9,99 €
Als Kind wurde Arial von ihren wahren Eltern verlassen und stattdessen von einem reichen Ehepaar aufgenommen und großgezogen. Ihre Adoptiveltern haben sie stets von der Welt abgeschirmt, denn Ari besitzt eine außergewöhnliche Gabe: telekinetische Kräfte. Doch nun hat es jemand auf Aris Leben abgesehen, und der Einzige, der sie beschützen kann, ist der Bodyguard Beau Devereaux. Was für Beau zunächst nur ein Job ist, wird schon bald sehr persönlich, als er sich in seine schöne Klientin verliebt. Er hat keine Ahnung, wer Ari bedroht, aber er weiß, dass er ohne Zögern sein Leben für sie geben würde.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 581
Titel
Über dieses Buch
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
40
Über die Autorin
Maya Banks bei LYX
Impressum
MAYA BANKS
Verhängnisvolle Begierde
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Firouzeh Akhavan-Zandjani
Als Kind wurde Arial von ihren leiblichen Eltern verlassen und stattdessen von einem reichen Ehepaar großgezogen. Ihre Adoptiveltern haben sie stets von der Welt abgeschirmt, denn Ari besitzt eine außergewöhnliche Gabe, von der niemand etwas erfahren darf: telekinetische Kräfte. Als eine Gruppe von Jugendlichen die 22-Jährige angreift, weiß sie sich allerdings nicht anders zu helfen, als ihre Fähigkeiten einzusetzen. Es gelingt ihr, sich in Sicherheit zu bringen, doch ein Handyvideo des Vorfalls taucht wenige Zeit später im Internet auf. Dass die Sorgen ihrer Eltern berechtigt waren, wird klar, als Unbekannte daraufhin versuchen, Arial zu entführen. Zwar kann sie sich retten, doch Arial weiß, dass nicht nur ihr eigenes, sondern auch das Leben ihrer Eltern weiterhin in größter Gefahr ist. Der Einzige, der sie jetzt beschützen kann, ist der Bodyguard Beau Devereaux. Was für Beau zunächst nur ein Job ist, wird schon bald sehr persönlich. Denn Arial weckt ein Verlangen in ihm, dem er nicht widerstehen kann. Und schnell steht für ihn fest: Er hat keine Ahnung, wer Arial bedroht, aber er würde ohne Zögern sein Leben für sie geben …
Gavin Rochester stand in der Tür zu seinem riesigen Wohnzimmer und beobachtete, wie seine Frau ein Teil, das zum Christbaumschmuck gehörte, sorgfältig betrachtete, ehe sie es still in die Schachtel zurücklegte und diese dann in der großen Plastikkiste für den Weihnachtsschmuck verstaute.
Ihre Traurigkeit löste in seinem Herzen einen Schmerz aus, der ihn sich die Brust reiben ließ, um den Druck zu lindern. Aber manche Wunden gingen einfach zu tief und wollten nicht heilen. Ihr Schmerz war für ihn unerträglich, weil er nichts gegen ihn unternehmen konnte. Beziehungen, Geld, Macht … nichts davon hatte eine Bedeutung, wenn er seiner geliebten Frau nicht das geben konnte, was sie sich am sehnlichsten wünschte. Er spürte ihren Schmerz so deutlich, als wäre es sein eigener. Und so war es auch. Denn er konnte es nicht ertragen, wenn sie unglücklich war. Er würde für ein Lächeln von ihr sogar Berge versetzen.
Sie hatte ihn verändert und zu einem besseren Menschen gemacht. Er hätte nie gedacht, dass er so ein Mensch sein könnte … hatte es auch nie sein wollen. Aber durch sie hatte sich alles geändert: seine Welt, sein Platz in dieser Welt. Plötzlich hatte er ein besserer Mensch sein wollen. Ihretwegen. Sie hatte nichts Geringeres verdient. Er würde sie niemals mit seinen Geschäftspraktiken in Gefahr bringen. Es war eine ganz neue Erfahrung für ihn, ein rechtschaffenes Leben führen zu wollen, außerhalb des Zwielichts, und dass es jemanden gab, der in ihm den Wunsch weckte, sich seiner würdig zu fühlen.
Als sie ihre melancholische Betrachtung des Weihnachtsschmucks beendet hatte und ihn bemerkte, leuchtete ihr im Schein der Lichterketten im Baum rosig schimmerndes Gesicht auf. Es erstaunte ihn immer wieder, wie ihr Lächeln es schaffte, ihm den Atem zu rauben. Das würde nie vergehen. Die Liebe zu seiner Frau war mit nichts vergleichbar, was er bisher erlebt hatte. Sie war überwältigend und gleichzeitig warm wie die Flammen im Kamin. Sie war unerschütterlich, ohne Vorbehalte, Erwartungen oder Bedingungen.
Sie liebte ihn, und dieses Wissen besaß die Macht, ihn in die Knie gehen zu lassen.
»So, jetzt nur noch die Spitze«, sagte sie, und ihr Blick ging noch einmal zu dem einsamen Weihnachtsschmuck, der nicht in den Baum gehängt worden war. Ein bekümmerter Ausdruck vertrieb die Wärme aus ihrem Blick, doch sie riss sich schnell zusammen, und die Trauer verschwand wieder aus ihren Zügen. Aber er hatte sie gesehen. Er wusste, dass sie da war, egal, wie sehr sie sich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen.
Er durchquerte den Raum, denn er konnte nicht länger ertragen, wie weit sie voneinander entfernt waren. Er zog sie in seine Arme, schob die Finger in ihr langes Haar und drückte die Lippen auf die dunkelbraun schimmernden Locken, während er ihren Duft einatmete.
»Wir werden es wieder versuchen«, murmelte er, indem er versuchte, einen überzeugenden, zuversichtlichen Ton anzuschlagen. Trotzdem wusste er, dass er kläglich versagt hatte. Er klang genauso niedergeschlagen, wie sie sich fühlte. Aber nicht, weil sie ihn enttäuscht hatte. Er könnte ein Leben in Zweisamkeit mit ihr führen und es niemals bedauern. Nein, er hatte sie enttäuscht. Er konnte ihr nicht das Kind geben, das sie sich so sehnlichst wünschte.
Sie wollte mit ihm eine Familie gründen, damit Liebe und Lachen ihr Haus mit einer Wärme füllten, die er vor ihr nicht gekannt hatte. Sie wusste, was für ein Leben er geführt hatte, und war fest entschlossen, es zu ändern. Sie wollte ihm ein Heim schaffen, das nicht nur ein Zuhause war. Ein Heim mit einer Familie und ihrer bedingungslosen Liebe. Er konnte ihr nichts abschlagen und war wie Wachs in ihren Händen. Seine Liebe setzte sich über alle Schranken hinweg. Er wusste, dass er niemals einen anderen Menschen so sehr lieben würde wie diese Frau.
Sie schüttelte den Kopf an seiner Brust, und er schob sie vorsichtig zurück, sodass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Der Schimmer von Tränen in ihren strahlend braunen Augen war für ihn wie ein Faustschlag in den Magen. Selbst traurig war sie für ihn die schönste Frau auf der ganzen Welt. Er konnte sich nicht einmal mehr an die Zeit erinnern, bevor sie in sein Leben getreten war.
Er hielt im Arm, was für ihn auf der ganzen Welt am kostbarsten war, und war doch machtlos, ihr das zu geben, was sie sich am meisten wünschte.
»Nein, nicht noch einmal, Gavin«, erwiderte sie mit erstickter Stimme, als wäre es zu schmerzhaft, die Worte auszusprechen. »Ich verkrafte es nicht, noch eins zu verlieren. Ich kann nicht mehr.«
Die Verzweiflung in der Stimme seiner geliebten Frau war mehr, als er ertragen konnte. Er stand kurz davor, ebenfalls die Kontrolle über seine Emotionen zu verlieren. Nur, dass er sich geschworen hatte, ein Fels in der Brandung für seine Frau zu sein, ließ ihn die Fassung bewahren.
Sie brauchte seine Kraft, nicht seine Schwäche. Und das Schlimme daran war, dass es nur eine Schwäche in seinem Leben gab.
Ginger. Seine Frau, seine Geliebte, seine Seelengefährtin.
Früher hätte er über die Vorstellung von Schicksal und Seelenverwandtschaft gelacht. Sein Lehrer für Personalentwicklung hatte gesagt, dass die Vorstellung, es könnte für jeden Menschen eine fehlende andere Hälfte geben, völlig haltlos sei. Man könnte sich stattdessen im Laufe seines Lebens in viele Menschen ernsthaft verlieben.
Er war von dieser Anschauung überzeugt gewesen, bis eines Tages eine wunderschöne, dunkelhaarige, braunäugige, bezaubernd schüchterne Frau in sein Leben getreten war und alles unwiderruflich auf den Kopf gestellt hatte. Vom ersten Moment an, als sie seine Einladung zum Abendessen angenommen hatte, war er bereits so tief verstrickt gewesen, dass keinerlei Hoffnung bestanden hatte, sich je wieder daraus befreien zu können. Und er hatte sich auch gar nicht befreien wollen.
