Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein gefährliches Spiel im Netz, das tödlich endet: TikTok-Star Bennet treibt einen Konkurrenten mit Fake-Videos in den Selbstmord. Doch kurz darauf gerät er selbst ins Visier: Er wird vor laufender Kamera getötet. In den sozialen Netzwerken gibt es wilde Spekulationen. Wer steckt hinter dem Mord? Unterdessen planen die Täter den nächsten Schachzug in ihrem Rachespiel … Polizeireporter Finn Wahlberg ermittelt. Dabei stößt er auf Abgründe, die tiefer gehen als der Hype um Follower.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Fabian Lenk
Social Kill – Gefährliche Spiele auf TikTok
Thriller
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München)
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2025 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Fabio / stock.adobe.com; Alexander Limbach / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3302-8
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Jesper war tot. Zusammengebrochen im Shitstorm, der über ihn hinweggefegt war. Offenbar hatte Jesper nicht mehr weitergewusst und sich umgebracht. Der Arme.
Bennet schmunzelte. Er hätte Jesper ein wenig mehr zugetraut. Mehr Willen, mehr Widerstand.
Was hatte der nicht immer für eine große Lippe riskiert. Risky_007 hatte er sich bei TikTok genannt. Lächerlich. Jesper_the_kasper wäre treffender gewesen.
Noch ein Schluck von dem guten Chardonnay.
Oder Jesper_Copycat. Dieser Wurm, dieser Kopist.
Tja, und jetzt war Jesper Geschichte. Heute Morgen hatte er sich vor einen Zug geworfen.
Zufrieden erhob sich Bennet aus dem Ledersessel und ging mit dem Glas zur acht Meter breiten und knapp drei Meter hohen Panoramascheibe. Über die Große Elbstraße blickte er zum Altonaer Fischmarkt und zur Norderelbe.
Es war bereits dunkel, und Bennet genoss für einen Moment das verspielte Funkeln der Lichter auf dem Wasser und in den Straßen.
Rechts von dem neuen exklusiven Apartmentblock, in dem Bennet sein 220 Quadratmeter großes, ausschließlich mit Designermöbeln ausgestattetes Domizil bewohnte, lag das futuristische Dockland-Bürogebäude. Wie ein Schiffsbug ragte es über das Wasser hinaus. Noch etwas weiter rechts verschwand die A7 in den Röhren des Elbtunnels.
Bennet nippte am Glas. Welch unrühmliches Ende für einen wie Jesper. Feige hatte der sich aus dem Leben gestohlen. Und das mit gerade einmal 21 Jahren.
Reichlich übertriebene Reaktion. Eine Kurzschlusshandlung, die Bennet eigentlich nicht gewollt hatte.
Eigentlich. Das Schmunzeln wuchs zu einem breiten Lächeln.
Bennet hatte Jesper doch nur ein wenig zurechtstutzen wollen. Ihm klarmachen, dass es sich nicht gehörte, ihm bei TikTok Konkurrenz zu machen – jedenfalls nicht auf diese überaus billige Art. Jesper, der Wurm, hatte geglaubt, Bennets Idee ungestraft stehlen zu können.
In den letzten Jahren hatte Bennet mit seinem Kanal Bittenichtnachmachen zehn Millionen Follower generiert. Okay, im Vergleich mit den ganz Großen bei TikTok wie Khabane Lame mit seinen 161 Millionen oder charli d’amelio und MrBeast, die es auf 150 beziehungsweise 84 Millionen Follower brachten, konnte er nicht mithalten.
Noch nicht.
Doch Bennets Stern am TikTok-Himmel ging gerade erst so richtig auf. Seine Idee, sein Konzept, sein Kanaltitel – all das war ja schließlich auch genial. Bitte nicht nachmachen … natürlich taten die Kids das. Gefangen in spießigen Elternhäusern, unter permanentem Erfolgsdruck in überfüllten Klassenzimmern, suchten sie das, was ein Influencer wie Bennet bot: echten Thrill bei Mutproben, Rekordjagd bei actiongeladenem Sport. Seine Follower wollten ausbrechen aus dem Gefängnis der Belanglosigkeit, sie lechzten nach Vorbildern mit Strahlkraft wie ihm, sie suchten den Kick und den Ruhm im Netz.
Und Bennet bot ihnen eine Menge, wobei er erst einmal alles vormachte und live streamte: zum Beispiel Sprünge von Brücken oder von Dach zu Dach, balancieren in möglichst großer Höhe. Oder: Wie lange konnte man die Luft unter Wasser anhalten? Wie lange hielt man es nachts allein im Wald aus, ohne Licht, Wärme und Schutz?
Seine Posts lösten jedes Mal eine regelrechte Nachahmer-Welle aus.
Bennet achtete genau darauf, dass er nicht etwas Kriminelles tat oder dazu aufrief, denn sonst hätte er keine Sponsoren gefunden, und sein Blick würde nicht durch diese Panoramascheibe auf die Norderelbe fallen, sondern durch das kleine Fenster eines heruntergekommenen 30 Quadratmeter großen Lochs in einen mit Müll übersäten Hinterhof in St. Georg.
Bennet hatte höchst lukrative Verträge mit Energydrink-Firmen sowie Sportartikelherstellern und Modelabels, deren Produkte er entweder trug, mehr oder weniger unauffällig in seinen Videos postierte oder vor laufender Kamera genoss. Pro Monat kam er so ohne Weiteres auf 25.000 Euro.
Bennet nahm noch einen Schluck, während er einem Frachter zuschaute, der über das Wasser glitt.
Aber dafür leistete Bennet auch eine Menge. Das Herstellen der Videos, der Schnitt, das Vertonen und das Einbauen von Effekten waren aufwendig. Jeden Tag postete er etwas – nicht nur Challenges, sondern vor allem auch Alltägliches. Es war irre, was die Community so alles interessierte: Woher er dieses oder jenes T-Shirt hatte, welchen Rasierer er benutzte oder was seine Lieblingsfarbe war.
Der Kontakt zu seinen Fans kostete noch mehr Zeit. Jede Nachfrage der Follower versuchte er zu beantworten. So kam Bennet täglich auf rund sechs Stunden Arbeit bei TikTok, zwei Stunden bei Instagram und eine Stunde bei YouTube. Den Rentnerkanal Facebook bediente er schon seit zwei Jahren nicht mehr.
Es war ein Fulltime-Job, und Bennet hatte sich seinen Erfolg mit harter Arbeit, eigenen Ideen und viel Geduld verdient. Nichts war ihm in den Schoß gefallen, niemand hatte ihn am Anfang unterstützt. Bennet hatte noch nicht mal Geld für die so genannten Kampagnen gehabt, mit denen man bei TikTok, dem einzigen Videoportal, das von künstlicher Intelligenz gesteuert wurde, auf sich aufmerksam machen konnte. Die KI von TikTok empfahl den Usern gemäß deren Präferenzen einen bestimmten Account – gegen Geld natürlich.
Und dann war dieser Jesper gekommen, hatte Bennets Idee geklaut und war bei TikTok eingeschlagen wie ein Komet.
Bennet verspannte sich bei der Erinnerung. Der Kopist Jesper hatte Bennets Idee fast eins zu eins übernommen und sich zum Start erst einmal Hunderttausende Follower gekauft. Das ging ganz problemlos, wenn man wie Jesper – im Gegensatz zu Bennet – aus einem reichen Elternhaus kam und einem das Geld hinterhergeworfen wurde. Geld, mit dem man sich zum Beispiel einen Dienstleister wie »Followerfabrik« leisten konnte, der für 50.000 Follower knapp 400 Euro verlangte.
Damit hatte sich Jesper aber nicht begnügt. In einigen Posts hatte er sich über Bennets angeblich harmlose und billig gemachten Beiträge lustig gemacht. Die einzig wahre Action und den besten Thrill gebe es nur bei ihm, Jesper.
Ja, Bennet musste zugeben, dass Jesper ihm ordentlich Feuer gemacht hatte, jedenfalls am Anfang. Jespers billige Masche war ein Überraschungscoup gewesen. Schnell hatte der Wicht drei Millionen Follower bei TikTok gehabt, während Bennets eigene Zahl plötzlich stagnierte. Und dann, es war im letzten Monat gewesen, hatten seine Follower sogar abgenommen.
