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Nach dem Tod ihres Ehemannes ist Josslyn verzweifelt. Ihre Trauer droht, sie zu überwältigen. Um sich abzulenken, besucht sie einen exklusiven Club, der den dunkleren Spielarten der Liebe vorbehalten ist. Nie hätte sie jedoch vermutet, dort den Mann zu treffen, der schon seit langem Quelle ihrer geheimsten Sehnsüchte ist: Dash, den besten Freund ihres verstorbenen Mannes ...
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Seitenzahl: 516
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Maya Banks bei LYX
Impressum
MAYA BANKS
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Patricia Woitynek
Ich sage dir, wie es weitergeht, Joss. Du gehörst jetzt mir. Endlich gehörst du mir. Wenn das, was du gesagt hast, der Wahrheit entspricht und du meine Dominanz willst und brauchst, dann sei dir sicher: Ich werde dich besitzen. Und du wirst niemals mehr einen anderen Mann haben als mich …
Drei Jahre sind vergangen, seit Josslyns Ehemann bei einem tragischen Unfall ums Leben kam. Noch immer leidet Joss sehr unter dem Verlust, kann es kaum ertragen, ohne Carson zu sein. Dennoch spürt sie, dass es an der Zeit ist, die Vergangenheit loszulassen. Sie will wieder leben, etwas wagen – ihre intimsten Fantasien wahr werden lassen. Denn schon lange sehnt Joss sich danach, einem Mann zu gehören, voll und ganz dominiert zu werden. Doch als sie eines Abends all ihren Mut zusammennimmt und einen exklusiven Club besucht, steht sie plötzlich niemand anders gegenüber als Dash, Carsons bestem Freund, der ihr während ihrer schwersten Zeit stets zur Seite stand – und zu dem sie sich mehr als nur freundschaftlich hingezogen fühlt. Dash ist alles andere als begeistert, als er Joss im Club sieht. Sie ist die einzige Frau, die er je begehrt hat, die einzige, die er je wirklich besitzen wollte, wenngleich er weiß, dass eine Liebe zwischen ihnen unmöglich ist. Doch als Joss ihm nun ihre tiefsten Sehnsüchte anvertraut, spürt er, dass er ihr nicht mehr länger widerstehen kann. Er hat so lange auf sie gewartet. Und jetzt ist er fest entschlossen, Joss’ Welt für immer aus den Angeln zu heben …
Für Lillie und Katie,weil ihr mich auf Kurs haltet!
Nervös überprüfte Josslyn Breckenridge ihr Erscheinungsbild im Spiegel, auch wenn niemand sie sehen würde. Mit Ausnahme von Dash. Sie brauchte keine Bestätigung, um zu wissen, dass er da sein würde. Er hatte während der vergangenen zwei Jahre an diesem Tag jedes Mal vor dem Haus auf sie gewartet, um sie zum Friedhof zu begleiten, wo sie das Grab ihres Mannes besuchten und es mit frischen Blumen schmückten.
Die Blumen standen auf der Ablage neben ihr, Joss müsste sie nur nehmen und aus dem Haus tragen. Doch sie zögerte, denn dieser Jahrestag … dieser Jahrestag war anders. Ihr war beklommen zumute, trotzdem stand ihr Entschluss fest.
Sie würde zu neuen Ufern aufbrechen, musste endlich loslassen. Der Gedanke tat weh, gleichzeitig fühlte sie sich erleichtert, als würde ein Gewicht von ihren Schultern genommen. Es war an der Zeit. Das Einzige, was ihr noch zu tun blieb, war, Carsons Grab zu besuchen und Frieden mit ihrer Entscheidung zu machen.
Sie strich ihre Bluse glatt und rieb mit den Händen über die Beine ihrer Jeans. Normalerweise zog sie andere Kleidung an, wenn sie am Jahrestag der Beerdigung ihres Mannes auf den Friedhof ging. Die letzten beiden Jahre hatte sie Schwarz getragen. Es war ihr nicht respektvoll erschienen, sich leger zu kleiden, so als würde ihr nichts an dem Friedhofsbesuch liegen.
Andererseits wusste sie, Carson würde nicht wollen, dass sie so lebte. Er würde wollen, dass sie glücklich war. Und es hätte ihm nicht gefallen, dass sie noch immer so tief um ihn trauerte.
Seufzend legte sie helles Lipgloss auf und band ihre langen Haare zu einem nachlässigen Pferdeschwanz zusammen, der wie ein halb aufgelöster Haarknoten aussah.
Das war die echte Joss. Sie war nicht eitel, fühlte sich in Jeans und T-Shirt wohler als in den teuren Kleidern und mit dem Schmuck, mit dem ihr Mann sie so gern verwöhnt hatte. Die sexy Dessous, die er so sehr an ihr geliebt hatte, verbarg sie unter ihrer Alltagskleidung.
Sie schloss die Augen und verdrängte die Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hatte, wenn er sie berührte. Seine Hände, die über ihren Körper glitten, ihn besser kannten als sie selbst. Er hatte genau gewusst, wie er ihr Lust bereiten konnte, wie er sie anfassen, sie küssen und lieben musste.
Er hatte ihr alles gegeben, was sie sich gewünscht hatte. Liebe. Respekt. Alles, bis auf das, was sie am meisten brauchte, um das sie ihn jedoch niemals hätte bitten können. Sie hatte ihn zu sehr geliebt, um etwas von ihm zu verlangen, das er ihr nicht geben konnte.
Joss schüttelte den schweren Schleier der Trauer ab, fest entschlossen, den Tag zu überstehen und ihr Leben in den Griff zu bekommen. Ihr neues Leben.
Sie nahm die Blumen – ihre Lieblingssorte – und hob sie an die Nase. Dann schloss sie die Augen und atmete tief ein. Es waren die gleichen, die Carson ihr immer geschenkt hatte. Zu jedem Geburtstag. Jedem Jubiläum. Und oft auch ohne Anlass. Heute würde sie sie auf sein Grab legen und fortgehen. Dieses Mal für immer.
Sie musste die kalte Marmorplatte nicht sehen, die sein Geburts- und sein Sterbedatum nannte, um an ihren Ehemann zu denken. Auf diese Weise wollte sie ihn nicht in Erinnerung behalten. Sie würde sich nicht länger damit quälen, an seinem Grab zu stehen und ihn mit jedem Atemzug zu vermissen.
Er würde für immer in ihrem Herzen und in ihrer Seele weiterleben. Dort würde sie ihn in Zukunft besuchen. Nicht an dem Grashügel, der den Sarg darunter verbarg.
Mit schnellen Schritten ging sie zur Haustür, trat ins Freie und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht an. Obwohl erst Frühling war, herrschte in Houston bereits warmes Wetter, darum war sie froh, dass sie das kurzärmlige T-Shirt angezogen hatte anstelle des schwarzen Kleids, das sie sonst immer wählte.
Und, ja, da war er. Dash. Wie sie es vorhergesehen hatte, lehnte er an seinem Wagen und wartete auf sie. Als er sie sah, richtete er sich auf. Sie bemerkte, wie ein Ausdruck des Erstaunens über sein Gesicht glitt, bevor er wieder eine ausdruckslose Miene aufsetzte und ihr die Hand entgegenstreckte.
Sie strich mit den Fingern über seine, und er drückte sanft ihre Hand. Worte waren überflüssig. Sie betrauerten den Verlust ihres Ehemanns, seines besten Freundes.
»Du siehst bezaubernd aus, Joss«, sagte Dash, als er sie um das Auto herum zur Beifahrerseite geleitete.
Sie lächelte, denn sie wusste, dass sie heute nicht besonders bezaubernd aussah. Sicher verblüffte ihn ihre zwanglose Aufmachung, doch er gab keinen Kommentar dazu ab. Er nahm ihr die Blumenvase ab, stellte sie sorgsam auf die Rückbank, damit sie nicht herunterfallen konnte, und schloss die Beifahrertür, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie Platz genommen hatte.
Sie beobachtete, wie er die Motorhaube umrundete, was dank seiner langen Beine nur Sekunden dauerte. Er glitt auf den Fahrersitz, und sie fing seinen Duft auf.
Dash roch immer gleich. Äußerst maskulin, obwohl Joss wusste, dass er nie Eau de Cologne oder Rasierwasser benutzte. Er war ein schnörkelloser Typ, ähnlich wie Carson es gewesen war, nur dass ihr Mann teure Anzüge getragen hatte und selbst seine Freizeitkleidung maßgeschneidert gewesen war, um seine Persönlichkeit zu unterstreichen.
Dashs Persönlichkeit wurde von seinem Wagen unterstrichen. Ein schnittiger schwarzer Jaguar. Wie passend, dass er ein Auto fuhr, das nach einem Raubtier benannt war. Es stand ihm gut zu Gesicht.
Sie waren Geschäftspartner gewesen, doch Carson hatte die Führungsrolle innegehabt. Er war der geschliffene Redner gewesen, der die Klienten zum Essen ausgeführt, die Deals unter Dach und Fach gebracht und die gesellschaftlichen Verpflichtungen wahrgenommen hatte, während Dash hinter den Kulissen arbeitete. Der Macher, der die Laufarbeit verrichtete und Probleme beseitigte.