Gavin war ein entscheidungsfreudiger Mann, der mit jedem Problem zurechtkam. Frauen behaupteten von ihm, dass alles an ihm stimmte.
Gut aussehend, charismatisch, tiefschürfend und wohlhabend.
Er war kein Dummkopf. Und dieser Umstand machte seinen größten Reiz aus. Doch die Frauen, mit denen er zusammen gewesen war, hatten vermutlich nur gesehen, was ihm auf die Stirn geschrieben stand.
Milliardär.
Es war eine Ironie des Schicksals, dass er Ginger das erste Mal bemerkt hatte, als er mit einer anderen Frau ausgegangen war. Eigentlich war der Ablauf des Abends im Voraus geplant gewesen. Ein nettes Abendessen in angenehmer Atmosphäre, ein bisschen Flirten mit seiner Verabredung, an deren Namen er sich nicht mehr erinnerte, um dann zu ihr nach Hause zu fahren und mit ihr zu schlafen, ehe er in seine eigene Wohnung zurückkehrte.
Er nahm nie jemanden mit zu sich nach Hause; keine Frau hatte je sein Allerheiligstes betreten. Sex fand immer bei seinen Verabredungen oder in einem Hotel statt, und hinterher verschwand er jedes Mal. In den Augen mancher Frauen war er deshalb ein kaltblütiger Mistkerl, aber er war einfach nicht verlogen genug, um sich auf Zärtlichkeiten danach einzulassen, wenn er klargestellt hatte, dass es keine emotionalen Verwicklungen geben würde.
Zur großen Enttäuschung der Frau, mit der er an jenem Abend verabredet gewesen war, hatte er sie zu Hause abgesetzt und war nicht geblieben; denn er musste immerzu an die reizende lächelnde Kellnerin mit den großen braunen Augen denken, die rot geworden war, als er sie zu lange angeschaut hatte.
Normalerweise war er nicht so ungehobelt oder ließ es an gesellschaftlichen Umgangsformen fehlen, doch er war vom ersten Moment an von ihr bezaubert gewesen, also war er am nächsten Abend wieder in das Restaurant gegangen. Allein. Er hatte sich einen Tisch in dem Abschnitt geben lassen, in dem sie bediente, um sich wie der anspruchsvollste Gast der Welt zu gebärden, der sie ein ums andere Mal wegen irgendwelcher Lappalien zu sich rief.
Es hatte drei quälend lange Wochen gedauert, bis er sie endlich dazu überreden konnte, mit ihm essen zu gehen. Drei Wochen selbst auferlegten Zölibats, denn er hatte gewusst, dass sie die letzte Frau sein würde, die er mit in sein Bett nehmen würde, und deshalb hatte es ihn nicht gestört zu warten.
Dann waren sechs Monate regelmäßiger Verabredungen gefolgt, ehe er seine Absichten deutlicher gemacht hatte und sich nicht mehr mit leidenschaftlichen Gutenachtküssen zufriedengegeben hatte, bei denen er ihren warmen, weichen Körper an sich drückte.
Es waren die schönsten sechs Monate seines Lebens gewesen.
In der Nacht, als er sie schließlich mit in sein Bett genommen und sie sehr zärtlich genommen hatte, hatte er ihr einen Antrag gemacht, nach dem sie ihm weinend um den Hals gefallen war.
Es hatte drei Monate gedauert, in denen sie praktisch mit ihm zusammengelebt hatte, bis sie seinen Heiratsantrag endlich angenommen hatte. Doch kaum hatte er sie dazu gebracht einzuwilligen, war er mit seiner Geduld am Ende gewesen. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit hatte er sie aufs Standesamt geschleppt und den Bund der Ehe mit ihr geschlossen.
Nach einem herrlichen Jahr, in dem er sie ganz für sich allein gehabt hatte – er war in dieser Zeit sehr besitzergreifend und fordernd gewesen –, hatte sie angefangen, von einem gemeinsamen Kind zu sprechen. Er hätte nicht gedacht, noch glücklicher sein zu können, doch dann hatte er begonnen, sich kleine niedliche Mädchen vorzustellen, die wie ihre Mama aussahen, und sein Entschluss hatte festgestanden, ihr Zuhause mit einem Dutzend Kindern zu füllen, wenn sie es wollte.
Doch dann war das Unglück über sie gekommen.
Zu ihrer beider Freude war sie sofort schwanger geworden … um wenige Wochen darauf eine Fehlgeburt zu erleiden. Damit hatte der Albtraum aus einer unendlichen Folge von Hoffnung und Enttäuschung begonnen. Den Rest hatte es ihnen gegeben, als sie nach vier Fehlgeburten Anfang des Jahres wieder schwanger geworden war. Die anderen Schwangerschaften hatten ein frühes Ende genommen – dieses Mal jedoch nicht. Mit freudiger Erregung hatte Hoffnung zu keimen begonnen, dass sie es endlich, endlich geschafft hatten.
Nach fünf Monaten Schwangerschaft, nachdem sie erfahren hatten, dass in ihrem Bauch heranwuchs, was er sich am meisten wünschte – ein kleines Mädchen –, und sie begonnen hatten, ein zartes Band zu dem Kind zu knüpfen, seine ersten Bewegungen spürten und sich sogar daranmachten, das Kinderzimmer einzurichten, passierte es: Sie verlor das Kind. Und das Schlimmste daran war, dass sie es auf natürlichem Weg zur Welt bringen musste. Ein winziges, wohlgestaltetes kleines Mädchen.
Ginger war am Boden zerstört gewesen. Monatelang hatte sie ein so teilnahmsloses, in sich gekehrtes Verhalten an den Tag gelegt, dass Gavin sich in seinem ganzen Leben noch nie hilfloser gefühlt hatte. Er liebte sie doch so sehr und hätte ihr so gern alles Leid abgenommen, aber es war die Hölle für sie. Nachdem sie sich körperlich erholt hatte, brachte sie das Thema, es noch einmal zu versuchen, nie wieder zur Sprache.
Sogar jetzt, da er sie behutsam zu ermutigen versuchte, es noch einmal zu probieren, lehnte sie es ab. Er machte ihr keinen Vorwurf daraus, hasste aber das Gefühl, keine Lösung für ihr Problem zu haben. In seiner Vorstellungswelt war nichts unmöglich. Geld war zwar kein Allheilmittel, konnte aber eine ganze Menge bewegen. Doch alles Geld und alle Macht der Welt würden seiner Frau nicht geben können, was sie sich so sehr wünschte.
Als würde sie die Richtung spüren, in die seine Gedanken steuerten, legte sie die Hand an seinen kantigen Kiefer und sah ihn mit einem herzzerreißenden Lächeln verständnisvoll an.
»Du bist alles, was ich brauche«, erklärte sie schlicht. »Schwöre mir, mich niemals für eine andere zu verlassen, die dir Kinder geben kann. Schwöre mir nur das, und ich werde dich um nichts mehr bitten.«
Ihre Worte erschütterten ihn bis ins Mark. Er war verwirrt und wurde mit jeder Sekunde wütender. Nicht auf sie. Sondern auf sich selbst. Denn wenn er ihr die Geborgenheit gegeben hätte, die sie brauchte, hätte sie ihn nie um so etwas bitten müssen. Dieser Gedanke wäre ihr nie in den Sinn gekommen.
Er umfasste ihr schönes Gesicht mit beiden Händen und hielt sie fest, während er in die magischen Tiefen ihres seelenvollen Blicks eintauchte.
»Ich mache mir nur deshalb so viel Gedanken darüber, dass wir keine Kinder haben können, weil ich weiß, wie weh dir das tut«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich würde alles tun, um dir das zu ersparen, Ginger. Es tut mir unendlich leid, dass ich dich enttäuscht habe.«
Sie legte einen Finger auf seine Lippen. »Schsch, Gavin, du hast mich nicht enttäuscht. Du hast mir ein Kind nach dem anderen gegeben. Ich bin diejenige, die dich enttäuscht hat, weil ich sie nicht austragen konnte. Mein Körper stößt sie ab.«
Sie schloss bei den letzten Worten die Augen, und Tränen liefen ihr still über die Wangen.
»Ich könnte es nicht ertragen, wenn du mir das irgendwann zum Vorwurf machen würdest«, fuhr sie mit brechender Stimme fort. »Ich will nicht, dass du mich anschaust und nur siehst, was ich dir nicht geben kann …«
Er zog sie in seine Arme, bis sie sich entspannte und an ihn schmiegte.
»Es wird niemals eine andere Frau für mich geben«, brummte er. »Ich werde nie mehr von dir wollen, als du mir geben kannst. Das schwöre ich bei meinem Leben, Ginger. Ich gehöre dir. Mit Herz und Seele. Und ich hoffe, dass du mir gehörst.«
»Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Jetzt tu mir den Gefallen, und setz den Engel für mich auf die Spitze, damit der Baum fertig wird.«
Aber der Baum würde nicht wirklich fertig werden, und das wussten sie beide. Ein schlichtes Teil ruhte in der Kiste, in der auch der ganze andere Schmuck aufbewahrt wurde. Auf dem Babygedenklöffel aus Sterlingsilber waren die Worte Babys erste Weihnacht und das Jahr eingraviert.
