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Was wäre, wenn sich Europa von einem Tag auf den anderen in eine gigantische Dschungelwelt verwandeln würde? Und wenn sich amerikanische Forscher aufmachen würden, diesen neuen Kontinent namens Darwinia zu erkunden? Und wenn sie dort eine Entdeckung machen würden, die unser Verständnis des Universums für immer verändert? Richtig: Es wäre eines der größten Abenteuer aller Zeiten …
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Seitenzahl: 496
Wie schreiben das Jahr 1912 – als sich die Welt für immer verändert. Über Nacht verschwindet der europäische Kontinent, wie wir ihn kennen, und verwandelt sich in eine monströse Dschungelwelt voll fremdartiger Kreaturen. Wie konnte das geschehen? Wer oder was ist für dieses bizarre Ereignis verantwortlich? Zahllose Geheimnisse umranken die neue Welt, die von den Amerikanern »Darwinia« getauft wird. Geheimnisse, die erst gelüftet werden können, als sich eine Expedition aufmacht, um das dunkle Herz Darwinias zu erforschen …
Mit »Darwinia« legt Robert Charles Wilson, der preisgekrönte Autor von »Spin« und »Julian Comstock«, einen einzigartigen Abenteuerroman vor.
Robert Charles Wilson, geboren 1953 in Kalifornien, wuchs in Kanada auf und lebt mit seiner Familie in der Nähe von Toronto. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren der modernen Zukunftsliteratur und wurde mehrfach für seine Romane ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hugo Award, dem Philip K. Dick Award und dem John W. Campbell Award.
Zuletzt sind bei Heyne von Robert Charles Wilson erschienen: Spin, Axis, Die Chronolithen, Quarantäne, Chronos sowie Julian Comstock.
An PNH und TNH für ihre Geduld und ihre guten Ratschläge; an Shawna, weil sie an meine Arbeit glaubt; und an die unangeklagten Mitverschwörer überall (ihr wisst, wer ihr seid).
In der Nacht, da sich die Welt veränderte, wurde Guilford Law vierzehn. Jene Nacht war die historische Wasserscheide, die alles, was folgte, von dem schied, was bis dahin gewesen war; doch bis dahin war der Tag nichts weiter als sein Geburtstag gewesen. Ein Samstag im März, kalt und unter einem wolkenlosen Himmel so tief wie ein Winterteich. Den Nachmittag hatte er mit seinem älteren Bruder verbracht, draußen, Dampf in die raue Luft hechelnd, hatten sie Holzreifen vor sich her getrieben.
Seine Mutter servierte zum Dinner Schweinefleisch und Bohnen, Guilfords Lieblingsspeise. Den ganzen Tag hatte die Kasserolle im Ofen geköchelt und die Küche mit dem süßen Duft von Ingwer und Melasse geschwängert. Er hatte ein Geschenk bekommen: ein gebundenes Buch mit leeren Seiten, in das er seine Bilder malen sollte. Und einen neuen Pullover, marineblau, zum Hineinwachsen.
Guilford war 1898 geboren; beinah zusammen mit dem neuen Jahrhundert. Er war das jüngste von drei Kindern. Er gehörte mehr als sein Bruder und mehr als seine Schwester zum ›neuen Jahrhundert‹, wie seine Eltern es bis heute nannten. Für ihn selbst war es nicht neu. Eigentlich hatte er schon immer darin gelebt. Er wusste, wie Elektrizität funktionierte. Er verstand sogar das Funken. Er war ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, der mit heimlichem Spott auf die verstaubte Vergangenheit blickte, die Vergangenheit aus Gaslicht und Mottenkugeln. Hatte Guilford Geld in der Tasche, was ziemlich selten vorkam, dann kaufte er sich eine Ausgabe von Modern Electrics und las darin, bis die Seiten aus dem Leim gingen.
