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Rachel Kelly hat Schreckliches erlebt. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Ethan wird sie in Kürze ein neues Zuhause beziehen, abgeschottet und sicher hinter den Mauern des KGI-Anwesens. Sie hofft, dass sie die Dämonen ihrer Vergangenheit dort ein für alle Mal hinter sich lassen und endlich auf eine glückliche Zukunft mit Ethan blicken kann. Doch sie muss schnell feststellen, dass das alles andere als leicht ist ... (130 Seiten)
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Seitenzahl: 156
Titel
Zu diesem Buch
Vorwort von Maya Banks
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Die Autorin
Maya Banks bei LYX
Impressum
MAYA BANKS
Nach der Dunkelheit
Ins Deutsche übertragen von Katrin Mrugalla und Richard Betzenbichler
Zu diesem Buch
Rachel Kelly hat Schreckliches erlebt. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Ethan wird sie in Kürze ein neues Zuhause beziehen, abgeschottet und sicher hinter den Mauern des KGI-Anwesens. Sie hofft, dass sie die Dämonen ihrer Vergangenheit dort ein für alle Mal hinter sich lassen und endlich auf eine glückliche Zukunft mit Ethan blicken kann. Doch sie muss schnell feststellen, dass das alles andere als leicht ist …
Vorwort von Maya Banks
Nach der Dunkelheit spielt während der Handlung von Riskante Vergeltung. Diese Erzählung zu lesen beeinträchtigt in keiner Weise die Lektüre von Riskante Vergeltung, auch wenn es gelegentlich Hinweise auf Ereignisse gibt, die sich in diesem Roman zutragen.
Mit herzlichen Grüßen an alle Leserinnen und Leser, die Dunkle Stunde gelesen und gemocht haben. Und an all jene, die mehr über Ethan und Rachel erfahren wollten und darüber, wie es ihnen weiter ergangen ist. Diese Erzählung ist für euch.
Rachel Kelly starrte ihr Spiegelbild an und stieß einen tiefen Seufzer aus. Schließlich löste sie den lockeren Knoten, zu dem sie ihr Haar gebunden hatte, bürstete die langen Strähnen aus und ließ sie über die Schultern nach hinten gleiten.
Sie machte sich zu viele Gedanken, und wenn sie sich nicht zusammenriss, würde Ethan sie niemals aus dem Haus lassen. Er machte sich auch so schon genug Sorgen, weil sie wieder in ihren Job zurückkehren wollte. Wenn es nach ihm ginge, würde sie zu Hause bleiben, unter seinem Schutz und dem seiner Familie.
Rachel verstand seine Sorge, und sie liebte ihn dafür. Aber es wurde Zeit für sie, ihr Leben wieder aufzunehmen – ein Leben, von dem sie bereits einmal gedacht hatte, es sei vorbei. Ein Jahr lang hatte sie offiziell als tot gegolten, war dann aber von ihrem Mann und KGI, der Spezialeinheit seiner Brüder, gerettet worden. Und jetzt war sie so weit, sich wieder voll ins Leben zu stürzen.
Die letzten beiden Jahre war sie quasi nur auf Zehenspitzen durch die Welt geschlichen, als hätte sie ihr Mut komplett verlassen. Sie hatte sich in den Schoß der Familie geflüchtet – die ständig größer wurde, weil weitere Brüder und Teammitglieder heirateten – und hatte sich mit diesem zurückgezogenen Leben begnügt.
Aber das war jetzt vorbei.
Ein neues Haus. Ein neuer Anfang. Sie war jung, das ganze Leben lag noch vor ihr, ein Leben, das sie damals als selbstverständlich erachtet hatte. Das würde sie nie mehr tun. Jeder Tag war kostbar, und sie war dankbar für jede Minute, die sie mit ihrem Mann und seiner Familie verbringen durfte.
Sie strich sich mit der Hand über ihren flachen Bauch, der sich vor Nervosität ein wenig zusammenzog. Es war die Aufregung über ihre Zukunftsträume. Über die Möglichkeiten, die sie vielleicht bald realisieren konnte. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben und sich zu sagen, dass es wohl kaum so schnell passieren würde.
Vor ein paar Monaten hatten Ethan und sie – nachdem sie lange und ausführlich darüber gesprochen hatten – beschlossen, keine Verhütungsmittel mehr zu benutzen. Bisher hatten sie das nicht einmal der Familie anvertraut. Ethan war zunächst nicht so begeistert gewesen, und es hatte eine Weile gedauert, bis sie ihn hatte überzeugen können. Nicht, weil er kein Kind wollte, sondern weil er sich Sorgen um sie machte.