Bitter stieg die Galle in Bennet hoch.
Spätestens hier war klar gewesen, dass Bennet etwas gegen Jesper_the_Kasper unternehmen musste, wenn er nicht weiter zusehen wollte, wie der Parasit sich vollsog und er selbst langsam ausblutete.
Und Bennet hatte etwas unternommen. Nun war Jespers Körper über eine Länge von 500 Metern an der Bahnlinie verteilt. Jesper war nahe Hittfeld vor den ICE 202 gesprungen.
Bennet lächelte wieder.
In einem ersten Schritt hatte er Videomaterial über Jesper gesammelt. Zum Beispiel hatte er Jesper heimlich von hinten im Waschraum eines Lokals gefilmt, als Jesper ziemlich dämliche Fratzen im Spiegel gemacht und sich am Hintern gekratzt hatte. Am selben Abend hatte Bennet auf dem Rückweg einen Drogenabhängigen gesehen, der in der Gosse lag und entfernt Ähnlichkeit mit Jesper aufwies – vor allem bei den schlechten Lichtverhältnissen, die zu diesem Zeitpunkt geherrscht hatten. Auch das hatte er gefilmt.
Die beste Aufnahme war Bennet vor einer Woche geglückt, als er Jesper weit nach Mitternacht vor einer Bar aufgelauert hatte. Offensichtlich betrunken war der elende Kopist aus dem Laden getorkelt, hatte sich an einer Hauswand abgestützt und sich dann – Halleluja – auch noch auf dem Gehsteig erbrochen. Besser geht es nicht, hatte Bennet beim Filmen gedacht.
Dann hatte er, der gelernte Informatiker, Jespers Account gehackt, die Zugangsdaten geändert, unter dem Namen des Konkurrenten die widerlichen Videos gepostet und sie mit Titeln wie »Mein schöner Abend« oder »Upps, das war wohl ein bisschen zu viel« versehen, garniert mit einem lachenden Smiley. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Der Shitstorm gegen Jesper begann, und dessen Abonnentenzahlen brachen ein, wie Bennet zufrieden registrierte.
Garantiert hatte Jesper alles versucht, die Kontrolle über seinen Account zurückzuerlangen. Mit Sicherheit hatte der die Hackerattacke auch sofort gemeldet. Aber es dauerte immer einige Zeit, bis TikTok reagierte – und in dieser Zeit waren die hübschen Beiträge tausendfach runtergeladen und woanders weiterverbreitet worden, ob bei Snapchat, Instagram, privaten WhatsApp-Gruppen oder wo auch immer.
Jesper hatte sich von diesem Schlag nicht erholt. Sein Account war, als er endlich wieder Herr der Lage war und Bennets Videos von seinem Account hatte löschen können, kaum noch etwas wert. Dann war Jesper zu den Gleisen gegangen.
Tja, jetzt sollte Bennet wohl so etwas wie einen Nachruf posten. Das gehörte sich einfach so unter Kollegen, oder?
Egal, er würde es einfach machen. Ein bisschen Herzschmerz wegen des ach so geschätzten … Nachwuchstalents.
Ja, das war gut. Nachwuchstalent. Das würde Jesper auch noch posthum den richtigen Platz zuweisen.
Unter dem Tisch.
Das Ganze sollte Bennet auch noch mit einem Appell an seine Follower verbinden, sich Hilfe zu holen, wenn das Leben besonders düster schien und man glaubte, dass es keinen Ausweg mehr gab. Message: Es gibt immer eine Lösung. Und ich, Bennet, bin für euch da.
Er stellte das Glas ab. In diesem Moment vernahm Bennet ein Klacken hinter sich. Er drehte sich um. Die edle Wohnlandschaft ruhte unter dem stark gedimmten Licht der 10.000 Euro teuren Deckenlampe. Niemand war im Halbdunkel zu sehen. Natürlich nicht. Bennet lebte schließlich allein. Gesellschaft war für Bennet wie eine Armbanduhr. Man ertrug sie nur, wenn man sie wirklich brauchte.
Achselzuckend wandte er sich wieder um und beobachtete das rege Treiben unter sich auf den Straßen und dem Wasser.
Er runzelte die Stirn. Wie formulierte man einen Nachruf, noch dazu für jemanden, den man eigentlich zutiefst verachtet und anfangs sogar ein wenig gefürchtet hatte?
Ihm fiel nichts ein.
Vielleicht sollte er in sein Arbeitszimmer gehen, sich vor die Kamera und das Mikro setzen und einfach spontan sein. So, wie er es oft tat. Aber war das angebracht angesichts eines toten Konkurrenten? Ex-Konkurrenten, verbesserte er sich.
Bennet stellte das Glas ab und spazierte quer durchs Wohnzimmer in Richtung Computer. Dabei überlegte er, ob er richtig angezogen war. Schwarzes T-Shirt mit unübersehbarem Markenlogo, dunkelgraue Jeans. Ja, das passte wohl, die Hose würde man ohnehin nicht sehen.
Wenn die Kamera lief, musste er auf seine Mimik achten. Ernst, aber nicht übertrieben ernst. Mitgenommen von der schrecklichen Nachricht. Und ein wenig Pathos in der …
Bennet stoppte kurz vor der Tür zum Arbeitszimmer. Da war wieder ein Geräusch gewesen.
Er wirbelte herum.
Eine Gestalt im schwarzen Anzug. Kaum mehr als ein Schemen im schwachen Licht. Breitbeinig stand der Mann einfach da, den Kopf gesenkt. Er trug Handschuhe. Er sagte kein Wort, rührte sich nicht, wirkte wie eine Statue, die irgendjemand gerade in Bennets Wohnzimmer gezaubert hatte.
Ein Einbrecher, durchfuhr es Bennet. Hektisch fingerte er in der Hosentasche nach dem Handy und zog es hervor. Da hob der Eindringling den Kopf.
Bennet ließ das Handy fallen, es versank im flauschigen Teppich. Vor ihm stand einer der Topmanager von TikTok.
Nach wie vor stumm musterte der Mann ihn, und Bennets Herz hämmerte. Das war … unmöglich.
Und doch stand der Manager vor ihm. Das war keine Vision, keine Halluzination.
Was jetzt?
Bennets Gedanken rasten, er suchte nach Worten. Was wollte der Manager von ihm, was verschaffte Bennet die Ehre seines Besuchs und wie sollte er ihn ansprechen? Auf Englisch?
Ja, das … das war wohl am besten.
Womöglich sollte Bennet ihn einfach nett begrüßen und etwas zu trinken anbieten. Und vielleicht konnte er den Manager sogar dazu bringen, mit ihm vor die Kamera zu treten.
Oh mein Gott, die Fangemeinde würde ausrasten!
Das würde Bennet in den TikTok-Olymp katapultieren, seine Followerzahlen explodieren lassen.
Dieser Gedanke sorgte dafür, dass er sich etwas beruhigte. Aber die Unsicherheit wegen dieser völlig unrealistischen Situation ließ sich nicht völlig verdrängen.
»Dear Mister, what an honour«, hob Bennet unterwürfig an, doch die schlanke Gestalt im schwarzen Anzug brachte ihn mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen.
Der Mann hob den rechten Zeigefinger, und nun tauchte hinter ihm eine weitere Gestalt auf – eine Frau, die sich im Flur verborgen haben musste. Sie stellte sich neben den Mann. Auch sie trug dunkle elegante Kleidung und Handschuhe.
Bennets Magen krampfte sich zusammen. Es handelte sich definitiv um eine Frau, das war schließlich nicht zu übersehen, aber ihr Gesicht … nein, nein, nein!
Bennet wischte sich über die Augen. Das war vollkommen ausgeschlossen, es konnte nicht sein … doch es war noch mal das Gesicht des TikTok-Managers.
Was ging hier ab? Wer waren diese Typen wirklich?
Bennet bückte sich, griff nach dem Handy.
In diesem Moment kam Bewegung in die Frau. Katzengleich glitt sie auf Bennet zu und versetzte ihm einen Handkantenschlag gegen die Schläfe. Bennet brüllte auf, taumelte, drohte zu stürzen, fing sich, stützte sich an einem deckenhohen Regal ab.
