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FLIEH, WENN DU KANNST ... Grace Peterson ist auf der Flucht. Monatelang wurde sie von einer Verbrecherbande gefangen gehalten, die ihre Fähigkeit, andere Menschen zu heilen, auf skrupellose Art und Weise ausbeutete. Allein und verzweifelt versucht sie nun, ihren Verfolgern zu entkommen. In letzter Sekunde gelingt es dem KGI-Agenten Rio, sie in Sicherheit zu bringen. Doch die Gefahr ist noch lange nicht vorbei. Denn nicht nur die Bande hat es auf Grace’ Gabe abgesehen ...
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Seitenzahl: 469
Titel
Über dieses Buch
Prolog
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Über die Autorin
Die Romane von Maya Banks bei LYX
Impressum
MAYA BANKS
KGI
Stummes Echo
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Katrin Mrugalla und Richard Betzenbichler
Grace Peterson ist verzweifelt. Monatelang wurde sie von einer skrupellosen Verbrecherbande gefangen gehalten, die ihre Fähigkeit, andere Menschen zu heilen, auf grausame Art und Weise ausbeutete. Zwar ist Grace die Flucht aus ihrem Labor inzwischen gelungen, doch sie ist so geschwächt, dass sie sich dem Tod näher fühlt als dem Leben. Auch ihre einzige Rettungsleine – die telepathische Verbindung zu ihrer Schwester Shea – ist durchschnitten. Und die Verbrecher sind ihr weiterhin dicht auf den Fersen. Nur in letzter Sekunde gelingt es dem Agenten Rio, sie in den Bergen von Colorado ausfindig zu machen und vor ihren Verfolgern in Sicherheit zu bringen. Der erfahrene Kämpfer hat schon einiges erlebt, aber auf seine Reaktion beim Anblick dieser verletzlichen und doch so tapferen Frau ist er nicht vorbereitet. Auch wenn er es sich nicht erklären kann, zählt in seinem Leben von nun an nur noch eines: Grace vor ihren Feinden zu beschützen. Und die Mission ist noch lange nicht vorbei. Denn nicht nur die Bande hat es auf Grace’ Gabe abgesehen, sondern auch ein Unbekannter ist bereit, alles dafür zu tun, um sie für seine Zwecke zu missbrauchen.
Gordon Farnsworth hatte mehr Geld als Gott. Er verfügte über mehr Verbindungen, als sich irgendjemand vorstellen konnte. Sein Leben hatte er am Rand der Gesellschaft gelebt, in einem Schattenbereich, einer Grauzone, und er bezweifelte, dass er noch so etwas wie eine Seele hatte.
Er hatte Macht, er war reich, und er konnte jederzeit leicht an Informationen kommen. Aber das alles bedeutete ihm nichts, denn seine Tochter lag im Sterben, und er konnte es nicht aufhalten.
Sie war bei den besten Ärzten weltweit gewesen, hatte die beste Behandlung bekommen, die für Geld zu haben war, doch alle Ärzte hatten ihm das Gleiche gesagt.
Es gab nichts mehr, was man noch hätte tun können. Seine Tochter war nicht mehr zu retten. Er konnte ihr nur noch die letzten Tage ihres Lebens so angenehm wie möglich gestal- ten.
Scheiß drauf.
Er würde nicht akzeptieren, dass er nichts tun konnte. Er hatte Kriege verhindert und angezettelt. Er hatte Einfluss auf Dutzende von führenden Politikern. Er konnte spontan ganze Länder groß machen oder ruinieren. Und seine Tochter sollte er nicht retten können?
Er lief in der dunklen Bibliothek auf und ab, in der er oft mit einem Glas Macallan-Whisky saß, für den er über hunderttausend Dollar gezahlt hatte. Das Feuer im Kamin war erloschen, und nur gelegentlich stoben noch ein paar Funken hoch.
Sein Handy klingelte. Er riss es aus der Tasche, hob es an das Ohr und brüllte los, bevor der Anrufer etwas sagen konnte.
»Erfüllt sie die Erwartungen?«
»Ja, es sieht so aus.«
Farnsworth’ Schultern sackten herab. Er ließ sich auf die Couch fallen und rutschte dann ganz an die Kante, getrieben von seiner Ungeduld.
»Sie hat alle möglichen Krankheiten und Wunden geheilt, es kostet sie allerdings eine Menge Kraft. Man hat sie bis über ihre Grenzen hinaus belastet, aber sie war in allen Fällen erfolgreich.«
»Mir ist scheißegal, was es mit ihr macht«, knurrte Farnsworth. »Bringen Sie sie her. Mir läuft die Zeit davon.«
Es entstand ein längeres Schweigen, und Farnsworth mochte Schweigen nicht. Es bedeutete nie etwas Gutes.
»Ich hatte bereits geahnt, dass Sie das befehlen würden. Als ich die Testresultate bekam, war mir klar, dass Sie sie so schnell wie möglich haben möchten. Ich habe den Befehl erteilt, einzudringen, jeden Beweis ihrer Existenz zu vernichten und alle zum Schweigen zu bringen, die irgendetwas von ihr wissen. Außerdem habe ich natürlich befohlen, dass Grace Peterson mitgenommen und zu Ihnen gebracht wird.«
Farnsworth gefiel nicht, worauf das hinauslief. Sein Magen verknotete sich, und sein Mund wurde vor Wut ein dünner Strich.
»Und dann, was zum Teufel ist dann passiert? Wo ist sie? Wann kann ich mit ihr rechnen? Elizabeth bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Er hörte, wie der andere tief Luft holte. »Sie ist geflohen, Sir.«
Farnsworth sprang auf. Speichel lief ihm über das Kinn, als er losbrüllte: »Geflohen? Sie ist geflohen? Ich denke, sie ist völlig am Ende? Schwach und zerbrechlich von all dem Heilen? Wie kann eine kleine Frau einer Gruppe hervorragend ausgebildeter Agents entkommen?«
»Es gab ein Missverständnis, Sir. Wir hatten die falschen Informationen. Das Zimmer, in dem sie angeblich sein sollte, war leer. Eine der Explosionen hatte den Gebäudeteil zerstört, in den man sie verlegt hatte, und in dem allgemeinen Durcheinander ist sie entkommen.«
»Sie hatten die falschen Informationen. Missverständnis. Durcheinander. Wofür zum Teufel bezahle ich eigentlich? Für einen Haufen nichtsnutziger Amateure?«
»Die Verfolgung wurde bereits aufgenommen. Wir werden Sie nicht enttäuschen, Sir.«
»Richtig. Sie werden nicht noch einmal versagen!«, tobte Farnsworth. »Ich schwöre, wenn meine Tochter stirbt, wird jeder, der Ihnen etwas bedeutet, leiden. Ich werde Ihre gesamte Familie auslöschen, und Sie werden zusehen. Und dann werden Sie langsam und schmerzvoll sterben. Haben Sie mich verstanden?«
»J…ja, Sir.«
Farnsworth beendete das Gespräch, behielt das Handy aber noch eine Zeit lang in der Hand. Am liebsten hätte er es durch das Fenster geschleudert. Nur das Wissen, dass er rasch handeln musste, wenn er seine Tochter retten wollte, gab ihm Kraft für den nächsten Anruf.
Unaufhaltsam arbeitete er sich durch eine Reihe von Nummern und Sicherheitscodes, bis die Verbindung schließlich zustande kam. Er wartete nicht, hielt sich nicht mit Begrüßungsformeln auf. Grace Peterson musste gefunden werden, und zwar sofort.
»Ich brauche Titan«, sagte er barsch. »Mir ist scheißegal, wie viel es kostet. Sie besorgen mir Titan.«
Grace Peterson zog die Decke enger um sich und kauerte sich in der Dunkelheit zusammen. Mit leerem Blick starrte sie hinauf in den Sternenhimmel. Die Bergluft war kalt. Nicht nur kühl, wie beim Einsetzen der Dämmerung, die den sonnigen Nachmittag abgelöst hatte, sondern eiskalt.
Sie stöhnte leise, als sich ihre Muskeln immer mehr verkrampften und nicht nur gegen die Kälte, sondern auch gegen die Schwächung durch so viel Krankheit und Tod protestierten. Der Schmerz hatte längst seine Bedeutung für Grace verloren. Was sie fühlte, ließ sich eigentlich nicht als Schmerz bezeichnen. Es war schlimmer. Sie spürte nur noch Trostlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Und da war das Wissen, dass sie vermutlich an dem Schrecklichen, was man ihr angetan hatte, sterben würde. Vielleicht verdiente sie das sogar, denn sie hatte nicht in allen Fällen helfen können, die man ihr aufgebürdet hatte.