Sie hatte bereits einmal – vor ewigen Zeiten, so kam es ihr vor – eine Fehlgeburt gehabt. Damals war Ethan gerade mit seinem SEAL-Team auf einer Mission gewesen. Dieses Ereignis war der Auslöser für so manches gewesen, was danach geschehen war. Ethan hatte seinen Dienst beim Militär quittiert, denn er hatte sich schuldig gefühlt, weil er nicht da gewesen war, als Rachel ihn brauchte.
Diese Entscheidung hatte ihn unglaublich unglücklich gemacht, und daran wäre ihre Beziehung beinahe zerbrochen. Sie hatte gewusst, dass es nicht gut lief, aber wie schlimm die Situation wirklich war, hatte sie erst begriffen, kurz bevor sie zusammen mit anderen Lehrern zu einer Hilfsmission nach Südamerika aufgebrochen war. Ethan hatte ihr die Scheidungspapiere überreicht, ihr in die Augen gesehen und gesagt, er sei bereit, die Ehe zu beenden.
Rachel schloss die Augen, denn selbst jetzt, so viele Jahre später, riss ihr die Erinnerung daran noch immer den Boden unter den Füßen weg.
Und dann war sie nach Lateinamerika geflogen und erst ein Jahr später in die USA zurückgekehrt, nachdem Ethan und seine Brüder sie befreit hatten.
Es war eine neue Chance gewesen, ein neuer Start, eine letzte Gelegenheit für sie beide, sich wieder zusammenzuraufen. Und es war ihnen gelungen.
Nach allem, was sie durchgemacht hatte, gab es keine Garantie, dass sie schwanger werden würde – das war ihr durchaus klar. Und wenn es ihr gelang, war nicht auszuschließen, dass sie erneut eine Fehlgeburt haben würde. Vielleicht dauerte es Monate oder sogar Jahre, bis sie schwanger wurde, deshalb hatte sie auch jetzt schon aufhören wollen zu verhüten.
Aber es gab einen Funken Hoffnung, und der brannte hell in ihr. Sie brauchte nur ihre Nichte Charlotte anzuschauen, und schon war Rachel voller Sehnsucht nach einem eigenen Kind.
Ethan tauchte im Türrahmen auf und starrte sie durchdringend aus seinen leuchtend blauen Augen an.
»Willst du das wirklich, Schatz?«
Sie lächelte. Seine Sorge und die Liebe, die sich in seinem Blick widerspiegelte, ließen es ihr ganz warm ums Herz werden.
»Ich mache doch erst mal nur Vertretung. Das ist ein prima Testlauf. Wenn ich gut damit klarkomme, bewerbe ich mich nächstes Jahr vielleicht für eine Ganztagsstelle, falls eine frei wird.«
Wortlos trat Ethan auf sie zu und nahm sie in die Arme. Er war noch völlig verschwitzt vom Laufen. Jeden Morgen absolvierte er für sich allein ein Fitnessprogramm, aber er trainierte auch gemeinsam mit seinen Brüdern im KGI-eigenen Fitnessraum. Dieser lag auf dem Grundstück, auf das Ethan und sie in wenigen Tagen ziehen würden.
Rachel atmete seinen Geruch ein, die Mischung aus frischem Schweiß und leichtem Seifenduft, der noch von der frühmorgendlichen Dusche an Ethan haftete. Umarmungen waren etwas, das für Rachel ebenfalls nicht mehr selbstverständlich war. Während der Gefangenschaft war ihr Verlangen nach so etwas Einfachem wie einer zärtlichen Berührung fast so schrecklich gewesen wie die Folter, die sie erlitten hatte.
Ethan küsste sie auf den Scheitel und drückte sie noch einmal an sich.
»Ruf mich an, falls es irgendwelche Probleme geben sollte.«
Sie lächelte. »Mache ich. Ich verspreche es dir.«
»Dein Handy ist aufgeladen?«
Ihr Lächeln wurde breiter. Immer wieder vergaß sie, das verdammte Ding an die Steckdose anzuschließen. Prompt war der Akku leer und sie nicht zu erreichen. Was Ethan jedes Mal unendlich frustrierte. Noch immer kämpften sie beide, jeder auf seine Art, gegen ihre Dämonen. Seine Angst war, sie erneut zu verlieren, und deshalb wusste er gerne, wo sie sich aufhielt. Er rief sie häufig an und machte sich sofort Sorgen, wenn er sie nicht erreichte.
Manche Frauen hätte das vermutlich genervt, aber Rachel verstand sein Bedürfnis, sich ihrer immer wieder zu versichern. Er wollte sie nicht kontrollieren. Er hatte wahnsinnige Angst. Das war ein großer Unterschied.