Carson hatte oft lachend bemerkt, dass er selbst über das nötige gute Aussehen und den Charme verfügte, Dash jedoch das Superhirn des Unternehmens war. Dabei mangelte es Dash keineswegs an gutem Aussehen oder an Charme. Die beiden hatten sich perfekt ergänzt. Während Carson blond und blauäugig gewesen war, hatte Dash dunkelbraune Haare und samtbraune Augen, die gut zu seinem dunkleren Teint passten. Er war nicht weniger attraktiv als Carson. Doch seine Attraktivität war weniger aufdringlich. Stiller. Beinahe brütend. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er Joss nervös gemacht. Ihre Beziehung mit Carson war damals noch frisch gewesen. Die Liebe hatte eingeschlagen wie der Blitz. Carson hatte ihr Herz im Sturm erobert, und Joss war nicht entgangen, wie sehr Dash sich sorgte, sein Freund könne sich in etwas verrennen. Die Dinge überstürzen. Diese Erkenntnis hatte sie Dash gegenüber vorsichtig gemacht, doch im Lauf der Zeit war er ihr zu einem zuverlässigen Freund geworden. Vor allem nach Carsons Tod.
Als sie aus Joss’ exklusivem Wohnviertel hinausfuhren, nahm Dash ihre Hand, verschränkte die Finger mit ihren und drückte sie, um ihr Zuversicht zu geben, ein weiteres Mal sanft.
Joss wandte den Kopf und lächelte ihn an, versicherte ihm ohne Worte, dass es ihr gut ging. Als sie vor einer roten Ampel stoppten, musterte er sie, als wollte er herausfinden, was heute anders war als sonst.
Offenkundig zufrieden mit dem, was er in ihren Augen oder in ihrer Miene entdeckt hatte, erwiderte er ihr Lächeln. Trotzdem hielt er weiter ihre Hand, während er den Wagen durch den dichten Verkehr in Richtung Friedhof steuerte, der nur wenige Kilometer von Joss’ und Carsons Wohnviertel entfernt lag.
Sie verbrachten die Fahrt in kameradschaftlichem Schweigen. Allerdings hatten sie auch in den vergangenen Jahren, wenn Dash sie zum Friedhof chauffierte, nie viel gesprochen. Obwohl Joss das Grab auch zu anderen Zeiten besuchte, kam Dash am Jahrestag immer mit.
Aber das waren nicht die einzigen Gelegenheiten, zu denen sie Dash sah. Er hatte ihr seit der Minute, in der Carson gestorben war, zur Seite gestanden und war ihr Fels in der Brandung geworden. Besonders im ersten Jahr hatte sie ihn verzweifelt gebraucht, und er hatte niemals gezögert, ganz gleich, ob sie Hilfe bei der Bewältigung des Papierkrams nach dem Tod ihres Mannes oder an den Tagen, an denen sie geglaubt hatte, nicht weiterleben zu können, seine Gesellschaft benötigt hatte.
Sie würde Dash für seine unerschütterliche Unterstützung während der vergangenen drei Jahre ewig dankbar sein, aber nun war es Zeit für einen Neubeginn. Sie musste endlich auf eigenen Füßen stehen und aufhören, Dash als Babysitter zu missbrauchen.
Heute ging es nicht nur darum, Carson loszulassen, sondern auch Dash. Er verdiente Besseres, als die Verantwortung für die Witwe seines besten Freundes zu schultern. Er hatte ein eigenes Leben. Joss wusste nicht, mit wem er verkehrte oder ob er in festen Händen war. Mit plötzlicher Klarheit erkannte sie, wie selbstsüchtig und egoistisch sie sich seit dem Tod ihres Mannes verhalten hatte. Dash war ihr eine Stütze gewesen, die sie für selbstverständlich gehalten hatte, aber damit war jetzt Schluss. Es wäre ein Wunder, wenn Dash eine Freundin hatte, denn nicht viele Frauen würden es tolerieren, dass ihr Partner regelmäßig alles stehen und liegen ließ, um an die Seite der Witwe seines besten Freundes zu eilen.
Als sie den Friedhof erreichten, parkte Dash den Wagen, und Joss stieg aus, ohne seine galante Hilfe abzuwarten. Sie öffnete die Tür zur Rückbank und beugte sich hinunter, um die Blumen herauszunehmen.
»Ich mach das schon, Joss.«
Dashs tiefe Stimme strich über ihre Ohren und verursachte ein Kribbeln im Nacken. Sie nahm die Vase heraus und drehte sich mit einem beschwichtigenden Lächeln zu ihm um.
»Ich habe sie schon, Dash. Alles gut.«
Er studierte sie mit unergründlichem Blick, als versuchte er, Schicht um Schicht abzutragen und in ihr Innerstes zu schauen. Es schien, als wüsste er, dass etwas anders war, ohne jedoch den Finger darauflegen zu können. Worüber Joss unendlich froh war, denn sie würde sterben, wenn Dash ihre Gedanken lesen könnte. Wenn er wüsste, was sie vorhatte und wie sie ihr Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken wollte.
Dash würde ohne Zweifel entsetzt sein. Er würde annehmen, dass sie schließlich doch noch übergeschnappt war, und sie vermutlich so schnell zu einem Seelenklempner schaffen, dass ihr schwindlig davon würde. Darum hatte sie nicht vor, ihn einzuweihen.
Ihre Freundinnen standen dagegen auf einem anderen Blatt. Chessy würde sie hundertprozentig verstehen. Sie sogar ermutigen. Kylie … eher nicht.
Kylie war Joss’ Schwägerin, Carsons einziges Geschwister. Die beiden waren in schrecklichen Verhältnissen aufgewachsen, und wie Carson Joss niemals hätte geben können, was sie ersehnte und brauchte, würde Kylie niemals ihre Beweggründe begreifen.
Schlimmstenfalls würde sie sogar auf Joss wütend sein und glauben, dass sie ihren Bruder verriet. Joss konnte nur hoffen, dass sie ihren Entschluss tolerieren würde, selbst wenn es ihren Horizont überstieg.
Aber sie schaute zu weit voraus. Zuerst der Friedhof, wo sie ein letztes Mal mit Carson sprechen würde. Anschließend würde sie ihren besten Freundinnen beim Mittagessen reinen Wein einschenken. Sie musste sich tagsüber so gut wie möglich beschäftigen, denn der heutige Abend …
Der heutige Abend markierte den Anfang ihres neuen Lebens.
Als sie sich Carsons Grab näherten, wartete Joss auf den verräterischen Ansturm der Tränen. Aber seltsamerweise verspürte sie zum ersten Mal seit drei langen Jahren inneren Frieden. Ja, es wurde definitiv Zeit.
Sie kniete sich hin und strich behutsam Blätter und Staub vom Sockel des Grabsteins, bevor sie die Blumenvase in der Mitte platzierte. Ihr Blick schweifte nach oben zu der Inschrift. Die Erinnerung an Carsons Geburt und seinen Tod.
Bedächtig zeichneten ihre Finger die Buchstaben nach. Geliebter Ehemann, Bruder und bester Freund. Diese Worte sagten alles. Ein letzter Gruß von jenen, die noch immer um ihn trauerten. Joss hatte darauf bestanden, dass Dash auf dem Grabstein erwähnt wurde, immerhin gehörte er ebenso zur Familie wie sie selbst und Kylie. Sie wünschte nur, sie und Carson hätten Kinder bekommen, damit sein Vermächtnis und die Erinnerungen an ihn durch sie weiterlebten.
Aber wie jedes junge Paar hatten auch sie geglaubt, alle Zeit der Welt zu haben. Carson hatte davor zurückgeschreckt, Kinder zu zeugen. Aus Furcht, dieselben genetischen Anlagen zu besitzen wie sein Vater. Ganz gleich, wie oft Joss ihn sanft darauf hingewiesen hatte, dass er absolut nicht wie sein Vater war, lebte Carson in ständiger Angst davor, die Menschen zu verletzen, die er am meisten liebte.
Joss verstand ihn. Sie wusste, wie sehr er sie liebte. Aber sie wusste auch, dass er eher sterben würde, als ihr oder den Kindern wehzutun, die sie vielleicht einmal haben würden. Doch die Finsternis seiner Vergangenheit überschattete die Gegenwart. Die Vergangenheit suchte ihn nachts in seinen Träumen heim. Obwohl seine Schwester nicht oft darüber redete, wusste Joss, dass Kylie unter denselben Albträumen litt wie Carson. Dass sie genau wie er nachts oft keinen Schlaf fand.
Eine Welle der Traurigkeit überrollte Joss. Was für eine Verschwendung. Carsons Vater hatte das Leben zweier unschuldiger Kinder zerstört. Schlimmer noch, er war alt geworden und hatte bis weit in ihr Erwachsenenleben hinein ihre Entscheidungen beeinflusst und sogar noch nach seinem Tod in ihren Ängsten weitergelebt. Selbst aus dem Grab heraus hielt er sie unter seiner Knute, die Erinnerung an ihn und seine Vergehen quälte sie bis heute.