Die Familie wohnte in einem bescheidenen Reihenhaus in Boston. Sein Vater war Schriftsetzer in der Innenstadt. Sein Großvater, der oben im Haus direkt neben der Stiege zum Dachboden wohnte, hatte im Bürgerkrieg mit der 13. Massachusetts gekämpft. Guilfords Mutter kochte, putzte, teilte das Geld ein und zog in dem winzigen Hintergärtchen Tomaten und grüne Bohnen. Sein Bruder, hieß es einhellig, würde eines Tages Arzt oder Anwalt sein. Seine Schwester war dünn und still und las zum Leidwesen seines Vaters Romane von Robert Chambers.1
Es war nach Guilfords Schlafenszeit, als der Himmel ganz hell wurde, doch er hatte aufbleiben dürfen, sei es aus einer allgemeinen Verwöhnlaune heraus oder einfach, weil er nun älter war. Guilford verstand nicht, was los war, als sein Bruder sie alle zum Fenster rief, und als sie dann alle aus der Küchentür stürzten, sogar sein Großvater, um dazustehen und in den Nachthimmel zu starren, da dachte er zuerst, die ganze Aufregung habe etwas mit seinem Geburtstag zu tun. Die Idee war falsch, das wusste er, aber sie war so griffig. Sein Geburtstag. Die Lichtfahnen in allen Farben des Regenbogens über dem Haus. Der ganze östliche Himmel stand in Flammen. Vielleicht brannte da etwas. Weit weg am Meer.
»Es sieht aus wie die Morgenröte«, hauchte seine Mutter verzagt.
Diese Morgenröte schimmerte wie ein Vorhang in einer sanften Brise und warf zarte Schatten über den weiß getünchten Zaun und den winterbraunen Garten. Die herrliche Wand aus Licht, bald grün wie Flaschenglas, bald blau wie das Abendmeer, sie war lautlos. So lautlos wie der Halleysche Komet vor zwei Jahren.
Seine Mutter musste auch an den Kometen gedacht haben, denn sie sagte dasselbe wie vor zwei Jahren: »Es sieht aus wie das Ende der Welt …«
Wieso sagte sie das? Wieso verschränkte sie die Hände und beschirmte die Augen? Guilford, innerlich frohlockend, hielt das nicht für das Ende der Welt. Sein Herz schlug wie eine Standuhr, die einer anderen Zeit gehorchte. Vielleicht war das ja ein Anfang. Nicht das Ende, sondern der Anfang einer Welt. Ähnlich wie eine Jahrhundertwende.
Das Neue machte Guilford keine Angst. Der Himmel erschreckte ihn nicht. Er glaubte an die Wissenschaft, welche (den Magazinen zufolge) die Geheimnisse der Natur eins ums andere lüftete und der uralten Ignoranz der Menschheit mit geduldigen und hartnäckigen Fragen zu Leibe rückte. Guilford glaubte zu wissen, was Wissenschaft war. Wissenschaft war nichts weiter als Neugierde … gemäßigt durch Bescheidenheit und durch Geduld diszipliniert.
Wissenschaft hieß Hinsehen – ein ganz besonderes Hinsehen. Ein besonders kritisches Hinsehen, wann immer man etwas nicht verstand. Sich die Sterne ansehen zum Beispiel und keine Angst vor ihnen haben, sie nicht verehren, einfach nur Fragen stellen, die Frage finden, die die Tür zur nächsten aufschließen würde und zur übernächsten.
Während die anderen ins Haus gingen, um sich ins Wohnzimmer zu kauern, saß Guilford furchtlos auf der bröckelnden Hintertreppe. Fürs Erste fand er das Alleinsein beglückend, der neue Pullover hielt ihn warm, sein Atem verdampfte in der strahlenden, stillen Helligkeit des Himmels.
Später – in den Monaten, in den Jahren, im Jahrhundert danach – würde man unzählige Vergleiche ziehen. Sintflut, Armageddon, das jähe Aussterben der Dinosaurier. Aber das Ereignis an sich, das schreckliche Wissen darum und die Verbreitung dieses Wissens unter den Menschen, die es noch gab, war ohne Beispiel.