Ihre Flucht war ein Glücksfall gewesen. Eine Explosion hatte die Zelle zerstört, in der man sie gefangen gehalten hatte. Es war ihr gelungen zu entwischen, bevor die Männer, die auf sie aufpassen sollten, reagieren konnten. Vielleicht waren sie aber auch umgekommen. Grace konnte kein Bedauern empfinden. Sie hatten keine Rücksicht auf sie genommen. Sie war wie ein seelenloses Objekt behandelt worden. Wie ein Zauberstab, mit dem man auf Wunden und Krankheiten deutete, die dann wie durch ein Wunder verschwanden.
Dafür hasste Grace sie – für ihre Gleichgültigkeit. Dafür, dass sie andere benutzten. Bauernopfer. Objekte, die ihnen Informationen lieferten. Sie waren nicht einmal Menschen. Nur Nummern.
Ein erneuter Kälteschauder ließ ihre Zähne klappern. Inzwischen konnte sie sich nicht mehr vorstellen, dass ihr jemals wieder warm werden würde. Sie zog die Beine noch mehr an und stopfte die Decke unter ihrem Kinn fest.
Von all dem, was man ihr aufgezwungen hatte, war sie stark geschwächt. Von all denen, die man sie hatte heilen lassen. Selbst jetzt konnte sie noch nicht verstehen, woher sie, als sich ihr die Gelegenheit bot, die Kraft und den Willen genommen hatte zu fliehen.
Aber jetzt war sie am Ende. Sie hatte keine Reserven mehr, und ihre Entschlossenheit ließ nach – genau wie all ihre anderen Kräfte.
Grace versuchte, Ruhe und ein bisschen Trost zu finden. Ein bisschen Frieden.
Sie vermisste ihre Schwester, Shea. Sehnte sich nach ihrer tröstenden Berührung. Danach, wie Sheas Gedanken sich ihr zuwandten. Nach ihrem Lächeln. Sheas Entscheidung, getrennte Wege einzuschlagen, hatte Grace nie richtig verstanden und auch nie wirklich ernst genommen. Erst an dem Tag, an dem man sie gefangen hatte, war ihr klar geworden, dass man sie beide erwischt hätte, wären sie zusammen gewesen.
Shea hatte immer alles Erdenkliche für Graces Sicherheit getan, und jetzt würde Grace alles Erdenkliche tun, um Shea von sich fernzuhalten. Grace wurde gejagt. Vielleicht waren ihre Verfolger bereits hier in den Bergen, vielleicht sogar schon ganz nah.
Also hatte sie sich komplett gegen ihre Schwester abgeschottet, und das tat genauso weh wie all die Krankheiten und Schmerzen, die sie hatte auf sich nehmen müssen. Ohne Shea fühlte sie sich unendlich einsam. Sie hatte die telepathische Verbindung zwischen sich und ihrer Schwester gekappt, und ihre größte Angst war, dies nie wieder rückgängig machen zu können.
In gewisser Weise wäre das vermutlich ein Segen. Wenn sie ihre Fähigkeiten verlieren würde, konnte sie ein normales Leben führen. Aber dann würde sie auch die Fähigkeit verlieren, Menschen zu helfen.
Grace schloss die Augen. Sie war erschöpft von all der Verantwortung, die auf ihr lastete, von der Trauer und dem Bedauern. Es war schrecklich zu erleben, dass sie unter diesem Stress einfach zusammenbrach. Aber die Gebrechen waren ihr wie am Fließband aufgebürdet worden: gebrochene Knochen, grauenhafte, blutende Wunden, Tumore, Krankheiten und vieles, vieles mehr. Die entsetzlichste Erfahrung war für sie gewesen, sich in den Geist einer psychisch kranken Frau begeben und sie heilen zu müssen.
Drei Tage lang hatte Grace durchlebt, was es bedeutete, wenn man wirklich verrückt war. Sie hatte die Krankheit auf sich genommen, während die Frau einfach davongegangen war, erlöst von der Dunkelheit, die in ihrem Kopf herrschte. Zweimal hatte Grace versucht sich umzubringen, nicht weil sie das gewollt hätte, sondern weil die Krankheit es ihr befahl. Schließlich hatte man sie gefesselt, aus Angst, sie würde doch noch einen Weg finden, sich zu töten.
Jetzt lag sie hier und war schrecklich hungrig. Aber bei dem Gedanken an Essen drehte sich ihr der Magen um. Sie hatte mehrfach Wasser aus den Bächen in der Umgebung getrunken, denn ihr war klar, dass sie irgendwie wieder zu Kräften kommen musste. Und obwohl ihr bewusst war, dass sie vermutlich sterben würde, konnte sie nicht einfach aufgeben. Noch nicht.
Lautlos drehte sie sich um und zog die Decke zurecht, in der vergeblichen Hoffnung, etwas mehr Wärme zu finden. Irgendwann würde sie Kontakt mit ihrer Schwester aufnehmen müssen, aber nicht jetzt, denn dann würde Shea sehen, in was für einem erbärmlichen Zustand sich Grace befand. Shea würde kommen. Sie würde sich in große Gefahr begeben. Grace würde es sich nicht verzeihen können, wenn Shea etwas zustieß, nur weil sie einem momentanen Schwächegefühl nachgegeben und die Verbindung zu ihr wieder aufgenommen hatte.
Tränen liefen Grace die Wangen hinunter und spendeten einen Moment lang Wärme, bevor die kühle Luft sie zu Eis verwandelte. Sie wischte sie weg und rollte sich noch enger zusammen, wütend, dass sie sich von ihrer Verzweiflung hatte überwältigen lassen.
Aufgeben lag nicht in ihrer Natur, und sie würde wieder zu Kräften kommen. Sie brauchte nur ein wenig Zeit, um sich von dem Ganzen zu erholen. Vielleicht würde sie nie mehr dieselbe sein, aber aufgeben würde sie nicht. Wenn sie starb, dann auf der Flucht oder im Kampf. Sie weigerte sich, in einem Labor zu sterben, wo man selbst Ratten respektvoller behandelte.
Ein Geräusch in der Ferne ließ sie erstarren. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass ihr leises Atmen laut wie Gebrüll in der Stille der Nacht war. Sie zog sich die Decke über den Mund, um den Lärm zu ersticken, starrte in den Wald und versuchte verzweifelt, irgendetwas zu erkennen.
Jemand näherte sich.
Sie bewegten sich im Schutz der Dunkelheit durch die Gebirgslandschaft. Rio wusste, dass sie Grace dicht auf den Fersen waren. Sie kamen ihr schon seit Tagen immer näher, aber irgendwie war es ihr immer geglückt, ihnen durch die Maschen zu schlüpfen.
Er schob seinen Rucksack zurecht, setzte die Infrarotbrille auf und überprüfte das Gelände vor ihm nach irgendetwas, das Wärme abstrahlte.
Er entdeckte mehrere kleine Wesen. Tiere. Sogar ein größeres, vermutlich ein Elch oder ein Hirsch, war zu erkennen. Aber nichts, was einem Menschen ähnelte.
Er hatte den Befehl gegeben, die Funkgeräte auf keinen Fall zu benutzen. Sie waren nicht die Einzigen, die nach Grace suchten. Aber er war entschlossen, sie zuerst zu finden. Sein Instinkt sagte ihm, dass nur noch wenig Zeit blieb. Sie mussten sie vor dem Morgengrauen finden. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und ihm lief ein Schauder über den Rücken.
Das Problem war nicht, dass er die Konfrontation fürchtete. Im Grunde hätte er die Schweine nur zu gern umgebracht, die Grace und Shea das Leben in den letzten Jahren zur Hölle gemacht hatten. Es war das Wissen, dass Grace in Gefahr war und dass seine Männer und er dieses Katz-und-Maus-Spiel beenden mussten, das ihm jetzt Probleme bereitete.
Terrence, seine rechte Hand, verschmolz kaum einen Meter von ihm entfernt mit der Dunkelheit. Rio schlich weiter den Berg hinauf. Es gab unzählige Winkel und Ecken, in denen sich eine kleine Frau verstecken konnte, und deshalb überprüfte er das Gelände sorgfältig auf jede mögliche Wärmequelle.
Wo bist du, Grace? Ich weiß, dass du irgendwo hier steckst. Ich kann dich spüren.
Und das stimmte. Er spürte so etwas wie ein Prickeln, wie eine sehr intensive Wahrnehmung, genau wie beim Betrachten des Filmmaterials der Überwachungskamera, auf dem er sie zum ersten Mal erblickt hatte. Es war das letzte Mal, dass irgendjemand sie vor ihrem Verschwinden gesehen hatte.