»Joss?«
Dashs sanfte Stimme, die ihren Namen rief, riss sie aus ihrer Tagträumerei, und ihr wurde bewusst, wie lange sie schon am Sockel des Grabsteins kniete und die Inschrift mit den Fingern nachzeichnete.
Er klang besorgt und ein wenig verunsichert, und wenn Dash eines niemals war, dann sich seiner selbst unsicher.
Sie wandte sich um und hob den Kopf, bis ihr Blick auf seinen traf.
»Gib mir bitte einen Moment. Warte beim Wagen auf mich, wenn es dir nichts ausmacht. Ich brauche nur ein paar Minuten, dann können wir fahren.«
Wieder huschte ein überraschter Ausdruck über Dashs Miene. Joss hatte ihn noch nie darum gebeten, dass er sie an Carsons Grab allein ließ. Es wäre zu schwer, zu emotional für sie gewesen. Dash hatte stets Ruhe und Kraft verströmt, an ihrer Seite ausgeharrt und ihr Halt gegeben. Er war geblieben, solange sie bleiben wollte, anschließend hatte er sie zurück zum Auto und nach Hause gebracht, wo er den restlichen Nachmittag bei ihr gesessen und sie sich an seiner Schulter ausgeweint hatte.
Heute nicht. Niemals wieder.
»Wenn du meinst«, sagte er zögernd.
Joss nickte nachdrücklich und hielt ihre Tränen zurück. Sie würde nicht zusammenbrechen. Das hatte sie schon viel zu oft getan.
»Na schön«, kapitulierte er. »Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst, Süße. Ich habe mir den Tag heute freigenommen.«
Sie lächelte. Natürlich hatte er das. Allerdings sah ihr Plan nicht vor, dass er ihn zusammen mit ihr verbrachte, so wie er es in den vergangenen Jahren getan hatte. Sie musste vor dem Abend noch zu viel erledigen. Und sie wollte nicht riskieren, dass ihre Entschlossenheit bröckelte und sie sich Dash am Ende doch noch anvertraute. Das wäre nicht nur unangebracht, er würde es auch niemals befürworten. Nein, eher würde er glauben, dass sie den Verstand verloren hatte.
Und vielleicht stimmte das sogar. Oder sie fand ihn gerade wieder.
Joss drehte sich um, Dash trottete zum Wagen zurück. Dann rappelte sie sich auf und stand vor dem Grab. Mit angespannten Kiefermuskeln blickte sie nach unten und schottete ihre Gefühle ab, um ihrem Mann sagen zu können, was ihr auf der Seele brannte.
»Du weißt, dass ich dich liebe«, begann sie, fast so, als stünde er ihr gegenüber. »Und ich werde dich immer lieben, Carson. Aber ich möchte noch einmal neu anfangen. Zumindest werde ich es versuchen. Ich beginne heute Abend damit. Es gab … Dinge … die du mir nicht geben konntest. Und du sollst wissen, dass ich dir das nie übel genommen habe. Gott, ich habe dich viel zu sehr geliebt, um je etwas von dir zu erwarten, das zu geben dir unmöglich war. Aber du bist von mir gegangen.« Ihre Stimme brach bei den letzten Worten, und sie kämpfte mit den Tränen.
»Ich bin einsam, Carson. Ich vermisse dich unendlich. Es vergeht kein Tag, an dem ich dich nicht vermisse. Du warst so gut zu mir. Die Liebe meines Lebens. Ich weiß, dass ich das nie wieder finden werde. Einmal im Leben etwas Vollkommenes zu bekommen grenzt bereits an ein Wunder. Aber zweimal? Nein, mir ist klar, dass es für mich nie wieder einen Mann wie dich geben wird. Aber es gibt Dinge, die ich … brauche«, flüsterte sie. »Dinge, die du mir nicht schenken konntest. Dinge, die ich nie von dir gefordert habe. Ich bin heute hier, um dir das zu sagen. Um dir zu sagen, dass ich nicht zurückkommen werde. Nicht, weil ich dich nicht liebe oder ich dich vergessen werde. Sondern, weil dies hier nicht das ist, was ich von dir im Gedächtnis behalten will. Ich möchte dich so in Erinnerung behalten, wie du im Leben warst. Uns beide als Liebespaar. Es bereitet mir zu viel Schmerz, hierherzukommen und mit dir zu reden, in dem Wissen, dass ich dich nie zurückbekommen werde.«
Sie atmete tief durch, bevor sie hastig weitersprach.
»Ich habe diesen Club entdeckt, der spezialisiert ist auf … Dominanz. Ich muss ergründen, ob es das ist, was mir fehlt, was mir immer gefehlt hat. Vielleicht finde ich dort die Antwort. Vielleicht auch nicht. Trotzdem muss ich es versuchen. Ich muss es wissen. Aber ich kann nicht dorthin gehen, ohne es dir zu sagen. Ohne dir zu versichern, dass mir in unserer Ehe nie irgendetwas abgegangen ist. Ich habe niemals daran gezweifelt, dass du mich geliebt hast und mir die Sterne vom Himmel geholt hättest, hätte ich dich darum gebeten. Doch dies … dies ist etwas, das ich nicht von dir verlangen konnte. Und ich brauche etwas, um die Leere in mir zu füllen. In meiner Seele klafft ein Loch, Carson. Eines, das sich womöglich nie wieder schließen lässt. Aber im Moment würde ich mich sogar mit einem Heftpflaster zufriedengeben. Mit einem kurzzeitigen Trost, wenn du so willst. Es war mir sehr wichtig, dass du Bescheid weißt. Alles wird gut. Ich werde mich nicht in eine gefährliche Situation begeben. Ich habe dafür gesorgt, dass mir nichts passiert. Und so schmerzlich es für mich ist, dir das mitzuteilen, aber ich werde dich endlich loslassen. Ich habe mich schon viel zu lange an dir festgeklammert. Ich halte das nicht mehr aus. Um mich herum pulsiert das Leben. Die Welt dreht sich weiter. Das klingt furchtbar abgeschmackt, nicht wahr? Doch es ist die Wahrheit. Chessy und Tate machen sich Sorgen um mich. Kylie auch. Und Dash. Es wundert mich, dass er sich nicht längst von mir abgewendet hat. Ich war in den letzten drei Jahren eine schreckliche Belastung für ihn – für alle –, und diese Frau will ich nicht länger sein. Du hast mir das Selbstvertrauen und die Unabhängigkeit gegeben, um mir Flügel wachsen zu lassen. Ich will das zurückhaben, Carson. Du hast mir so viel beigebracht, mir die Welt zu Füßen gelegt. Das Problem ist nur, dass du diese, meine Welt mitgenommen hast, als du gegangen bist. Und ich will sie wiederhaben. Ich will leben und nicht länger die leere Hülle meiner selbst sein, die ich seit deinem Tod bin.«
Joss holte tief Luft, um sich zu beruhigen, da sie wusste, wie dumm sich ihre nächsten Worte anhören würden. Aber sie musste es loswerden. Es laut aussprechen und die quälende Empfindung abschütteln.
»Ich will dir außerdem sagen, dass ich dir vergebe. Das klingt absurd, ich weiß. Du brauchst meine Vergebung nicht. Aber ich war so lange zornig auf dich, weil du mich verlassen hast. Ich war schrecklich selbstsüchtig. Ich habe drei lange Jahre damit zugebracht, wütend und verbittert zu sein, aber mit dem heutigen Tag werde ich mich ändern.«
Sie senkte die Hand und ließ sie über den sonnengewärmten Marmor des Grabsteins wandern.
»Ich liebe dich. Du fehlst mir. Ich werde dich immer lieben. Trotzdem sage ich dir nun Adieu. Wo immer du sein magst, ich hoffe, du hast Frieden gefunden. Und ich hoffe, du weißt, wie sehr ich dich geliebt habe. Danke, dass du diese Liebe erwidert hast.«
Als ihr die Tränen kamen, schloss Joss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie sich sicher war, dass sie zum Wagen, wo Dash wartete, zurückkehren konnte, ohne den Eindruck eines Nervenbündels zu erwecken.
Mit einem letzten Blick auf das Grab und die Blumen, die schon ein paar Blütenblätter an den Wind verloren hatten, drehte sie sich um, straffte die Schultern und ging davon. Die Brise wurde stärker, die Sonne brach durch die Wolken und strahlte ihr ins Gesicht. Joss legte den Kopf in den Nacken und badete in der Wärme, während innerer Frieden sie in eine sanfte Umarmung schloss. Es war, als würde Carson ihr eine Botschaft schicken, aber vielleicht bildete sie sich auch nur ein, dass er ihre Entscheidung absegnete.
Dash hielt ihr die Tür auf, seine Augen auf ihr Gesicht gerichtet, als versuchte er, ihre Gemütslage einzuschätzen. Joss achtete sorgsam darauf, keinerlei Emotion nach außen dringen zu lassen. Denn sie war sich sicher, dass ihm ihre nächsten Worte nicht gefallen würden, und wenn er glaubte, dass sie in schlechter Verfassung war, würde er sie niemals für den Rest des Tages allein lassen.