1887 hatte der Astronom Giovanni Schiaparelli eine Karte der Marskanäle gezeichnet. Jahrzehntelang wurde die Karte kopiert und verfeinert und für bare Münze genommen, bis bessere Linsen die Kanäle als Illusion entlarvten, es sei denn, der Mars selbst hatte sich inzwischen verändert, was nicht mehr von der Hand zu weisen war angesichts dessen, was der Erde widerfuhr. Vielleicht hatte sich so etwas durchs Sonnensystem geschlängelt, etwas wie ein Faden, getragen von einem Lufthauch, etwas Kurzlebiges aber unvorstellbar Gewaltiges, das die kalten Planeten des äußeren Systems berührte, durch Gestein, ewiges Eis und leblose Formationen fuhr. Und mit seiner Berührung alles veränderte. Sich auf die Erde zubewegte.
Der Himmel war voller Zeichen und Omen gewesen. 1907, die feurige Tunguska-Kugel. 1910, der Halleysche Komet. Einige, wie Guilford Laws Mutter, hatten ihn für das Ende der Welt gehalten. Schon damals.
In jener Märznacht war der Himmel über dem nordöstlichen Atlantik heller als er es beim Vorbeiflug des Kometen gewesen war. Stundenlang hatte der Horizont blau und violett gelodert. Das Licht, so die Zeugen, war wie eine Wand gewesen. Es sei aus dem Zenit gekommen. Es teilte das Meer.
Von Khartum aus war es zu sehen (allerdings am nördlichen Himmel) und von Tokio aus (schwach und gen Westen).
Von Berlin, Paris, London, von allen europäischen Hauptstädten aus umspannte das kabbelnde Licht den gesamten Himmelskreis. Hunderttausende von Zuschauern sammelten sich in den Straßen unter der kalten Effloreszenz. Eine Sturzflut von Berichten überschwemmte New York – bis vierzehn Minuten vor Mitternacht.
Um 11.46 Eastern Time verstummte plötzlich und aus unerfindlichen Gründen das atlantische Kabel.
Es war die Epoche der legendären Schiffe: die Great White Fleet2, die Cunard Line und die White Star Line; die Teutonic, die Mauretania, imperiale Monstrositäten.
Zugleich brach das Zeitalter von Marconi Wireless an. Das Schweigen des atlantischen Kabels hätte man noch mit diversen einfachen Katastrophen erklären können. Das Schweigen der landgestützten europäischen Funkstationen war weitaus ominöser.
Man jagte Funksprüche und Fragen über den kalten, sanften Nordatlantik. Es gab kein CQD3 und auch kein neuartiges SOS, nicht einen einzigen Seenotruf, obwohl bestimmte Schiffe aus unerfindlichen Gründen nicht ansprechbar waren, so die Olympic der White Star Line und die Kronprinzessin Cecilie der Hamburg Amerika Linie – Flaggschiffe, auf denen sich eben noch die Reichen aus einem Dutzend Nationen an der überfrorenen Reling gedrängt hatten, um das Phänomen zu sehen, das derart bunte Reflexe über das winterdunkle und glasige Meer streute.
Noch vor Tagesanbruch verschwanden die spektakulären und unerklärlichen Himmelslichter urplötzlich, flohen vom Horizont wie die brennende Sichel einer Sense. Als die Sonne aufging, war der Himmel über dem größten Teil der Großkreisroute turbulent. Das Meer war rastlos, der Wind böig und über Tag zuweilen heftig. Jenseits von 15° westlicher Länge und 40° nördlicher Breite herrschte absolute und ungebrochene Stille.
Das erste Schiff, das die Grenze überschreiten sollte, die von den New Yorker Nachrichtenagenturen bereits ›The Wall of Mystery‹ genannt wurde, war die ältliche Oregon. Das Schiff der White Star Line kam von New York und war unterwegs nach Queenstown und Liverpool.
Truxton Davies, der amerikanische Kapitän, empfand die Dringlichkeit der Situation, auch wenn er sie nicht besser verstand als jeder andere. Er misstraute dem Marconi-System. Die Funkausrüstung der Oregon bestand aus einem klobigen Funkensprüher von knapp hundert Meilen Reichweite. Botschaften konnten verstümmelt werden; Gerüchte über Katastrophen waren oft überzogen. Doch er war 1906 in San Francisco gewesen, war die Market Street hinuntergeflohen und knapp den Flammen entronnen und wusste nur zu gut, was die Natur anrichten konnte, wenn die Umstände es zuließen.