Die Frau schnappte sich das Handy. Als auch Bennet danach griff, bekam er einen zweiten Schlag, diesmal mit dem Ellbogen auf seinen Mund. Seine Lippen platzten auf. Das Blut strömte über sein Kinn auf den Designerteppich.
»Wer seid ihr, was wollt ihr?«, stammelte Bennet undeutlich und voller Panik. Die Schmerzen waren extrem, nach der zweiten Attacke konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten.
Die Frau deutete auf das Handy und stellte eine Gegenfrage. »Pin?«
Bennet nannte die Nummer, und die Frau probierte sie aus. Sie nickte knapp und richtete das Handy auf Bennet.
Filmt die mich?, durchfuhr es ihn.
Eisiges Entsetzen überfiel Bennet, als er beobachtete, wie der Mann nach hinten in seinen Hosenbund griff und eine Pistole hervorzog. Aus dem Sakko nahm er einen Schalldämpfer und schraubte ihn auf den Lauf der Waffe, der nun auf Bennet gerichtet war.
Dann sagte auch der Mann zum ersten Mal etwas: »Aufs Dach. Jetzt sofort.«
Warum, was sollte das? Das Dach, die Kamera und die Waffe, die auf ihn gerichtet waren. Eine furchtbare Ahnung keimte in Bennet. Als er sich nicht rührte, packte die Frau ihn am Arm. Sie zog und zerrte Bennet zur Wohnungstür, wo sie verharrte. Der Mann mit der Waffe ging an ihnen vorbei, öffnete die Tür und spähte auf den Gang.
Bennet war sich sicher, dass dort niemand war, der ihm helfen konnte. Es gab nur diese eine Wohnung im obersten Stockwerk. Hier kam niemand zufällig vorbei.
Der Mann nickte seiner Komplizin zu. Dann trieben sie Bennet über den Korridor zu einer verriegelten Stahltür, zu der nur der Hausmeister einen Schlüssel hatte.
Während der Mann Bennet mit der Waffe in Schach hielt, knackte die Frau das Schloss in weniger als 30 Sekunden und machte eine kleine Taschenlampe an.
Vorbei an unzähligen Kabeln und Versorgungsrohren gelangten die beiden Eindringlinge mit Bennet zu einem Oberlicht, das sich von innen problemlos öffnen ließ.
»Rauf!«, befahl die Frau.
Schwach schüttelte Bennet den Kopf und bereute es im selben Moment. Der Schmerz pochte so heftig in seinem lädierten Gesicht, dass ihm übel wurde.
Der Mann drückte ihm die Waffe an die Stirn. »Wenn du kooperierst, hast du eine Chance.«
War das wirklich eine Chance – oder nur eine Lüge?
Bennet wägte ab, aber als der Druck auf seine Stirn zunahm, gehorchte er – auch, weil ihn ein Gedanke durchzuckte. Hatte er auf dem weitläufigen Dach wirklich eine kleine Chance, jedenfalls eine bessere als hier in der Enge unter dem Oberlicht? Konnte Bennet auf dem Dach in der Dunkelheit fliehen, vielleicht zu einer Feuerleiter gelangen und entkommen? Aber: Gab es überhaupt so etwas wie eine Feuerleiter an dem Haus? Bennet hatte nie einen Grund gehabt, darauf zu achten.
Womöglich bemerkte auch jemand seine missliche Lage und rief die Polizei.
Eine Minute später standen sie zu dritt auf dem Dach.
Der Wind zerrte an Bennets Haaren. Er schwankte leicht, seine Knie waren seltsam weich. Wie sollte er so einen Fluchtversuch wagen? Er riss sich zusammen, spannte sich. Während die beiden Gestalten ihn vorwärtstrieben, wanderte Bennets Blick über die nächtliche Kulisse.
Weit unter ihm tanzten Lichter über das Wasser, weit über ihm funkelte ein Sternenmeer am violettschwarzen Himmel. Eine schmale Mondsichel spähte hinter einer Wolke hervor.
Bennet schätzte seine Chancen ab. Die beiden Typen waren hinter ihm, er spürte ihre Blicke und die Waffe, die auf ihn gerichtet waren. Wenn er jetzt einfach loslief, würden sie ihn niederschießen. Bennet brauchte eine Alternative, und um diese zu finden, musste er Zeit gewinnen.
Bennet wurde langsamer, er schlich förmlich über den Kies, der auf dem Dach lag.
»Mach schon!«, wurde er angeherrscht. Der Lauf der Pistole bohrte sich in seinen Rücken. »Weiter!«
Bennet schluckte. Gleich würde er die Dachkante erreichen. Noch zwei Meter, noch einer, noch ein halber.
Bennets Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
»Halt, bleib stehen. Dreh dich um«, erklang das nächste Kommando.
Es war irgendwie verrückt, aber Bennet war regelrecht erleichtert, dass er nicht weitergehen musste – direkt in den Abgrund hinein.
Langsam wandte er sich um.
Der Mann trug nun neben der Pistole auch die Taschenlampe. Damit leuchtete er Bennet frontal ins Gesicht. Das Licht blendete Bennet, und er wollte sich abwenden, was ihm jedoch untersagt wurde.
Jetzt trat die Frau dicht an ihn heran. Blinzelnd erkannte Bennet, dass sie zwei Dinger in den Händen hatte, die aussahen wie winzige Schraubzwingen.
»Ganz ruhig«, sagte sie und klang jetzt fast sanft. Der Mann kam ebenfalls dicht heran und hielt Bennet die Waffe an den Kopf.
Er wagte nicht, sich zu bewegen.
Dann fixierte die Frau die medizinischen Lidsperren so an Bennets Augen, dass dieser die Lider nicht mehr schließen konnte.
Bennet spürte, wie ihm die Tränen kamen. Er zitterte am ganzen Körper, weil ihm spätestens jetzt klar geworden war, dass er keine Chance mehr hatte.
Jetzt machten die beiden Gestalten einen Schritt zurück, und die Frau richtete Bennets Handy auf ihn.
»Dein letzter Post bei TikTok, dein letzter spektakulärer Sprung. Live natürlich«, sagte sie und jede Sanftheit war aus ihrer Stimme verschwunden. Sie schaltete die Videokamera ein. Dann schoss ihr Komplize.
Bennet kippte nach hinten über die Dachkante und stürzte in die Tiefe.
Sophie sah von ihrem Handy auf. »Eine WhatsApp von Anouk. In einer halben Stunde ist sie da.«
»Großartig«, erwiderte Finn geistesabwesend. Er saß vor seiner Handpan und versuchte sich gerade an einem komplexen afro-kubanischen Rhythmus. Es klang schon recht gut, fand er. Treibend, kraftvoll und akzentuiert – aber der Melodiepart war in Finns Ohren durchaus noch ausbaufähig. »Ich hoffe, das funktioniert mit deiner Nichte.«
Sie kam zu ihm und sah ihm über das goldfarben schimmernde Metall des Instruments direkt in die Augen. »Das wird schon.«
Finn war es unmöglich, sich auf die Handpan und diese Augen gleichzeitig zu konzentrieren. Und wie eigentlich immer gewannen Sophies grüne Augen. Finn unterbrach sein Spiel, erwiderte ihren Blick und versank darin.
»Hoffentlich …«, murmelte er.
Vermutlich hatte Sophie recht, wie meistens. Sie waren seit zwei Jahren ein Paar, und vor einigen Monaten war Sophie in sein Reihenhaus eingezogen und fuhr täglich in ihr Reisebüro, während Finn als Polizeireporter bei der Zeitung Insider arbeitete, die ihre Redaktionsräume in einem weitläufigen Geschäftshaus in der Hamburger City hatte.
Finns redaktionelles Spezialgebiet waren eigentlich Reportagen, aber diese Stelle war beim Insider – anders als der Job des Polizeireporters – schon besetzt gewesen, als er damals dortangeklopft hatte. Da Finn unbedingt bei diesem renommierten Blatt hatte schreiben wollen, hatte er mit dem Job des Polizeireporters vorliebgenommen und kam nur selten zum Verfassen der geliebten Reportagen.
»Es ist nur für fünf Wochen, und wir haben hier doch genug Platz«, sagte Sophie sanft.
Letzteres mochte stimmen. Finn hatte sich in kleinen Räumlichkeiten nie wohlgefühlt, er brauchte einfach Platz, und als er beim Insider angeheuert hatte, hatte er gleich nach einem Haus gesucht und nicht nach einer Wohnung. Anouk konnte das Gästezimmer im ersten Stock beziehen.