Er hatte auf der Stelle und ohne den geringsten Zweifel gewusst, dass er derjenige sein würde, der sie suchen und zu ihrer Schwester bringen würde. Lebendig und sicher.
Seitdem hatte er ihre Bewegungen mit größter Sorgfalt verfolgt. Auf der Suche nach ihr hatten seine Männer und er jeden Stein umgedreht. Sie waren zu dem Haus zurückgekehrt, in dem sie zuletzt gesehen worden war, und hatten die Suche von dort aus ausgeweitet.
Es hatte Wochen gedauert, aber jetzt folgten sie einer Spur in die Berge von Colorado. Rio war sich sicher, dass sie Grace dicht auf den Fersen waren. Sein Bauchgefühl war eindeutig, und er verließ sich immer auf sein Bauchgefühl. Es hatte ihm öfter das Leben gerettet, als er zählen konnte.
Als er in der Ferne ein Geräusch hörte, blieb er abrupt stehen. Er drehte sich um, suchte das Gelände ab, und dann entdeckte er die infraroten Abbildungen von Männern, die sich unauffällig zwischen den Bäumen bewegten. Seine Männer waren es nicht.
Verdammt.
Unwillkürlich ballte er die Hand zur Faust. Wo zum Teufel steckte Grace? Er hatte keine Zeit, mit den Männern, die hinter ihr her waren, Räuber und Gendarm zu spielen. Er musste Grace finden und so schnell wie möglich von hier wegbringen.
Mit einer schnellen Bewegung nahm er das Gewehr von der Schulter und bewegte sich vorsichtig in Richtung der Wärmepunkte. Im Idealfall würde es ihm gelingen, sich Grace zu schnappen und rasch mit ihr zu verschwinden, ohne überall in den Bergen Leichen zu hinterlassen. Andererseits gab es da einen Teil in ihm, der nichts gegen ein bisschen Blutvergießen gehabt hätte.
Ein Schrei in der Nacht ließ ihn erstarren. Er hob den Kopf und lauschte dem Echo, das in der Ferne verhallte. Es war der Schrei einer Frau gewesen, und er jagte ihm Schauder über den Rücken. In diesem einen kurzen Schrei hatte verdammt viel Angst und Schmerz gelegen.
Grace.
Rio rannte auf die Stelle zu, von der der Schrei gekommen war. Er riss sich die Infrarotbrille herunter, um seine direkte Umgebung besser sehen zu können. Nach hundert Metern tauchte Terrence neben ihm auf, und gemeinsam legten sie, die Waffen schussbereit, den restlichen Weg zurück.
Als sie am Rand eines Abhangs angekommen waren, von dem aus man auf ein kleines Tal hinuntersehen konnte, blieben sie stehen. Der Mond schien herab und spiegelte sich in den glatten Felsen. Als Rio Grace Peterson auf einem schmalen Felsvorsprung entdeckte, von dem aus der Fels über viele Meter steil zu einem Flussbett hinabfiel, krampfte sich ihm der Magen zusammen.
Rio spürte, dass sie wild entschlossen war, sich nicht noch einmal gefangen nehmen zu lassen. Er hatte nicht die geringsten Zweifel, dass sie lieber springen würde. Ihre Angst und die Verzweiflung waren fast mit Händen zu greifen. Jeder einzelne seiner Muskeln spannte sich. Sein Herz fühlte sich an, als würde es jemand gnadenlos zusammenpressen.
Er musste zu ihr gelangen, bevor diese Idioten sie in ihrer Blödheit zum Springen brachten.
Er warf sich zu Boden, hob die Waffe und zielte auf den Mann, der Grace am nächsten war. Der Mann gestikulierte beruhigend mit der einen Hand, aber in der anderen hielt er eine Waffe, und die war genau auf Grace gerichtet. Sein gesamtes Gehabe wirkte bedrohlich.
Rio drückte ab. Der Mann fiel um wie vom Blitz getroffen, und sofort warfen sich seine Kameraden zu Boden und wandten sich in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war.
»Himmel«, murmelte Terrence, als er in Deckung ging. »Ich dachte, wir lassen uns auf keinen Kampf ein?«
»Gib mir Deckung«, erwiderte Rio kurz angebunden. »Ich gehe runter.«
Bevor Terrence protestieren konnte, war Rio schon über den Rand des Abhangs geklettert und hatte sich auf den Weg nach unten gemacht. Über ihm feuerte Terrence eine Kugel nach der anderen ab. Die Schüsse hallten laut durch den Wald.
Ihnen blieb nicht viel Zeit, denn schon bald würde jemand auftauchen, um herauszufinden, was die Schießerei zu bedeuten hatte. Rio drehte sich um und hielt erneut nach Grace Ausschau. Zu seinem Entsetzen musste er mit ansehen, wie der Vorsprung unter ihren Füßen nachgab und sie seitlich hinunterkippte.
Während er sich zu dem Vorsprung vorkämpfte, hallten weitere Schüsse durch die Nacht. Inzwischen versuchte Terrence nicht mehr, die Männer nur auf Distanz zu halten, und sie stürzten einer nach dem anderen zu Boden.
Rio war sich sicher, dass sein Team ihm Deckung geben würden, und so konzentrierte er sich ganz darauf herauszufinden, wie tief Grace gestürzt war.
Er holte eine Taschenlampe aus seinem Rucksack, robbte auf dem Bauch vorwärts, richtete den Strahl der Lampe nach unten und beschrieb damit einen Kreis. Ein Stück unterhalb des Vorsprungs entdeckte er einen verbogenen Turnschuh. Rio richtete den Strahl etwas höher. Grace lag reglos auf einem Vorsprung, die Füße hingen herab, während ihr schmaler Körper dort so gerade eben Platz fand. Immerhin war sie nicht tiefer als sechs Meter gefallen.
Rio beendete die Funkstille und forderte sofortige Hilfe an. Seine Männer mussten ihn an einem Seil herablassen, und dann würde er sich Grace über die Schulter legen und sich wieder hochziehen lassen müssen. Vorausgesetzt, sie lebte noch. Aber etwas anderes wollte er sich einfach nicht vorstellen. Sie war nicht so weit gekommen, um dann so zu sterben. Als er sich auf die Knie hochdrückte, landete Terrence neben ihm und beleuchtete mit seiner Taschenlampe den Hang.
»Diego und Browning halten uns den Rücken frei«, sagte Terrence. »Decker und Alton sind auf dem Weg hierher. Ich lasse dich am Seil runter, damit du Grace holen kannst.«
»Sind alle tot?«
»Alle tot«, bestätigte Terrence.
Rio blieb keine Zeit, den Schaden zu beklagen, den sie angerichtet hatten. Grace hatte Vorrang, und dann mussten sie so schnell wie möglich hier weg, bevor die Hölle los- brach.
Terrence holte ein Seil mit einem Haken heraus und band es sich rasch um die Taille. Er trat ein paar Schritte zurück, grub die Fersen in den Boden, schlang den überstehenden Teil des Seils um den Stamm einer Espe und befestigte den Haken in der Rinde. Das andere Ende warf er Rio zu.
Rio machte die Taschenlampe so an seinem Bein fest, dass sie nach unten zeigte und beim Abstieg den Weg beleuchtete. Dann schlang er sich das Seil um die Taille, verknotete es, zog daran, um den Knoten zu prüfen, und trat rückwärts an den Rand des Abhangs.
Gerade als er mit dem Abstieg beginnen wollte, tauchten Decker und Alton auf. Sie eilten an Diego und Browning vorbei, die Wache standen, und jeder von ihnen packte eine von Rios Händen, um ihm über die Kante zu helfen. Erst als er einen guten Stand hatte und sicher war, dass Terrence sein Gewicht halten würde, ließen sie seine Handgelenke los.
Während er hinabstieg, hüpfte das Licht wie irre hin und her. Er warf einen Blick über die Schulter auf den schmalen Vorsprung, auf dem Grace noch immer lag. Er konnte nur hoffen, dass dieser Vorsprung das Gewicht von zwei Personen aushalten würde.
Als er bei ihr angekommen war, stieß Rio sich von dem Steilhang ab und setzte sich rittlings auf den Vorsprung. Als Erstes tastete er an ihrem Hals nach einem Puls. Das gleichmäßige Klopfen beruhigte ihn.
»Grace, wach auf. Ich bin gekommen, um dich hier rauszuholen, aber ich brauche deine Hilfe.«
Als er keine Antwort erhielt, biss er sich frustriert auf die Lippe. Von oben hatten Decker und Alton ihre Taschenlampen auf Grace und ihn gerichtet. Er stemmte die Füße in den Abhang, dann ließ er vorsichtig das Seil los, um die Arme unter ihren schlaffen Körper zu schieben.
