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Nach einem gewaltigen Meteoritenschauer ist die Erde verwüstet. Inmitten der Ödnis liegt Blackpool, eine Geisterstadt, in der Raven und seine Jugendgang jeden Tag ums Überleben kämpfen. Mit schnellen Fahrzeugen und geschickt gestellten Fallen verteidigen die Freunde ihr Revier. Nach einem Überfall müssen Raven und die "Desert Plants" ihre Heimat überstürzt verlassen und machen sich auf die Suche nach Paxtonia. Dort soll es Wasser im Überfluss geben und Frieden herrschen. Vor ihnen liegt eine Reise voller Gefahren durch die Darklands - außerdem scheint es in den eigenen Reihen einen Verräter zu geben…
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Seitenzahl: 201
FABIAN LENK
DARKLANDS
IM REICH DER SCHATTEN
BAND 1
KOSMOS
Umschlaggestaltung: Weiß-Freiburg GmbH – Graphik & Buchgestaltung unter
Verwendung einer Illustration von Arne Jysch
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© 2018, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-440-15769-5
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für Yannick.
Weil er so etwas immer lesen wollte.
Sie kam. Höher als ein Haus und mit der Wucht von tausend Tonnen. Sie bäumte sich vor dem Kind auf wie eine schwarze Wand. Eine Wand aus kaltem Wasser. Für einen Moment schien die riesige Welle stillzustehen.
Raven starrte sie an. Voller Panik. Er schrie, klammerte sich an einen lächerlich kleinen Holzbalken, mit dem er in den schäumenden Fluten trieb, während der Sturm über ihm tobte.
Blitze zerfetzten düstere Wolkenberge, schickten gezackte Lanzen aus Licht über den Himmel. Donner grollte. Der Regen trommelte unablässig auf ihn herab.
Der Kamm der Welle neigte sich – so, als wolle er sich verbeugen vor seinem Opfer, bevor er es zerschmetterte. Dann kippte die Woge nach vorn.
Schwarzes Wasser stürzte auf Raven zu. Er schloss die Augen. Mit vernichtender Kraft traf die Welle ihn, drückte ihn hinunter, drehte ihn wie einen Ball, spielte mit ihm, bis es ihr gefiel, ihn wieder auszuspucken.
Raven schnappte nach Luft, schluckte die salzige Brühe.
Er wollte leben, er kämpfte, er fand das Holz und umschlang es.
Die riesige Welle rauschte weiter, suchte das nächste Spielzeug.
Raven sah ihr nach, während der Regen sein Gesicht peitschte, und erblickte plötzlich einen anderen kleinen Körper, der dort in einem Wellental trieb, vielleicht zwanzig Meter von ihm entfernt.
Wer war das?
Raven rief, erhielt aber keine Antwort. Vielleicht war derjenige auch schon…
Die nächsten Wogen rollten heran und nahmen Raven die Sicht auf die Gestalt. Doch keine der neuen Wellen hatte die Macht der ersten.
Raven und sein Holzbalken tanzten über sie hinweg wie Korken.
Allmählich schwanden Ravens Kräfte. Schließlich wollte er loslassen, aufgeben, hinabsinken in eine Welt aus Stille und Nichts. Nicht mehr kämpfen müssen gegen den übermächtigen Feind, gegen den er sowieso keine Chance hatte. Frieden finden.
Schon glitten seine Finger von dem nassen Balken.
Doch in letzter Sekunde packte Raven zu. Nein, so nicht! Noch nicht.
Wieder teilte ein Blitz das Heer der Wolken. Weitere folgten, ein wahres Feuerwerk im prasselnden Regen – und als Raven einmal mehr hinaufgetragen wurde von einer der gewaltigen Wogen, erkannte er einen Streifen Land.
Land!
Raven konnte es nicht fassen. Neue Kraft flutete seinen kleinen Körper. Konnte er die Küste erreichen? Raven gab alles, er ruderte und strampelte. Doch es stand nicht in seiner Macht, wohin er gelangte. Er gehörte dem Meer. Es machte mit ihm, was es wollte.