Aber Sophies erstes Argument hielt Finn für eine starke Untertreibung. »Nur fünf Wochen? Das kann verdammt lang werden«, gab er zu bedenken.
Sie winkte ab. »Ach was, Anouk ist eigentlich ganz okay. Mit der kommt man schon klar.«
»Deine Schwester aber offenbar nicht. Das hast du selber gesagt.«
Anouks alleinerziehende Mutter Katharina war seit heute für fünf Wochen auf Reha und hatte ihre Tochter nicht allein lassen wollen, weil diese derzeit ein wenig schwierig sei. Daher hatte sie Sophie um einen kleinen Gefallen gebeten, wie sie es ausgedrückt hatte: ob Sophie während der Rehazeit nicht ein wenig auf Anouk aufpassen könne? In der Schule sei Anouk zwar sehr gut, aber im Freizeitbereich gebe es einen gewissen Kontrollbedarf.
Sophie hatte ihre Schwester nicht hängen lassen wollen und Finn überredet, Anouk vorübergehend aufzunehmen. Und nun stand die 17-Jährige schon fast vor der Tür.
»Finn«, sagte Sophie eindringlich. »Gib ihr eine Chance.«
»Klar, mache ich.« Das klang ziemlich halbherzig, aber mehr Enthusiasmus brachte Finn einfach zustande.
Sophie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Bist ein Schatz.«
Als es kurz darauf klingelte, sprang Sophie auf, eilte zur Haustür und öffnete sie.
Finn ließ die Handpan auf dem Ständer zurück und folgte ihr.
»Hallo, Anouk«, rief Sophie. »Schön, dass du da bist!«
Die junge zierliche Frau, die viel zu weite schwarze Klamotten trug, erwiderte etwas, das so ähnlich wie »Hmpf« klang.
Anouks blasses Gesicht mit der spitzen, etwas zu langen Nase und dem schmalen Mund wurde von Augen dominiert, die so dunkel waren wie tiefe Brunnen. Mit denen musterte sie jetzt ihre temporären Gastgeber ausgesprochen gründlich. Finn kam es so vor, als würde Anouk ihn und Sophie regelrecht scannen. Dabei spielte Anouk mit einer Strähne ihres seidigen schwarzen Haares, das ihr bis auf die schmalen Schultern fiel.
»Hi«, sagte Finn und gab sich Mühe, freundlich zu klingen.
Ein weiteres »Hmpf« folgte, und Finn fiel Katharinas Charakterskizzierung »ein wenig schwierig« ein. Dann entstand eine peinliche Stille.
»Oh, komm doch rein«, sagte Finn schließlich mit einer einladenden Handbewegung Richtung Wohnzimmer. »Hast du Hunger? Magst du was trinken? Oder möchtest du erst mal dein Zimmer sehen?«
Anouk erwiderte nichts, sondern trieb ihren Koffer auf den Rollen vorwärts.
Als sie im Wohnzimmer stand und die Handpan erblickte, veränderte sich ihr abweisender Gesichtsausdruck. Anouk lächelte, jedenfalls ein kleines bisschen.
»Ich stehe eigentlich nur auf Death Metal. Aber den Klang von dem Turtle-Dingsda find ich auch ganz cool«, meinte sie.
»Das ist eine Handpan«, korrigierte Finn leicht angefasst. Aber immerhin hatte ihr junger Gast offenbar beschlossen, mehr als nur ein dezent genervtes Grunzen von sich zu geben.
Anouk ignorierte ihn. »Wer von euch spielt auf der Turtle? Du etwa, Sophie?«
»Nein, Finn ist es. Der tritt sogar manchmal mit seiner Handpan auf«, sagte Sophie rasch. Das Wort Handpan betonte sie mehr als deutlich.
Anouk rollte mit den Augen. »Ja, Handpan … Habt ihr ’ne Pizza?«
»Klar, ich kann noch eine in den Ofen schieben«, sagte Finn. Es war zwar bereits 22.30 Uhr abends, aber warum nicht?
»Ich mach das schon«, bot Sophie an. »Bring du doch den Koffer rauf, Finn. Dabei kannst du Anouk auch das Zimmer zeigen.«
»Und?«, fragte Finn, als er mit Anouk in dem zweckmäßig eingerichteten Raum stand.
»Ganz okay, aber ich sag’s dir ganz ehrlich: Ich finde es scheiße, dass ich hier bin. Dass ihr mich bewachen sollt. Ich weiß, das war nicht deine Idee oder die von Sophie. Aber es ist trotzdem scheiße, weil ihr da mitmacht.«
Finn lud auf. »Ich sage dir jetzt auch mal was ganz ehrlich: Ich hatte überhaupt keine Lust, dich hier aufzunehmen. Ich kenne dich ja noch nicht einmal. Ich habe es Sophie zuliebe getan. Und es gibt jetzt genau zwei Möglichkeiten: Ich stelle dir deinen Koffer wieder vor meine Haustür, oder du bemühst dich zumindest ansatzweise um ein vernünftiges Miteinander in den nächsten fünf Wochen.«
Anouk musterte Finn wieder auf ihre kühle Art. Dann nickte sie. »Ich mag klare Ansagen. Ich bleibe und bin einfach ein wenig …« Sie schien nach dem richtigen Wort zu suchen.
»… nett?«, schlug Finn vor.
»Nicht übertreiben«, sagte Anouk und grinste. »Zeigst du mir mal was auf der Turtle?«
»Vielleicht«, sagte er ausweichend. Zugleich spürte er, wie sein Ärger verpuffte. Es freute ihn, dass sich Anouk für seine Musik interessierte. Das war eine erste Schnittstelle.
Womöglich kamen sie in der nächsten Zeit ja doch ganz gut miteinander aus.
Als sie wieder unten bei Sophie waren, meldete sich Finns Redaktionshandy. Unwillig warf er einen Blick aufs Display. Als er sah, welche Nummer dort aufleuchtete, wusste er, dass etwas Besonderes passiert sein musste.
Er nahm das Gespräch an. »Damian, was gibt’s?«, fragte er, während er in sein Arbeitszimmer eilte.
»Ziemlich große Nummer«, sagte sein Informant bei der Polizei. Damian Tesker, ein stets freundlicher, aber etwas nüchterner Endzwanziger mit einem Glasauge, verdiente sich ein beachtliches Zubrot, indem er Finn immer mal wieder Ermittlungsergebnisse zu spektakulären Fällen steckte, die die anderen Medien in Hamburg nicht bekamen. Somit hatte der Insider gegenüber der Konkurrenz einen wertvollen Informationsvorsprung. Dieser Service war illegal und konnte Tesker den Beamtenjob kosten. Daher ließ er sich die Tipps gut bezahlen – aus dem Redaktionsetat.
»Ein junger Mann ist vor einer Stunde vom Dach eines Hauses gefallen«, führte Tesker aus. »Große Elbstraße, Nähe Fischmarkt.«
»Selbstmord? Unfall?«
»Hätte man erst meinen können«, sagte Tesker leise. »Aber nachdem die Kollegen vor Ort etwas genauer hingesehen haben, kann man das ausschließen …«
»Du machst mich neugierig.«
»Hm«, machte Tesker. »Die nächste Info sollte euch zwei Grüne wert sein.«
Zwei Grüne bedeuteten 200 Euro. Das war kein Problem, solange es wirklich eine große Sache war.
»Haben wir diese Info exklusiv?«, fragte Finn.
»Ja«, versicherte Tesker.
»Okay, weiter«, drängte Finn.
»Der junge Mann hat eine Schussverletzung. Jemand hat ihm in die Stirn geschossen.«
Finn sog die Luft tief ein, während er sich Notizen machte. Das war wirklich eine große Nummer. Und der Insider konnte den Fall dank Tesker noch heute Abend exklusiv in der Onlineausgabe bringen – zumindest in einer Kurzfassung.
»Täter?«, fragte Finn als Nächstes.