Er zählte im Geist bis drei, dann hob er sie hoch und warf sie sich über die Schulter. So hatte er eine Hand frei, um sich am Seil festzuhalten. Er zog Grace an sich, bis sein Arm wie ein Stahlseil über ihren Oberschenkeln lag.
»Holt uns rauf«, rief er seinen Kameraden zu.
Während das Seil nach oben gezogen wurde, stemmte er immer wieder die Zehen in den Abhang. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung, das doppelte Gewicht tragen zu müssen. Das Seil schnitt ihm in die Finger, und diese wurden allmählich taub.
Lass mich sterben. Bitte.
Im ersten Moment dachte Rio, sie hätte es laut gesagt. Er war so überrascht, dass er erstarrte. Während seine Kameraden ihn höher zogen, schleiften seine Zehen über die Felswand. Es bedurfte großer Anstrengung, mit den Füßen wieder Halt zu finden und so gut wie möglich mitzuhelfen, dass Grace und er den Rest der Strecke schafften.
Auf einmal überfiel ihn solch schreckliche Verzweiflung, dass ihm die Luft wegblieb. Schmerz. Angst. Bedauern. Hoffnungslosigkeit. Und eine unglaubliche Erschöpfung.
Ihm wurde klar, dass er in Graces Innerstes eingedrungen war. Er spürte, was sie spürte, und ihr Kummer war so riesig, dass er ihm den Atem verschlug.
Ihre Träume waren in ihr eingeschlossen, aber jede einzelne Erinnerung an all das, was sie hatte aushalten müssen, flirrte durch seinen Kopf, bis er die Augen schloss, um seine aufgewühlten Sinne zu beruhigen.
Ich gehe nicht zurück.
Ihre Stimme huschte durch seinen Kopf, so gebrochen, dass er vor Wut beinahe aufgeheult hätte. Am liebsten wäre er über die Klippe dieses verdammten Abhangs geklettert und hätte diese Schweine, die sie so gnadenlos verfolgt hatten, noch einmal getötet. Jene Männer, die ihren Geist gebrochen und dafür gesorgt hatten, dass sie selbst jetzt lieber sterben als noch mehr aushalten wollte.
Rio wusste, dass Nathan Kelly mit Shea, Graces Schwester, telepathisch kommunizierte. Aber auf die Idee, dass Grace und er sich vielleicht auf ähnliche Weise verständigen könnten, war er nicht gekommen. Bisher war das auch nicht wichtig gewesen. Es war nur darum gegangen, Grace zu finden und in Sicherheit zu bringen. Alles andere hatte keine Bedeutung gehabt.
Versuchsweise stellte er sich vor, wie er sanft und beruhigend mit ihr sprach.
Sie müssen nie wieder zu diesen Dreckskerlen zurück, Grace. Sie sind jetzt in Sicherheit. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Geben Sie nicht auf. Sie stehen das durch.
Stille. Frustriert biss er sich auf die Unterlippe. Wie zum Teufel kommunizierte man auf geistiger Ebene? Woher sollte er wissen, ob er überhaupt in der Lage war, so mit ihr zu sprechen, wie sie das eben mit ihm getan hatte? War ihr überhaupt bewusst, dass er ihre verzweifelten Gedanken mitbekommen hatte?
Allmählich wurden die Gesichter seiner Kameraden über dem Abhang sichtbar. Die Männer wirkten angespannt, als sie ihn endgültig hochzogen. Während Decker und Browning das Seil festhielten, trat Diego vor und nahm Rio Grace ab.
Von ihrem Gewicht befreit, schwang sich Rio über die Kante des Abhangs und sprang auf die Füße. Terrence stöhnte einmal kurz erleichtert auf, einziges Anzeichen dafür, welche Anstrengung ihn die Rettungsaktion gekostet hatte. Rio löste rasch das Seil, dann befahl er seinen Männern, die Leichen zu beseitigen und sich dann für den Abzug bereitzuhalten.
Sie waren mitten im Niemandsland, ohne Rückendeckung, ohne Hubschrauber, und ihre Fahrzeuge standen mindestens zwei Meilen entfernt.
Rio schritt rasch zu der Stelle, wo Diego Grace auf dem Boden abgelegt hatte, und kniete sich neben sie.
Sanft strich er ihr das Haar aus dem Gesicht. Als er die dunklen Ringe unter ihren Augen, ihre blasse Haut und die tiefen Falten der Erschöpfung sah, runzelte er die Stirn. Selbst im ohnmächtigen Zustand war ihr Gesichtsausdruck grimmig.
Ohne zu wissen, was da von ihm Besitz ergriff, beugte er sich vor und presste die Lippen auf ihre Stirn.
Geben Sie ja nicht auf, Grace. Sie sind jetzt in Sicherheit. Ich werde Ihnen nicht wehtun, und ich werde auch nicht zulassen, dass irgendein anderer das tut. Ich bringe Sie nach Hause.
Die Sonne wärmte ihr das Gesicht, während ihr Körper noch immer fest im Griff einer anhaltenden Kälte war, die bis tief in die Knochen eingedrungen zu sein schien. Das Zittern tat ihr weh, und doch konnte sie es nicht unterdrücken.
Es war, als würden Gewichte auf ihren Augenlidern liegen und verhindern, dass sie sie anhob. Vielleicht fehlte ihr aber auch nur die Kraft, die einfachsten Dinge zu tun.
Schmerz kroch über ihren Körper, durch ihn hindurch, mit einer Intensität, die sie verblüffte. Dieser Schmerz war neu. Frisch. Und dann fiel ihr wieder ein, wie sie zur Seite weggerutscht war, überzeugt, der Tod würde sie nun endgültig ereilen.
Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, bevor sie es zurückhalten konnte, und sie tadelte sich für diesen momentanen Kontrollverlust. Solch ein Ausrutscher konnte ihren Tod bedeuten.
Grace. Grace.
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass der Mensch, der da ihren Namen rief, nicht laut sprach, sondern in ihrem Kopf. Sie zuckte zurück. Mit dieser fremden Stimme wollte sie nichts zu tun haben. Und dann war sie plötzlich von Kraft und Wärme umgeben. Sie floss durch ihre Adern, so tröstlich, dass es sie tief im Innersten berührte.
»Grace.«
Diesmal sprach er laut. Eine tiefe, raue Männerstimme mit einem leichten Akzent. Nur ein minimaler Hinweis auf eine andere Welt, den sie nicht einordnen konnte.
»Wachen Sie auf, Grace. Zeigen Sie mir Ihre wunderschönen blauen Augen.«
Sie zog leicht die Augenbrauen nach oben und versuchte, sich ihre Umgebung vorzustellen. Sie hatte Angst davor, die Augen zu öffnen. Angst, sich in der Hand der Monster wiederzufinden und ihnen erneut zu Willen sein zu müssen. Allein bei dem Gedanken daran hätte sie am liebsten losgeheult. Sie war nicht stark genug, um noch mehr zu ertragen.
Eine Hand strich sanft über ihre Wange und schob ihr behutsam das Haar hinter das Ohr. So viel Wärme und Zärtlichkeit. Sie saugte sie auf, denn sie sehnte sich verzweifelt nach ein wenig Trost.
Es kostete sie ihre letzte verbliebene Kraft, den Mut aufzubringen, die Augen zu öffnen. Sonnenstrahlen bohrten sich hinein und blendeten sie einen Moment lang.
»Recht so«, sagte der Mann leise. »Kommen Sie zu mir zurück, Grace. Sie müssen wach werden, damit ich herausfinden kann, wie schwer Sie verletzt sind.«
Bei der bloßen Erwähnung von Verletzungen fing ihr Körper an, vor Schmerz zu kreischen. Sie riss die Augen weit auf, und ihre Lippen teilten sich. Mühsam schnappte sie nach Luft, während ihre Brust heftig bebte.
Die Furcht hätte sie beinahe gelähmt, als sie in die dunklen Augen des Manns sah, der sie so durchdringend anstarrte. Sie schrie auf und versuchte zu fliehen, sich seinem Griff zu entreißen. Prompt stürzte sie und schlug so heftig auf dem Boden auf, dass ihr die Luft wegblieb und sie erneut von einer Schmerzwelle überrollt wurde.
Der Mann, der über ihr stand, fluchte lauthals, kniete sich aber sofort neben sie und strich mit seinen großen Händen über ihren geschundenen Körper.