Aber die tosende See zeigte sich gnädig. Das Meer wiegte Raven eine Weile hin und her, dann trug eine Welle ihn mit sich fort und warf ihn schließlich an den Strand. Ein nasses Bündel Mensch und ein Stück Holz.
Mit letzter Kraft krabbelte Raven den Strand hinauf, während der kalte Regen ihn mit unveränderter Wucht traf.
Als sich Raven in Sicherheit wähnte, drehte er sich um und schaute mit jagendem Atem zurück auf das wütende Meer, das alles zu verschlingen schien.
Dann griff er in sein zerfetztes Hemd und seine Finger schlossen sich um ein sehr dünnes Rohr aus Metall, das er an einem Kettchen um den Hals trug. Es war noch da. Gut. Ein kleiner Trost.
Doch wo war er hier? Raven wusste es nicht. Die Küste war nicht mehr als ein schwarzer Strich. Nirgends brannte ein tröstendes Licht. Wohin sollte er sich wenden, wo konnte er Hilfe finden?
Er schaute erneut zum Ozean. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Eine Welle, weit größer als alle, die er bisher gesehen hatte, donnerte auf die Küste zu und würde sie zerschmettern.
Sein Mund öffnete sich zu einem gellenden Schrei.
Raven schreckte aus seinem Bett hoch. Er wischte sich über die Augen, vertrieb die bösen Bilder. Sein Puls hämmerte.
Wieder dieser Albtraum. Wie fast jede Nacht. Seit über zehn Jahren suchte der Traum Raven heim, er schlich sich in seinen Schlaf und seine Gedanken wie ein Gift. Doch Raven konnte diesen verfluchten Traum nicht deuten.
Seufzend setzte er sich auf die Bettkante und schaute auf die Uhr. Halb sieben.
Raven griff nach dem Röhrchen, fühlte das kühle Metall. Gedankenverloren zog er es hervor und betrachtete es im ersten Tageslicht, das durch das kaputte Fenster in den Raum fiel.
Das Röhrchen hatte einen seltsamen Verschluss und ließ sich nicht öffnen. Raven wusste nicht, was sich im Inneren verbarg. Unzählige Male hatte er versucht, es zu öffnen, selbst mit Gewalt, doch es war ihm nie gelungen. Vielleicht war es ja auch leer.
Er hatte zudem keine Ahnung, woher er das Röhrchen hatte. Es war irgendwie immer da gewesen und Raven betrachtete es als eine Art Talisman.
Da flatterte eine Krähe heran und ließ sich auf Ravens rechtem Knie nieder. Sie legte den Kopf schief und schaute ihn an. Ihre Augen waren wie zwei tiefe, schwarze Seen und immer in Bewegung.
Raven lächelte und strich dem Vogel, den er Spy getauft hatte, über das Gefieder.
Spy war äußerst wachsam, klug und selbstbewusst. Er hatte seinen eigenen Kopf, er tat, was er wollte.
Und vor vielen Jahren war es Spy in den Sinn gekommen, aus welchen Gründen auch immer, sich Raven als Begleiter auszusuchen.
Raven, der damals sechs Jahre alt gewesen war, hatte hungrig und zitternd in der Gosse gesessen. Die Krähe war immer näher gekommen und hatte sich schließlich auf die Hand gesetzt, die Raven ihr entgegengestreckt hatte: der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft.
Nun stand Raven auf, und Spy wechselte die Position: Er hockte sich auf dessen Schulter.
Raven erreichte das Fenster des Zimmers, das im zehnten Stock eines Hochhauses lag. Er wischte sich eine hellbraune Haarsträhne aus der Stirn und richtete die leicht schräg stehenden, eisblauen Augen auf die Stadt.