»Der Akku ist aufgeladen, aber ruf mich nicht während des Unterrichts an«, ermahnte sie ihn leise. »Meinen Stundenplan habe ich auf den Kühlschrank gelegt, damit du weißt, wann ich Unterricht gebe. Wenn ich Zeit habe, schicke ich dir eine SMS.«
Ethan seufzte und ließ sie widerwillig los. »Ich weiß, dass ich ein autoritärer Idiot bin. Ich kann es einfach nicht lassen. Wenn es nach mir ginge, würdest du nie wieder arbeiten gehen. Aber ich will, dass du glücklich bist, und wenn die Arbeit dich glücklich macht, dann nur zu. Ich komme schon klar. Ich verspreche es.«
»Ich liebe dich«, sagte Rachel und schmiegte sich wieder in seine Arme. »Vergiss das nicht, okay?«
Er senkte den Mund auf ihren und küsste sie mit viel Leidenschaft und Zunge. »Ich liebe dich auch«, erwiderte er mit seiner tiefen, brummenden Stimme, die ihr immer einen Schauder durch den Körper jagte. »Pass auf dich auf, und schick mir eine SMS, wenn du dort bist, damit ich weiß, dass du heil angekommen bist.«
Sie verdrehte die Augen, löste sich aus seiner Umarmung und betrachtete sich noch ein letztes Mal im Spiegel. »Mir passiert schon nichts. Und vergiss nicht, dass deine Mom und Rusty heute Abend vorbeikommen, um uns beim Kistenpacken zu helfen. Rusty ist dieses Wochenende zu Hause, und sie hat uns ihre Unterstützung angeboten.«
»Ich komme schon nicht zu spät«, versprach Ethan. »Heute steht nur leichtes Training auf dem Programm. Wir arbeiten mit den Neuen, die wir für Joes und Nathans Team rekrutiert haben.«
Rachels Mundwinkel sanken herab. »Habt ihr schon was von P. J. gehört?«
Ethan schüttelte den Kopf. »Nicht ein Wort, seit sie abgehauen ist. Es bringt Cole schier um. Steele kommt auch nicht gut damit klar. Ohne sie ist das Team nicht dasselbe, und Steele weigert sich, sie zu ersetzen.«
»Gut«, erwiderte Rachel voller Überzeugung. »Sie braucht nur Zeit. Sie wird zurückkommen. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Ich hoffe, du behältst recht«, sagte er ernst. »Ich habe zwar gesagt, das Team ist nicht dasselbe ohne sie, aber eigentlich ist ganz KGI nicht dasselbe ohne sie.«
Rachel seufzte und schob sich an Ethan vorbei ins Schlafzimmer, um ihre Schuhe zu holen. P. J. Rutherford war das einzige weibliche Teammitglied. Nein, das stimmte so nicht mehr. Skylar Watkins war unter den neu rekrutierten Mitarbeitern, aber Rachel kannte sie kaum. Sie war ihr erst einmal begegnet.
Bei einem Auftrag war für P. J. alles entsetzlich schiefgelaufen, und die emotionalen Nachwehen hatten sie dazu getrieben wegzugehen. Rachel konnte sehr gut nachempfinden, wie es P. J. ging. Sie wusste, wie es war, wenn man sich fühlte, als hätte man einen großen Teil von sich verloren. Wenn man nicht mehr aus noch ein wusste.
»Okay, drück mir die Daumen«, sagte sie, nachdem sie in ihre Schuhe geschlüpft war und sich ihre Aktentasche geschnappt hatte.
»Du wirst das super machen«, erwiderte Ethan, und ihm war anzuhören, wie stolz er auf sie war. »Du warst schon immer eine gute Lehrerin. Mom war immer so stolz auf dich. Sie war ganz aus dem Häuschen, als du in ihre Fußstapfen getreten bist. Du hast dir doch nur eine kurze Auszeit genommen. Das wird alles sofort wieder da sein. Die Kinder werden dich lieben, genau wie damals.«
Sie ließ sich noch ein letztes Mal von ihm umarmen. »Danke. Das habe ich heute Morgen gebraucht.«
Er drückte sie fest an sich und ließ sie dann widerstrebend los.
»Ich gehe noch mal unter die Dusche und anschließend rüber aufs Gelände. Wir hören bald voneinander.«
Rachel sah Ethan nach, wie er im Badezimmer verschwand, straffte die Schultern und ging durch die Küche in die Garage, wo ihr Auto stand.