Sie wartete, bis er hinter dem Lenkrad saß und sie losfuhren, ehe sie sich ihm zuwandte.
»Ich habe Pläne fürs Mittagessen, du musst also nicht bei mir bleiben. Und ich habe außerdem Pläne für den Abend«, ergänzte sie und überließ es ihm, sich einen Reim darauf zu machen.
Dash runzelte die Brauen, machte keinen Hehl aus seiner Besorgnis. Als sie vor einer roten Ampel hielten, ergriff er ihre Hand.
»Was ist los mit dir, Süße?«
Sein Tonfall klang beunruhigt, und er sah ihr prüfend in die Augen.
Sie schenkte ihm ein halbes Lächeln. »Ich treffe mich zum Mittagessen mit Kylie und Chessy. Es wird Zeit, dass ich aufhöre, einmal im Jahr die trauernde Witwe zu geben. Das geht nun schon drei Jahre so, Dash. Er ist gestorben und wird nicht zurückkommen.«
Sie verstummte für einen Moment, weil die Schmerzhaftigkeit ihrer Feststellung ihr die Luft zum Atmen nahm. Aber es hatte gesagt, eingestanden werden müssen. Und womöglich wurde es ja realer, wenn sie es laut aussprach.
Joss hätte schwören können, in Dashs samtbraunen Augen Erleichterung aufblitzen zu sehen, aber der Ausdruck verschwand so schnell, dass sie überzeugt war, es sich nur eingebildet zu haben.
»Bist du sicher, dass ich nach deiner Verabredung mit den Mädels nicht bei dir vorbeischauen soll?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nicht nötig, Dash. Du hast lange genug den Babysitter für mich gespielt. Es wird Zeit, dass ich auf eigenen Füßen stehe. Bestimmt ist es eine Befreiung für dich, mich nicht länger umsorgen zu müssen, aus Angst, dass ich sonst durchdrehe. Es tut mir leid, dass ich dir so lange zur Last gefallen bin.«
Dieses Mal blitzte in seinen dunklen Augen ein Anflug von Zorn auf. »Verdammt, du fällst mir doch nicht zur Last. Carson war mein bester Freund, Joss. Er – ihr beide – bedeutet mir unendlich viel.«
Sie drückte seine Hand, als er aufs Gas trat, denn hinter ihnen wurde ungeduldig gehupt, weil er, als die Ampel auf Grün schaltete, nicht sofort losgefahren war.
»Und das weiß ich zu schätzen. Ich bin froh über alles, was du für mich getan hast. Aber es ist an der Zeit, Dash. Ich muss das tun. Er ist tot. Das muss ich endlich realisieren.«
Dash entgegnete nichts. Sein Blick war nach vorn gerichtet, die Anspannung im Wagen mit Händen greifbar. Hatte sie ihn verärgert? Sie war nur ehrlich gewesen und hatte wirklich gedacht, dass er froh sein würde, sie nicht länger wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe behandeln zu müssen. Dass er sich wieder auf sein eigenes Leben konzentrieren konnte, ohne ihr darin Priorität einzuräumen.
Als sie vor ihrem Haus hielten, stieg Joss aus, gefolgt von Dash. Er brachte sie zur Tür, und sie trat ein, dann drehte sie sich zu ihm um, um ihm zu danken und sich von ihm zu verabschieden.
»Das ist kein Abschied für immer«, sagte er mit gepresster Stimme. »Dass du glaubst, mich nicht länger zu brauchen, heißt nicht, dass ich einfach aus deinem Leben verschwinden werde. Stell dich darauf ein, Joss.«
Damit machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte den Gehsteig hinunter, zurück zu seinem Wagen. Joss starrte ihm, als er davonfuhr, mit offenem Mund hinterher.
Joss bog in den Parkplatz des Lux Cafés auf der Westheimer ein und stellte ihren BMW Roadster neben Kylies silbernem Mercedes Coupé ab. Carson hatte Kylie den Wagen zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt, gerade mal ein Jahr vor dem verheerenden Autounfall, der Carson seiner Frau und seiner Schwester entrissen hatte.
Carson und Joss waren früher regelmäßig nach Las Vegas gefahren. Carson hatte es geliebt zu zocken und Joss jede Art von Casinospiel beigebracht. Ihr Talent im Pokern hatte er sogar so sehr verfeinert, dass sie an den Pokertischen ein ernst zu nehmender Gegner geworden war. Es hatte ihn stets amüsiert, wenn ihre Gewinne seine überstiegen, allerdings hatte sie sich hartnäckig geweigert, am selben Tisch zu spielen wie er, weil Carson über ein ausgeprägtes Konkurrenzdenken verfügte und es hasste zu verlieren. Sogar gegen seine Frau.
Am liebsten waren sie im Venetian abgestiegen, wo Joss das Lux Café mit all seinen Köstlichkeiten auf der Speisekarte entdeckt hatte. Sie war glückselig gewesen, als in Houston ein zweites eröffnet hatte, das bald zu ihrem und dem Lieblingsrestaurant ihrer Freunde geworden war.
Joss eilte zum Eingang; dabei warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und verzog das Gesicht. Carson hatte sie immer wegen ihrer Unpünktlichkeit aufgezogen, und tatsächlich kam sie auch heute eine Viertelstunde zu spät zu ihrem Mittagessen mit Kylie und Chessy.
Als Joss durch die Tür stürmte, warteten die beiden Frauen bereits im Foyer. Ihr Blick blieb sofort an ihrer Schwägerin haften. Der Jahrestag von Carsons Tod ging ihr genauso nahe wie Joss, denn Carson war ihre einzige Familie gewesen. Joss hatte alles darangesetzt, dass sie und Kylie nach seinem Tod enge Freundinnen blieben. Untröstlich über den Verlust, hatten sie sich aneinander festgeklammert.
Kylies von Trauer überschattete Augen leuchteten auf, als sie Joss entdeckte. Sie eilte zu ihr und schloss sie in die Arme.
»Wie geht es dir?«, flüsterte Kylie.
Joss drückte sie, dann löste sie sich lächelnd. »Ganz gut.« Was sogar der Wahrheit entsprach.
Sie wandte sich Chessy zu und umarmte auch sie.
»Du kommst klar heute?«, erkundigte Chessy sich leise.
»Los, wir setzen uns, dann reden wir. Ich bin am Verhungern«, sagte Joss schmunzelnd.
Die anderen beiden Frauen wirkten angesichts ihrer aufgeräumten Stimmung erleichtert. Es beschämte Joss, dass sie während der letzten drei Jahre nicht nur für Dash eine Bürde gewesen war, sondern auch für ihre besten Freundinnen. Aber das war vorbei. Heute … nun, heute war der Tag, an dem sie sich daranmachen würde, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Sie würde es wieder auf Kurs bringen und die Leere füllen, die der Tod ihres Mannes hinterlassen hatte.
Man wies ihnen einen Tisch in einer geräumigen Nische zu. Joss hasste die dicht an dicht stehenden langen Tischreihen. Obwohl ihre Unterhaltungen zwanglos waren, mochte sie es nicht, wenn andere ihnen zuhörten. Und besonders heute legte sie großen Wert auf absolute Privatsphäre.
»Du wirkst irgendwie … verändert«, stellte Chessy nachdenklich fest, als sie die Speisekarten aufklappten.
Joss ließ ihre zu, weil sie schon wusste, was sie essen würde. Die anderen zogen sie immer auf, weil sie trotz der wundervollen Auswahl auf der umfangreichen Karte fast jedes Mal dasselbe bestellte, und heute war das nicht anders. Kurz gebratenes Rindfleisch aus dem Wok. Ihr absolutes Lieblingsgericht im Lux Café.
»Ich bin verändert«, bestätigte Joss in leisem Ton.
Kylies Augen weiteten sich. »Was ist passiert?«
»Es geht nicht um das, was passiert ist, sondern um das, was passieren wird«, berichtigte Joss.
»Oh-oh. Wollen wir das wirklich hören?«, frotzelte Chessy.
Schweigen senkte sich über den Tisch, als der Kellner kam, um ihre Bestellung aufzunehmen. Nachdem er verschwunden war, forderte Kylie Joss auf zu erklären, was sie damit gemeint hatte.
Joss seufzte, dann schaute sie Chessy ins Gesicht. »Ich wollte dich fragen … Mir ist klar, dass es eine sehr intime Frage ist, andererseits hast du schon früher darüber gesprochen. Aber sollte sie zu persönlich sein, sag mir einfach, dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern soll. Trotzdem würde ich dir wirklich gern ein paar Fragen über dich und Tate stellen.«
Ein kummervoller Ausdruck glitt über Chessys Züge, und für einen kurzen Moment blickten ihre Augen traurig, bevor sie sich wieder in den Griff bekam. Aber weder Joss noch Kylie war ihre Reaktion entgangen. Sie wechselten einen verwirrten Blick.
»Du weißt, dass du mich alles fragen kannst«, antwortete Chessy in lockerem Ton, der Joss jedoch gezwungen vorkam.
Sie beschloss, diesem Eindruck später auf den Grund zu gehen, und preschte voran.