Gerade ging die Sonne auf. Ihre ersten Strahlen tasteten sich über ein gewaltiges Trümmerfeld – die Stadt Blackpool inmitten der Darklands.
Ravens Heimat.
Auch heute würde es wieder ein heißer Tag werden. Wie immer. Schließlich herrschte in den Darklands stets eine gnadenlose Hitze. Tagsüber war alles in ein grelles weißes Licht getaucht.
Frühling, Herbst, Winter? Fehlanzeige, allenfalls bekannt aus den Erzählungen der Älteren oder verschwommenen Erinnerungen.
Ravens Blick streifte zum Horizont. Hinter der weitgehend zerstörten Stadt Blackpool breitete sich eine endlose Wüste aus, die von Bergketten durchzogen wurde.
Eine heiße, verbrannte Welt, die es so erst seit zehn Jahren gab. Damals hatten ein gewaltiger Meteoritenschauer und ein anschließender verheerender Tsunami die Erde verwüstet. Die Welt war größtenteils in Schutt und Asche versunken, sie war verglüht, verbrannt und zermalmt worden im Dauerfeuer der riesigen Gesteinsbrocken. Dort, wo sie in die Ozeane schlugen, erhoben sich Meere zu nie dagewesener Größe und versuchten das wenige Leben, das die Meteoriten noch übrig gelassen hatten, zu ertränken. Es gelang ihnen nicht ganz. Als das Schlimmste überstanden war, sammelten sich die Überlebenden und suchten Orte, an denen Leben möglich war.
Wie in Blackpool.
Aus Erzählungen wusste Raven, dass Blackpool einst eine blühende Millionenmetropole gewesen sein musste. Doch jetzt war sie eine mit Staub überzogene Geisterstadt, die in der sengenden Sonne vor sich hinvegetierte. Kaum etwas funktionierte noch: Das Rathaus war eine verkohlte Ruine, ebenso das einst so stolze Theater und das Opernhaus. Die ehemals eleganten Einkaufszentren, der Flughafen und die Bahnhöfe waren verfallen, die Straßen aufgebrochen wie Geschwüre und voller Narben. Die Parks glichen Steppen, ihre Teiche, in denen einst Seerosen blühten, waren lehmige Kuhlen. Eine schwarze Rauchfahne stand kerzengerade über einem eingestürzten Krankenhaus.
Da nahm Raven in einiger Entfernung eine Bewegung wahr und griff sofort zum Fernglas. Er erkannte mehrere Jugendliche in Lumpen, die etwa in seinem Alter waren und über ein Trümmerfeld streunten, wo früher ein Kinokomplex gestanden hatte.
An den roten Tüchern, die sie sich um die Oberarme gebunden hatten, erkannte Raven, dass es Mitglieder der Reds waren, einer anderen Jugendbande. Sie waren mit Messern und Eisenstangen bewaffnet.
Raven ahnte, dass die Reds auf der Suche nach Wasser, Essbarem oder Dingen waren, die sie irgendwie verwerten konnten – Schrott zum Beispiel.
Immer wieder schauten sich die Reds um, als hätten sie vor etwas Angst. Die Waffen schienen sie nur zur Verteidigung, nicht aber für einen Angriff dabeizuhaben. Mit Genugtuung stellte Raven fest, dass sich die Reds von einer Grenze aus Stacheldraht fernhielten. Denn das war die Grenze zu dem Gebiet, das die Desert Plants, deren Anführer er seit zwei Jahren war, kontrollierten.
Die ganze Stadt war in Reviere unterteilt, die zum Teil von Jugendlichen beherrscht wurden, deren Eltern nach der Naturkatastrophe verschollen waren. Am Anfang hatte man versucht, gemeinsam zu leben, doch es bildeten sich schnell Gruppen heraus, die von Typen kommandiert wurden, die nur ihren eigenen Vorteil im Kopf hatten. Inzwischen kämpften die Gangs in der verwüsteten Stadt ums nackte Überleben und waren untereinander verfeindet.