»Bisher keine Spur.«
»Wer ist das Opfer?«
»Kann ich dir auch noch nicht sagen. Die Ermittlungen laufen, ist ja alles ganz frisch«, erwiderte Tesker. »Aber morgen weiß ich diesbezüglich Bescheid. Der Name sollte euch einen weiteren Grünen wert sein.«
»In Ordnung. Lohnt es sich, jetzt noch einen Fotografen rauszuschicken?«
»Das müsst ihr wissen. Aber der Leichnam ist bereits auf dem Weg in die Rechtsmedizin«, lautete die Antwort.
Finn wägte ab. Dann ließ er sich die genaue Adresse geben und beendete das Gespräch.
Anschließend schickte er sofort einen der beiden Insider-Fotografen zum Tatort. Ein Bild von dem Gebäude war besser als nichts.
Eine seltsame Geschichte, dachte Finn. Warum erschoss man jemanden und warf ihn dann vom Dach eines Hauses?
Oder war der junge Mann vor dem Täter weggelaufen? Hatte ihn dabei die Kugel getroffen, war er dann abgestürzt?
Nein, wohl kaum. Tesker hatte gesagt, dass der Täter dem Opfer in die Stirn geschossen hatte. Also hatte der Mörder dem jungen Mann gegenübergestanden.
Finn ahnte, dass dieser Fall ihn und die Redaktion noch länger beschäftigen würde. Er gab Sophie und Anouk kurz Bescheid, dann fuhr er den Rechner hoch und bediente die Onlinekollegen im Spätdienst.
Nur eine Stunde später stand Finns Kurzbericht samt Foto in der Onlineausgabe.
Finn eilte über den Redaktionsflur, den Blick aufs Handy geheftet, und übersah dabei Maximilian von Süßmuth, dem er förmlich in die Arme lief.
»Ah, guten Morgen«, rief der Verleger des Insiders. Wie immer trug der schlanke, von unzähligen Solariumbesuchen gebräunte Endvierziger einen Maßanzug und Schuhe, die etwa ein Viertel von Finns Monatseinkommen gekostet haben dürften. »Muss schon sagen, gute Leistung, Herr Wahlberg: Ihr Bericht wird unsere Auflage pushen. Habe noch keine Zahlen, aber da bin ich mir sicher. Wir haben das schließlich exklusiv! Ex-klu-siv. Dank Ihnen, mein Lieber! Well done.«
Finn nickte, wollte an ihm vorbei. Er mochte den Verleger nicht, und war da nicht der Einzige in der Redaktion. Schließlich war Süßmuth der festen Überzeugung, dass Journalisten vor allem eines gemeinsam hatten: Die Schreiberlinge waren völlig überbezahlt. Denn wer bekam schon Geld für die Ausübung seines Hobbys, dem Schreiben? Das Redakteursgehalt sollte man anpassen, sprich reduzieren, war Süßmuths Meinung. Diese hatte der Verleger während einer Weihnachtsfeier nach einigen hochprozentigen Kaltgetränken herausposaunt. Das Ganze sei natürlich ein Scherz gewesen, hatte Süßmuth nachher – mit zwei Promille weniger im Blut – betont, aber niemand hatte ihm das geglaubt.
»Na ja, das ist ja auch mein Job«, sagte Finn und ging zügig weiter. In drei Minuten war die erste große Redaktionskonferenz.
»Wie wahr, wie wahr!«, rief der Verleger ihm nach. »Und immer schön am Ball bleiben, Herr Wahlberg. Erwarte Nachdrehe! Push, push, push!«
Du hast von mir gar nichts zu erwarten, dachte Finn. Süßmuths joviale Art ging ihm auf die Nerven.
Redaktion und Verlagsleitung waren auch beim Insider klar getrennt. Die Redaktion kümmerte sich um das Inhaltliche, die Verlagsleitung um das Wirtschaftliche.
Also hatte Süßmuth Finn nichts zu sagen. Das hatte nur Chefredakteur Wilhelm Gerland.
Aber Süßmuth nahm zunehmend Einfluss auf die Mannschaft des Insiders – zum Beispiel dann, wenn es darum ging, frei gewordene Stellen neu zu besetzen. Das wurde in der letzten Zeit fast immer mit dem Verweis auf die wirtschaftliche Situation des Insiders abgelehnt.
Wie alle Tageszeitungen litt das Blatt seit Jahren an Auflagenschwund. Das Internet war nun mal schneller und damit aktueller. Außerdem war der komplette Kleinanzeigenmarkt abgewandert. Die Werbeeinnahmen waren drastisch eingebrochen und hatten in der Zeitungsbranche eine beispiellose Sparwelle ausgelöst. Seitenumfänge wurden reduziert, Redaktionen ausgedünnt.
Finn hatte beim Insider wider Willen eine Doppelfunktion. Ursprünglich war er für das von ihm geliebte Reportagenressort eingestellt worden. Inzwischen hatte er aber auch den Job des Polizeireporters übernehmen müssen.
»Ist doch kein Ding für einen wie Sie«, hatte Süßmuth lächelnd gesagt. »Sie sind ein guter Mann, auf Sie können wir bauen. Sie kriegen das schon hin.«
Die Sparmaßnahmen gingen zu Lasten der journalistischen Qualität. Die Zeitungen wurden immer unattraktiver, das Interesse sank parallel zur Auflage. Und nun schloss sich der Teufelskreis: Eine schwindende Auflage bedeutete auch noch geringere Einnahmen durch Anzeigen. Schließlich galt die simple Formel: Je höher die Reichweite beziehungsweise Auflage einer Zeitung, desto mehr konnte man für eine Anzeige verlangen.
Auch der Insider hatte sein Heil in einer Onlineredaktion gesucht, die das Printangebot ergänzte. Dafür waren keine neuen Leute eingestellt, sondern Teile der Belegschaft umgeschult und versetzt worden. Der Erfolg war bescheiden und der Druck auf das Team nach wie vor hoch – zumal mehr und mehr Nachrichten von künstlicher Intelligenz produziert wurden. ChatGPT formulierte bereits gut lesbare Nachrichten, und nun sollte es auch in Deutschland das geben, was in den USA schon längst Realität war: Den ersten von KI betreuten Radiosender, bei dem Musikauswahl und Moderation computergeneriert waren. RadioGPT folgte ChatGPT.
Eine exklusive Story wie die von vergangener Nacht konnte etwas von diesem Druck auf die Insider-Mannschaft nehmen – aber für wie lange? Die anderen Redaktionen würden heute nachschieben, und Finn wusste, dass das auch von ihm verlangt wurde.
Tesker hatte ihm exklusiv den Namen des Opfers versprochen, doch Finn hatte den Beamten bisher nicht erreichen können.
Den Namen des jungen Toten hätte Finn gerne in der Redaktionskonferenz präsentiert. Mit dem Namen konnte man womöglich das persönliche Umfeld des Opfers ausleuchten und so an weitere Informationen herankommen. Finn versuchte es noch einmal bei Tesker. Nichts.
Finn durchmaß das Großraumbüro und gelangte auf die Kommandobrücke, wie das Team den Raum nannte, in dem die drei täglichen Konferenzen stattfanden, und grüßte in die Runde. Los ging es um 11 Uhr mit der Themenkonferenz und einer ersten groben Blattplanung. Um 15 Uhr folgte das Headlinemeeting, um 18 Uhr die vorläufige Schlusskonferenz. Ein kleines Team blieb aber stets bis mindestens Mitternacht, um zum Beispiel aktuelle Fußballergebnisse ins Blatt zu heben. Die Onlineredaktion konnte noch länger bedient werden.
Chefredakteur Gerland thronte bereits an seinem angestammten Platz am Kopf des riesigen ovalen Tisches und spielte mit seinem Kugelschreiber. Gerland war groß und massig, sein Gesicht leicht aufgeschwemmt, die Augen klein wie die einer Schildkröte. Er nickte Finn freundlich zu.
Exakt um 11 Uhr war auch der Letzte des 25-köpfigen Teams da. Aus gutem Grund, denn Gerland hasste Unpünktlichkeit ebenso wie Geschwätz. Der Chef erwartete knappe Summarys der Ideen, weil sie sonst bis 13 Uhr reden würden.