»Du sagtest, dass du mit Tate eine auf Dominanz und Unterwerfung basierende Beziehung führst. Dass er im Bett das Sagen hat. Ich wollte einfach nur wissen … mir ist klar, das klingt dumm, weil du natürlich glücklich bist. Jeder, der euch zwei zusammen sieht, erkennt, wie verliebt ihr seid, aber ich möchte mehr darüber erfahren, wie so etwas funktioniert.«
Kylie erblasste, und Joss fühlte sich schlecht, weil sie dieses Thema in ihrem Beisein anschnitt, gleichzeitig wollte sie etwas derart Wichtiges nicht vor ihrer Schwägerin verheimlichen. Kylie und Chessy waren ihre allerbesten Freundinnen. Weil es um etwas wirklich Einschneidendes ging, konnte sie nicht darauf verzichten, die beiden ins Vertrauen zu ziehen. Schließlich plante sie einen Kopfsprung aus dem Leben, das sie die letzten drei Jahre geführt hatte.
»Joss? Wieso fragst du das?«, erkundigte sich Chessy mit verwunderter, besorgt klingender Stimme.
Joss holte noch einmal tief Luft und schloss die Augen. Sie fasste nach Kylies Hand, weil sie wusste, dass ihr Vorhaben für ihre Schwägerin schwer zu verkraften sein würde.
»Ihr wisst beide, dass ich Carson aus tiefstem Herzen geliebt habe. Er gab mir alles. Trotzdem hatte ich immer dieses … Bedürfnis. Diesen Drang. Dieses Verlangen. Ich weiß nicht, wie ich es bezeichnen soll. Solange ich denken kann, sehne ich mich nach … Dominanz. Und nach allem, was dazugehört. Es ist das Einzige, von dem ich wusste, dass Carson es mir nicht geben konnte oder geben würde. Und ich liebte ihn zu sehr, um es von ihm zu fordern. Wir haben einmal darüber gesprochen. Zu Beginn unserer Beziehung. Bevor ich von seiner Kindheit wusste. Er war von der schrecklichen Angst erfüllt, so zu werden wie sein Vater. Die Vorstellung, irgendetwas zu tun, das mich verletzen oder ihm als Missbrauch ausgelegt werden könnte, entsetzte ihn. Ich glaube, anfangs fürchtete er, mich zu verlieren, weil er mir diese Art von Beziehung nicht bieten konnte.«
Kylie hatte den Blick gesenkt, doch Joss bemerkte die Tränen, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten. Joss drückte ihre Hand fester, lieh ihr die Kraft, die sie bis zu diesem Tag nicht besessen hatte.
»Und du willst das jetzt nachholen?«, fragte Chessy stirnrunzelnd.
Joss nickte bedächtig.
Kylie hob den Kopf, ihre Lippen wollten schon einen Einspruch formulieren, aber Joss gebot ihr Einhalt, indem sie abermals ihre Hand drückte.
»Ich möchte keine Beziehung. Zumindest keine feste. Mir wurde einmal im Leben Perfektion geschenkt. Ich weiß, dass ich diese Art von Liebe nie wieder finden werde. Trotzdem brauche ich etwas, um die Leere in mir zu füllen. Eine Leere, die schon immer existierte, doch solange ich Carson hatte, war sie nicht so quälend. Ich war nicht allein. Er bedachte mich mit allem, was mein Herz begehrte, auch wenn ein winziger Teil von mir immer mehr wollte, mehr brauchte. Ich weiß, das klingt furchtbar. Ich habe Carson aus tiefster Seele geliebt, und ich hätte ihn niemals betrogen. Aber er ist tot. Ich muss mich mit der Tatsache abfinden, dass, egal wie sehr ich es mir auch wünsche, er nicht zurückkommen wird.«
Ihre Gefühle schnürten ihr die Kehle zu, sie blinzelte gegen den Ansturm heißer Tränen an. Hastig wischte sie sich über die Wangen, wollte keine öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Kylie senkte wieder den Kopf, als auch über ihre blasse Wange eine Träne kullerte.
»Ich fühle mich einsam«, gestand Joss leise. »Und ich brauche etwas, jemanden, um die Leere zu füllen, die Carson hinterlassen hat. Es wird Zeit für mich, loszulassen und einen Neuanfang zu versuchen. Ich habe da ein Etablissement gefunden …«
»Was für ein Etablissement?«, fiel Chessy ihr ins Wort.
»Man nennt es ›Das Haus‹.«
Chessys Miene entspannte sich. »Ja, das kenne ich. Tate und ich sind dort Mitglieder. Tate ist mit dem Eigentümer, Damon Roche, befreundet. Damon ist inzwischen verheiratet und hat ein Kind, darum ist er nicht mehr so aktiv wie früher, aber er leitet den Club immer noch.«
»Mit ihm habe ich gesprochen«, nickte Joss. »Er hat meinen Mitgliedsausweis ausgestellt. Er war sehr nett zu mir. Er wollte sich vergewissern, dass ich weiß, worauf ich mich einlasse.«
»Und tust du das?«, platzte Kylie heraus und hob wieder den Kopf. »Joss, das ist eine ernste Angelegenheit. Was, wenn du dabei verletzt wirst? Was, wenn du an den falschen Mann gerätst? Du weißt, was für Monster dort draußen lauern. Bei Gott, mein Vater war eins davon. Wie kannst du auch nur daran denken, dich blindlings in ein solches Abenteuer zu stürzen?«
»Von ›blindlings‹ kann keine Rede sein«, widersprach Joss sanft. »Ich habe sehr lange darüber nachgedacht und gründlich recherchiert, bis ich schließlich auf ›Das Haus‹ gestoßen bin. Ich habe die Räumlichkeiten besichtigt und war während der betriebsamsten Zeiten dort. Ich weiß, was mich erwartet. Und Damon hat mir versichert, dass man mich, besonders während meines ersten Besuchs, aufmerksam im Auge behalten wird.«
Sie wurden unterbrochen, als der Kellner die Vorspeisen servierte, allerdings war Essen jetzt das Letzte, wonach den Frauen der Sinn stand. Sie ließen ihre Teller stehen und setzten ihre Unterhaltung fort.
»Ich wollte nur wissen, wie es für dich und Tate ist«, sagte Joss leise.
Wieder spiegelte sich Schmerz in Chessys grünen Augen. Sie schob ihre dunklen Haare hinters Ohr, um ihr Zögern zu kaschieren, dennoch entging es Joss nicht. Was war bloß los mit ihrer Freundin? Sie wirkte … unglücklich. Womöglich war sie das schon seit einiger Zeit, nur war Joss zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um ihrem Umfeld die erforderliche Aufmerksamkeit entgegenzubringen.
»Verschweigst du uns etwas, Chessy?«, fragte Joss scharf.
Chessys Miene war schuldbewusst und überrascht zugleich. »Nein, natürlich nicht. Und um deine Frage zu beantworten: Wenn man es richtig angeht, ist es die pure Erfüllung. Ich habe nie bereut, mich Tate vollständig unterzuordnen. Er hat sich immer ganz wundervoll um mich gekümmert. Mich verhätschelt. Mich mit Leib und Seele beschützt. Ich war stets seine oberste Priorität. Dabei war er sehr fordernd.«
Joss runzelte die Stirn, weil ihre Freundin für jeden Punkt die Vergangenheitsform gewählt hatte.
»Trifft das inzwischen nicht mehr zu?«, hakte sie nach.
Chessy lächelte strahlend. Zu strahlend. »Doch, natürlich. Das war nur so dahingesagt. Na ja, vielleicht läuft es nicht mehr ganz so perfekt wie früher, aber damit muss man rechnen. Tate hatte so viel um die Ohren, um sein Geschäft zum Erfolg zu führen, und wenn sich das Neue an einer Beziehung irgendwann abnutzt, schleicht sich leicht eine gewisse Routine ein. Aber keine Sorge. Wir lassen uns nicht scheiden oder so was«, schloss sie lachend.
Ihre gezwungene Heiterkeit beunruhigte Joss. Doch sie verdrängte ihre ungute Vorahnung und kam wieder auf das eigentliche Thema zurück.
»Noch mal, solltest du meine Fragen zu persönlich finden …«, wiederholte sie. Aber Chessy winkte ab und bedeutete ihr fortzufahren.
»Welche Dinge macht ihr miteinander? Ich meine, steht ihr auf Fesselspiele? Auf Schmerz? Auspeitschen? Oder geht es nur darum, dass du seinen Befehlen gehorchst und er den Ton angibt?«
Kylie sah aus, als wäre ihr speiübel. Sie spielte mit ihrem Essen, als versuchte sie, das Gespräch auszublenden. Ihr Gesicht war bleich geworden, und Joss überkamen wieder Zweifel, ob es richtig war, das alles in ihrer Gegenwart zu erörtern. Aber sie hatte Kylie nicht im Unklaren lassen wollen. Sie war es ihrer Schwägerin schuldig, ihr zu sagen, dass sie wenigstens versuchen wollte, ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen, und dass sie sich, wenn auch nur vorübergehend, mit einem anderen Mann einlassen wollte. Auf keinen Fall wollte sie, dass Kylie es durch Zufall herausfand. Sie sollte es von ihr persönlich erfahren.