Das Gebiet der Deserts lag etwa im Zentrum von Blackpool und wurde von vier anderen Revieren umschlossen – das eine, das im Osten von ihnen lag, wurde von den Reds kontrolliert.
Auf der anderen Seite, im Westen, befand sich das Revier der Wölfe, die die Menschen, die dort einst gelebt hatten, vertrieben hatten. Niemand legte sich mit diesen mächtigen, klugen und beißwütigen Tieren an. Jedenfalls niemand, der am nächsten Morgen die ewige Sonne über Blackpool aufgehen sehen wollte.
Es gab Gerüchte, wonach das Rudel etwas sehr Wertvolles bewachte, aber niemand hatte bisher dieses Geheimnis lüften können. Die Wölfe waren einfach zu gefährlich und gerissen, sie sicherten und verteidigten ihre Grenze mit wahrer Perfektion und würden jeden zerreißen, der so dumm war, ihnen zu nahe zu kommen.
Im Süden lebten die Händler. Dieses Revier mit seinen überwiegend rostigen Tank- und Containerschiffen, den Verladeterminals und halb verfallenen Lagerhäusern wurde von den wenigen Erwachsenen kontrolliert, die es in Blackpool gab.
Und im Norden hausten die Sledgehammer, eine besonders brutale Gruppe von Motorradfahrern.
Unter den Gangs herrschte derzeit eine Art Waffenstillstand. Doch man konnte nie wissen, wie lange der hielt. Verrat, Täuschung und Hinterhalt waren in Blackpool an der Tagesordnung. Sie waren so normal wie die Ratten, die sich überall breit machten.
Die Deserts mussten ihre Grenzen also immer gut im Auge behalten und notfalls mit allen Mitteln verteidigen – und das noch aus einem ganz anderen Grund. In ihrem Gebiet gab es einen besonderen Schatz, den man ihnen neidete: Dort lag der einzige See in Blackpool, den Raven einst mit seinem besten Freund Zerron bei der Jagd entdeckt hatte. Er hieß Silver Lake und wurde von unterirdischen Quellen gespeist. Auch der Abfluss verlief unterirdisch.
Daher hatten nur Raven und seine Leute Zugang zum knappen und begehrten Wasser – in einer verdorrten, steinigen Einöde wie Blackpool ein unschätzbares Privileg. Das Wasser ließ die Deserts nicht nur überleben, sondern war auch ein wichtiges Tauschgut für sie. Dank des Silver Lake konnten sie sich zum Beispiel Nahrungsmittel, Kleidung oder Sprit für ihre Fahrzeuge besorgen. Nahrung bot der See jedoch nicht mehr – er war leer gefischt.
Um den See zu verteidigen, hatten sich Raven und seine Freunde immer besser ausrüsten müssen. Jeder von ihnen beherrschte inzwischen eine spezielle Waffe, die er immer griffbereit hatte. Raven zum Beispiel besaß einen schwarzen Bogen aus Carbon, eine elegant geformte und federleichte Präzisionswaffe mit verheerender Durchschlagskraft. Selbst auf zweihundert Meter durchbohrten Ravens Pfeile noch eine Autotür.
Außerdem hatte jeder der Deserts ein besonderes Fahrzeug. Zum Glück gab es in ihrem Team geniale Tüftler, die die Fahrzeuge, die in der zerstörten Stadt herrenlos herumgestanden hatten, in den vergangenen Jahren mit viel Liebe und Mühe umgebaut, aufgemotzt und zum Teil gepanzert hatten.
In diesem Moment krächzte Spy. Raven kannte die verschiedenen Laute des Vogels, konnte sie unterscheiden und wusste sie zu deuten. Dieses Krächzen war eindeutig ein Warnlaut gewesen.
Raven konzentrierte sich nicht mehr länger auf die Reds, sondern ließ das Fernglas über die angrenzenden Ruinen schweifen.