Sie war halbtot vor Angst. Ihre Handflächen waren so feucht, dass sie kaum das Lenkrad halten konnte. Es ärgerte sie, dass eine Kleinigkeit wie eine Gruppe von Kindern vertretungsweise zu unterrichten ihr so viel Angst einjagte – und das nach allem, was sie durchgemacht hatte.
Ihr Therapeut würde sagen, eins nach dem anderen. Dieses Mantra hatte sie sich während des letzten Jahres so manches Mal vorgebetet. Und es war ja auch richtig. Alles zu seiner Zeit. Sie musste einfach geduldig sein und sich nicht so unter Druck setzen.
Dass Ethan und sie umziehen würden, war eine gute Entscheidung. Ein Schritt in die richtige Richtung. Ethan hatte zuerst nicht verstanden, warum sie das neue Haus ganz anders haben wollte als das alte. Er hatte gedacht, sie würden auf dem KGI-Gelände ein Haus bauen, das haargenau ihrem alten glich. Jenem Haus, das sie damals gemeinsam geplant und eingerichtet hatten.
Als Rachel rückwärts aus der Garage fuhr und das Gebäude betrachtete, das einmal ihr Traumhaus gewesen war, holte sie tief Luft. Inzwischen war es so, dass sie gar nicht schnell genug aus dem Haus ausziehen konnte, das sie an einige der unglücklichsten Momente in ihrem Leben erinnerte.
Damals hatte ihr Mann in dem Wohnzimmer gestanden, das Rachel so sorgfältig eingerichtet hatte, und ihr die Scheidungsunterlagen überreicht.
Sie würde nie wieder in der Lage sein, sich hier wirklich wohlzufühlen und alles einfach zu vergessen.
Jetzt hatte sie einen neuen Traum. Sie wollte nicht länger über verflossene Ereignisse nachdenken. Sie wollte ein neues Leben anfangen. In einem neuen Haus. Sie wollte eine Chance, die Dinge in Ordnung zu bringen und die Vergangenheit dort zu lassen, wo sie hingehörte.
Als Rachel kurz nach sechzehn Uhr in die Auffahrt bog, stellte sie überrascht fest, dass Ethans Pick-up bereits dort stand. Rasch stieg sie aus, denn sie freute sich, ihren Mann zu sehen und ihm von ihrem Tag zu erzählen.
Sie nahm die Aktentasche vom Beifahrersitz und ging den Fußweg hinauf. Als sie die Hälfte des Weges hinter sich hatte, wurde die Tür aufgerissen und Ethan trat heraus. Eine Hand hielt er hinter dem Rücken, und als Rachel die Stufen hochkam, überraschte er sie mit einem wunderschönen Blumenstrauß.
Es waren ihre Lieblingsblumen: Rosen in einem zauberhaften Pfirsichfarbton. Nicht ganz orange und nicht ganz rosa. Lange Zeit hatte Ethan sie ihr nicht mehr kaufen können, weil er solche Rosen in dem Jahr, in dem er sie für tot gehalten hatte, regelmäßig auf ihr Grab gelegt hatte.
»Um deinen ersten Tag zu feiern«, sagte er.
»Sind die schön, Ethan!«
Sie nahm sie und vergrub die Nase in den duftenden Blüten.
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Ethan, während er mit ihr ins Haus trat.
Rachel holte eine Vase, füllte sie mit Wasser und stellte die Blumen hinein. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ethan und strahlte ihn begeistert an.
»Es lief großartig!«
Er lächelte nachsichtig über ihren Enthusiasmus und nahm sie dann in die Arme.
»Du hast mir gefehlt.«
Sie lachte. »Nein, habe ich nicht. Du warst drüben auf dem Gelände. Du hättest mich nicht gesehen, egal ob ich zur Arbeit gegangen wäre oder nicht.«
Er gab ihr einen Kuss auf die Nase und zog Rachel fest an sich. Meine Güte, wie sehr sie es liebte, dieses Gefühl von Geborgenheit, wenn er sie in die Arme nahm. Noch immer gab es Nächte, in denen sie schweißgebadet aufwachte. Und immer war Ethan dann da, direkt neben ihr, um sie festzuhalten und zu trösten. Er wusste auch immer, wann es wieder so weit war. Dann nahm er sie in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr, dass er da war, dass sie in Sicherheit war und dass ihr nie wieder jemand etwas antun würde. Außerdem versicherte er ihr immer und immer wieder, wie sehr er sie liebte und wie leid es ihm tat, dass sie jemals daran gezweifelt hatte.
»Wenn ich weiß, dass du hier bei uns zu Hause bist, habe ich immer das Gefühl, ich wäre bei dir.«
Als sie ins Wohnzimmer traten, noch immer eng umschlungen, fiel Rachels Blick auf ein paar Umzugskartons, die in einer Ecke gestapelt waren.