Gerland sprach zuerst Finn an. »Starke Sache, gute Arbeit vergangene Nacht«, lobte auch er. »Aber jetzt müssen wir rasch nachlegen. Wie sieht’s aus?«
Finn räusperte sich. »Mein Informant will uns exklusiv den Namen des Opfers stecken.« Er vermied es wie immer, Teskers Namen zu nennen. Je weniger den kannten, umso geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass mal jemand diesen Namen ausplauderte und die wertvolle Quelle versiegte. Noch nicht einmal Gerland war diesbezüglich eingeweiht.
»Sehr gut«, raunte der Chef.
»Aber ich habe ihn noch nicht erreicht«, musste Finn zugeben.
»Nicht gut.«
Finn hob abwehrend die Hände. »Ich werde ihn schon erwischen. Er ist zuverlässig.«
»Und ziemlich gierig«, grummelte Gerland. »Aber was soll’s, der Mann ist jeden Cent wert. Wenn du was erfährst, will ich das sofort wissen. Sonst noch was?«
»Bisher nicht.«
»Okay«, meinte Gerland und fixierte nun Politikredakteur Sascha Huntenkötter. »Was liegt bei dir heute an?«
»Eine Vorschau auf drei Veranstaltungen im Rahmen der Innovationspartnerschaft zwischen Hamburg und Israel. Die Auftaktveranstaltung in Kooperation mit der Deutsch-Israelischen Industrie- und Handelskammer steht unter dem Motto ›Digitale Innovationen – Chancen für Hamburger Unternehmen‹«, referierte Huntenkötter.
»Bisschen sperrig«, knurrte Gerland.
»Würde ich so nicht sagen«, widersprach der Politikredakteur. »Das Themenspektrum ist groß. Es geht um maritime Wirtschaft, Technologiescouting und die Erschließung neuer Märkte – also auch um Jobs.«
»Okay. Klingt schon besser. Machen wir auf der Seite 2 als Aufmacher. 80 Zeilen?«
»Mindestens.«
Als Nächstes war Lokalchef Arne Wingler an der Reihe. Er bot unter anderem einen Bericht über den ersten autonomen Kleinbus der Hamburger Hochbahn an. »Das Ding ist voll elektrisch und kommt mit einer Ladung knapp 300 Kilometer weit«, führte er aus. »Cooler Beitrag für den Klimaschutz.«
Finn hörte kaum hin, sondern schaute verstohlen auf die große Uhr hinter Gerland. Wieso ging Tesker nicht ans Telefon? Und was wäre, wenn Finn den Polizisten überhaupt nicht erreichte? Vielleicht war der ja krank.
Finn wurde zunehmend nervös. Ihm war klar, dass er in diesem Fall seinen journalistischen Erfolg in erster Linie dem Informanten zu verdanken hatte.
Am liebsten hätte Finn es während der Konferenz noch einmal bei Tesker probiert. Aber Gerland hatte aus gutem Grund Telefonate während der Meetings untersagt.
Also blieb Finn nur die Hoffnung, dass sich die anderen kurzfassten.
Feuilletonistin Silke Michalewski bot eine Konzertkritik von der gestrigen Aufführung in der Elbphilharmonie sowie zwei Vorschauen an, Klatschreporterin Melanie Weber hatte gestern mit einem Fotografen die schillernde Geburtstagsparty eines Schlagerstars besucht, und Wulf Ehrmann, einer der Sportreporter, wollte gleich zu einer Pressekonferenz vom HSV, bei der die Trikots für die neue Saison vorgestellt wurden.
Zehn Minuten später waren sie endlich durch, und Finn eilte zu seinem Schreibtisch, wo er sofort Tesker anrief.
Er hörte wieder nur das verdammte Tuten und glaubte schon, dass gleich Teskers Mailbox ansprang, doch dann wurde er erlöst.
»Hallo, Finn«, sagte Tesker im Plauderton.
Finn stieß hörbar die Luft aus. »Hab’s schon ein paar Mal bei dir probiert. Dachte schon, dass du …«
»Was? Nicht Wort halte? Quatsch«, sagte Tesker ruhig. »Auch bei uns gibt’s Dienstbesprechungen.«
Finn verfluchte seine Ungeduld. Er wusste, dass Tesker beim LKA 42 arbeitete, das in Hamburg für Sexualdelikte zuständig war und seinen Sitz am Bruno-Georges-Platz hatte – ebenso wie das LKA 541, das sich um Cybercrime kümmerte.
»Sorry«, sagte er. »Stehe unter Druck.«
»Wann tut ihr Journalisten das nicht?«, meinte Tesker. »Der Grüne ist noch im Angebot?«
»Natürlich. Meinst du, ich halte nicht Wort?«
»Okay, das war das Eins-zu-eins. Also, schreib mit: Das Opfer heißt Bennet Baresi, war 22 Jahre alt und einer der erfolgreichsten deutschen Influencer bei TikTok. Der hat rund zehn Millionen Follower.«
Finn notierte sich die neuen Informationen. Er fand TikTok fürchterlich, auch wenn das Portal weltweit die ganz große Nummer bei Jugendlichen war.
»Demnach war Baresi durchaus prominent«, stellte Finn fest und unterstrich den Namen des Influencers. Das hieß auch, dass er ohne Weiteres an Fotos herankommen würde. Garantiert wurde Finn im Netz fündig. Der Name und die zu erwartenden Fotos würden dem Insider einen weiteren Vorsprung vor der Konkurrenz garantieren. Finn ergriff ein gewisses Jagdfieber. Ungewollt und unbewusst erlag er in diesem Moment einem Mechanismus der Branche, den er eigentlich missbilligte: der boulevardesken Sensationsgier. Süßmuth wäre zufrieden mit ihm.
»Prominent? O ja, das kannst du laut sagen – zumindest in der TikTok-Szene«, bestätigte Tesker. »Und jetzt kommt es: Jemand hat den Mord gefilmt und bei TikTok hochgeladen – und zwar mit Baresis Handy auf dessen TikTok-Account.«
»Wie bitte?«
»Ja, so war es«, bestätigte Tesker nüchtern. »Die Kollegen haben zum einen natürlich Baresis Handy durchgecheckt, das noch auf dem Dach lag. Zum anderen war das Video mehrere Stunden lang bei TikTok zu sehen, bis es endlich gelöscht wurde.«
Die Tat war live gestreamt worden. Finn konnte es kaum glauben. »Gibt es Hinweise auf den oder die Täter und das Motiv?«, fragte er.
»Noch nicht«, erwiderte Tesker. »Auf dem Handy waren auch nur Baresis Fingerabdrücke. Kennst du dich eigentlich mit TikTok aus?«
»Nein«, erwiderte Finn. »Das ist nicht meine Welt.«
»Nun, eines kann ich sagen: In der Szene geht es ganz schön zur Sache. Da ist eine Menge Geld im Spiel. Werbeverträge und so etwas. Vielleicht ist das Motiv im Konkurrenzkampf zu suchen«, orakelte Tesker.
Finn eilte zu Gerland, der als Einziger ein eigenes Büro hatte, und informierte ihn.
»Mord vor laufender Kamera, live bei TikTok?«, fragte der Chefredakteur ungläubig, nachdem Finn fertig war.
Der nickte nur.
»100 Zeilen, Aufmacher Seite 1«, legte Gerland fest. »Kannst du dazu noch einen Hintergrundbericht schreiben, mit ein paar Infos zu TikTok?«
»Muss ich recherchieren. Aber klar, das geht.«
»Bilder von Baresi werden wir auftreiben. Melanie könnte den auch kennen«, sinnierte Gerland. »Und ich schicke noch jemanden raus, der das Gebäude von außen bei Tageslicht fotografiert.«
Zurück am Schreibtisch begann Finn mit den Recherchen zu Baresi. Schnell hatte er viele Informationen zu ihm im Internet gefunden. Ein Influencer wie aus dem Bilderbuch, wie es schien. Jung, gut aussehend und extrem erfolgreich. Fotos von Baresi mit schönen Frauen bei irgendeinem Empfang, mit lachenden Typen, die wie er selbst Selbstbewusstsein und eine gewisse Arroganz verströmten, mit wohlwollend dreinblickenden Geschäftsleuten. Baresi beim Sport mit freiem Oberkörper, das ausgeprägte Sixpack präsentierend. Dann Baresi am Steuer eines Cabrios, mit einer Magnumflasche Champagner unter Palmen, auf der Tanzfläche einer Nobeldisco, im Smoking im Casino – Baresi überall-da-wo-es-schön-laut-und-bunt-ist.