Er hatte die Ereignisse der letzten Nacht verschlafen. Sollten die Passagiere in den Himmel glotzen, statt zu schlafen; er zog die gemütliche Koje vor. Vor Tagesanbruch scheuchte ihn ein nervöser Funker aus dem Schlaf. Davies sah den Marconi-Verkehr durch, dann befahl er dem ersten Maschinisten, die Dampfkessel hochzufahren, und seinem ersten Steward, für die ganze Crew Kaffee zu kochen. Seine Sorge war provisorischer Natur, seine Haltung nach wie vor skeptisch. Die Olympic und die Kronprinzessin Cecilie waren nur Stunden weiter östlich der Oregon gewesen. Sollte es ein echtes CQD geben, würde er den Ersten Offizier anweisen, unverzüglich alle Vorbereitungen für eine Bergungsaktion zu treffen; bis dahin … na ja, man würde in Bereitschaft bleiben.
Den ganzen Morgen überwachte er die Funksprüche. Nichts als besorgte Fragen, weitergereicht (›GMOM‹ – good morning, old man!) im fröhlichen aber nervösen Jargon einer winzigen Schiffsfunkerzunft. Seine Besorgnis wuchs. Übernächtigte Passagiere, aufgescheucht durch das unversehens heftigere Stampfen der Maschinen, verlangten eine Erklärung. Beim Lunch erklärte er einer Abordnung der Besorgten Erster Klasse, er wolle die Zeit wieder einholen, die man durch ›Eisbildung‹ verloren habe, und bat, vorerst von Telegrammen Abstand zu nehmen, solange die Marconi-Apparatur repariert werde. Sein Steward gab diese Desinformation an die Zweite Klasse und das Zwischendeck weiter. Nach Davies Erfahrung waren Passagiere wie Kinder, schmollende Wichtigtuer, stets bereit, eine oberflächliche Erklärung hinzunehmen, wenn sie nur ihre tiefe und unaussprechliche Angst vor dem Meer beruhigte.
Gegen Mittag legte sich der Wind. Laues Sonnenlicht brach durch die zerklüftete Wolkendecke.
Am Nachmittag meldete der vordere Ausguck etwas, das nach Nordosten trieb und aussah wie ein Wrackteil oder ein gekentertes Rettungsboot. Davies verlangsamte das Tempo und manövrierte näher heran. Er wollte eben den Befehl geben, die Boote auszusetzen und die Frachtnetze auszufahren, als der Zweite Offizier das Fernglas absetzte und sagte: »Sir, ich glaube, das ist gar kein Wrack.«
Sie kamen längsseits. Es war kein Wrackteil.
Kapitän Davies konnte auch nicht sagen, was es war, und das machte ihm Kopfschmerzen.
Es tanzte in der Dünung, lahm und leblos, glitzernde Wintersonne auf den langen Flanken. Irgendein riesiger, aufgedunsener Tintenfisch oder Krake? Irgendein Teil von etwas, das gelebt hatte, kein Zweifel; etwas Ähnliches hatte Davies in siebenundzwanzig Jahren zur See nicht gesehen.
Rafe Buckley, sein junger Erster Offizier, starrte auf das Ding, das an den Bug der Oregon prallte und träge, im kalten, stillen Wasser gegen den Uhrzeigersinn kreiselnd, nach achtern trieb. »Sir«, sagte er, »was halten Sie davon?«
»Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll, Mr. Buckley.« Er wünschte sich vor allem, er hätte das Ding nicht zu Gesicht bekommen.
»Es sieht … na ja, wie eine Art Wurm aus.«
Es bestand aus Segmenten, ringförmigen, wie ein Wurm eben. Aber Wurm zu sagen, hieß, sich einen Wurm vorzustellen, der groß genug war, einen Schornstein der Oregon zu verschlingen.
Und kein Wurm hatte jemals solche ausgefransten, spitzenartigen Wedel, Flossen oder Kiemen getragen, die in gewissen Abständen aus dem Leib der Kreatur ragten. Und dann die Farbe, klebriges Rosa und öliges Blau, wie der Daumen eines Ertrunkenen. Und der Kopf … falls man diesen leeren, augenlosen Sägezahnrachen so nennen wollte!