Er sog die Luft scharf zwischen den Zähnen ein. Ein Konvoi aus Motorrädern näherte sich aus Richtung Norden. Noch war er ein gutes Stück entfernt. Gerade verschwand der Konvoi hinter der Ruine eines großen Lagerhauses.
Motorräder… das konnten nur die Sledgehammer sein! In den letzten Monaten war es ruhig gewesen. Vielleicht zu ruhig.
Raven fluchte leise, weil er die Typen nicht mehr sehen konnte. Das Fernglas huschte von Haus zu Haus.
Da! Da waren sie wieder! Sein sehniger Körper spannte sich.
Ein Motorrad war gerade um eine Häuserecke gebogen und fuhr auf ihr Viertel zu. Ihm folgten weitere Bikes.
Da auf der Straße große Trümmerteile lagen und sie zum Teil aufgerissen war, kamen die Motorräder nur langsam voran.
Doch allmählich rückte der Konvoi näher und nun konnte Raven die Fahrer erkennen. Alle trugen schwarze Lederjacken, aus ihren Nietengürteln ragten Wurfhämmer, in die Eisenspitzen eingearbeitet waren – das Markenzeichen der Sledgehammer.
Ganz vorn fuhr eine hünenhafte Gestalt, an deren Motorrad ein schwarzes Banner flatterte. Wie die anderen trug der Fahrer keinen Helm, und daher konnte Raven sein Gesicht erkennen. Das war Snake, ein besonders gefürchtetes Mitglied der Bande und Ravens Intimfeind. Snake hatte sich durch besondere Brutalität hervorgetan, als es damals darum ging, die Grenzen in Blackpool zu ziehen und sich ein möglichst großes Stück des Kuchens zu sichern. Der Typ war ein dumpfer Krieger, der zwar den Wurfhammer mit fürchterlicher Wucht zu führen verstand, nicht aber eine Gruppe von Jugendlichen. Deshalb war Brutus, der etwas besonnener und vor allem klüger als Snake war, der Boss der Sledgehammer.
Aber wo war Brutus? Raven konnte ihn in dem Konvoi nicht entdecken.
Egal – Raven musste reagieren, und zwar schnell. Denn eines war klar: Die Sledgehammer kamen nicht, um mit den Deserts übers Wetter zu plaudern.
Sie wollten angreifen.
Raven schnappte sich seinen Bogen. Dann legte er einen ganz bestimmten Pfeil ein…
Der Pfeil zischte aus dem Fenster in den milchig blauen Himmel über der Stadt, explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall und ließ einen roten Feuerregen über dem Quartier der Deserts niedergehen. Das war das Zeichen für die höchste Alarmstufe.
Nun hetzte Raven nach unten. Spy flatterte neben ihm.
Hoffentlich kamen alle Deserts schnell zusammen, damit sie die Grenze besetzen und verteidigen konnten, dachte Raven, während er zwei Stufen auf einmal nahm.
Mit jagendem Atem erreichte er das Erdgeschoss, sprang über einen Haufen Ziegelsteine und stürzte aus der aufgebrochenen Tür, die schief in den Angeln hing.
Motorenlärm erwartete ihn auf der Straße und zauberte ein Lächeln auf sein angespanntes Gesicht.
Ein dunkelgraues Monster auf vier Rädern donnerte heran: der Trummer. Das allradbetriebene Ding hatte über fünfhundert PS und war eine Mischung aus einem Panzer und einem Jeep mit großer Ladefläche. Vorn hatte der acht Tonnen schwere Koloss einen gewaltigen Rammschutz und eine Batterie aus Scheinwerfern.