Finn ging rüber zu Melanie Weber, die drei Schreibtische weiter neben einer verkümmernden Yuccapalme saß, und gab auch ihr ein Update. Die Klatschreporterin war ebenfalls geschockt, als sie von dem gestreamten Mord an dem Influencer hörte.
»Bennet Baresi …«, murmelte sie.
»Der Name sagt dir was?«, fragte Finn.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ein wenig. Aber Influencer wie er stehen, wie die gesamte TikTok-Szene, nicht unbedingt im Fokus unserer Leser. Daher kümmern wir uns als Redaktion auch nicht besonders um diese Welt.«
Wie wahr, dachte Finn. Er wäre nie auf die Idee gekommen, einen Account bei TikTok anzulegen. Wahrscheinlich sah es bei vielen Lesern des Insiders nicht anderes aus.
Finn hatte gerade mal Accounts bei Instagram und Facebook, pflegte beide aber kaum. Nur hin und wieder hatte er dort Videos mit seiner Handpanmusik hochgeladen. Sophie war in diesem Punkt um einiges aktiver.
»Ich glaube, dass wir da einen Fehler machen«, ließ sich jetzt ihre Kulturredakteurin Silke vernehmen. Wie aus dem Nichts war sie hinter ihnen aufgetaucht, einen Kaffeebecher in der Hand. »Womöglich könnten wir mit etwas peppigeren Inhalten neue junge Leser für uns gewinnen«, sagte sie.
Melanie lachte. »Niemals. Die TikTok-User schaffen höchstens zwei Zeilen Text. Die sind nur über Videoschnipsel zu erreichen, die möglichst nicht länger sind als 20 Sekunden.«
»Nicht alle User sind so. Es gibt viele, die gerne lesen«, belehrte Silke sie. »TikTok ist sogar die neue Hoffnung der Bücherbranche.«
»Wie bitte?«, fragte Finn.
»Ihr solltet euch vielleicht mal einen Account zulegen, um auf dem Laufenden zu sein«, schlug Silke vor. »Wie ich.«
»Du bist bei TikTok?«, fragte Finn. Ausgerechnet Silke, eine Frau Anfang 50, die sich sonst gerne mit komplexen Filmwerken, feingeistiger Literatur oder Freejazz beschäftigte?
»Klar«, bestätigte sie. »TikTok verbreitet unbestritten extrem viel Mist. Aber die Plattform wird zunehmend wichtig für die Kulturbranche. TikTok bringt die Kids wieder zum Buch.«
»Niemals!«, stieß Melanie hervor.
»Doch, das ist Fakt. Unter dem Hashtag BookTok bewerben Influencer Bücher. Auf über 150 Milliarden Aufrufe haben es Posts unter diesem Hashtag bisher gebracht.« Silke trank etwas von dem Kaffee und verzog angewidert das Gesicht. »Was für eine Plörre …«
Dann fuhr sie fort: »Die New York Times hat BookTok bereits 2022 als beherrschende Macht auf dem Büchermarkt bezeichnet. Einige deutsche Kinder- und Jugendbuchverlage haben das erkannt und setzen immer mehr – und mit Erfolg – auf diese Plattform, um die Zielgruppe besser zu erreichen.«
Finn fragte sich, ob er in den letzten Jahren irgendetwas ganz massiv verschlafen hatte. Er kam zum eigentlichen Thema zurück: »Du kannst mir also zu Baresi nicht viel sagen, Melanie?«
»Sorry, aber so ist es.«
Finn sah die TikTok-Expertin Silke an. »Und du?«
»Auch nicht«, antwortete sie. »Legst du dir jetzt einen Account zu?«
Finn überlegte. Dann meinte er: »Warum eigentlich nicht – zu Recherchezwecken.«
Er tat es wirklich, und zwar unter seinem realen Namen. Dann lud Finn ein Handpanvideo von sich hoch, damit er den TikTok-Usern auch etwas zu bieten hatte. Ihm war klar, dass sein Beitrag nur ein winziger Tropfen in einem Meer von Videos war und sich so gut wie niemand für seine Musik interessieren würde, aber das war ihm völlig egal.
Im Internet las Finn, dass die App bereits drei Milliarden Mal heruntergeladen worden war. Rund 150 Millionen aktive Nutzer gab es allein in Europa, geschätzte 20 Millionen davon in Deutschland. Keine Plattform wuchs so rasant wie TikTok – und keine war so umstritten, unter anderem, weil TikTok massenhaft persönliche Daten der Nutzer abgriff.
Aber es gab auch Kritik und sogar Verbote aus anderen Gründen. Wegen zu freizügiger Inhalte war TikTok seit 2020 in Pakistan gesperrt. Auch in den USA regte sich Widerstand. Das Parlament des US-Bundesstaates Montana stimmte im April 2023 wegen Spionage und Propaganda für ein Totalverbot von TikTok. Das waren Fakten, die er in den kurzen Hintergrundbericht packen wollte.
Weitere massive Kritik gab es an vielen TikTok-Challenges und vor allem daran, dass TikTok nicht – oder zumindest zu spät – in der Lage war, dies zu unterbinden.
Wettsaufen, Schultoiletten demolieren, brutale Schlägereien auf dem Schulhof während der Pause (der Kick war hier offenbar, nicht von der Aufsicht erwischt zu werden), öffentliche Gebäude verwüsten, so viel essen wie möglich in kürzester Zeit, Geschirrtabs schlucken oder die Blackout-Challenge, dem Würgen bis zur Ohnmacht, bei dem 2022 eine Acht- und eine Neunjährige starben.
Warum, fragte sich Finn bedrückt, machte man da mit? Wo war der Kick? Ging es darum, andere zu überbieten? Um ein wenig Ruhm im Netz der unbegrenzten Möglichkeiten?
Er überwand sich und schaute sich einige der grell-bunten, blitzlichtähnlichen Videohäppchen auf seinem Handy an. Doch Finn stresste die gestreamte und gelebte Hektik, und die Dämlichkeit mancher Beiträge erschreckte ihn.
Nach einer Viertelstunde hatte er genug und konzentrierte sich wieder auf das Mordopfer Bennet Baresi. Womit hatte der eigentlich seine Fans begeistert, was war das Geheimnis seines Erfolges gewesen?
Baresis Kanal hieß Bittenichtnachmachen und war noch aktiv, wie Finn ein wenig überrascht feststellte. Der Influencer hatte Mutproben wie Balancieren in großer Höhe oder gewagte Sprünge im Angebot gehabt und damit offenbar den Nerv getroffen.
Finn machte sich Notizen. Bitte nicht nachmachen?, dachte er dabei. Genau das taten die Kids massenhaft, wie er feststellte.
Außerdem hatte Baresi in täglichen, in Finns Augen völlig belanglosen Posts zum Thema Lifestyle bestimmte Modeartikel und Energydrinks mehr oder weniger dezent beworben.
Finn schaute sich die Kommentare unter dem letzten Post von Baresi an. Unzählige Fans trauerten um ihr Idol, andere berichteten geschockt, dass sie das Video von dem Mord gesehen hatten.
Wer kümmerte sich um diese Kids, brauchten die nicht Hilfe, waren die nicht vielleicht sogar regelrecht traumatisiert?, überlegte Finn.
Dann stutzte er. Es gab auch hämische Kommentare zum Tod des Influencers.
»Nicht schade um Bennet. Aber du, Jesper, bist für immer in meinemHerzen. R.I.P.«, schrieb eine Userin kryptisch.
»Bennet hat Jesper auf dem Gewissen«, hieß es von einem TikTok-User schon wesentlich deutlicher. »Und jetzt ist er selbst tot.« Es folgte ein lachender Smiley.
Finns Puls beschleunigte sich. Offenbar schienen einige Bennet regelrecht gehasst zu haben. Teskers Worte kamen ihm in den Sinn.
»In der Szene geht es ganz schön zur Sache.«
Aber wer war dieser Jesper?
Über die Hashtags kam Finn auf dessen Account. Jesper Wilhelmsen war bis vor Kurzem ebenfalls Influencer gewesen, stellte Finn fest, und zwar als risky_007.
Aus den Posts las Finn heraus, dass Wilhelmsen vor wenigen Tagen Selbstmord begangen haben musste – und dass offenbar einige seiner Follower Baresi dafür verantwortlich machten: der habe Wilhelmsen in den Tod getrieben, so der Tenor.