Wenn alles so gekommen wäre, wie sie es geplant hatten, hätte die Geburt in den nächsten Tagen bevorgestanden. Ein Weihnachtsbaby, hatte sie sich gefreut, als der Arzt ihnen den Geburtstermin genannt hatte. Rund und schwer würde sie jetzt hier gesessen haben, während er ihr die Füße massierte oder sie im Arm hielt, damit er spüren konnte, wie ihre Tochter trat und Purzelbäume schlug.
Ginger löste sich von ihm und wickelte den zierlichen Engel aus Porzellan, der auf die Spitze des Baums gehörte, vorsichtig aus der Polsterfolie. Gavin stieg auf einen Hocker und steckte den Engel auf die Spitze.
»Der Baum ist perfekt«, sagte sie, und in ihren Augen schimmerten Tränen.
Er küsste jede einzelne Träne von ihren Wangen, ehe er sie an seine Seite zog, sodass sie gemeinsam den Baum betrachten konnten, den sie so sorgfältig geschmückt hatte. Seine Frau liebte Weihnachten. Die ersten gemeinsam verbrachten Feiertage würde Gavin nie vergessen, denn ehe er sie kennengelernt hatte, war Weihnachten für ihn ein Tag wie jeder andere gewesen. Ein mit Unannehmlichkeiten verbundener Tag, weil wegen der Feiertage fast alles geschlossen war, alle Leute die Stadt verlassen hatten oder einfach nicht erreichbar waren.
Doch als Ginger in sein Leben getreten war, hatte sie ihn für immer verändert. Lachend hatte sie ihn aus seinem Haus in Connecticut gezerrt, um mit ihm zusammen den größten und schönsten Baum zu kaufen, den sie finden konnten.
Das war eine weitere Veränderung, die sie bewirkt hatte. Denn er besaß zwar ein großes Haus mit viel Land, wo man ganz für sich sein konnte, doch er hatte es immer gehasst, sich allein darin aufzuhalten. Die meiste Zeit hatte er in seiner Wohnung in Manhattan verbracht. Bis Ginger in sein Leben getreten war.
Jetzt passierte es nur noch selten, dass er in der Wohnung übernachtete, doch wenn, dann sorgte er dafür, dass sie mitkam. Er hatte keine Nacht mehr getrennt von ihr verbracht, seitdem sie sich das erste Mal geliebt hatten. Sie hatte sein Haus in Connecticut in ein Zuhause verwandelt. Ein einladendes Heim, das Wärme ausstrahlte und voller Liebe und Glück war.
»Ich liebe den Baum«, sagte er mit ehrlich gemeintem Lob. »Das hast du wunderbar gemacht. Wie jedes Jahr.«
»Kann es sein, dass ich einen absoluten Weihnachtsmuffel in einen Weihnachtsfreak verwandelt habe?«, neckte sie ihn.
Er lachte leise. »Was glaubst du denn? Ich hab doch nicht den ganzen Tag versucht, mich umzubringen, indem ich an jeder freien Stelle des Hauses Lichterketten aufgehängt habe, weil ich Weihnachten hasse.«
»Du hasst Weihnachten, aber mich liebst du«, erklärte sie frech.
Er lachte. »Ich bessere mich. Und ich hasse nichts, wenn du daran Anteil hast.«
Ihre Miene wurde weich, ein liebevoller Ausdruck trat in ihre Augen. Sie drehte sich um und legte den Kopf schief, um sich von ihm küssen zu lassen, als es an der Tür klingelte.
Beide runzelten die Stirn, und Ginger löste sich von ihm, während ihr Blick zur Eingangshalle ging.
Es war fast elf Uhr abends. Wer schaute denn so spät noch vorbei? Und davon abgesehen, wie war dieser jemand durchs abgesperrte Tor gekommen, ohne dass sie es mitbekommen hatten?
Gavin wurde sofort ernst. »Du bleibst hier und rührst dich nicht vom Fleck. Ich sehe nach, wer das ist.«
»Aber …«, wollte sie widersprechen.
Doch er drückte sie schnell und brachte sie damit zum Schweigen. Dann griff er in die Schublade des Couchtisches und holte eine Pistole hervor. Er steckte sie hinten in den Bund, sodass man sie nicht sofort sah, und gab ihr dann noch einmal mit einem Blick zu verstehen, sich ruhig zu verhalten, ehe er zur Haustür ging.
Als er durch den Spion schaute, runzelte er verwirrt die Stirn. Da stand niemand, obwohl der Bewegungsmelder das Licht eingeschaltet hatte, das die mit Schnee überzogene, glitzernde Umgebung beleuchtete.
Er zog die Pistole aus dem Bund, öffnete vorsichtig die Tür und schaute in die stille Nacht hinaus. Eine kalte Bö traf ihn, und der Wind pfiff in seinen Ohren. Der Vollmond ließ die schneebedeckte Landschaft strahlen. Nur die sich wiegenden Bäume und das Knacken von vereisten brechenden Zweigen störten die tiefe Stille.
Beinahe wäre er über das, was vor der Tür stand, gefallen. Er trat eilig zurück und sah nach unten. Verblüfft stellte er fest, dass da etwas stand, das verdächtig nach einer Babytrage aussah.
Er sank auf die Knie und zog die Decke, die das, was sich in der Trage befand, verbarg, vorsichtig zurück. Als er die Decke weit genug angehoben hatte, entwich ihm mit einem erstaunten Keuchen der Atem.
»Gavin, was ist das?«
Gingers besorgte Stimme drang an sein Ohr, und ehe er sie warnen konnte, nicht näher zu kommen, wählte das Baby genau diesen Moment, um zu weinen, was sich allerdings lediglich wie ein trauriges Wimmern anhörte.
Seiner Frau stockte der Atem, sie hockte sich hin und griff nach dem kleinen Bündel, ehe er selber auf die Idee kommen konnte.
»Gütiger Himmel, Gavin! Hat jemand das Baby draußen gelassen, damit es erfriert?«
Man hörte ihr das Entsetzen an. Er war immer noch zu verblüfft, um einen klaren Gedanken fassen zu können.
»Bring die Trage rein«, befahl Ginger, während sie das Baby an die Schulter legte und von den Knien hochkam.
Er folgte ihr nach drinnen, aber irgendetwas sagte ihm, dass er nach der Person suchen sollte, die das Baby hier zurückgelassen hatte. Bestimmt war sie noch irgendwo auf dem Grundstück. Sein Anwesen war nicht eben klein, und jeder würde mehrere Minuten brauchen, um es zu verlassen, in welche Richtung er sich auch entfernte.
Doch der Anblick seiner Frau, die vor dem Kamin stand, das Baby vorsichtig auswickelte und den mit Flaum bedeckten Kopf unter ihr Kinn drückte, während sie das Kind wiegte, um es zu beruhigen, zog ihn magisch an.
»Gibt es einen Brief?«, fragte sie ängstlich. »Irgendetwas, das erklärt, was sich jemand dabei denkt, etwas so Schreckliches zu tun? Es ist Weihnachten! Man setzt doch bei so einem Wetter zu Weihnachten kein Baby aus!«
Ihre Bestürzung war fast greifbar. Er kippte die Trage um, und tatsächlich fiel mit den Decken und zwei Plüschtieren ein Briefumschlag heraus.
»Lies ihn mir vor«, drängte sie, ohne ihn auch nur einmal anzuschauen. Ihr Blick ruhte auf dem Baby in ihren Armen, und er bekam einen Moment lang keine Luft.
Ihm bot sich ein Bild dessen, was sie niemals haben würden. Der Schmerz überwältigte ihn beinahe. Ginger betrachtete das Baby mit solch einer liebevollen Zuneigung, während sie ihm oder ihr den Rücken streichelte, um es zu beruhigen. Was war es denn? Ein Junge oder ein Mädchen?
Er riss den Umschlag mit zitternden Händen auf und überflog ihn, denn er war fest entschlossen, seiner Frau jeden Inhalt vorzuenthalten, der ihr Kummer bereiten könnte. Doch was er dann las, erschütterte ihn zutiefst.
Ich kann mich nicht selber um mein Baby kümmern. Bei mir wäre sie immer in Gefahr. Sie braucht jemanden, der sie liebt und beschützt. Ich vertraue darauf, dass Sie sie wie ihr eigen Fleisch und Blut aufziehen werden und niemandem etwas von den Umständen ihrer Vergangenheit verraten. Sie werden mich wahrscheinlich für die schrecklichste Mutter auf Erden halten, weil ich mein Kind Fremden überlasse, doch ich tue es, weil ich meine Tochter liebe. Ich gebe sie in Ihre Obhut und bitte Sie, sie genauso zu lieben, wie ich es tue, und sie wie Ihr eigenes Kind aufzuziehen. Sie darf niemals von mir oder ihrem leiblichen Vater erfahren. Schwören Sie mir, mein Geheimnis zu bewahren. Mir bricht das Herz, aber das Wissen, dass Sie ihr das bieten werden, was ich nicht kann, gibt mir die Kraft, das zu tun, was für sie am besten ist. Sie wurde innig geliebt. Bitte zweifeln Sie nie daran. Ich bitte Sie nur darum, sie genauso zu lieben wie ihr Vater und ich.