»Nun, es kommt ganz darauf an, was man machen möchte«, antwortete Chessy ruhig. »Ja, wir praktizieren all diese Dinge. Und einiges mehr. Ich gehöre ihm, und er kann mit mir tun, was er will. Er weiß, wie weit er gehen darf. Wir sind lange genug zusammen, dass er meine Grenzen kennt. Vielleicht sogar besser als ich selbst. Aber es ist am Anfang extrem wichtig, dass du vollkommen aufrichtig zu deinem Partner bist und ihm deine Grenzen aufzeigst. Er muss ganz genau wissen, wobei du dich wohlfühlst und wobei nicht. Und ihr braucht ein Signalwort, bis eure Beziehung sich so weit entwickelt hat, dass er weiß, wie weit er gehen kann.«
»Ich komme mir vor wie ein Kind in einem Spielzeugladen«, bekannte Joss kleinlaut. »Ich möchte alles ausprobieren. Zumindest ein einziges Mal. Aber ich kenne meine Grenzen nicht. Und solange sie nicht überschritten wurden, werde ich sie auch nicht kennen.«
»Dann ist es umso wichtiger, dass du dir den richtigen Mann aussuchst. Einen, der versteht, dass du neu bist in der Szene. Dass du etwas ausprobieren möchtest, dir dabei aber das Recht vorbehältst, das Experiment jederzeit zu beenden. Und willige um Himmels willen nicht ein, mit einem Mann nach Hause zu gehen, solange du ihn nicht sehr gut kennst. Bleib in dem Club. Experimentiere nach Lust und Laune in dieser öffentlichen Einrichtung, wo es jede Menge Sicherheitsvorkehrungen gibt.«
Joss nickte. Sie hatte darüber nachgedacht und wollte auf keinen Fall jemanden mit nach Hause nehmen. Dorthin, wo sie und Carson gelebt und sich geliebt hatten. Es wäre der Gipfel der Respektlosigkeit, unter dem Dach ihres Mannes etwas zu praktizieren, das ihn abgestoßen hätte. Genauso wenig würde sie einwilligen, einen Fremden nach Hause zu begleiten, wo alles Mögliche passieren konnte, sobald sie mit ihm allein und seiner Gnade ausgeliefert wäre.
Es war ja nicht so, als hätte sie nicht sämtliche Risiken in Betracht gezogen. Denn das hatte sie! Joss hatte »Das Haus« mehr als einmal besucht. Sie hatte Damon Roche mit Fragen bestürmt, und er war ihr mit sehr viel Geduld und Verständnis begegnet. Trotzdem beschlichen sie angesichts von Chessys Warnungen Zweifel.
Nein. Sie hatte sich das Ganze reiflich überlegt. Sie hatte während der letzten Monate über nichts anderes nachgedacht. Es mochte abgeschmackt wirken, ausgerechnet am dritten Todestag ihres Ehemanns ein neues Leben zu beginnen, aber für sie war es ein symbolischer Akt. Sie würde jetzt keinen Rückzieher mehr machen.
Sie hatte einen wohligen Schauder verspürt, als Chessy ihr erklärte, dass sie ihrem Mann gehörte, der mit ihr tun konnte, was immer er wollte. Joss wollte das auch. Sie verzehrte sich mit einer dunklen Gier danach, die sie selbst nicht vollständig verstand. Schließlich hatte sie Carson mit Herz und Seele gehört. Sie hatte nicht den kleinsten Teil von sich vor ihm zurückgehalten.
Doch ihr Bedürfnis, dominiert zu werden, reichte tiefer als Zugehörigkeit. Sie wollte … besessen werden. Verwöhnt. Angebetet. All die Dinge, die Carson ihr gegeben hatte und doch … mehr. Sie wollte diese Grauzone überschreiten. Wollte ihre Grenzen sprengen. Herausfinden, wo sie lagen und wie weit sie zu gehen bereit sein würde. Wie sollte sie das je erfahren, wenn sie es nie versuchte?
»Du wirst es tun, nicht wahr?«, fragte Kylie leise. »Ich sehe es in deinen Augen, Joss. Ich kenne diesen Blick. Du wirst es tatsächlich durchziehen.«
Joss nickte. Sie überkam ein Gefühl der Erleichterung, als sie es bestätigte.
Chessy fasste über den Tisch, nahm Joss’ freie Hand und drückte sie, während Kylie weiter ihre andere festhielt.
»Dann wünsche ich dir Glück«, sagte Chessy.
»He, musst du nicht los?«, fragte Joss, der jetzt einfiel, dass Chessy ein paar Tage zuvor erwähnt hatte, dass sie und Tate den Nachmittag zusammen verbringen wollten. »Wartet Tate nicht auf dich? Ich wollte dich nicht aufhalten, sondern nur diese Fragen loswerden.«
Da war wieder dieses kaum wahrnehmbare Flackern in Chessys Augen, bevor sie den Blick senkte und Joss’ Hand freigab.
»Nein«, sagte sie leichthin. »Er musste absagen. Ihm ist etwas Wichtiges bei der Arbeit dazwischengekommen.«
Joss zog eine Grimasse. »Das tut mir leid. Ich weiß, wie sehr du dich darauf gefreut hattest. Leider muss ich jetzt gehen, um mich auf heute Abend vorzubereiten. Obwohl mein Entschluss feststeht, bin ich noch immer so nervös, dass ich ausreichend Vorlaufzeit brauche, um mich zurechtzumachen und mir gut zuzureden, damit ich mein Vorhaben auch wirklich durchziehe.«
Chessy lächelte. »Ich erwarte morgen früh einen Bericht, und falls ich ihn nicht bekomme, überfalle ich dich zu Hause. Und sollte ich dich dort nicht antreffen, alarmiere ich die Polizei!«
Joss musste grinsen. »Natürlich werde ich dort sein.«
Sie stand auf, nachdem sie mehrere Scheine auf den Tisch gelegt hatte, um für das Mittagessen zu bezahlen. Kylie erhob sich ebenfalls.
»Ich begleite dich nach draußen«, verkündete sie.
Chessy sah Joss mit hochgezogenen Brauen an, dann richtete sie ihren Blick vielsagend auf Kylie. Joss seufzte. Sie wusste, was folgen würde. Mit einem Winken zu Chessy verließ Joss das Restaurant mit Kylie im Schlepptau.
Als sie ihre Autos erreichten, legte Kylie ihre Hand auf Joss’ Arm.
»Joss, hast du dir das wirklich gut überlegt?«, fragte sie flehentlich. »Ich mache mir große Sorgen um dich. Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich. Was würde Carson davon halten? Joss, er würde sterben, wenn er es wüsste!«
»Kylie, Carson ist gestorben«, erinnerte Joss sie sanft. »Wir können ihn nicht zurückholen. Gott, wenn ich es könnte, würde ich es auf der Stelle tun. Ich würde meine Wünsche und Bedürfnisse sofort vergessen, wenn ich ihn nur zurückhaben könnte. Aber er ist tot.«
Die Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Tränen, die zu vergießen sie sich heute nicht gestattet hatte. Sie war fest entschlossen, dass dieser Jahrestag von Carsons Tod anders verlaufen musste. Dass sie ihn nicht lustlos und trauernd verbringen würde.
Kylies Augen waren vor Kummer verschleiert. Ihre Tränen liefen über und rollten ihre Wangen hinab. »Ich vermisse ihn so sehr, Joss. Er war die einzige Familie, die ich hatte. Ich kann noch immer nicht fassen, dass er nicht mehr da ist.«
Joss schloss sie in die Arme und hielt sie fest, während Kylies Schultern bebten. »Du irrst dich. Du hast noch Familie. Du hast mich. Ich werde nicht aus deinem Leben verschwinden. Diese Sache ändert nichts zwischen uns. Das schwöre ich. Aber ich muss mich aufraffen und mein Leben wieder auf die Reihe kriegen, Kylie. Sonst gehe ich zugrunde. Die Trauer bringt mich langsam um, und Carson würde das hassen. Er hätte nie gewollt, dass ich den Rest meines Lebens als trauernde Witwe dahinvegetiere. Er wäre der Erste, der mich glücklich sehen wollte, auch wenn ich es nicht mehr mit ihm bin.«
Kylie löste sich von ihr und wischte hastig die Tränen aus ihrem Gesicht. »Das weiß ich. Wirklich. Und ich möchte auch, dass du glücklich bist, Joss. Aber muss es auf diese Weise sein? Du hast keine Ahnung, wie es ist, von der Gnade eines Ungeheuers abhängig zu sein. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass du dich freiwillig in eine Situation begeben willst, in der du hilflos der Macht eines Mannes ausgeliefert bist. Er könnte dich verletzen. Dich missbrauchen. Glaub mir, das willst du nicht. Du ahnst nicht mal ansatzweise, wie gedemütigt und ohnmächtig man sich dabei fühlt, aber ich weiß es. Und das würde ich dir niemals wünschen. Carson würde es dir niemals wünschen.«
Sanft wischte Joss Kylies letzte Tränen weg. »Nicht alle Männer sind so, Kylie. Ich verstehe deine Besorgnis. Ich bestreite ja gar nicht, was du und Carson durchgemacht habt. Doch das würde ich bei mir niemals erlauben. Sieh doch nur Chessy und Tate an. Du weißt, welche Art von Beziehung sie führen. Glaubst du ernsthaft, Tate würde ihr jemals ein Haar krümmen? Er liebt sie. Er vergöttert sie. Er würdigt das Geschenk ihrer Unterwerfung mit Respekt. Und genau das ist es, was ich mir wünsche.«
»Aber er tut ihr weh«, entgegnete Kylie hitzig. »Du hättest sehen müssen, was ich heute gesehen habe. Was wir alle schon seit geraumer Zeit beobachten. Sie ist nicht glücklich, Joss, und ich mache mir Sorgen um sie. Was, wenn er sie misshandelt?«
Joss blinzelte, vollkommen schockiert über Kylies Verdacht. Natürlich war ihr aufgefallen, dass Chessy nicht so lebhaft und fröhlich wie sonst gewirkt hatte. Sie hatte gespürt, dass mit ihrer besten Freundin etwas nicht stimmte, trotzdem wäre sie nicht eine Sekunde auf den Gedanken verfallen, Tate könnte sie körperlich verletzen.