»Verdammt, Grace. Ich werde Ihnen nicht wehtun.«
»Ich gehe nicht zurück.«
Nur unter äußerster Kraftanstrengung gelang es ihr, den trotzigen Schwur zu stammeln. Sprechen tat weh. Atmen tat weh. Sie fühlte sich wie zerschmettert. Irgendetwas war gebrochen. Ihre Rippen, ein Arm … Sie konnte nicht einmal herausfinden, was mit ihr nicht stimmte. Es war einfach zu viel auf einmal.
Voller Panik schaute sie zu ihm hoch. Sie wusste, dass sie zu schwach war, um zu entkommen. Ihr traten Tränen in die Augen. Wenn er sie zurückbringen wollte, konnte sie nichts tun, um ihn davon abzuhalten.
Ein Schauder erfasste ihren gesamten Körper, und sie spürte, wie Tränen über ihre Wangen liefen.
»Grace, bitte, hören Sie mir zu.«
Seine Stimme war ruhig und hatte etwas seltsam Tröstliches. Der Ton verzauberte sie genauso wie diese dunklen Augen, die nicht eine Sekunde den Blick von ihr abwandten.
»Mein Name ist Rio. Ich bin gekommen, um Sie nach Hause zu holen. Zu Shea.«
Ihr Herz machte einen Satz, und ihre Kehle zog sich zusammen. »Shea?«, krächzte sie. »Wie geht es ihr?«
Und wenn das nun eine Falle war? Wenn er ihr nur von ihrer Schwester erzählte, um sie fälschlicherweise in Sicherheit zu wiegen?
Unendlich sanft berührte er ihre Wange. Dabei sah er gar nicht so aus, als könne auch nur ein Hauch von Sanftheit in ihm sein. Er war groß und bedrohlich. Ein Kämpfer.
Seine Haut war dunkel, als hätte er viele Stunden in der Sonne verbracht, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren. Das Haar trug er zum Pferdeschwanz gebunden, und seine Augen waren so dunkel wie die Nacht.
»Ich habe selbst mit ihr gesprochen«, sagte er besänftigend. »Ich habe ihr versprochen, dass ich Sie finde und beschütze. Wir sind die Guten, Grace. Ich verstehe, dass es Ihnen schwerfällt, mir zu glauben oder zu vertrauen, aber wir sind hier, um Ihnen zu helfen. Shea ist in Sicherheit und will Sie unbedingt wiedersehen. Wir alle haben uns Sorgen um Sie gemacht.«
Immer mehr Tränen liefen ihre Wangen hinab, und ihrer Kehle entrang sich ein leises Schluchzen. »Ich will nicht, dass sie mich so sieht.«
Er blickte sie verständnisvoll an, dann berührte er erneut ihr Gesicht und wischte ihre Tränen fort.
»Sie müssen mir sagen, wo Sie verletzt sind. Wir müssen Sie bewegen. Wir können hier nicht bleiben, aber ich muss wissen, welches Risiko wir eingehen, wenn wir Sie transportieren.«
Sie schaute sich um und nahm zum ersten Mal ihre Umgebung wahr. Als ihr Blick auf die anderen fiel, stockte ihr der Atem. Kämpfer. Wie der Mann namens Rio. Ernst und Furcht einflößend. Wie sollte sie wissen, ob sie ihnen trauen konnte? Andererseits – welche Wahl blieb ihr?
Sie befanden sich nicht mehr dort, wo sie letzte Nacht gestürzt war. Wie war es diesen Männern gelungen, sie zu finden, und wie hatte sie den Sturz überlebt? Die Bilder in ihrem Kopf waren verschwommen. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, gedacht zu haben, dass sie jetzt vermutlich sterben würde.
Das dachte sie in letzter Zeit oft. Die Gedanken über den Tod waren so selbstverständlich geworden wie früher die Frage, welches Paar Schuhe sie anziehen sollte. Und dennoch war sie noch immer am Leben. Gebrochen, aber nicht zerstört.
Die Männer drehten die Köpfe. Aufmerksam beobachteten sie die Umgebung, die Waffen schussbereit, ihre Haltung angespannt, als würden sie Gefahr wittern.
»Grace«, bat Rio. »Sprechen Sie mit mir. Ich muss wissen, wie schlimm es ist.«
Sie schloss einen Moment die Augen, dann öffnete sie sie wieder und sah ihn an. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe Schmerzen.«
»Das weiß ich«, erwiderte er leise.
»Der Sturz. Ich glaube, ich habe mir was gebrochen.«
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihren Körper und versuchte herauszufinden, wo das Schmerzzentrum lag. Sie bekam nicht richtig Luft, außerdem tat jeder Atemzug weh.
»Die Rippen«, brachte sie mühsam hervor. »Ich glaube, ich habe mir ein paar Rippen gebrochen. Und meinen Arm. Er schmerzt, aber er wird auch immer tauber. Ich kann meine Finger nicht spüren.«
»Ja, das merke ich«, erwiderte Rio, während er vorsichtig ihre Hand hochhob.
Er drehte den Kopf und nickte einem der Männer zu. Sie erstarrte, als sich der stämmige Mann, der am dichtesten bei Rio stand, über sie beugte. Er war groß wie ein Berg, seine Arme strotzten vor Muskeln, und er war so kräftig, dass er kaum einen Hals hatte. Seine Beine waren wie Baumstämme.
»Sie hat kein Gefühl mehr in den Fingern«, sagte Rio, als würde er über so etwas Gewöhnliches wie das Wetter reden. »Wir werden den gebrochenen Arm einrichten müssen.«
Ihr Herz fing an zu rasen, und sie versuchte sich aufzusetzen, doch Rio legte ihr die Hand auf die Schultern. »Liegen Sie still, Grace.«
Sein Befehlston ließ sie zusammenzucken.
»Können Sie sich selbst heilen?«
Seine Neugier verblüffte sie. Er war so ruhig und unaufgeregt. Er sprach über ihre Fähigkeiten, als wären sie das Normalste von der Welt. Nervös sah sie zwischen den beiden Männern hin und her und fragte sich, ob das irgendwie eine Falle war – auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, was für eine.
Die Leute, die sie gefangen gehalten hatten, kannten ihre Fähigkeiten nur zu gut. Sie mussten ihr keine Fragen stellen. War dies nur wieder eine andere Organisation, die sie benutzen wollte?
Ihre Panik wurde immer größer, doch dann legte Rio die Hand an ihre Wange und streichelte sie zärtlich. »Tief atmen, okay? Wir werden Ihnen helfen. Das hier ist Terrence. Er ist mein Stellvertreter. Der hinter ihm ist Diego, unser Sanitäter, wenn Donovan nicht da ist, um uns zusammenzuflicken, aber Terrence wird Ihren Arm wieder einrichten.«
Verwirrt sah sie die beiden an. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Leute waren, aber Rio redete weiter, als würde er ihre Verwirrung nicht bemerken.
»Das wird tierisch wehtun. Ich will Ihnen nichts vormachen. Aber Sie müssen stark sein. Wenn Sie schreien, ziehen Sie die Aufmerksamkeit auf uns, und das ist das Letzte, was wir brauchen. Ich werde eins meiner T-Shirts zusammenknoten, und darauf können Sie herumbeißen, so viel Sie wollen. Aber Sie geben keinen Ton von sich. Schaffen Sie das?«
Wenn er wüsste, wie viel sie stumm erduldet hatte, würde er sie das nicht fragen müssen. Sie nickte. Was immer sie mit ihr vorhatten, würde niemals an das heranreichen, was sie bereits durchgemacht hatte.
Rio nahm ein T-Shirt aus seinem Rucksack und wickelte es zu einem länglichen Seil zusammen. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Können Sie sich selbst heilen, so wie Sie andere heilen können?«
»Ja«, flüsterte sie. »Es funktioniert anders, aber ich heile schneller. Allerdings war dort so viel …« Sie schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. »Ich weiß nicht …«
»Schon gut, Grace«, erwiderte Rio besänftigend. »Ich werde dafür sorgen, dass Sie hier rauskommen.«
Etwas in seiner Stimme ließ sie sich innerlich zurücklehnen. Vielleicht war es das beruhigende Versprechen, vielleicht seine feste Überzeugung. Ein Teil ihrer Angst verschwand, und sie entspannte sich und seufzte erleichtert auf.
»So ist es gut«, murmelte Rio.
Behutsam schob er ihr das T-Shirt zwischen die Zähne, strich mit der Hand ganz leicht über ihr Kinn und schloss ihren Mund.
»Seien Sie stark.«
Sie machte die Augen zu und nickte. Sie wollte nicht sehen, was kam.