Der Trummer bremste scharf ab, die Tür flog auf, und Big T, der wie Zerron einer der besten Freunde von Raven war, sprang aus dem Fahrzeug. Big T war zwei Jahre älter als Raven, muskelbepackt und mit seinen knapp zwei Metern einen Kopf größer als er. Er hatte einen Bumerang in seiner großen Hand, mit dem er mit traumhafter Sicherheit traf, wenn es darauf ankam. Neben ihm lief sein Pitbull, der sofort glücklich zu sabbern begann, als er Raven erblickte. Er flitzte los, um Raven abzuschlecken. Doch der wich ihm aus, denn dafür war keine Zeit, und der Pitbull purzelte über seine eigenen Füße – eine Spezialität von ihm, die ihm den Namen Rollercoaster eingebracht hatte.
„Was liegt an?“, fragte Big T.
„Die Sledgehammer“, erwiderte Raven knapp. „Wir müssen die Grenzen verteidigen.“
Big T grinste und schwang den Bumerang. „Ist mir ein Vergnügen.“
In seinem Rücken raste eine getunte Motocrossmaschine auf sie zu. Sie wurde von Belana gesteuert. Ihre braunen glatten Haare wehten im Fahrtwind. In einem Gürtel an ihrer engen Lederkombi blitzten die Griffe ihrer pfeilähnlichen Wurfmesser, die einst von Ninjas entwickelt wurden. Belana verfehlte ihr Ziel nie.
Gleich dahinter kamen Zerron auf seinem selbst konstruierten Trike mit den beiden extrem breiten Reifen an der Vorderachse sowie der schmächtige Dippy, mit seinen ungefähr dreizehn Jahren der jüngste von ihnen. Obwohl Dippy noch so jung war, war er einer der geschicktesten Techniker. Er jagte in einem kleinen zweisitzigen Hubschrauber heran, der keine Türen hatte. Dippy wurde nur von einer Plexiglasfrontscheibe geschützt.
Aus den umliegenden Straßen und Gassen strömten weitere Deserts heran, darunter Hank in seinem Rollstuhl.
Hank, der seit seiner Geburt von der Hüfte an abwärts gelähmt war, war der einzige Erwachsene und Ravens Vorgänger als Anführer der Deserts.
Raven bewunderte Hank. Der 30-Jährige war ausgebildeter Mechatroniker und in der Lage, jede Waffe und jedes Gefährt umzubauen. Er war ein wahres Genie und hatte sein Wissen bereitwillig weitergegeben – vor allem Dippy, aber auch Zerron waren seine gelehrigsten Schüler.
Dann ließ Raven ganz kurz den Blick über seine dreißig Leute gleiten. Sie waren alle gekommen, niemand fehlte. Sehr gut.
Belana lächelte ihn an und er spürte, wie sein Herz prompt etwas schneller schlug.
Er konzentrierte sich aufs Wesentliche und rief: „Wir bekommen Besuch. Die Sledgehammer. Snake führt sie jetzt an. Sie sind bewaffnet und werden uns, so wie es aussieht, angreifen.“
„Sollen sie nur“, lachte Zerron und schwang seinen Bō, eine lange Stangenwaffe aus Japan. Zerron hatte jahrelang damit trainiert und war inzwischen ein wahrer Meister. Zustimmendes Gemurmel breitete sich aus. „Was können die…“
Raven unterbrach ihn: „Es sind wirklich viele, Zerron!“ Sofort trat Ruhe ein und alle schauten aufmerksam auf ihren Anführer. „Wir besetzen alle höher gelegenen Punkte. Dächer und Türme und so weiter. Von dort haben wir ein gutes Schussfeld. Haltet die Kerle auf Distanz. Sie dürfen nicht über die Grenze kommen.“
„Und schon gar nicht an unser Wasser“, ergänzte Belana, die sich nun neben Raven stellte.
Er nickte. „Genau. Ich klettere auf den Kirchturm.“ Dann teilte Raven die Leute ein. Es gab keine Widerworte, keine nutzlosen Diskussionen, für die sie keine Zeit gehabt hätten. Raven konnte sich auf seine Leute verlassen.