Als er achtern zurückfiel, drehte sich der Wurm um seine Längsachse und zeigte einen glitschigen, weißen Bauch, der von Haien attackiert worden war. Passagiere drängten sich auf dem Promenadendeck, doch nicht lange, und der Gestank trieb alle bis auf ein paar Hartgesottene wieder nach unten.
Buckley strich über seinen Schnurrbart. »Was, um Himmels willen, sollen wir sagen?«
Sag ihnen, es war ein Seeungeheuer, dachte Davies. Sag ihnen, es war ein Krake. Das könnte sogar stimmen. Doch Buckley wollte eine ernsthafte Antwort.
Davies bedachte seinen besorgten Ersten mit einem langen Blick. »Je weniger wir sagen«, schlug er vor, »umso besser.«
Das Meer war voller Geheimnisse. Und das war der Grund, warum er es hasste.
Die Oregon war das erste Schiff, das im kalten Licht der aufgehenden Sonne Cork Harbour erreichte, ohne sich an Küstenlichtern und Markierungen der Fahrrinne orientieren zu können. Kapitän Davies ging in sicherer Entfernung von Great Island4 vor Anker, da wo die Docks und der geschäftige Hafen von Queenstown lagen – oder hätten liegen müssen.
Und das war das Unannehmbare. Es gab keine Spur von der Stadt. Der Hafen war unbefestigt. Wo die Straßen von Queenstown hätten sein müssen – wo es von Exporteuren, Lastkränen, Schauerleuten und irischen Auswanderern hätte wimmeln müssen –, da gab es nur wild wuchernden Wald, der sich bis ans Felsufer erstreckte.
Das war nicht nur unvertretbar, das war unmöglich, und allein der Gedanke bereitete Kapitän Davies Übelkeit und Schwindel. Am liebsten wäre ihm gewesen, der Steuermann hätte sie irrtümlich in eine wilde Bucht manövriert oder sogar zum falschen Kontinent gebracht, doch an den unverkennbaren Konturen der Insel und der typischen, wolkenverhangenen Küste von County Cork war nicht zu rütteln.
Es war Queenstown und es war Cork Harbor und es war Irland, auch wenn jede Spur menschlicher Zivilisation ausgelöscht oder von Vegetation überwuchert war.
»Aber das ist nicht möglich«, wandte er sich an Buckley. »Ich sehe es mit eigenen Augen, aber in Halifax liegen Schiffe, die Queenstown erst vor sechs Tagen verlassen haben. Ein Erdbeben, ja, oder eine Flutwelle, die Stadt in Trümmern … aber das!«
Davies war die ganze Nacht über bei seinem Ersten Offizier auf der Brücke geblieben. Das Verstummen der Maschinen trieb die Passagiere erneut an die Reling. Sie würden fragen ohne Ende. Doch es gab keine Antworten. Davies hatte nichts zu bieten, keine Erklärung, keine Vermutung, keinen Trost, nicht einmal eine beschwichtigende Lüge. Aus Nordosten war ein feuchter Wind aufgefrischt. Kälte würde die Neugierigen bald wieder unter Deck treiben. Vielleicht fand Davies beim Dinner ein paar beschwichtigende Worte. Aber welche?
»Und so grün«, sagte er, unfähig, diese Gedanken im Keim zu ersticken oder zu verdrängen. »Viel zu grün für diese Jahreszeit. Was für Pflanzen schießen im März aus dem Boden und verschlingen eine irische Stadt?«
»Das ist unnatürlich«, stammelte Buckley.
Die beiden Männer sahen einander an. Die Schlussfolgerung des Ersten Maats war so offensichtlich und aufrichtig, dass Davies ein Lachen unterdrückte. Er zwang sich zu einem Lächeln, das den anderen beruhigen sollte. »Morgen schicken wir einen Landungstrupp, um die Uferlinie zu erkunden, mal sehen. Bis dahin sollten wir keine Hypothesen aufstellen … damit sind wir überfordert.«
Buckley versuchte, das Lächeln zu erwidern. »Es werden noch weitere Schiffe kommen …«
»Und dann wissen wir, dass wir nicht übergeschnappt sind?«
»Nun ja, Sir. So kann man es auch sehen.«
»Bis dahin wollen wir die Augen offen halten. Sagen Sie dem Funker, er soll sich jedes Wort zweimal überlegen. Die Welt wird es noch früh genug erfahren.«
Sie starrten ein Weilchen in das kalte Grau des Morgens. Ein Steward brachte zwei Becher mit dampfendem Kaffee.