Kräftige Hände packten erstaunlich sanft ihren Arm. Dennoch spürte sie sofort, dass es nicht Rio war, der sie anfasste, sondern Terrence.
Und dann drehte er ihren Arm, während er gleichzeitig daran zog. Sie wurde von seiner Kraft völlig überrascht. Unwillkürlich riss sie die Augen auf und biss wie verrückt in das T-Shirt. Ihr Körper bäumte sich auf vor Schmerz. Als sie schließlich wieder dalag, mit bebenden Nasenflügeln und mühsam nach Luft schnappend, überkam sie ein Gefühl großer Erleichterung.
Ihr Arm schmerzte von dem Eingriff, aber der unerträgliche Dauerschmerz war so gut wie verschwunden. Diego trat zu ihnen und schiente rasch ihren Arm mithilfe von zwei kräftigen jungen Zweigen, die einer der anderen Männer geholt hatte. Er umwickelte die Stecken fest mit Tüchern, sodass sie den Arm nicht mehr bewegen konnte.
Rio entfernte das verknotete T-Shirt aus ihrem Mund. »Besser?«
Sie nickte, weil sie nicht sicher war, ob sie schon wieder sprechen konnte.
»Okay, wir machen das jetzt folgendermaßen: Wir müssen weiter, und ich habe nicht genügend Männer, um Sie so zu transportieren, dass Sie völlig ruhig liegen. Außerdem haben wir keine Trage. Also werde ich Sie tragen, während meine Männer einen Kreis um uns bilden und uns Deckung geben. Mit einem gebrochenen Arm und gebrochenen Rippen und Gott weiß was sonst noch wird das nicht ohne Schmerzen für Sie abgehen. Es wird heftig werden.«
Sie versuchte zu lächeln, aber ihre Lippen zitterten, und sie gab den Versuch seufzend auf.
»Ich brauche mindestens eine freie Hand, um die Waffe zu halten und uns beide bei einem Angriff zu verteidigen. Terrence wird Sie auf meinem Rücken festschnallen. Wir haben schon mal die Frau eines Teammitglieds auf die Art aus dem Dschungel transportiert, das wird also funktionieren. Machen Sie sich keine Sorgen. Und wenn Sie auch alles andere bezweifeln, auf eins können Sie sich verlassen: Wir bringen Sie aus diesen Bergen fort.«
Die feste Überzeugung, mit der er das sagte, ließ sie zum ersten Mal seit Wochen ein wenig hoffen.
»Ich lasse nicht zu, dass Sie aufgeben«, fuhr Rio fort. »Ich weiß, Sie haben Schmerzen. Ich kann nur ahnen, was Ihnen diese Schweine angetan haben. Aber Sie werden nicht aufgeben, Grace. Sie sind eine Kämpferin. Genau wie Ihre Schwester.«
Wieder traten ihr Tränen in die Augen, und sie sah Rio nur noch verschwommen. »Ich kann nicht mit ihr reden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch mit jemandem reden kann … so wie früher, meine ich.«
Rio brachte sein Gesicht nahe an ihres. »Das wird zurückkehren. Ich habe Sie letzte Nacht gehört. Es ist noch immer da. Sie müssen nur an Geist und Körper heilen.«
»Wer sind Sie?«, flüsterte sie. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Er lächelte, und seine weißen Zähne hoben sich deutlich von seiner dunklen Haut ab. »Ich bin der Mann, der Sie jetzt schleunigst hier wegbringt. Und dann jage ich diese verdammten Dreckskerle, die Ihnen wehgetan haben, bis ich auch den letzten erwischt habe.« Der drohende Ton in seiner Stimme ließ sie zittern, und doch hatte der wilde Schwur etwas seltsam Tröstliches.
»Wir müssen los, Rio«, sagte Terrence, und Grace schreckte zusammen. Sie hatte ihn komplett vergessen. Hatte all die Männer vergessen, die ganz in der Nähe standen.
Rio nickte, erhob sich und sah auf sie hinunter. Auf einmal kam sie sich sehr klein und bedeutungslos und verletzlich vor, wie sie da auf dem Boden lag, umringt von diesen Kämpfern mit den mordlüsternen Augen.
Diesmal kniete sich Terrence neben sie und sprach – so vermutete sie jedenfalls – betont sanft, um sie nicht noch mehr zu erschrecken. Als wenn es dafür nicht sowieso schon zu spät gewesen wäre …
»Also, Miss Grace. Wir machen das folgendermaßen: Die Jungs basteln eine Schlinge, mit der wir Sie an Rios Rücken festschnallen. Ich werde Sie ganz vorsichtig hochheben und versuchen, Ihnen nicht wehzutun.«
Sie nickte, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte.
Er lächelte sie an, und sie kam zu dem Ergebnis, dass er trotz seines martialischen Äußeren ein sehr gut aussehender Mann war. Außerdem glaubte sie ihm, wenn er versprach, ihr nicht wehzutun.
Er schob die Arme unter ihrem Körper hindurch. »Tief einatmen.«
Sie holte Luft, schloss die Augen, und schon hob er sie hoch. Sie war erstaunt, mit welcher Leichtigkeit er das machte. Sie öffnete die Augen und beobachtete ihn. Offenbar kostete es ihn wirklich keine Anstrengung. Er wirkte einfach nur ruhig und konzentriert.
Diego trat an ihre andere Seite.
»Diego wird die Arme unter Ihr eines Bein legen«, erklärte ihr Terrence. »Ich nehme das andere.«
Sie wusste die Geduld sehr zu schätzen, die er bewies, und auch, dass er ihr jeden Schritt erklärte, damit sie keine Angst haben musste. Sie war an einem Punkt, wo sie nur noch alles hinter sich haben wollte. Je schneller sie diesen Ort verließen, desto besser würde sie sich fühlen. Vielleicht könnte sie dann allmählich anfangen zu heilen.
Sie nickte zustimmend, und sobald sie das tat, trat Diego vor und ließ den Arm unter ihre Beine gleiten. Den anderen Arm schob er unter ihrem Oberkörper durch, und dann hoben Terrence und er sie bis zu Rios Rücken hoch.
Rasch schlangen die beiden anderen Männer die langen Stoffstreifen, die sie zusammengeknotet hatten, um ihren Po und ihre Beine, dann über Rios Schultern und wieder zurück um ihren Po und ihre Beine. Diesen Vorgang wiederholten sie mehrmals, bis Grace sicher an Rios Rücken befestigt war.
Diego schob ihren geschienten Arm unter Rios Achselhöhle und befestigte ihn ebenfalls an Rios Körper.
Grace konnte sich nicht vorstellen, wie Rio sich – so wie sie an ihm festgeschnallt war – bewegen oder gar eine Waffe tragen wollte, aber ihn schien diese Aussicht nicht im Geringsten zu beunruhigen.
»Wie geht es Ihren Rippen?«, fragte Rio.
»Gut.«
»Wenn er gleich losmarschiert, werden sie Ihnen wehtun«, warnte Diego sie.
»Versuchen Sie, sich an ihn zu pressen, um Ihre Bewegungen so gering wie möglich zu halten. Je mehr Sie gegen ihn geworfen werden, desto mehr Schmerzen werden Sie haben.«
Wieder nickte sie. Sie presste sich so nah an Rio, wie sie konnte. Schon jetzt war sie erschöpft, dabei waren sie noch nicht einmal losgegangen. Sie wusste nicht einmal, wie lange der Marsch dauern würde, und sie wollte nicht fragen – wer weiß, ob sie die Antwort ertragen konnte.
Stattdessen würde sie sich voll und ganz in die Hände der Fremden begeben, zumal ihr auch keine andere Wahl blieb. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Männer waren. Sie wusste nur, dass sie ihre Schwester kannten und behaupteten, dass sie helfen wollten.
Sie war bereit gewesen zu sterben. Jetzt schämte sie sich, dass sie so leicht das Handtuch hatte schmeißen wollen. Diese Männer waren aufgetaucht, als sie an ihrem absoluten Tiefpunkt angelangt gewesen war, und hatten sich geweigert sie aufzugeben. Rio hatte versprochen, sie nach Hause zu bringen, allerdings hatte sie nicht die geringste Ahnung, was das bedeuten sollte. Sie war zu lange auf der Flucht gewesen, getrennt von ihrer Familie.
Die Vorstellung, endlich in Sicherheit zu sein und ihre Schwester nach so langer Zeit wiederzusehen, war mehr, als sie verarbeiten konnte.
»Fertig, Grace?«, fragte Rio.