Keine Minute später sprang er in seinen X-Bow, einen leichten, aber stabilen Zweisitzer mit zweihundertfünfzig PS, Überrollbügel und ein paar hübschen Überraschungen für Feinde, die Raven per Knopfdruck aktivieren konnte. Die Räder mit den Breitreifen standen extrem weit auseinander und das Cockpit war tiefergelegt, sodass das Fahrzeug einen sehr niedrigen Schwerpunkt hatte. Der X-Bow konnte nahezu senkrechte Wände hinauffahren und war eine Spezialkonstruktion von Hank.
Er startete das Triebwerk, ließ den Motor aufbrüllen und genoss die Vibrationen, die den gesamten Wagen erfassten. Als Spy auf den Schalensitz neben ihn geflattert war, tippte Raven auf die Schaltwippe und trat das Gaspedal durch. Der X-Bow sprang nach vorn wie eine hungrige Raubkatze. Mit durchdrehenden Reifen schoss der Wagen los.
Schon erreichte Raven die nahe Kathedrale. Das Dach war eingestürzt, die Apsis nur noch ein Trümmerhaufen, doch einer der beiden Türme ragte fast trotzig in den Himmel.
Raven bremste, stieg aus dem X-Bow und stürmte mit der Waffe in der Hand die steile Steintreppe hinauf.
Spy überholte ihn und flog voraus.
„Alter Angeber“, rief Raven ihm nach.
Nach etwa einhundert Stufen erreichte er keuchend ein breites Fenster.
Spy hockte dort bereits und drehte den Kopf in seine Richtung. Raven glaubte einen Moment lang, dass der Vogel ihn spöttisch angrinste.
Dann peilte er die Lage. Auf den umliegenden Dächern tauchten Big T, Zerron, Dippy und noch ein paar andere Deserts auf. Auch Belana war zu sehen. Sie hatte zwei ihrer Wurfmesser in den Händen. Raven wusste, dass Belana mit den spitzen Dingern eine Cola-Dose auf fünfzig Meter traf. Von allen Deserts schätzte er sie als die gefährlichste Kämpferin ein. Weil sie nie aufgab und eher sterben würde, als sich zu ergeben.
Unterdessen waren die Feinde nur noch wenige Meter von der mit Stacheldraht versehenen Barriere aus Schrott entfernt, die die Grenze zum Revier der Deserts bildete.
Snake ließ den Motor seiner Maschine aufbrüllen, dann stoppte er und stieg ab.
Raven versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Er musste ruhig werden für das, was er vorhatte. Völlig ruhig.
Nun hob Snake die Hand und die anderen Sledgehammer stoppten ebenfalls.
Mit spitzen Fingern zog Raven einen ganz bestimmten Pfeil aus dem Köcher.
Ein weiterer mächtiger Krieger trat neben Snake: Es war der dicke Hector, ein nicht besonders heller Kerl. Ein Typ fürs Grobe und ein gefürchteter Kämpfer.
Snake kletterte auf ein Autowrack an der Grenze und riss den massiven Wurfhammer in die Höhe.
„Das wird unser Gebiet!“, schleuderte er den verschanzten Deserts entgegen. „Wir können das friedlich regeln, indem ihr hier einfach abhaut. Oder aber ihr tut uns den Gefallen und wehrt euch.“
Seine Leute lachten und johlten.
Raven atmete jetzt flach und ruhig. Er kontrollierte den Pfeil. Die Spitze war mit einer anderen Spezialladung versehen als der Pfeil, den er für den Alarm verwendet hatte.
„Was ist mit euch? Kommt aus euren Löchern und sagt mir, wie ihr es haben wollt!“, rief Snake. Es folgten ein paar deftige Beleidigungen.
Raven legte den Pfeil ein und spannte den Bogen bis zum Anschlag. Er zielte auf eine ganz bestimmte Stelle.
„Okay! Dann jagen wir euch Ratten jetzt raus!“, schrie der Boss der Sledgehammer.