»Sir«, wagte Buckley sich vor. »Die Kohle, die wir an Bord haben, reicht niemals bis New York.«
»Dann bis zum nächstbesten Hafen …«
»Falls es hier noch welche gibt.«
Davies hob die Augenbrauen. Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. Vielleicht gab es Gedanken, die einfach mehr Platz brauchten als ein menschliches Hirn zu bieten hatte.
Er straffte die Schultern. »Wir sind ein White Star Schiff, Mr. Buckley. Selbst wenn Amerika Kohlenschiffe schicken müsste, man würde uns nie im Stich lassen.«
»Jawohl, Sir.« Buckley, ein junger Mann, der einst den Fehler begangen hatte, Theologie zu studieren, bedachte den Kapitän mit einem traurigen Blick. »Sir … ob das hier ein Wunder ist?«
»Eher eine Tragödie, würde ich sagen. Vor allem für die Iren.«
Rafe Buckley glaubte an Wunder. Er war Sohn eines Methodistenpfarrers und mit Moses und dem brennenden Dornbusch aufgewachsen, mit Lazarus, dem vom Tode erweckten, und der Vermehrung von Brot und Fisch. Trotzdem, er hatte nie damit gerechnet, mit eigenen Augen ein Wunder zu erleben. Wunder und Gespenstergeschichten bereiteten ihm Unbehagen. Er fand es besser, wenn seine Wunder zwischen den Deckeln der King James Bibel blieben, von der ein Exemplar (sträflich vernachlässigt) in seiner Kabine lag.
Mitten in einem Wunder zu sein, das ihn von Horizont zu Horizont umgab, das war ein Gefühl, als habe man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Er konnte nur noch häppchenweise schlafen. Am nächsten Morgen zeigte ihm der Rasierspiegel ein bleiches Gesicht mit geröteten Augen und die Hand mit dem Rasiermesser zitterte. Er musste sich mit einer Mischung aus schwarzem Kaffee und Whiskey aus dem Flachmann beruhigen, bevor er auf Befehl des Kapitäns eine Barkasse von den Davits ließ, um mit einer Gruppe nervöser Seeleute Kurs auf den Kieselstrand des einstigen Great Island zu nehmen. Ein Wind frischte auf, das Wasser war kabbelig, und von Norden zogen zerklüftete Regenwolken auf. Frostiges, scheußliches Wetter.
Kapitän Davies wollte wissen, ob es – falls die Umstände dafür sprachen – überhaupt ratsam war, Passagiere an Land zu bringen. Anfangs hatte Buckley das bezweifelt; heute bezweifelte er es mehr denn je. Er packte mit an, um die Barkasse oberhalb der Flut zu sichern, dann stapfte er ein paar Schritte landeinwärts durch den Kies, die Füße nass, auf Mantel, Haar und Schnurrbart den Raureif der Salzwassergischt, hinter sich fünf sprachlose White Line Seeleute mit grimmigen Bärten. Hier mochte einst der Hafen von Queenstown gestanden haben; doch Buckley kam sich eher wie ein Kolumbus oder Pizarro vor, allein auf einem neuen Kontinent, vor sich den aufragenden Dschungel mit seiner ganzen Urgewalt, seinen Verlockungen und Gefahren. In gebührendem Abstand von den Bäumen ließ er anhalten.
Sie erinnerten an Bäume. Dass er sie insgeheim so nannte, behielt Buckley für sich. Schon auf der Brücke hatte er seinen Augen nicht getraut: gewaltige blaue oder rostrote Stengel, an denen in dichten Büscheln Nadeln wuchsen. Manche Bäume waren an der Spitze eingerollt wie Farne. Andere öffneten sich zu Kelchen oder hatten knollige Pilzköpfe, die an die Kuppeln türkischer Gotteshäuser erinnerten. Die Zwischenräume waren so eng und finster wie Dachsbauten und voller Nebelschwaden. Die Luft roch nach Kiefer, dachte Buckley, aber mit einem seltsamen Beigeschmack, bitter und aufdringlich wie Menthol oder Kampfer.