»Ich weiß nicht genau, was mit Chessy und Tate los ist«, entgegnete Joss vorsichtig. »Aber ich bin mir ganz sicher, dass er sie nicht misshandelt. Chessy würde sich das niemals gefallen lassen. Sie ist zu stark und unabhängig, auch wenn sie bei Tate die devote Rolle spielt. Außerdem würde sie es uns sagen, wenn er ihr wehtäte. Wir sind zu eng befreundet. Wir würden es wissen, Kylie. Wir wüssten es.«
»Niemand hat jemals geahnt, durch welche Hölle Carson und ich gegangen sind«, sagte Kylie mit gequälter Stimme. »Wir haben es vor allen verborgen. Unser Dad machte auf andere den Eindruck eines liebenden Vaters, der nicht fähig gewesen wäre, uns ein Leid zuzufügen. Doch hinter verschlossenen Türen war er ein Monster.«
»Bitte, mach dir keine Sorgen um mich«, beschwichtigte Joss sie. »Auch nicht um Chessy. Schätzchen, ich weiß, dass du mit meiner Entscheidung nicht einverstanden bist. Ich erwarte nicht von dir, dass du sie akzeptierst, aber ich wünschte, du würdest sie zumindest respektieren.«
»Ich hab dich lieb«, sagte Kylie mit zittriger Stimme. »Darum könnte ich es mir niemals verzeihen, wenn ich nicht wenigstens versuchen würde, dich von dem Weg abzubringen, den du anscheinend unbedingt einschlagen willst. Aber wenn es wirklich das ist, was du willst und brauchst und was dich glücklich macht, dann werde ich versuchen, es zu respektieren. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.«
Joss umarmte sie noch einmal. »Du wirst mich nicht verlieren. Du bist meine Schwester und meine beste Freundin. Carson war nicht meine einzige Verbindung zu dir, und sein Tod bedeutet nicht, dass das Band zwischen uns zerrissen ist. Du bist meine Familie, Kylie. Ich liebe dich.«
Den Tränen nahe, aber lächelnd, trat Kylie einen Schritt zurück. »Genau wie Chessy erwarte ich morgen einen Bericht von dir. Ich werde heute Nacht vor Sorge um dich kein Auge zutun. Ich hoffe nur, du weißt, worauf du dich einlässt.«
»Das hoffe ich auch«, murmelte Joss. »Das hoffe ich wirklich.«
Dash Corbin parkte seinen Wagen vor dem »Haus«, dann blieb er einen Moment sitzen und brütete darüber, warum er heute Abend hier war. Normalerweise blieb er am Jahrestag von Carsons Tod bis spät in die Nacht bei Joss. Nicht, dass er nicht auch sonst viel Zeit mit ihr verbracht hätte, aber an den letzten beiden Jahrestagen war er praktisch rund um die Uhr an ihrer Seite gewesen. Hatte sie gehalten. Getröstet. Unterstützt.
Und dabei seine persönliche Hölle durchlebt.
Es war grauenvoll, die Witwe des besten Freundes zu lieben. Während der gesamten Ehezeit von Carson und Joss hatte ihn das schlechte Gewissen gemartert. Carson hatte Bescheid gewusst. Er hatte es sich zusammengereimt, obwohl Dash seine Gefühle nie offen gezeigt hatte. Doch sein Freund war scharfsinnig gewesen. Er hatte ihn besser gekannt als jeder andere. Sie waren nicht nur Geschäftspartner gewesen, sondern hatten sich so nahegestanden wie Brüder, auch wenn Dash nicht in dem Fegefeuer aufgewachsen war, das Carsons und Kylies Kindheit zerstört hatte.
Nein, Dashs Familie war das genaue Gegenstück zu Carsons. Falls man den verkommenen Abschaum, der sich Carsons Vater geschimpft hatte, überhaupt als Familie bezeichnen wollte. Dashs Eltern liebten sich heute noch genauso unerschütterlich wie vor vierzig Jahren bei ihrer Hochzeit. Dash war eins von fünf Geschwistern. Das mittlere Kind. Er hatte zwei ältere Brüder und zwei jüngere Schwestern, die von ihren Brüdern beschützt und nach Strich und Faden verwöhnt wurden.
Carson hatte anfangs verwirrt auf Dashs eng verbundene Sippschaft reagiert und nicht gewusst, wie er mit diesem normalen, gut aufeinander eingespielten Familienverband umgehen sollte. Aber Dashs Eltern und Geschwister hatten ihn mit offenen Armen aufgenommen – und später auch Joss, nachdem Carson sie geheiratet hatte. Und sogar Kylie, obwohl sie Dashs großem Clan reservierter und vorsichtiger begegnet war als Carson.
Dash seufzte, dann stieg er aus und ging zum Eingang vom »Haus«. Er hatte gar kein Interesse, heute Abend irgendwie in Aktion zu treten, gleichzeitig fühlte er sich rastlos und aufgekratzt. Joss hatte den ganzen Tag seine Gedanken beherrscht. Schon seit er sie zum Friedhof gefahren und den Wandel an ihr wahrgenommen hatte.
Er wusste sich auf diese abrupte Veränderung keinen Reim zu machen. Sie war in Jeans und T-Shirt aus dem Haus gekommen, hatte so jung und wunderschön ausgesehen, dass es ihm immer noch das Herz zusammenzog, wenn er daran dachte.
Und dann hatte sie ihn gebeten, am Grab allein gelassen zu werden. Sie war dort geblieben, und ihre Lippen hatten sich bewegt, während sie lange Minuten mit Carson gesprochen hatte. Bei ihrer Rückkehr war die Veränderung in ihrem Auftreten unverkennbar gewesen. Und dann dieses Gerede, dass sie ihn nicht länger brauchte. Sie hatte sich sogar bei ihm entschuldigt.
Herrgott noch mal. Dafür, dass sie angeblich eine Bürde war. Dass sie zu viel von seinem Leben und seiner Zeit in Anspruch nahm. Joss begriff einfach nicht, dass sie sein Leben war. Wenigstens hoffte er, dass sie es werden würde.
Nachdem er sich beim Pförtner angemeldet hatte, schlenderte er durch die unteren Ebenen. Die Gesellschaftsräume, wo die Leute zusammenkamen, guten Wein tranken und plauderten, bevor sie nach oben in das Gemeinschaftszimmer oder in eine der privaten Suiten verschwanden.
Es waren jede Menge bildschöner Frauen anwesend, und es herrschte auch kein Mangel an interessierten Blicken, die in seine Richtung flogen. Es war schon eine Weile her, seit Dash zuletzt hier gewesen war, um ein bisschen Dampf abzulassen. In der Regel kam er her, nachdem er Zeit mit Joss verbracht hatte. Dann gaukelte er sich vor, die Frau, mit der er sich vergnügte, sei sie. Das war kein feiner Zug von ihm, andererseits sorgte er dafür, dass die Frauen, mit denen er zusammen war, auf ihre Kosten kamen. Sie konnten nicht wissen, dass sie nur ein billiger Ersatz für die eine waren, die er nicht haben konnte.
Wollte sie ihr Leben nun endlich wieder anstoßen? Ihre Worte im Auto deuteten darauf hin. Sie war freimütig gewesen, schonungslos sogar, und es hatte ihr zugesetzt. Dash hatte die Emotionen in ihren Augen bemerkt, als sie davon gesprochen hatte, dass Carson tot war und nicht zurückkehren würde, dass sie das akzeptieren und ihr Leben weiterführen musste. Aber meinte sie es auch so?
Dash wagte nicht, darauf zu hoffen. Und er hatte Angst, den falschen Zug zu tun. Er durfte nicht riskieren, alles zu verderben, indem er sie zu früh bedrängte. Sie betrachtete ihn als einen Freund und sich selbst als eine Belastung für ihn. Jemand, der ihr das Händchen hielt, wenn die Trauer sie übermannte. Dabei hatte sie nie realisiert, dass er allein für die Momente lebte, in denen er bei ihr war.