»Du bist ja wirklich früh nach Hause gekommen«, sagte sie. »Wie ich sehe, hast du schon angefangen zu packen.«
Ethan lächelte. »Ja, ich wollte nicht, dass du so viel tun musst. Nachher kommen die Jungs zum Möbelschleppen, und Ma und Rusty sind schon auf dem Weg, um uns beim Einpacken der kleineren Sachen zu helfen.«
Wenn Rachel an ihre Familie dachte, spürte sie immer eine Wärme, die ihr regelmäßig half, die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. Sie wurde geliebt, und sie fühlte sich wieder ganz. Die Leere, die ihr so lange zu schaffen gemacht hatte, war endlich gefüllt worden.
»Dann sollte ich wohl allmählich loslegen«, sagte Rachel und ließ den Blick durch das Wohnzimmer schweifen.
»Oh nein«, widersprach Ethan energisch. »Erst mal setzt du dich hin und legst die Füße hoch, während ich eine Flasche Wein aufmache, damit wir deinen ersten Arbeitstag feiern können.«
Sie seufzte. »Du verwöhnst mich maßlos.«
Ethan grinste. »So bin ich eben. Völlig ohne Maß. Mach es dir gemütlich, ich hole den Wein.«
Er griff nach ihrer Aktentasche und nahm sie mit in die Küche, während Rachel sich auf das Ledersofa setzte und wie befohlen die Füße hochlegte.
Langsam sah sie sich im Wohnzimmer um und nahm alle Einzelheiten in sich auf. Einzelheiten, die sich seit ihrem Einzug nicht verändert hatten. Das Klavier stand noch immer am selben Platz. Die gerahmten Fotos – von ihrer Hochzeit und von anderen Familienfesten – waren noch immer an Ort und Stelle.
In dem Jahr, in dem Ethan gedacht hatte, Rachel wäre gestorben, hatte er nicht die kleinste Kleinigkeit verändert. Auch nach ihrer Rückkehr war alles so geblieben, wie es war.
Inzwischen sehnte Rachel sich nach Veränderung. Sie wollte etwas Neues beginnen und das Alte hinter sich lassen. Das war etwas, das sie nur mit ihrem Psychologen besprochen hatte, in den Therapiestunden, in denen Ethan nicht dabei gewesen war: Sie glaubte fest daran, dass der Schritt zu ihrer endgültigen Heilung darin bestand, aus dem Haus auszuziehen, mit dem so viele schlechte Erinnerungen verknüpft waren.
Gleichzeitig hatte Rachel neben diesen Erinnerungen noch immer viele Erinnerungslücken. Vielleicht würde niemals alles aus ihrer Vergangenheit zurückkommen. Die ständigen Drogen und das psychische wie körperliche Trauma, das sie erlitten hatte, hatten ihren Verstand vielleicht so stark beeinflusst, dass sie sich an manche Dinge nie wieder erinnern würde. Vielleicht war das auch besser so.
Manchmal, wenn eine Erinnerung tatsächlich wieder auftauchte, war es, als würde Rachel die Szene noch einmal neu durchleben. Teilweise waren diese Flashbacks so lebhaft und so schmerzlich, dass sie Tage brauchte, um sich von ihnen wieder zu erholen.
Wenn etwas derart plötzlich und in ihrem Kopf auftauchte, war es schwer, sich zu sagen, dass das alles vier Jahre zurücklag. Die Streitereien. Das eisige Schweigen zwischen Ethan und ihr. Die Fehlgeburt. Ethans Abwesenheit und die Anschuldigungen, die noch immer wehtaten, wenn sie daran dachte – was sie sich nicht allzu oft erlaubte.
Ethan war heute ein anderer Mann als damals in den Anfängen ihrer Ehe. Das wusste Rachel. Dennoch war es nicht leicht, wenn die Erinnerungen wieder hochkamen. Dann fühlte es sich an, als wäre das Ganze erst gestern passiert.
Rachels Blick wanderte zu dem Bücherschrank, in dem Ethan die grässlichen Unterlagen versteckt gehabt hatte. Sofort stand ihr der letzte schreckliche Tag wieder vor Augen, als ihr Mann sich vor ihr aufgebaut und ihr mit ausdruckslosem Gesicht und völlig unbewegt die Unterlagen überreicht hatte, die das endgültige Aus ihrer Ehe bedeuteten.
Er hatte ihr gesagt, sie brauche gar nicht erst zurückzukommen.
Und das war sie dann auch nicht.