Sie holte tief Luft. Ihr wurde bewusst, dass sie einmal mehr den Aufbruch ins Unbekannte wagte. Nur dass sie diesmal nicht allein war, und dieses Wissen stärkte ihre schwindende Entschlossenheit.
»Fertig.«
Rios Bewunderung für Grace wuchs mit jeder Stunde. Er wusste, dass sie unerträgliche Schmerzen litt, aber sie ertrug sie mit stoischer Ruhe und gab nicht einen Ton von sich, während er sie über das unebene Gelände trug.
Sein Team hatte ein mörderisches Tempo angeschlagen, bei dem die meisten nur noch um Gnade gebettelt hätten, doch ihr entrang sich nicht einmal ein Stöhnen. Aber er konnte sie in seinem Kopf spüren, wenn auch nur schwach. Vermutlich schottete sie sich so gut wie möglich gegen alles ab. Dennoch spürte er die Überreste der geistigen Verbindung, die kurzzeitig zwischen ihnen bestanden hatte, und so wusste er, dass sie litt.
»Schlechte Neuigkeiten«, sagte Terrence grimmig.
Rio sah hoch, um den Bericht des Manns in Empfang zu nehmen, den er vorausgeschickt hatte, um die Gegend rund um den Standort ihrer Fahrzeuge auszukundschaften. Terrences Lippen waren nur noch ein dünner Strich. Sein Blick war auf die Stelle gerichtet, wo Graces Kopf an Rios Schulter ruhte, als hasse er es, dass sie das Folgende hören musste.
Diego schloss zu ihnen auf und stellte sich neben Terrence und Rio. Auch er richtete den Blick auf Grace, aber eher prüfend, als versuche er, ihren Zustand einzuschätzen.
»Jetzt sag schon«, erwiderte Rio ungeduldig.
Er konnte keine Rücksicht darauf nehmen, dass Grace die schlechten Neuigkeiten ebenfalls erfuhr. Verdammt, viel schlimmer konnte es doch eh kaum werden. Sie war bereits durch die Hölle gegangen.
»Wir haben Gesellschaft. Schwer auszuspähen von dort, wo ich geschaut habe. Jedenfalls haben sie unser Versteck entdeckt und wollen uns in den Hinterhalt locken.«
Rio stieß eine Reihe von Flüchen aus, die Grace zusammenzucken ließen. Sofort verstummte er, schließlich wollte er ihr nicht noch mehr Unannehmlichkeiten bereiten.
»Rio?«
Es berührte ihn ganz seltsam, seinen Namen aus ihrem Mund zu hören, und es brach ihm schier das Herz, wie sie versuchte, ihre Panik zu verbergen. Offensichtlich hatte sie keine Ahnung, wie deutlich spürbar diese Angst war – wie etwas Lebendiges. Er konnte sie nicht nur fühlen, er konnte sie auch riechen und fast schon schmecken.
»Was tun wir jetzt?«, flüsterte sie.
Terrence und Diego legten beide die Hand an ihre Schulter, um sie zu beruhigen.
»Keine Sorge, Miss Grace«, erwiderte Terrence verdrießlich. »Wir sind schon mit Schlimmerem fertiggeworden. Wir lassen uns nicht von so ein paar dahergelaufenen Typen mit ihren lächerlichen Waffen überrumpeln.«
Rio spürte, wie Grace den Kopf hob. Bei der Vorstellung, wie viel Kraft sie das kosten musste, zumal sie am ganzen Körper zitterte, krampfte sich sein Magen zusammen. Ihr ging es ganz und gar nicht gut, das wusste er mit absoluter Sicherheit. Sie musste schleunigst in ärztliche Behandlung, sonst würde sie es nicht schaffen.
»Wohin gehen wir?«, fragte sie.
Ihr Kopf ruhte jetzt wieder an seiner Schulter, als fehle ihr die Kraft, sich noch länger aufzurichten. An seinem Nacken fühlte er ihre kurzen, angestrengten Atemzüge.
Und dann spürte er auf einmal ihre völlige Verzweiflung und so etwas wie … Akzeptanz. Sie akzeptierte ihren Tod. Begrüßte ihn sogar. Traurigkeit überflutete ihn, zerrte an ihm. Sie wusste, dass sie starb, aber sie wollte nicht hier in der Kälte, voller Angst ihre letzten Sekunden erleben. Vor allem nicht voller Angst.
Wut kochte in ihm hoch. Am liebsten hätte er auf irgendetwas eingeschlagen, aber er blieb ruhig, weil er Grace nicht noch mehr Schmerzen zufügen wollte.
»Uns bleibt nicht viel Zeit«, sagte er leise. »Wir brauchen sofort einen Alternativplan.« Durchdringend starrte er seine Teammitglieder an. »Sie wird nicht sterben, so lange ich das verhindern kann. Teilt euch auf. Findet eine Stelle, die wir als Unterschlupf nutzen können, damit sie Zeit zum Heilen bekommt. Sobald wir sie dort hingelegt haben, machen wir weiter.«
»Bevor wir wieder ausschwärmen, brauchen wir einen Plan, um dich und Grace von hier wegzubringen«, widersprach Diego. »Das hat oberste Priorität.«
Terrence nickte zustimmend.
Rio warf einen Blick über die Schulter, aber er hatte bereits gespürt, dass Grace erneut das Bewusstsein verloren hatte. Sie bekam nicht mehr mit, was um sie herum geschah, vielleicht wollte sie es auch nicht mehr mitbekommen. Er wusste, dass sie unter Zeitdruck standen. Die Frau wurde von Minute zu Minute schwächer.
»Halten Sie durch, Grace«, sagte er beschwörend. »Wagen Sie es ja nicht aufzugeben.«
Sie rührte sich nicht. Rios Männer bildeten einen dichten Ring um die beiden, und dann marschierten sie erneut los, wieder bergan, weg von den SUVs.
Terrence schloss zu Rio auf und sagte leise: »Ich kann Funkkontakt mit Sam aufnehmen. Ihm die Situation schildern. Um Verstärkung bitten. Er könnte einen Hubschrauber schicken. Das würde vermutlich fast einen Tag dauern, aber dann wären wir hier weg.«
Rio wusste, dass es das Beste, das einzig Richtige war, seinen Chef zu verständigen. Klar, er arbeitete für KGI. Seine Männer arbeiteten streng genommen ebenfalls für KGI. Aber Rio war auch sein eigener Chef, und seine Männer waren ihm treu ergeben. Sie gingen, wohin er ging. Befolgten seine Befehle.
Er traute der Situation auf dem KGI-Gelände nicht recht. Resnick hatte seine Finger im Spiel. Ihr CIA-Kontakt hatte Mitschuld an dem Schlamassel, in dem Grace und ihre Schwester Shea steckten, nur in welchem Ausmaß, das konnte Rio nicht einschätzen.
Aber er hatte ein ungutes Gefühl, ein außerordentlich ungutes sogar, und deshalb hatte er Sam noch keine Rückmeldung gegeben. Weder hatte er ihm von ihren Fortschritten berichtet noch davon, dass Graces Rettung kurz bevorstand. Einer seiner Gründe war gewesen, dass er Shea Peterson keine falschen Hoffnungen machen wollte. Sie war verzweifelt, weil sie nicht wusste, wo Grace steckte. Rio hatte ihr ein Versprechen gegeben. Er hatte Shea versprochen, ihre Schwester in Sicherheit zu bringen.
Er seufzte. Wenn er KGI anrief, würden die Kellys mit Sicherheit kommen. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass es für Grace nicht das Beste war. Jedes Mal, wenn er zustimmen und Terrence das Okay für den Anruf bei Sam geben wollte, zog sich sein Magen zusammen, und sein Instinkt schrie, er solle das ja lassen.
»Ich rufe ihn an«, sagte Rio schließlich. Er musste selbst mit Sam reden. Er musste wissen, was vor sich ging und wieso es ihm so sehr widerstrebte, Grace jemand anderem zu übergeben.
Im Moment wollte er lediglich einen Ort finden, wo Grace es etwas bequemer haben würde und der Heilungsprozess einsetzen konnte. Sie durfte nicht aufgeben. Falls nötig, würde er sie ununterbrochen anstacheln. Nur über seine Leiche würde er sie ausgerechnet jetzt verlieren, wo er sie endlich den Leuten entrissen hatte, die ihrem Körper und ihrer Seele so viel Schaden zugefügt hatten.
Während der nächsten Stunde stiegen sie weiter nach oben. Die Sonne begann allmählich zu sinken, und je höher sie kamen, desto kälter wurde es.