Carson hatte gewusst, dass sein bester Freund in seine Frau verliebt war. Er hatte es gewusst und akzeptiert. Dash hatte befürchtet, dass es nicht nur ihre Freundschaft, sondern auch ihre geschäftliche Partnerschaft zerstören würde. Aber Carson hatte Verständnis gezeigt. Er hatte darauf vertraut, dass Dash seinen Gefühlen niemals Taten folgen lassen würde. Und er hatte ihm das Versprechen abgenommen, dass, sollte ihm je etwas zustoßen, Dash für Joss da sein würde.
Es musste höllisch viel Überwindung kosten, seinem besten Freund, sollte einem etwas passieren, die eigene Frau anzuvertrauen.
Noch schlimmer war der Umstand, dass Carson dieses Versprechen wenige Wochen, bevor er bei dem Autounfall ums Leben gekommen war, eingefordert hatte. Fast schien es, als hätte er es geahnt. Hatte er instinktiv gespürt, dass etwas Schlimmes geschehen und Joss als junge Witwe zurückbleiben würde?
Zum damaligen Zeitpunkt hatte Dash Carsons überaus dringliche Bitte einfach beiseitegewischt.
Für den Fall, dass mir etwas zustoßen sollte, möchte ich, dass du mir etwas versprichst, Kumpel. Versprich mir, dass du für Joss da sein wirst. Ich weiß, dass du sie liebst. Sollte einmal der Tag kommen, an dem ich nicht mehr für sie da sein kann, will ich von dir dein Ehrenwort, dass du dich um sie kümmern und sie lieben wirst, wie ich sie liebe.
Die Worte hallten noch immer in seinem Kopf wider. Waren sie prophetisch gewesen? Oder reiner Zufall?
Damals hatte das Versprechen Dash lediglich daran erinnert, was Carson hatte und er nicht. Joss war … Sie war wunderschön. Und das nicht nur äußerlich. Sie musste ein Zimmer nur betreten, um es zu erhellen. Mit ihrem warmen Lächeln konnte sie selbst das kälteste Herz erweichen. Seit sie Carson kannte, hatte sie keinen anderen Mann mehr angesehen. Und es herrschte wahrlich kein Mangel an Männern, die mehr als willens waren, die Frau eines anderen zu verführen. Doch Joss tat, als wäre sie sich ihrer Wirkung auf das andere Geschlecht nicht einmal bewusst. Was sie für Dash nur umso begehrenswerter machte.
Nachdem er eine schnelle Runde durch die Gesellschaftsräume gedreht hatte, schnappte er sich ein Glas Wein – Damon Roche servierte nur den besten – und stieg die Treppe zum Gemeinschaftsraum hoch.
In dem großen, offen geschnittenen Zimmer herrschte das übliche Spektrum sexueller Aktivität. Obwohl es keine echten Abtrennungen gab, wurde der Raum durch die Anwesenden, die sich ihre eigenen kleinen Inseln für ihr Treiben schufen, auf natürliche Weise unterteilt.
Als er weiter in das Zimmer hineintrat, schlugen ihm zahllose Geräusche und Gerüche entgegen. Das Klatschen von Fleisch gegen Fleisch. Das Schnalzen einer Peitsche oder eines Floggers. Die Leute seufzten, stöhnten und schrien vor Ekstase. Manche vor Schmerz. Andere vor Lust. Der Geruch von Sex schwängerte die Luft.
Dash durchquerte den Raum und ließ den Blick über die Besucher schweifen, weil er sichergehen wollte, dass Tate und Chessy heute nicht hier waren. Er war keineswegs prüde, aber seine besten Freunde beim Liebesspiel zu sehen, stand nicht sehr weit oben auf seiner Prioritätenliste. Andererseits hätte er sich die Sorge, nachdem er sie schon seit Monaten nicht mehr im Club angetroffen hatte, sparen können. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich in der Vergangenheit hier über den Weg gelaufen waren, hatte er seinen Besuch abgekürzt, denn er würde niemals etwas tun, was Chessy peinlich sein könnte.
Sie war eine ganz besondere Frau und Tate ein großer Glückspilz, dass er solche Perfektion sein Eigen nennen durfte. Chessy war unterwürfig und bildschön. Und sie vertraute Tate uneingeschränkt. Es gab kein kostbareres Geschenk als eine Frau, die einem Mann Gehorsam zollte.
Es war das, was auch er sich erträumte, was er in allen Beziehungen, die er bislang eingegangen war, gesucht hatte. Aber Joss zuliebe würde er diese Seite an sich verleugnen, wenn das der einzige Weg war, sie vielleicht zu bekommen. Da er Carsons Hintergrund kannte, wusste er mit Gewissheit, dass sein Freund und Joss diesen Lebensstil niemals in Betracht gezogen hätten.
Andererseits hatte er, seit er Joss kannte, nur noch zwanglose sexuelle Eskapaden gesucht. Nachdem dieser Wirbelwind in Carsons Leben gerauscht war, hatte es für Dash keine andere Frau mehr gegeben. Er hatte lediglich seine Bedürfnisse gestillt und dafür gesorgt, dass er auch seine Partnerinnen zufriedenstellte. Anschließend war er weitergezogen, niemals bereit, sich zu binden, obwohl er wusste, dass Joss unerreichbar für ihn war. Nur dass das jetzt nicht mehr stimmte. Sie war frei. Aber könnte sie einen anderen Mann je so lieben, wie sie Carson geliebt hatte?
Das war die entscheidende Frage. Und könnte Dash sich mit nur einem Teil ihres Herzens begnügen?
Er nickte, bevor er sich bremsen konnte. Zur Hölle, ja, er würde sich mit allem begnügen, was er von ihr bekommen konnte. Blieb nur noch die Frage, wann er den ersten Schritt wagen sollte.
Der heutige Tag hatte ihm nach drei Jahren den ersten Hoffnungsschimmer geschenkt, dass Joss bereit war, ihre Trauer zu überwinden und sich wieder auf ihr Leben zu besinnen. Er hatte sich in Geduld geübt, war für sie gewesen, was immer sie gerade brauchte. Aber er wollte so viel mehr.
Dash zog sich in die Zimmerecke zurück und wies mit einem freundlichen Lächeln eine Frau ab, die ihm ihre Dienste anbot. An einem anderen Abend hätte er sie womöglich gewähren lassen, die Augen geschlossen und sich Joss unter seinen strengen und gleichzeitig zärtlichen Händen vorgestellt. Doch in dieser Nacht beherrschte Joss seine Gedanken so sehr, dass er es nicht über sich brachte, sich etwas vorzugaukeln, wie er es bereits bei so vielen anderen Gelegenheiten getan hatte.
Seine Angehörigen hielten ihn für einen Narren, weil er nicht schon vor langer Zeit über seine Gefühle für Joss hinweggekommen war. Die letzten drei Jahre über waren sie ihm mit Mitleid begegnet. Seine Brüder hatten ihn sogar gefragt, wann er endlich vorpreschen würde. Aber Dash hatte gewusst, dass die Zeit noch nicht reif gewesen war. War sie es jetzt?
Er kam nicht gegen die Hoffnung an, die seit seiner heutigen Begegnung mit Joss in ihm keimte. Er hatte die Veränderung in ihren Augen und in ihrem Auftreten bemerkt. Bis sie ihm dann mit dieser dummen Ausrede gekommen war, eine Bürde für ihn zu sein und ihm nicht länger zur Last fallen zu wollen.
Zur Hölle damit. Wenn sie sich einbildete, dass er einfach von der Bildfläche verschwinden würde, war sie schief gewickelt.
Dash stand in der Ecke und verfolgte das Geschehen mit schwindendem Enthusiasmus. Er konnte noch nicht einmal sagen, was ihn heute hierhergetrieben hatte. Das Einzige, was er wollte, war, mit Joss zusammen zu sein. Einen Film anschauen und versuchen, sie von ihrer Trauer abzulenken, so wie er es an den letzten beiden Jahrestagen – und bei vielen anderen Gelegenheiten – getan hatte. Der Tag war überhaupt nicht so gelaufen, wie er es erwartet hatte. Er hatte die Betreuung seiner Klienten delegiert und sich freigenommen, um die Zeit mit Joss zu verbringen.
Er war ganz und gar nicht darauf gefasst gewesen, dass sie ihn nach dem Besuch auf dem Friedhof wegschicken würde.
Sein Blick wurde vom Eingang angezogen, durch den gerade ein Paar trat. Er musste ein zweites Mal hinsehen, wollte seinen Augen nicht trauen.
Was zum Henker …?
Dash stierte zur Tür, unfähig zu glauben, was er da sah. Joss war gerade ins Zimmer gekommen, in Begleitung eines Mannes, den Dash aus dem Club kannte. Er hatte den Arm auf intime Weise um ihre Taille geschlungen, seine Hand lag eindeutig besitzergreifend an ihrer Hüfte, um keinen Zweifel zu lassen an seiner … Eigentümerschaft. Oder bevorstehenden Eigentümerschaft.