Als Gavin den Brief zu Ende vorgelesen hatte, zitterte seine Hand, und Ginger sank auf die Couch. Sie drückte das Baby an ihre Brust, während sie ihren Ehemann fassungslos anstarrte.
Als er sich zu ihr aufs Sofa setzte, umklammerte sie das kleine Bündel noch fester, weil sie genauso stark zitterte wie er.
Sie zog die Decke weg, sodass das Gesicht des Babys zu sehen war, und Gavin verlor auf der Stelle sein Herz. Ein wunderschönes kleines Mädchen sah ihn an, während Ginger mit dem Finger sanft über das kleine Gesichtchen strich.
Ebenso schnell, wie er sein Herz verloren hatte, fällte er eine Entscheidung. Eine Entscheidung, die den Lauf von seinem und Gingers Leben für immer verändern sollte. Ruhe breitete sich in ihm aus, während seine Gedanken mit unglaublicher Geschwindigkeit zu rasen anfingen, als er ihre Möglichkeiten erwog.
»Ich möchte, dass du eine Tasche packst«, erklärte er. Der verräterische Anflug von Unsicherheit war aus seiner Stimme verschwunden und hatte ruhiger Entschlossenheit Platz gemacht. »Wir verlassen das Land und werden für eine Weile weg sein.«
Seine Frau bekam ganz große Augen. »Was werden wir denn tun, Gavin?«
Ruhig erwiderte er ihren Blick. Er legte die Hand um ihr Knie und wollte nicht, dass sie das Baby losließ.
»Wir werden das tun, worum wir gebeten worden sind, und sie wie unsere eigene Tochter aufziehen.«
Fünf Monate später …
Gavin hatte immer ein klares Verständnis dafür gehabt, was man mit Geld und Macht erreichen konnte, aber erst durch Arial – das war der Name, den sie für das ihnen so wertvolle kleine Mädchen ausgewählt hatten – war ihm bewusst geworden, dass der Reichtum, den er all die Jahre angehäuft hatte, wirklich für etwas gut war. Fast schien es so, als hätte er sich immer auf etwas so Wichtiges vorbereitet. In dem Moment, als das unschuldige kleine Mädchen auf seiner Türschwelle abgelegt worden war, hatte er gewusst, dass sein Reichtum endlich einer guten Sache dienen würde.
Alles war auf diesen Moment hinausgelaufen, darauf, was er dadurch seiner Frau – und jetzt auch seiner Tochter – bieten konnte.
Ari gehörte ihnen. Es gab sogar den schriftlichen Beweis, denn er hatte die Dokumente besorgt, die die Schwangerschaft seiner Frau belegten und lückenlos darlegten, dass er sie weggebracht und sie in völliger Zurückgezogenheit ihre gemeinsame Tochter zur Welt gebracht hatte.
In der Geburtsurkunde stand ihr Geburtsdatum, und er und Ginger wurden als Eltern aufgeführt. Sogar das kleine Krankenhaus, das eine Zuwendung von ihm erhalten hatte und in dem sie »geboren« worden war, wurde darin genannt.
Jetzt kehrten sie das erste Mal mit ihrer Tochter in die Staaten zurück. Sie waren sich sicher, dass Aris Vergangenheit wasserdicht war und jeder Überprüfung standhalten würde, weil alles bis ins kleinste Detail bedacht und ausgeführt worden war. Sie mussten jetzt nur noch ihr altes Leben wieder aufnehmen. Aber trotz der Gewissheit, dass Aris Vergangenheit durch nichts zu erschüttern sein würde, war Gavin nicht so dumm, auch nur einen Moment lang zu glauben, er könnte sich nun entspannt zurücklehnen. Ihrer aller Leben hatte sich nun für immer verändert, aber er bedauerte keinen Moment lang, dass ihr Schicksal jetzt einen anderen Lauf nahm. Er hatte alles, was ein Mensch sich je erhoffen konnte. Endlich besaß er alles, und das war ein Umstand, für den er jeden Tag, seit Ari an einem verschneiten Weihnachtsabend in ihr Leben getreten war, dem Himmel dankte.
Er hatte Ginger vorsichtig erklärt, welche Veränderungen es dadurch in ihrem Leben geben würde und dass sie in allen Bereichen ihres alltäglichen Lebens höchste Vorsicht würden walten lassen müssen. Seine einzige Sorge war, dass Ginger dadurch das Gefühl bekommen könnte, eingeschränkt zu sein, dass sie vielleicht irgendwann keine Lust mehr haben würde, so zurückgezogen zu leben. Aber er hätte wissen müssen, dass seine Frau – genau wie er – alles tun würde, um ihre kleine Tochter zu beschützen.
In jener Nacht, als man Ari auf ihrer Türschwelle zurückgelassen hatte, war ein festes Band geknüpft worden, das nie wieder reißen würde. Eine unerklärliche und augenblickliche Verbindung, als wäre Ari immer für sie bestimmt gewesen. Und dieses Band war im Laufe der Zeit immer fester geworden, bis keiner sich mehr an die Zeit erinnerte, ehe Ari zu einem Teil der Familie geworden war.
Vor ihrer Rückkehr in die Staaten hatte Gavin als Erstes in aller Stille sein Haus in Connecticut verkauft, weil er alle Spuren ihrer Vergangenheit verwischen wollte. Aris Mutter sollte nicht die Möglichkeit haben, am selben Ort aufzutauchen, wo sie ihr Baby zurückgelassen hatte, um es womöglich zurückzuverlangen.
Systematisch hatte er während der Monate, die sie im Ausland verbrachten, dafür gesorgt, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle mehr spielten. Er hatte mehrere seiner Unternehmen verkauft und die Erlöse investiert, sodass seine Familie finanziell abgesichert sein würde.
Über einen Strohmann, der nicht zu ihm zurückverfolgt werden konnte, hatte er ein Anwesen gekauft und für so hohe Sicherheitsstandards gesorgt, dass das Ganze uneinnehmbar war. Dann hatte er sich darangemacht, es in Gingers Traumhaus zu verwandeln. Einen Ort, den sie lieben und an dem sie es ertragen würde, so vielen Einschränkungen unterworfen zu sein.
Sie hatte ihm lachend erklärt, dass sie all ihre Wünsche erfüllt sah. Einen Ehemann, den sie liebte, und eine Tochter, die sie anbetete. Kein Opfer wäre zu groß für sie, wenn sie es zum Wohle der Familie brachte.
Zu sehen, wie glücklich Ginger die letzten Monate gewesen war, hatte bei Gavin eine Zielstrebigkeit hervorgerufen, wie er sie vorher noch nie erlebt hatte. Nach so viel Verlusten und so viel Trauer sprudelte die Frau, die er liebte, jetzt fast vor Freude, Liebe und Lebhaftigkeit über. Jeden Tag erfreute sie sich an etwas Neuem, was die Mutterschaft und ihr kleines süßes Mädchen mit sich brachte.
Gavin wusste, dass es nichts gab, was er für die beiden nicht tun würde, um sie zu beschützen. Kein Preis war zu hoch. Nein, er hatte sich nicht korrekt oder vorschriftsmäßig verhalten. Eigentlich hätte er die Polizei und das Sozialamt informieren müssen, um sich dann ganz legal um eine Adoption zu bemühen.
Aber er hatte seiner Frau nur in die Augen zu sehen brauchen, als sie das kleine Mädchen anschaute, und ihm war klar gewesen, dass er das Risiko, ihre Tochter zu verlieren, nicht eingehen durfte, indem er »vorschriftsmäßig« vorging. Sein Gewissen konnte damit leben, und es machte ihm auch nichts aus, dass er seine Seele damit der ewigen Verdammnis anheimgegeben haben mochte, solange Ginger glücklich war. Er würde allen Höllenfeuern und selbst dem Teufel trotzen, ehe er der Grund dafür war, dass ihre Augen ihr Strahlen verloren.
Sie sah ihn an, als wäre er ein Held – ihr Held –, obwohl er in Wirklichkeit so viele Gesetze gebrochen hatte, dass ihm ein jahrelanger Gefängnisaufenthalt drohte. Aber er hatte dafür gesorgt, dass Ginger von all den Entscheidungen, die er getroffen hatte, auf jeden Fall unberührt blieb. Sollte man jemals herausfinden, was er getan hatte, würde das für Ginger – und Ari – keinerlei Folgen haben.
Ginger verschränkte ihre Finger mit seinen und drückte sie besorgt, während sie die Babytrage aus Stoff zurechtrückte, in der Ari mit dem Gesicht zu Ginger saß, sodass sie sich an die Brust ihrer Mutter schmiegen konnte. Sie stiegen aus dem kleinen Jet, und Gavin wachte mit Argusaugen darüber, dass sie nicht stolperte und fiel, während sie auf das wartende Auto zueilten.