Raven wurde eins mit seiner Waffe. Er hielt den Atem an, konzentrierte sich. Eine Schweißperle bahnte sich ihren Weg über die Stirn bis zu seiner Nasenspitze. Als sie heruntertropfte, schoss Raven.
Der Pfeil zischte wie geplant an Snake vorbei und bohrte sich in sein Ziel: in den Tank von dessen Motorrad.
Dank der kleinen, aber höchst wirksamen Sprengladung in der Pfeilspitze explodierte der Tank. Eine Feuerfontäne stieg empor. Das Motorrad bockte wie ein scheuendes Pferd, die Räder flogen zur Seite, der Beiwagen wurde abgerissen und krachte in ein anderes Fahrzeug der Sledgehammer. Snake, der am dichtesten bei seiner Maschine stand, wurde von dem Dach des Autos gefegt und krachte hart auf den brüchigen Asphalt.
Metallteile flogen umher und plötzlich spürte Raven einen heftigen Schmerz am linken Oberarm. Blut floss. Ein herumfliegendes Trümmerteil musste ihn erwischt haben. Es brannte höllisch und er biss die Zähne zusammen.
Die anderen Sledgehammer suchten Deckung, während von den umliegenden Dächern Jubel und höhnisches Gelächter der Deserts zu hören waren.
Raven konzentrierte sich auf Snake und sah, dass er sich gerade wieder aufrappelte. Offenbar war er so gut wie unverletzt. Das galt auch für die anderen Sledgehammer – ein kleines Wunder.
Im Gegensatz zu seinen Leuten, die sich versteckt hielten, kletterte Snake erneut auf das Dach der alten Karre. Er schaute sich prüfend um und entdeckte Raven im Kirchturm.
„Da bist du ja, du Feigling!“, brüllte er und deutete mit dem fürchterlichen Wurfhammer auf ihn. „Komm runter und stell dich. Mann gegen Mann!“
„Verschwinde!“, schleuderte Raven ihm entgegen. „Und nimm deine Truppe gleich mit. Falls du sie findest, die hat sich ja verkrochen.“
Wieder gab es Gelächter von den anderen Deserts.
Snake bellte ein Kommando und seine Leute kamen langsam wieder hervor. Hector baute sich neben seinem Boss auf.
„Du hast mein Motorrad zerstört, Raven. Dafür wirst du büßen!“, tobte er.
Raven ahnte, was in Snake gerade vorging. Schließlich wusste er, was die Motorräder den Sledgehammern bedeuteten: alles.
„Ich werde dich und dein elendes Pack vernichten!“, geiferte der Anführer der Sledgehammer.
„Na klar, aber vorher solltest du vielleicht mal deinen Chef Brutus fragen, was er davon hält, dass du dir dein Motorrad fast unter dem Hintern wegschießen lässt.“
Snake ballte die Faust. „Brutus? Pah! Wer ist Brutus, zur Hölle? Dieser Lappen mit seinem Kuschelkurs! Ich habe das Weichei abgesetzt, jetzt habe ich hier das Sagen. Vorbei sind die Zeiten, wo ihr euer Wasser gegen unser Benzin tauschen durftet.“
Das hatte Raven befürchtet und das war eine wirklich schlechte Nachricht. Die Sledgehammer kontrollierten das einzige noch funktionierende Ölfeld und die dazu gehörende Raffinerie in Blackpool… Sie hatten die Macht über den Treibstoff, während die Deserts den einzigen Zugang zum Wasser hatten. Der Tauschhandel hatte immer ganz gut geklappt. Bis jetzt…
„Ab sofort nehmen wir uns, was wir haben wollen. Zum Beispiel euer Wasser und euer Revier“, fuhr Snake fort. „Wenn euch etwas an euren armseligen Leben gelegen ist, werdet ihr euch jetzt hier ganz schnell verkrümeln!“
Da hatte Raven eine Idee.
„Nein, du wirst gehen und deinen traurigen Haufen mitnehmen“, rief er.
„Warum sollten wir?“