So sollte ein Wald nicht aussehen und auch nicht riechen, und – schlimmer vielleicht – sollte er sich so auch nicht anhören. In einem Wald, überlegte er, einem anständigen Winterwald an einem windigen Tag – die Wälder seiner Kindheit in Maine –, da sollten die Äste knarren, die Blätter mit dem Regen um die Wette flüstern und sonst noch ein paar vertraute Geräusche zu hören sein. Diese Bäume mussten hohl sein, überlegte Buckley, denn der Wind entlockte ihnen langgezogene, tiefe, melancholische Töne, und die wenigen gestürzten Exemplare am Ufer hatten wie riesige Strohhalme ausgesehen. Und die Büschel aus Nadeln klapperten leise. Wie hölzerne Stabspiele. Wie Knochen.
Buckley hätte am liebsten kehrtgemacht, vor allem wegen dieser Geräuschkulisse. Aber er hatte Befehle. Er riss sich zusammen und führte die Expedition ein paar Yards den Kiesstrand hinauf bis an den Rand dieses unirdischen Dschungels, wo aus dem harten, schwarzen Boden kniehohes gelbes Ried wuchs. Ihm war zumute, als müsse er eine Fahne aufpflanzen … aber welche? Nicht das Sternenbanner, bestimmt nicht den Union Jack. Vielleicht die Star-and-Circle Flagge der White Star Line. We claim these lands in the name of God and J. Pierpont Morgan.5
»An Ihren Füßen, Sir«, warnte der Seeman hinter ihm.
Buckley riss den Blick nach unten und sah gerade noch, wie etwas von seinem linken Stiefel wegflitzte. Etwas blasses, vielbeiniges und fast so lang wie eine Kohlenschaufel. Es verschwand mit einem pfeifenden Kreischen. Buckley war erschrocken, sein Herz hämmerte.
»Jesus, mein Gott!«, rief er aus. »Das ist weit genug! Der reine Wahnsinn, hier Passagiere abzusetzen. Ich sage Kapitän Davies …«
Doch der Seemann starrte noch immer auf Buckleys Füße.
Widerwillig blickte Buckley ein zweites Mal nach unten.
Da war noch eine andere Kreatur. Eine Art Tausendfüßler, aber dick wie eine Anakonda und so fahlgelb wie das Riedgras. Das konnte Tarnung sein. Das gab es in der Natur. Das war auf eine schreckliche Weise hochinteressant. Er trat einen halben Schritt zurück und rechnete damit, dass das Ding Reißaus nahm.
Es tat genau das Gegenteil. Wie der Blitz schnellte es in Buckleys Richtung und wand sich in einer einzigen, jähen Schlingbewegung um sein rechtes Bein, wie die explosive Entfesselung einer Sprungfeder. Buckley spürte einen Druck und ein heißes Prickeln, als sich die Spitze der dolchartigen Schnauze durch die Hose in seine Haut bohrte.
Es hatte ihn gebissen!
Er schrie und trat. Er brauchte etwas, um das Monster loszuhebeln, einen Stock, ein Messer, aber da war nichts als das spröde, nutzlose Riedgras.
Dann ließ die Kreatur urplötzlich von ihm ab – als habe sie etwas Unangenehmes geschmeckt, so jedenfalls kam es Buckley vor – und wieselte ins Unterholz.
Buckley gewann seine Fassung zurück und wandte sich an die entsetzten Seeleute. Das Bein tat nicht besonders weh. Er holte ein paarmal tief Luft. Wollte den Männern etwas Beruhigendes sagen, ihnen die Angst nehmen. Ehe er die Worte beisammen hatte, wurde ihm schwarz vor Augen …
Die Männer schleppten ihn zur Barkasse und machten sich auf den Rückweg zur Orgeon. Mit Buckleys Bein gingen sie sehr vorsichtig um, es schwoll bereits an.