Als er sich neben sie auf die Rückbank setzte, drehte sie sich zu ihm um und sah ihn mit angespannter Miene an.
»Ich weiß gar nicht, warum ich so nervös bin«, meinte Ginger mit unsicherer Stimme. »Ich vertraue dir, Gavin. Bitte, glaube nicht, dass es anders wäre. Aber die letzten fünf Monate haben wir fern aller Realität gelebt, wie in einer Blase, wo die Zeit stehen blieb und es nur uns drei gab. Und jetzt, da wir in die reale Welt zurückkehren, habe ich so eine Angst. Ich habe Angst, dass alles nur ein Traum war, und wenn ich morgen früh aufwache, wird Ari fort sein.«
Gavin legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie und Ari an sich. Er strich mit den Lippen über ihren Scheitel. Es war ihm zuwider, dass sie sich Sorgen machte, dass sie sich vor dem Unbekannten fürchtete, aber er verstand sie. Er wusste, dass es unmöglich war, all ihre Bedenken, die er durchaus teilte, zu zerstreuen.
Ab jetzt würden sie ein Leben in ständiger Furcht vor Entdeckung führen und davor, dass man ihnen ihr Kind wieder entriss. Vielleicht würde ihre Angst mit der Zeit nachlassen, doch jetzt, da sie zurückkehrten, um ihr altes Leben wieder aufzunehmen, fürchteten sich beide vor dem Schlimmsten.
»Ich werde das niemals zulassen«, sagte Gavin ernst.
Er schaute aus dem Fenster des unauffälligen Fahrzeugs, das sie an der privaten Landebahn abgeholt hatte.
»Wirst du hier glücklich sein?«, fragte er Ginger und äußerte damit eine seiner vielen Befürchtungen. Das Glück seiner Frau hatte Vorrang vor allen anderen Prioritäten in seinem Leben.
Er hatte seine vielen Geschäftsunternehmungen auf die Ölfirma reduziert, deren Hauptsitz sich in Houston, Texas, befand. Er kannte die Stadt. In seinem früheren Leben hatte er »Geschäfte« mit Franklin Devereaux gemacht und sogar geplant, die Bekanntschaft zu erneuern, da Franklin seine Finger immer noch in Angelegenheiten hatte, die auch Gavin früher nicht fremd gewesen waren. Unter Umständen könnte er Gavin bei seinem Streben nach Anonymität und dem Beginn eines völlig neuen Lebens behilflich sein.
Das war eine Frage, mit der er lange gerungen hatte, denn wenn er mit Franklin Kontakt aufnahm, gefährdete er die Sicherheitsmaßnahmen, die er so mühsam aufgebaut hatte. Doch Franklin besaß Beziehungen, auf die Gavin nicht mehr zurückgreifen konnte, und so beschloss er am Ende, das Risiko einzugehen. Auch wenn er Franklin für einen Dummkopf hielt, weil dieser seine größten Schätze aufs Spiel setzte.
Franklin besaß das, was Gavin – und Ginger – sich so sehnlich wünschten oder eher gewünscht hatten. Eine Familie. Doch in Gavin kam kein Neid mehr hoch, wenn er an die Devereaux dachte. Denn durch Ari und die Tatsache, dass sie ihn und Ginger noch enger zusammengebracht hatte, war ihre Beziehung fester geworden und hatte aus einem Paar eine Familie gemacht.
Ari erwachte aus dem Schlummer an der Brust ihrer Mutter, hob den Kopf und schenkte ihrem Vater ein zahnloses Lächeln, das seine Wirkung auf sein Herz nie verfehlte.
»Hallo, meine Kleine«, sagte Ginger und streckte einen Finger aus, damit Ari ihn mit ihrer kleinen Faust umschließen konnte.
Wie immer wanderte alles, wonach Ari griff, in ihren Mund, und sie gurrte lächelnd, während sie auf dem Finger ihrer Mutter kaute.
»Wann kommen wir an?«, fragte Ginger. »Sie braucht eine frische Windel und wird jetzt, da sie wach ist, bald Hunger haben.«
»In höchstens zehn Minuten«, beruhigte Gavin sie.
»Solange hält sie durch«, meinte Ginger, während sie Ari anlächelte und mit ihr herumalberte.
Dann schaute sie auf und sah Gavin voller Wärme an.
»Wir sind eine echte Familie«, hauchte sie voller Ehrfurcht. »Das hier ist echt.«
Gavin lächelte und beugte sich über Ari, um sie auf den mit flaumigen Löckchen bedeckten Kopf zu küssen und ihren süßen Babyduft einzuatmen. Dann ergriff er Besitz von den Lippen seiner Frau und küsste sie leidenschaftlich, wobei er diesen Augenblick mit seiner Frau und seinem Kind genoss.
»Ja, mein Liebling. Das ist jetzt unser Leben, und es ist echt. Keiner wird es uns jemals wieder wegnehmen.«
Und im Stillen sprach er noch einen Schwur, den er genauso fest entschlossen war zu halten: Nichts und niemand würde ihm jemals nehmen, was ihm gehörte. Und er würde seine Frau und seine Tochter vor allen Unbilden des Lebens beschützen, egal, was es ihn kostete.
Vier Monate später …
Gavin kam mit quietschenden Reifen vor seiner Haustür zum Stehen und sprang mit seiner Pistole in der Hand und vor Furcht dröhnendem Kopf aus dem gepanzerten, kugelsicheren Mercedes, ehe sein Chauffeur noch ganz angehalten hatte. Ginger hatte völlig hysterisch geklungen. Sie hatte ihm gesagt, er solle sofort nach Hause kommen und dass irgendetwas nicht stimmen würde.
In diesem Augenblick musste er all seine Selbstbeherrschung zusammennehmen, um nicht unverzüglich ins Haus zu stürzen und alles in Schutt und Asche zu legen, was seine Frau und sein Kind bedrohte. Er rückte seitlich an die Tür heran und drückte vorsichtig die Türklinke, sodass die Tür langsam aufging und er einen ungehinderten Blick ins Wohnzimmer werfen konnte.
Ginger marschierte im Wohnzimmer auf und ab, die Verzweiflung war ihr deutlich anzumerken. Als spürte sie seine Anwesenheit, ging ihr Blick plötzlich zur Tür, und sie rief: »Gav? Bist du das? Bist du zu Hause?«
Gavin entspannte sich, und seine Angst ließ nach. Er schaffte es gerade noch, seinen persönlichen Sicherheitskräften, die sofort herbeigeeilt waren, mit einer kraftlosen Geste zu bedeuten, dass er sie nicht brauchte. Sogar sein Chauffeur stand mit gezogener Waffe hinter ihm.
Gavin schob seine Waffe ohne Eile zurück ins Schulterhalfter, straffte sich und hoffte, dass er sich nicht blamierte, indem er auf seiner eigenen Türschwelle umkippte.
Er hatte noch nie so große Angst ausgestanden wie in den letzten fünfzehn Minuten, nachdem seine Frau ihn mit entsetzt klingender Stimme gebeten hatte, sofort nach Hause zu kommen.
Gavin ließ seine Frau und sein Kind nicht häufig allein. Doch einmal die Woche fuhr er in die Innenstadt von Houston, um sich um geschäftliche Angelegenheiten oder andere Dinge zu kümmern, die seine Aufmerksamkeit erforderten, während er eine richtiggehende Armee zurückließ, die das Anwesen bewachte. Nach dem heutigen Tag fragte er sich, ob er wohl je wieder in der Lage sein würde, Ginger und Ari allein zu lassen.
Die Tür wurde aufgerissen, dann stand Ginger mit vor Angst großen Augen vor ihm. Ihr Gesicht war aschfahl, und sie zitterte am ganzen Körper.
Körperlich schien ihr also nichts passiert zu sein, aber damit war noch nicht geklärt, was mit Ari war. Denn was hatte seine Frau so in Angst und Schrecken versetzt, wenn es Ari gut ging?
»Gavin, du musst gleich mitkommen!«
Dann erst bemerkte sie die Männer, die hinter Gavin Stellung bezogen hatten, und er konnte sehen, wie sie deshalb mit sich rang. Ihr war klar, was er durchgemacht haben musste, dennoch legte sich kein um Entschuldigung bittender Ausdruck auf ihr Gesicht, und es war ihr auch kein Bedauern anzumerken. Sie schob ihre kalte Hand in seine und zog ihn ins Haus, ehe sie die Tür hinter ihm schloss und die Sicherheitskräfte aussperrte.
»Etwas oder jemand ist in Aris Zimmer gewesen«, sagte Ginger. Sie keuchte leicht, während sie die Treppe hinaufrannte und Gavin hinter sich herzog.
Er straffte sich und zog erneut seine Waffe.
»Jetzt ist keiner mehr da«, raunte Ginger. »Sie schläft. Steck die Waffe weg!«
Widerstrebend schob er die Pistole ins Halfter zurück, und kaum waren sie in Aris Zimmer, konnte er sehen, dass der kleine niedliche Windelpo seiner Tochter in die Höhe ragte, weil sie die Knie angezogen hatte, während der Daumen in ihrem Mund steckte. Bei diesem Anblick gelang es ihm das erste Mal, wieder richtig durchzuatmen.