War da etwas dran oder handelte es sich nur um die weit verbreitete Internethetze?
Er stöberte weiter. Schnell wurde Finn klar, dass Wilhelmsen und Baresi Konkurrenten gewesen waren: Denn auch Wilhelmsen alias risky_007 hatte Mutproben angeboten – ganz im Stil von Baresi.
Wie im Fieber durchforstete Finn die Posts von Wilhelmsen, wobei er sich erneut fragte, wer eigentlich die Accounts der Toten noch weiterbetrieb.
Plötzlich hielt Finn den Atem an. In einem Beitrag, der erst zwei Tage alt war, äußerte Wilhelmsen einen Verdacht gegen den Konkurrenten: Baresi habe wohl seinen Account gehackt und widerliche Videos hochgeladen, um ihn fertigzumachen, ihn zu zerstören. Durch die Attacke habe Wilhelmsen Millionen von Followern verloren.
Beweise für diese Behauptung schien er aber nicht zu haben, jedenfalls blieb er sie schuldig. Immerhin sei es ihm gelungen, die Kontrolle über seinen Kanal zurückzuerlangen und die Schundvideos, die niemals von ihm gewesen seien, zu löschen. In verzweifeltem Tonfall flehte Wilhelmsen seine verbliebenen Fans an, ihm zu vertrauen und ihm zu helfen, seinen alten Staus zurückzuerlangen.
Finn lehnte sich in seinem Stuhl zurück. War Wilhelmsen das Comeback nicht gelungen, hatte er deshalb Selbstmord begangen?
Und war der Mord an Baresi ein Racheakt, steckte ein Angehöriger oder ein fanatischer Follower von Wilhelmsen dahinter?
Finn rief Tesker an: »Passt es gerade?«
»Ja, schieß los.«
Finn stellte seine Fragen.
»Nicht schlecht, bist echt fix«, sagte der Beamte. »Und ja, auf der Fährte sind die Kollegen bereits. Zwischen dem Mordopfer Bennet Baresi und dem Selbstmörder Jesper Wilhelmsen gab es tatsächlichen erheblichen Streit.«
Ned blickte auf seine Armbanduhr. Es war so weit. Teambesprechung. Wie er seine Freunde kannte, würden sie pünktlich sein.
Er drückte eine App auf seinem Handy und schrieb in ihre geheime Gruppe: »Und, wie war’s?« Ned drückte auf Senden.
Sekunden tröpfelten. Ihre Nachrichten wurden vor dem Verschicken verschlüsselt und konnten von niemandem abgefangen und gelesen werden – noch nicht einmal von der Polizei oder den Mitarbeitern des Providers. Dieser Kanal galt als wirklich sicher. Dennoch verwendeten sie Nicknames im Chat und löschten den Verlauf nach jeder Besprechung sorgfältig.
Butch war es, der als Erster antwortete. »Für mich sah es so aus, als sei er in Zeitlupe gefallen. Es war wie eine Befreiung«, schrieb er.
Das konnte sich Ned gut vorstellen. Eine Befreiung … Gern wäre er dabei gewesen und hätte alles beobachtet. Nicht unbedingt nur dieses arrogante Jüngelchen auf dem Dach, voller Angst und vermutlich auch Gewissheit, dass es gleich vorbei war mit seinem schönen Leben. Sondern um seinen Freund Butch zu erleben, während ein anderes Leben ausgelöscht wurde.
Aber sie hatten beschlossen, ihre Aktionen in möglichst überschaubaren Teams durchzuführen, um nicht unnötig aufzufallen. Aber bei ihrem nächsten kleinen Eingriff in die Sterbestatistik würde er dabei sein.
Nun kam Peppermint. Sie schrieb: »Habe ebenfalls jeden Moment genossen. Es war fantastisch.«
Ned lächelte. Ein fantastischer Mord. Das konnte nur von Peppermint stammen. Siewar so energisch, voller Kraft und so impulsiv. Peppermint sagte immer ohne Umschweife, was sie dachte oder fühlte. Dafür mochte Ned sie.
Dann meldete sich auch der wunderbare Todesengel Tisiphone: »Wie hat der auf die Managernummer reagiert?«, tippte sie in den Chat.
Butch: »Unterwürfig. Widerlich.« Lachender Smiley. »Er hat ihm etwas zu trinken angeboten.«
Tisiphone: »Dann seid ihr rauf aufs Dach?«
Peppermint: »Ja. An die Kante.«
Tisiphone: »Seine Augen waren offen, als er fiel?«
Promptantwortete Butch: »Sicher.«
Ned schrieb: »Gut so. Die sollen ihren Blick nicht mehr abwenden können.«
Peppermint schickte einen nach oben gereckten Daumen in die Gruppe. »Die Klammern waren eine gute Idee.«
Ned: »Danke.«
Butch: »Könnte es irgendwie eng für uns werden?«
Ned: »Glaube ich nicht.«
Tisiphone: »Es hat euch doch niemand gesehen, oder?«
»Nur dieser Influencer«, schrieb Butch. »Und der ist tot.«
Ned: »Bleibt ruhig. Wir sind auf einem guten Weg.«
»Der hat gerade erst begonnen«, tippte Peppermint.
Butch: »So ist es. Übermorgen geht es weiter. Der Juwelier. Wir brauchen schließlich Geld. Aber der sollte überleben.«
Ned zog die Stirn kraus. Wenn der Juwelier kooperierte, würden er und seine Familie am Leben bleiben.
Aber auch nur dann.
»Und in drei Tagen dieser Herr M«, tippte Ned. SeineKiefer begannen zu mahlen. Er ballte die Fäuste.
Auf M freute er sich am meisten.
Müde kam Finn gegen 20 Uhr nach Hause. Er hatte fast die komplette Seite 1 des Insiders vollgeschrieben. Nur der Wetterkasten, ein paar Meldungen sowie der tägliche Kommentar hatten neben seinen Berichten noch Platz gefunden.
Den Streit zwischen Baresi und Wilhelmsen hatte Finn noch nicht erwähnt. Zum einen hatte ihm die Zeit für die Recherchen gefehlt. Zum anderen war der Konflikt zwischen den beiden Influencern ein wunderbarer Aufhänger für die Nachberichterstattung, die Finn morgen angehen und die dann übermorgen zu lesen sein würde.
Um den Informationsvorsprung vor der Konkurrenz zu wahren, hatte Gerland angeordnet, dass Finns Aufmacher nicht sofort in der Onlineausgabe, sondern auch dort erst morgen früh zu lesen war – wie die Printversion. Sonst hätte die Gefahr bestanden, dass die Reporter anderer Medien noch heute Abend Finns Bericht aus dem Onlineangebot des Insiders kopiert, ein wenig umgeschrieben und als eigenen Beitrag ausgegeben hätten. Die Exklusivität wäre dahin gewesen.
Als Finn den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, hörte er hinter sich ein Motorengeräusch. Er drehte sich um und sah, wie Sophies Mini auf die Einfahrt rollte.
In Sportklamotten sprang sie aus dem Wagen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »War joggen im Volksdorfer Wald«, sagte sie. »Einfach herrlich nach einem stressigen Tag. Und wie war’s bei dir? Wahrscheinlich auch ganz schön anstrengend, oder?«
Er nickte. »Lass uns drinnen reden.«
Dort erwartete sie ein hektisches, dumpfes Gestampfe. Es kam aus der oberen Etage.
»Anouk scheint auch da zu sein«, grummelte Finn. »Soll das Musik sein?«
»Ach, Finn.« Noch ein Küsschen. »Die Musikgeschmäcker sind nun mal verschieden.«
Wieder nickte er. »Sehr verschieden. Aber ich brauche jetzt wirklich Ruhe.«
Finn legte die Hände trichterförmig vor den Mund: »Anouk?«
Keine Antwort.
Er versuchte es noch einmal: »Anouk?«
Wieder nichts.
Sophie nahm Finn an der Hand. »Komm, wir schauen mal nach ihr.«
Als sie sich der Tür zu Finns Gästezimmer näherten, rümpfte er die Nase. »Sag mal, wonach riecht das denn hier? Das ist doch Gras! Anouk kifft – in meinem Haus!«