welt etwas anhaben, und hinter ihm erscheint Nathan. Er geht Hand in Hand mit einem Mädchen, das ich nicht erkenne, aber wie sollte ich auch? Ich lebe hier nicht.
Savannah schnaubt und konzentriert sich angestrengt nur auf mich. »Denk an Teddy, denk an Teddy, denk an Teddy«, betet sie sich vor.
Die Empfangsdame führt die anderen zu einem großen Tisch auf der anderen Seite des Restaurants, und Myles sieht kurz zu uns, bevor er sich hinsetzt. Er entschuldigt sich, kommt zu uns rüber und streicht sich sein dichtes blondes Haar aus der Stirn. Zuletzt hatte ich von Savannah gehört, dass Myles im FedEx-Lager jobbt, während er am College in Nashville studiert. Er hat sich noch nicht entschieden, was er mal machen will, also schindet er ein wenig Zeit.
»Hey, Myles!«, sage ich munter, bin jedoch enttäuscht, als er nicht sofort mit seinem typisch charmanten Lächeln reagiert. Stattdessen verzieht er das Gesicht und stützt die Hände flach auf den Tisch.
»Du hättest mich warnen können, dass du heute herkommst«, wirft Savannah ihrem Bruder vor, verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust und wirft den anderen einen angewiderten Blick zu. »Mit Nathan.«
»Du hättest mir verraten können, dass du mit Mila kommst«, kontert Myles. Er wirkt sehr angespannt und kratzt sich am Hals.
»Hat Savannah dir nicht erzählt, dass ich für einige Wochen hier bin?«, frage ich und rühre mit dem Strohhalm in meiner Limo.
»Doch, hat sie. Willkommen zurück«, sagt er deutlich sanfter und mit dem Anflug eines Lächelns. »Aber sie hat mir nicht erzählt, dass ihr herkommt. Heute Abend.«
»Na und?«, fragt Savannah. »Du nervst, Myles.«
Er beugt sich sichtlich frustriert näher zu ihr. »Savannah, es ist Jungsabend. Er kommt auch.«
»Nathan? Weiß ich doch. Ich sehe ja, wie er da drüben den Oberschenkel seiner Freundin betatscht.« Savannah verdreht die Augen und lacht die Kränkung weg. Gleichzeitig regt sich Panik in meinem Bauch, die wächst und wächst.
»Myles …« Auf einmal fühlen sich meine Lippen spröde und mein Hals kratzig an. »Wer kommt auch?«
Noch ehe Myles antworten kann, was ich befürchte, kommt Tori mit einem Stapel schmutziger Teller vorbei. »Das habe ich ja versucht, euch zu sagen!«, faucht sie an Myles vorbei, während sie langsamer wird. »Die Reservierung lautet auf Avery.«
Jetzt ist die Panik in meiner Brust angekommen. Ich sacke auf meiner Bank nach hinten, und Savannah sagt etwas, das ich nicht mehr mitbekomme.
Avery.
Blake Avery.
Blake kommt her.
Natürlich war mir das Risiko bewusst. Nach Fairview zurückzukommen birgt immer die Gefahr, Blake über den Weg zu laufen. Es ist eine Kleinstadt, und mich erstaunt, dass ich schon so oft hier war, ohne ihm zu begegnen – bis jetzt. Er studiert in Nashville, und die vierzig Meilen haben gereicht, um uns in den letzten paar Jahren voneinander fernzuhalten. Aber am Ende war es nur eine Frage der Zeit.
Blake und ich sind beide wieder in der Stadt.
»Ich muss gehen«, sage ich verzweifelt und greife nach meiner Tasche. Ein Schrillen tönt in meinen Ohren, und mein Herz rast. »Ich kann ihn nicht sehen.«
Ich knalle ein Bündel Bargeld auf den Tisch, zu viel Bargeld, und stehe zitternd auf. Wenn ich schnell genug bin, schaffe ich es nach draußen, ehe Blake auftaucht. Ich dränge Myles zur Seite, um aus der Nische zu kommen, und kollidiere beinahe mit Tori und ihrem schiefen Tellerstapel.
Ganz auf die Tür fixiert, werde ich schneller, als ich um die Tische mit den anderen Gästen herumeile und Savannah sagen höre: »Tori, streich unsere Bestellung.« Sie kommt mit mir. Natürlich.
Die Tür ist direkt vor mir. Frische Luft, draußen, mein Fluchtweg – alles nur wenige Schritte entfernt. Ich greife nach vorn, stoße die Tür auf. Auf der anderen Seite kann ich aufatmen. Ich trete in das goldene Abendlicht, gehe in Richtung Parkplatz und …