»Was ist eigentlich los, Ginger?«, fragte Gavin mit einer gewissen Schärfe.
Sie zuckte zusammen und wirkte angesichts seines Zorns verblüfft.
»Du hast mir fünfzehn Jahre meines Lebens genommen. Tu das nie wieder.«
»Aber irgendjemand ist in ihrem Zimmer gewesen«, zischte Ginger. »Ich bin nicht verrückt, Gav. Die ersten paar Male habe ich es noch meiner Vergesslichkeit zugeschrieben, dass ich mich einfach nicht mehr daran erinnerte, die beiden Kuscheltiere in ihrem Bettchen gelassen zu haben. Aber dann habe ich angefangen, ganz genau aufzupassen, wohin ich sie legte.«
Gavin runzelte verwirrt die Stirn, denn es war nicht Gingers Art, Dinge im Bettchen ihrer Tochter zu lassen, die eine Gefahr für sie darstellen konnten. Er glaubte keinen Moment lang, dass sie so etwas auch nur eine Minute vergessen würde.
Ginger schlich zum Bettchen und schlug dann eine Hand vor ihren Mund, um ihren Schrei zu ersticken. Mit zitternder Hand zeigte sie auf die Kuscheltiere. »Gavin, ich hab sie vor einer Viertelstunde herausgenommen. Als ich dich angerufen habe. Ich hab sie da oben auf die Kommode gestellt. Und jetzt sind sie wieder da. Jemand kommt hier rein.«
Gavin zog Ginger in seine Arme und drückte einen Kuss auf ihre Stirn. »Schsch, Darling. Ich werde mich sofort darum kümmern. Es ist wirklich ganz einfach. Von jetzt an wird ihr Bettchen bei uns im Schlafzimmer stehen anstatt nebenan, und wenn sie tagsüber schläft, legst du sie in die Trage und nimmst sie überallhin mit. Wir werden schon dahinterkommen, was da los ist. Ich kann mir das Filmmaterial von der Überwachungskamera ansehen, und wenn jemand hier drin war, finde ich es heraus.«
Nachdem Gavin sich das Video der Überwachungskamera aus dem Schlafzimmer seiner Tochter angesehen hatte, wusste er immer noch nicht recht, was er da eigentlich sah. Es war einfach nicht möglich. Und trotzdem hatte er den unwiderlegbaren Beweis vor Augen. Es war niemand im Zimmer seiner Tochter, aber irgendetwas war da.
Ganz gleich, wie häufig er sich das Video ansah, es blieb immer das Gleiche. Die beiden Schmusis, wie Ginger die beiden Lieblingskuscheltiere ihrer Tochter nannte – die einzige Erinnerung daran, wie Ari in ihr Leben getreten war, und ein heimlicher Tribut an die Frau, die ihr Baby auf ihrer Schwelle zurückgelassen hatte –, bewegten sich von der Stelle weg, an der Ginger sie abgelegt hatte, und schwebten durch den Raum, bis sie in Aris Bettchen fielen.
Logisches Denken war tief in Gavins Vorstellungswelt verwurzelt. Sein Geist war nicht in der Lage, etwas dermaßen Unlogisches zu erfassen.
Und nach der Erkenntnis, dass er hier mit Logik nicht weiterkam, bemächtigte sich seiner eine Furcht, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wurde ihre Tochter von etwas Bösen heimgesucht? Er hatte nie an übersinnliche Phänomene oder Geister geglaubt. Sie passten einfach nicht in seine logische, geordnete Sicht auf die Welt. Aber irgendetwas brachte die Kuscheltiere dazu, durch den Raum zu schweben und im Bettchen seiner Tochter zu landen.
Was sollte er Ginger erzählen, ohne sie damit zu Tode zu erschrecken? Er würde bis ans Ende der Welt gehen, um seine Frau und seine Tochter zu beschützen. Wenn er sie vor jeder Angst, jedem Schmerz bewahren könnte, würde er das tun, ohne auch nur einen Funken Bedauern deswegen zu verspüren.
Ruhig wies er den Leiter seiner Sicherheitskräfte an, Aris Bettchen in sein und Gingers Schlafzimmer zu stellen. Alles andere im Kinderzimmer sollte so bleiben, wie es war.
Gavin erwachte sofort, als er Ginger überrascht Luft holen hörte. Schnell sprang er aus dem Bett und eilte zu Ginger, die mit verwirrter Miene neben Aris Bettchen stand.
Die beiden Schmusis lagen bei Ari im Bettchen. Die Kleine war wach und umklammerte eines der Kuscheltiere mit ihren pummeligen Fäustchen, während sie an dessen Ohr kaute. Sie lächelte zu ihren Eltern auf und strampelte mit den Beinchen, als wollte sie ihnen zeigen, dass sie hellwach war und bereit, aus dem Bettchen genommen zu werden.
Gavins scharfer Blick ging zur Schlafzimmertür, die er nicht nur geschlossen, sondern abgeschlossen hatte, ehe sie zu Bett gegangen waren. Jetzt stand sie sperrangelweit offen, und die beiden Schmusis, die im Kinderzimmer geblieben waren, lagen nun zu Aris offensichtlicher Freude in ihrem Bettchen.
In dem Moment wusste er, dass er das Überwachungsvideo Ginger nicht länger vorenthalten konnte. Es war zu eindeutig, dass hier irgendetwas nicht stimmte.
Ginger griff ins Bettchen, um Ari hochzunehmen, dabei entglitt seiner Tochter das Kuscheltier. Das löste sofort ein bekümmertes Wimmern bei Ari aus, das erst wieder aufhörte, als Ginger das Kuscheltier ebenfalls hochnahm, sodass Ari danach greifen konnte.
Tränen echter Furcht standen in den Augen seiner Frau, als sie sich mit bittendem Blick zu ihm umdrehte. Wortlos bat sie ihn darum, alles wieder in Ordnung zu bringen und dafür zu sorgen, dass diese seltsamen Vorgänge aufhörten. Diese Bitte machte ihm zu schaffen, denn er fühlte sich genauso hilflos wie sie und hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
Nie hatte er versagt, wenn es darum ging, seine Frau oder seine Tochter mit dem zu versorgen, was sie brauchten oder sich wünschten. Sein Sinnen und Trachten bestand einzig darin, seine Familie zu beschützen und für ihre Sicherheit, ihr Glück und ihr Wohlergehen zu sorgen. Trotzdem hatte er keine Antwort für das Unerklärliche.
»Füttere sie, wechsle ihre Windel, und komm dann zu mir in den Überwachungsraum«, sagte Gavin mit leiser Stimme. Er gab sich ganz ruhig und gelassen, damit Ari seine und Gingers Sorge nicht bemerkte.
»Was ist denn los, Gav?«, wisperte Ginger.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er ehrlich. »Aber ich habe vor, es herauszufinden. Kümmere dich um Ari, dann klären wir das.«
Schweigend verließ Ginger das Schlafzimmer, doch ihre Anspannung war mit Händen zu greifen. Es war ihm zuwider, dass sie Angst hatte. Verdammt, er hatte doch auch Angst! Nichts hatte ihn je auf so eine Situation vorbereitet. Wie wehrte man sich gegen etwas, gegen das man sich nicht wehren konnte?
Er war kein religiöser Mensch, aber in diesem Moment ertappte er sich dabei, wie er ein Gebet an Gott richtete, alles Böse aus seinem Haus zu vertreiben.
Gavin trat zur Tür hin, nachdem Ginger den Raum verlassen hatte, um auf direktem Wege in die Küche zu gehen und Ari zu füttern. Sorgfältig untersuchte er das Schloss und forschte nach Hinweisen darauf, dass sich jemand gewaltsam Eintritt verschafft hatte. Doch sein scharfer Blick konnte nichts entdecken. Es gab keinerlei Kratzer, nichts, was den Lack beschädigt hätte, das Schloss oder die Türklinke. Wie zum Teufel war die Tür geöffnet worden? Und wie hatten die beiden Kuscheltiere im Bett seiner Tochter landen können, ohne dass er etwas mitbekommen hatte?
Er hatte einen leichten Schlaf. Das war schon immer so gewesen. Aber seit Ari hatte er sich daran gewöhnt, schon beim leisesten Geräusch, jedem Weinen oder anderem Hinweis, dass etwas nicht stimmte, sofort wach zu werden. Und doch hatte er die ganze Nacht mit seiner Frau in den Armen durchgeschlafen, während Ari in ihrem Bettchen gelegen hatte, das nur ein paar Meter von ihrem Bett entfernt stand. Er hatte das Kinderbett bewusst ans andere Ende des Raumes stellen lassen, damit sein und Gingers Bett zwischen dem Bettchen und der Tür stand.
Kopfschüttelnd stieg er die Treppe hinunter und sah, als er in die Küche kam, Ari fröhlich gurgelnd in ihrem Hochstuhl sitzen und eins ihrer Schmusis umklammern, während Ginger ein Fläschchen vorbereitete. Er hauchte einen Kuss auf Aris seidige Löckchen und wurde dafür mit einem Lächeln belohnt, das wie immer dafür sorgte, dass sich in seinem Innern wohltuende Wärme ausbreitete.