»Dort!«, rief Diego und hob die Hand, um die anderen zu stoppen. Er deutete auf eine Ansammlung von großen Felsblöcken, die aus dem Boden herausragten. Mit ihrer Lage am Rand eines steilen Abhangs bildeten sie ein natürliches Versteck. Die Steilwand bedeutete Schutz von hinten, da sie unüberwindbar war. Es gab nur einen einzigen Zugang, von dem aus man alles, was sich näherte, schon auf hundert Meter Entfernung sah.
»Helft mir, sie abzuschnallen«, sagte Rio in einem Ton, der alle zur Eile antrieb.
Browning und Alton hasteten herbei, um die Bänder abzuwickeln, mit denen Grace an seinen Rücken gebunden war. Decker und Terrence hoben sie hoch und trugen sie fort. Rio dehnte seine schmerzenden Schultern und folgte ihnen dann rasch in das Versteck.
Decker warf ihm ein Päckchen mit medizinischem Versorgungsmaterial und zwei Feldflaschen mit Wasser zu. Terrence holte das Satellitentelefon aus seinem Rucksack und legte es auf den Boden neben den Schlafsack, den Browning dorthin abgeladen hatte.
Rio rollte den Schlafsack rasch aus, und Decker und Terrence betteten Grace behutsam darauf.
»Wir sehen uns um, bis wir einen Platz gefunden haben, wo wir notfalls auch längere Zeit bleiben können«, sagte Terrence. »Bis bald.«
Rio nickte. Seine Männer verschwanden zwischen den Bäumen und ließen Grace und ihn allein zurück.
Als Erstes kümmerte er sich um ihren Schutz. Dann würde er dafür sorgen, dass sie es so bequem wie möglich hatte.
Er nahm sein Gewehr und suchte durch das Zielfernrohr die Umgebung ab. Dabei ließ er sich Zeit, merkte sich genau, wo auffällige Stellen waren, und prägte sich die Landschaft ein.
Nachdem er die Position gefunden hatte, von der aus er den Abhang am besten im Auge behalten konnte, brachte er sein Gewehr in Stellung, damit er es jederzeit rasch zur Hand hatte. Dann holte er mehrere Granaten heraus und reihte sie fein säuberlich neben einem der Felsblöcke auf.
Seine beiden Messer legte er neben die Granaten. Als Letztes nahm er seine Pistole und legte sie auf die andere Seite. Zufrieden, dass alles in unmittelbarer Reichweite war, richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf Grace.
Sie zitterte am ganzen Körper und hatte überall Gänsehaut. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst, selbst in ihrem bewusstlosen Zustand. Er fragte sich, ob sie träumte, ob sie die Folterung durch ihre Entführer erneut durchlebte.
Ihre Muskeln spannten sich an, und sie stöhnte leise auf. Spasmische Zuckungen liefen durch ihre Finger, und sie versuchte, sich auf die Seite zu drehen und die Beine bis zur Brust hinaufzuziehen.
Da er wusste, dass sie sich dabei nur noch mehr wehtun würde, bog er ihre Beine wieder gerade und streifte den Schlafsack über ihren Körper. Er zog den Reißverschluss zu, damit ihr warm und ihre Bewegungsfähigkeit eingeschränkt war.
Sanft streichelte er ihre Wange, in der Hoffnung, ihr so ein wenig Trost spenden zu können. Es schien zu wirken, denn sie beruhigte sich mehr und mehr. Er ließ seine Hand eine Zeit lang auf ihrer glatten Haut liegen, dann zog er sie widerwillig zurück.
Als er den Blick auf das Satellitentelefon richtete, entfuhr ihm ein Seufzer. Es wurde Zeit, sich bei Sam zu melden.
Als am anderen Ende der Leitung niemand antwortete, wählte Rio methodisch die Liste seiner Kontakte entsprechend ihrer Stellung in der Firma durch. Es war nicht ungewöhnlich, dass man einen oder auch mehrere der Kellys nicht erreichte – aber niemanden?
Er verzog das Gesicht und gab Steeles Nummer ein. Steele war der Chef des anderen KGI-Teams, und obwohl sie alle wirklich gut zusammenarbeiteten, hätte Rio lieber Nägel gefressen, als sich auf Steele zu verlassen. Egal um was es ging. Der andere Teamchef war ein eiskalter Typ, mehr Maschine als Mensch, und er hatte einen unfehlbaren Instinkt für Schwierigkeiten, weshalb man auch nie die Oberhand über ihn gewann.
Nun, Rio wartete auf den Tag, wo sich das ändern würde. Niemand konnte endlos auf der Sonnenseite stehen. Früher oder später würde Steele auf die Schnauze fallen, und dann würde Rio versuchen, nicht allzu laut zu lachen.
Als er auch Steele nicht erreichte, bekamen seine schlimmsten Befürchtungen neue Nahrung. Rio hatte das Grundstück von KGI verlassen, kurz nachdem Shea gerettet und dorthin in Sicherheit gebracht worden war. Aber er hatte keine Einzelheiten mitbekommen, sondern sich nur gerade so weit informiert, wie es für die Suche nach Grace nötig gewesen war.
Irgendetwas stimmte nicht, und das bedeutete, dass Rio und seine Männer auf sich gestellt waren. Es war allein seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Grace die Pflege bekam, die sie brauchte. Das war kein Problem für ihn. Er verließ sich sowieso lieber auf sein Team und sich selbst. KGI stand immer zu seiner Unterstützung bereit, aber umgekehrt war er auch schon so manches Mal zu ihrer Rettung geeilt. Wenn es um etwas ging, das ihm am Herzen lag, war er lieber allein zuständig.
Er hinterließ dem technischen Guru, Donovan, eine Nachricht, hielt sie aber bewusst vage. In seinem Kopf begann sich bereits eine Idee zu formen.
Man hatte ihn als stur bezeichnet. Sogar als rebellisch. Er hatte sich immer wieder über alle Regeln hinweggesetzt. Niemand hatte ihn je bändigen können, er taugte nicht zum Untergebenen, und näher als bei KGI war er dieser Rolle nie gekommen.
Aber Sam vertraute Rio und ließ ihn meistens selbständig handeln. Er machte seinem Teamleiter keinen Druck. Wenn er das getan hätte, wäre Rio noch immer als Einzelkämpfer unterwegs. Aber vorläufig fühlte er sich im Team von KGI recht wohl, und der Job gefiel ihm.
Nachdem er so lange in einer Grauzone gelebt hatte, war es zur Abwechslung ganz nett, für die Guten zu kämpfen. Er hatte ein Dasein jenseits der Grenzen gefristet. Er war genau der Typ Mensch gewesen, den er jetzt verachtete. Er hatte zu denen gehört, die junge Frauen wie Shea und Grace Peterson entführten. Sie benutzten. Sie verschwinden ließen. Alles im Namen ach so hehrer Ziele. Als ob es so etwas gäbe. In dieser Welt ging es nie um gut oder schlecht. Es ging immer nur um Macht und Geld.
Grace würde für diejenigen, denen es gelang, sie zu entführen und ihren Willen zu brechen, eine Menge Machtzuwachs bedeuten. Aber wenn Rio es irgendwie verhindern konnte, würde nie wieder jemand Hand an Grace legen.
Sein Entschluss, diese widerstandsfähige Frau zu beschützen, hatte nichts mit Buße oder Schuld zu tun. Er war pragmatisch genug zu akzeptieren, was in seinem Leben unvermeidbar gewesen war. Es gab nicht viel, was er bereute, aber das hieß nicht, dass er ein Geist bleiben wollte. Ein Niemand. Unwirklich. Inexistent. Ohne ein Ziel, außer dem nächsten Ehrgeizling zuzuarbeiten.
Jetzt war er sein eigener Chef, sein eigener Herr. Er musste nur sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen. Solange er jeden Morgen nach dem Aufwachen seinen Anblick im Spiegel ertragen konnte, war er zufrieden. So zufrieden, wie jemand sein konnte, der sich so lange im Schatten verborgen hatte, dass er kaum mehr ins Sonnenlicht hinauszutreten wagte.
Er warf einen Blick auf Graces reglosen Körper und konnte das Bedürfnis nicht unterdrücken, ihren Hals zu streicheln. Zart spürte er unter seinen Fingern ihren Puls, und ein Teil der Anspannung in seinen Schultern löste sich.
Seine Besessenheit in Bezug auf Grace war schwer zu erklären. Er verstand sie selbst nicht recht. Als er Shea Peterson das erste Mal zu Gesicht bekommen hatte, hatte sich irgendetwas in ihm gerührt. Er hatte die Qual in ihren Augen gesehen. Hatte gewusst, dass sie mehr durchgemacht hatte als die meisten Krieger in ihrem ganzen Leben.