Wie war ihr Leben vor Ari gewesen, als sie gedacht hatten, sie würden nie ein Kind haben? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er und Ginger waren glücklich gewesen. Er hatte die Frau, die er mehr als sein Leben liebte, und war der Meinung, nichts würde ihm fehlen.
Bis Ari in ihr Leben getreten war.
Ari war ein Geschenk des Himmels. Sie ließ ihn an den Geist der Weihnacht glauben, an die Seligkeit des Gebens. Durch ihr Kommen hatte Ginger nicht mehr leiden müssen. Es hatte keine Zweifel mehr gegeben, ob Gavin sie eines Tages wegen einer Frau verließ, die ihm etwas geben konnte, was er nicht mal wollte, solange es nicht von Ginger kam.
Ginger hatte die Vorbereitung von Aris Fläschchen beendet, stellte es aber auf die Arbeitsfläche, als Gavin die Arme um sie schlang und sie küsste. Er konnte nie genug von ihren Küssen bekommen; sie verloren nie ihren Zauber, der ihn alles um sich herum und sogar sich selber vergessen ließ.
Ari, die offensichtlich ungeduldig war, ließ ihr Schmusi fallen, klopfte auf das integrierte Tischchen ihres Hochstuhls und sagte: »Mama! Mama!« Eine sehr energische Aufforderung an ihre Mutter.
Ginger lachte leise und entzog ihren Mund Gavins Kuss.
»Ich glaube, unsere Tochter hat Hunger. Ich werde sie im Überwachungsraum füttern. Du wolltest mir irgendetwas zeigen?«
Er hasste die Angst in ihrer Stimme und dass sie versuchte, so leichthin darüber hinwegzugehen, indem sie ihm vorspielte, sich keine Sorgen zu machen, während er genau wusste, dass sie es doch tat.
»Gavin!«, stieß sie plötzlich mit einem erstickten Flüstern hervor. »Sieh doch!«
Verblüfft beobachteten beide, wie das vorbereitete Fläschchen in die Höhe stieg und langsam quer durch die Küche in Aris ausgestreckte Hände schwebte.
Keiner rührte sich. Beide hielten die Luft an und sahen fassungslos zu, wie Ari mit beiden Händen nach dem Fläschchen griff und es so zu halten versuchte, dass sie daraus trinken konnte.
»Ist das gerade wirklich passiert?«, flüsterte Ginger, und weil seine Arme immer noch um sie lagen, spürte Gavin, dass sie am ganzen Körper zitterte.
Er war so erschüttert, dass er nicht einmal zu einer Antwort fähig war. Erst die ausgestopften Tiere, die trotz einer abgeschlossenen Tür von ganz allein zu Ari gefunden hatten? Und jetzt das?
Zum ersten Mal regte sich in ihm der Verdacht, dass Ari diese Dinge geschehen ließ. Aber sie war doch ein Kind! Ein Baby! Die bloße Vorstellung, sie könnte die Fähigkeit besitzen, Dinge, die sie haben wollte, in ihre Nähe zu bewegen, war schwindelerregend.
Ginger erwachte aus ihrer Regungslosigkeit und eilte zu dem Hochstuhl, in den sie Ari gesetzt hatte, während sie ihr Fläschchen vorbereitete. Als sie versuchte, Ari das Fläschchen sanft zu entwinden, gab Ari einen unwilligen Laut von sich, und zu Gavins noch größerem Entsetzen schien es so, als wäre Ginger in eine Art Tauziehen verwickelt, als die Flasche sich ihrem Griff zu entziehen schien.
Sofort eilte auch Gavin herbei und drehte das Tischchen zur Seite, ehe er Ari aus dem Stuhl nahm, um sie zu besänftigen. Kaum aber reichte Ginger ihm das Fläschchen, beruhigte Ari sich und begann, in die Arme ihres Vaters geschmiegt, an der Flasche zu nuckeln.
Er hob den Blick zu Ginger, der man die Angst in ihren riesigen Augen deutlich ansah.
»Was ist das, Gav?«, fragte sie verängstigt. »Kann es sein, dass sie die Kuscheltiere bewegt hat? Wir können das, was wir gerade gesehen haben, nicht einfach abtun, wie unlogisch es auch scheinen mag. Wir wären beide niemals darauf gekommen.«
Gavin legte den freien Arm um seine Frau und zog sie an sich, sodass er seine Tochter und seine Frau ganz nah bei sich hatte.
»Es scheint so, als hätte unsere Tochter ein paar besondere Fähigkeiten«, murmelte Gavin.
»Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragte Ginger sichtlich verzweifelt. »Das darf niemand erfahren. Was, wenn ihre leiblichen Eltern sich melden, falls herauskommt, dass sie …?«
Sie schloss einen Moment lang die Augen und legte den Kopf an Gavins Brust.
»Was ist mit ihr, Gavin? Ich verstehe das nicht. Ich habe nicht einmal einen Namen dafür.«
»Es weist alles auf Telekinese hin. Aber sie ist noch so klein. Es könnte sein, dass ihre Fähigkeiten noch nicht voll entwickelt sind. Wir müssen auf alles gefasst sein. Jetzt ist es wichtiger denn je, sie nicht in die Öffentlichkeit zu lassen. Sie wird nicht zur Schule gehen können. Zumindest nicht, solange wir nicht wissen, wie groß ihre Fähigkeiten sind, und sie nicht gelernt hat, sie zu kontrollieren.«
»Das ist nicht das Leben, das ich mir für sie gewünscht habe«, meinte Ginger stockend.
Gavin spürte die Wärme ihrer Tränen, die sein dünnes T-Shirt netzten, und sein Herz zog sich zusammen. Er zog sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel.
»Sie wird ein gutes Leben haben«, versicherte er ihr. Das war ein Schwur. Ein Schwur, an den er sich unter allen Umständen gebunden fühlte. »Sie wird vielleicht nicht in der Lage sein, all die Dinge zu tun, die andere Kinder in ihrem Alter machen, aber sie wird ein abwechslungsreiches und erfülltes Leben führen. Dafür werden du und ich sorgen. Sobald sie alt genug ist, um zu begreifen, welche Folgen es hat, wenn sie ihre Fähigkeiten einsetzt, wird sie begreifen, dass sie nichts tun darf, das unerwünschte Aufmerksamkeit auf sie lenken könnte.«
Ginger löste sich von ihm und sah ihn mit einem schwankenden Lächeln, aber immerhin einem Lächeln an. »Ich habe immer gewusst, dass sie etwas Besonderes ist. Ein Geschenk Gottes, als ich es am meisten brauchte. Vielleicht war alles so vorherbestimmt. Wir haben die Möglichkeiten, sie zu beschützen, ihr eine Ausbildung zu finanzieren und ihr die Führung und die Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, die sie braucht, bis sie groß ist.«
Dann hielt sie bestürzt inne und kaute auf ihrer Unterlippe.
»Ich glaube, meine größte Furcht von dem Moment an, als sie in unser Leben trat, war, dass eines Tages jemand nach ihr suchen könnte, um sie von uns zurückzufordern.«
Gavin nahm Ari das Fläschchen ab und hob sie an seine Schulter, damit sie ihr Bäuerchen machen konnte. Er sah Ginger fest in die Augen, weil er wollte, dass sie wusste, dass er jedes einzelne Wort so meinte: »Nichts und niemand wird uns unsere Tochter wegnehmen. Für die meisten Menschen sind wir ohnehin von der Bildfläche verschwunden. Ich habe verbreiten lassen, dass wir jetzt in Europa leben. Dieses Haus kann unmöglich mit mir in Verbindung gebracht werden. Das Unternehmen, das ich hier führe, ist im Besitz einer Handvoll Briefkastenfirmen, die alle mir gehören. Man müsste schon sehr tief graben und eine große Portion Glück haben, um mich in den Vereinigten Staaten aufzuspüren.«
»Daran zweifle ich nicht, Gav. Bitte, glaube nicht, dass ich kein Vertrauen zu dir hätte. Aber ich werde immer in der Furcht leben, dass man sie mir wegnimmt. Vielleicht wird diese Furcht mit der Zeit nachlassen. Vielleicht werde ich mich eines Tages entspannen, aber die Mutter in mir erkennt, dass ich mir immer um mein kleines Mädchen Sorgen machen werde, wie alt sie auch sein mag.«
Gavin ging mit großem Ernst auf ihre Worte ein. »Ich und du … wir beide, Liebling.«
Dieses Mal waren sie nicht überrascht, als Aris Schmusi sich vom Boden erhob, wo er hingefallen war, und im nächsten Augenblick genau über ihr schwebte. Gavin »pflückte« den Schmusi aus der Luft und drehte Ari so, dass sie nach dem ausgestopften Plüschtier greifen konnte.
»Ich glaube, es ist Zeit für ihr Nickerchen«, meinte Ginger ein wenig schuldbewusst. »Und es hat wohl keinen Sinn, ihr die Schmusis weiter vorzuenthalten.«
Gavin rang sich ein gequältes Lächeln ab, als er an die vor ihnen liegenden Jahre dachte. »Ich glaube, mein Schatz, dass uns bei der Erziehung unserer Tochter ein ziemliches Abenteuer bevorsteht.«
Zweiundzwanzig Jahre später …
Arial Rochester seufzte leise, als sie durch das Tor der Privatschule ging, in der sie Englisch unterrichtete. Wie immer am Ende eines Schuljahres überkam sie ein Anflug von Traurigkeit.
Doch sie schüttelte den kurzen Moment der Melancholie ab, weil sie schon bald bei ihren Eltern sein würde, um den Sommer mit ihnen an einem Ort zu verbringen, den ihr Vater als diesjährige Überraschung für ihre Mutter ausgesucht hatte.
Sie lächelte, als sie an ihre Eltern dachte. Nach so vielen Jahren Ehe waren die beiden immer noch verliebt ineinander. Ihr Vater hatte einen ebenso starken Beschützerinstinkt gegenüber ihrer Mutter wie ihre Mutter und ihr Vater ihr gegenüber.
Aus gutem Grund.
Erzähl nie etwas. Lass es niemanden wissen. Setze deine Fähigkeiten niemals ein.
Das war ein Mantra, das ihr Vater ihr eingeflößt hatte, seit sie sich erinnern konnte. Sie war behütet, abgeschirmt und isoliert aufgezogen worden. Aus gutem Grund.
Ihre Eltern hatten alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihr zumindest einen Anschein von Normalität zu vermitteln, aber vergebens, denn Ari war nun mal nicht normal. Sie war eine Laune der Natur. Etwas aus einem Science-Fiction-Film. Menschen wie sie gab es eigentlich gar nicht. Dennoch war sie da. Eine logische Erklärung gab es dafür nicht.
Ihr Vater war der Inbegriff von Logik und Vernunft. Er besaß einen brillanten, analytischen Verstand, doch sogar er schien angesichts von Aris Fähigkeiten ratlos zu sein. Seine größte Furcht war es immer gewesen, entdeckt zu werden, dass Ari irgendwie entlarvt und ihren Eltern weggenommen würde. Oder dass ihr durch Menschen Gefahr drohen könnte, die sich ihre Fähigkeiten zunutze machen wollten, um sich dadurch Vorteile zu verschaffen. Deshalb war sie zu Hause unterrichtet worden. Ohne ihr Team aus Leibwächtern war sie nie irgendwohin gegangen.
Doch nachdem sie mit Auszeichnung auf einer kleinen Privatuni abgeschlossen hatte, war sie dem sicheren Kokon entschlüpft, den ihr Vater vor so vielen Jahren für sie geschaffen hatte.
Was ihm genauso wenig gefiel wie ihrer Mutter. Aber glücklicherweise verstanden sie sie. Ihr Vater hatte sie nur darum gebeten, nie jemandem Grund zu der Annahme zu geben, sie sei anders als andere junge Frauen.
Es war ihr kein bisschen schwergefallen, ihm dieses Versprechen zu geben, denn Normalität war ja, wonach sie sich sehnte. Sie wollte nicht »die Missgeburt« sein. Ihre Eltern hatten sie in der ständigen Furcht vor Entdeckung aufgezogen. Erst als sie alt genug war, zu verstehen, dass sie ihre Fähigkeiten nicht einsetzen durfte, um sich nicht allen anderen zu offenbaren, hatte deren Sorge ein wenig nachgelassen. Sie lebten nicht mehr in der ständigen Angst, dass Ari unabsichtlich offenbaren könnte, zu was sie in der Lage war.
Ihre Eltern hatten große Opfer für sie gebracht. Ihr ganzes Leben hatte sich immer nur um ihren Schutz gedreht. Ari bedauerte von ganzem Herzen, dass sie ihretwegen kein normales Leben hatte führen können.
Sie holte die Schlüssel aus ihrer Handtasche, während sie zügigen Schritts die belebte Straße entlangging, in der sich die Schule befand. Das große Backsteingebäude war von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben, dessen Tor nach Schulbeginn geschlossen und erst Minuten, ehe die Schule aus war, wieder geöffnet wurde. Der Lehrerparkplatz lag nur einen halben Block vom Tor entfernt, und da nur noch ihr Auto dort stand, musste sie die Letzte sein, die sich auf den Heimweg machte.
Als sie den Parkplatz überqueren wollte, wurde sie grob zu Boden gestoßen. Sie versuchte, den Sturz abzufangen, und schürfte sich Knie und Hände auf.
Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen. »Du blöde Schlampe! Glaubst du etwa, du kommst damit durch, dass du mich durchfallen lässt? Wenn du nicht wärst, könnte ich im Herbst aufs College gehen. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was meine Eltern tun werden, wenn sie meine Abschlussnoten sehen?«
Sie erkannte die Stimme eines ihrer Schüler. Derek Cambridge. Er kam aus einer wohlhabenden Familie und war dermaßen verwöhnt, dass einem die Spucke wegblieb. Aber obwohl er egoistisch und arrogant war, wäre es ihr nicht im Traum eingefallen, dass er sie wegen der Note, die er von ihr bekommen hatte, angreifen würde.
Sie hatte keine Mühen gescheut, um ihm zu helfen. Sie hatte nicht gewollt, dass er durchfiel, doch er hatte sich gegen all ihre Anstrengungen gewehrt, weil er in seiner Arroganz glaubte, sie müsste ihn unabhängig von seinen Leistungen oder Fehlleistungen bestehen lassen. Vielleicht hatte er aber auch gedacht, durch den Reichtum und den gesellschaftlichen Stand seiner Eltern durchs Leben und durch die Schule schlingern zu können.
Als sie aufschaute, gefror ihr das Blut in den Adern, denn er war nicht allein. Zwei Jungs, bei denen es sich um seine Kumpane handeln musste, standen neben ihm und wirkten genauso außer sich wie Derek. Hatten diese Burschen den Verstand verloren? Eine Frau am helllichten Tage auf offener Straße vor einer Schule anzugreifen?
Sie sah sich Hilfe suchend um.
Ein Tritt in die Seite schleuderte sie herum, sodass sie hart auf dem Rücken landete. Ihre Handtasche lag unter ihr, während sie um Atem rang.
Als sie aufschaute und dem wütenden Blick von Derek Cambridge begegnete, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
Es ging nicht mehr nur darum, dass er Dampf ablassen wollte. Sie sah Mordlust in seinen Augen. Und seine Freunde machten keine Anstalten, ihr zur Seite zu stehen. Beide trugen ein höhnisches Grinsen zur Schau, als wären sie davon überzeugt, dass sie bekam, was sie verdient hatte.
Metall blitzte in der Sonne. Ein Messer.
Derek hielt es mit der Klinge nach unten in der Faust. Sie wusste, dass er sie an Ort und Stelle töten würde.
Obwohl ihre Fähigkeiten lange geschlummert hatten und sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, sie um jeden Preis zu unterdrücken, kehrten sie mit ihrem Selbsterhaltungstrieb zurück und gewannen die Oberhand.
Sie handelte instinktiv. Sie musste sich nicht einmal darauf konzentrieren. Plötzlich hagelten Steine auf ihren Angreifer, die ihn nach hinten taumeln ließen, wobei er eine Hand schützend vors Gesicht legte, während die andere weiter das Messer umklammerte.
Der von ihr entfesselte Wind wehte so scharf, dass er fast einem Tropensturm glich. Nachdem sie für Abstand zwischen sich und dem Teenager mit dem Messer gesorgt hatte, ließ sie ihren forschenden Blick auf der Suche nach einer Waffe schweifen.
Sie schaute zu dem Baum auf, der seinen Schatten auf einen Teil des Bürgersteigs warf. Ein dicker Ast knackte, das Geräusch war so laut wie ein Schuss. Dann fiel er auf die drei Jungs herab, die sie bedrohten.
»Was geht denn hier ab, Alter?«, rief einer von Dereks Freunden.
Ari kannte die anderen beiden nicht. Sie war sich zu neunundneunzig Prozent sicher, dass sie nicht auf ihre Schule gingen, denn die Schülerzahl war hier nicht so hoch wie an öffentlichen Schulen. Außerdem kannte sie die Gesichter und die meisten Namen der Schüler, die die Grover Academy besuchten.
»Schnappt euch die Schlampe, und haltet sie fest, damit ich sie wie das Schwein, das sie ist, abstechen kann«, knurrte Derek.
Sie hatte ihn verletzt. Blut tropfte aus Dereks Nase, aber er machte sich nicht die Mühe, es wegzuwischen. Seine Augen funkelten wild, und Ari merkte, dass er nicht nur wütend war, weil sie ihn hatte durchfallen lassen, sondern dass er zudem unter Drogen stand.
Jetzt wurde es ernst.
Sie rappelte sich auf und nutzte den Moment des Innehaltens der anderen zu ihrem Vorteil. Sie brauchte irgendetwas, womit sie sich wehren konnte. Sie musste sich umschauen und herausfinden, welche Möglichkeiten ihr zur Verfügung standen.