An diesem Nachmittag stürmten fünf Passagiere der Zweiten Klasse die Brücke und verlangten, dass man sie vom Schiff ließ. Es waren Iren, und sie wussten, was sie sahen. Das war Cork Harbor! Sie hatten Familien im Land und wollten sich auf die Suche machen.
Kapitän Davies hatte sich den Bericht des Landungskommandos angehört. Er glaubte nicht, dass die Iren weiter als ein paar Yards kamen; sie würden kehrtmachen, wenn nicht irgendwelcher Kreaturen wegen, dann aus Angst und weil sie abergläubisch waren. Er starrte sie an, bis sie verlegen wurden, und überredete sie, unter Deck zu gehen. Das hätte auch anders ausgehen können. Er verteilte Pistolen an seine leitenden Offiziere und fragte den Funker, wann mit dem nächsten Schiff zu rechnen sei.
»Schon bald, Sir. Ein Frachtschiff der Canadian Pacific ist keine Stunde entfernt.«
»Sehr gut. Sie könnten ihnen mitteilen, dass es eilt … und was sie hier erwartet.«
»Ja, Sir. Aber …«
»Aber was?«
»Was soll ich denen sagen, Sir? Ich blicke selbst nicht durch.«
Davies legte dem Funker die Hand auf die Schulter. »Das hier versteht keiner. Ich setze die Nachricht selbst auf.«
Rafe Buckley hatte Fieber, doch bis zum Dinner war die Schwellung zurückgegangen. Er konnte gehen, und er wollte es sich nicht nehmen lassen, der Einladung des Kapitäns zu folgen und an dessen Tisch Platz zu nehmen.
Buckley aß nur wenig, schwitzte fürchterlich und war zu Davies’ Enttäuschung nicht besonders gesprächig. Davies hätte gerne mehr über das gehört, was die Schiffsoffiziere bereits die ›Neue Welt‹ nannten. Buckley hatte nicht nur den Fuß in diese Fremde gesetzt, eine ihrer Lebensformen hatte von ihm gekostet.
Buckley hatte sein Roastbeef noch nicht aufgegessen, als er verstört vom Tisch aufstand und ins Krankenrevier zurückkehrte, wo er zur Verwunderung des Kapitäns um 00.30 Uhr plötzlich verstarb. Leberschaden, mutmaßte der Schiffsarzt. Vielleicht ein unbekanntes Gift. Schwer zu sagen vor der Autopsie.
Es war wie in einem Traum, dachte Davies, einem merkwürdigen und schrecklichen Traum. Er setzte die Schiffe, die nach und nach Queenstown, Liverpool und die französischen Häfen anliefen, telegraphisch vom Tod seines Ersten Offiziers in Kenntnis und warnte eindringlich davor, ohne Wasserstiefel und Seitenwaffe an Land zu gehen.
Als sich aus dem Wust an Telegrammen und Warnungen die ganze Ungeheuerlichkeit des Geschehenen abzuzeichnen begann, schickte White Star von Halifax und New York aus Kohlen- und Versorgungsschiffe auf den Weg.
Nicht bloß Queenstown war abhanden gekommen; es gab kein Irland, kein England, kein Frankreich und kein Deutschland und kein Italien mehr … nur noch Wildnis nördlich von Kairo und gen Osten mindestens bis zur russischen Steppe, als habe man ein Stück des Planeten herausgeschnitten und ihm irgendeinen fremden Organismus aufgepfropft.
Davies schickte ein Telegramm nach Maine, an Rafe Buckleys Vater. Eine schreckliche Pflicht, dachte er, doch der Mann würde nicht allein bleiben mit seiner Trauer. Nicht lange und die ganze Welt würde trauern.
Später – in der schlimmen Zeit, als die Zahl der Armen und Obdachlosen so dramatisch stieg, als Kohle und Öl so teuer wurden, als es zu Hungertumulten im Common6 kam und Guilfords Mutter und seine Schwester die Stadt verließen, um auf unbestimmte Zeit bei einer Tante in Minnesota zu leben – da musste Guilford oft mit, wenn sein Vater in die Druckerei ging.
Den Jungen sich selbst überlassen, das wollte sein Vater nicht, und die Schule blieb während des Generalstreiks geschlossen und für eine Haushälterin, die sich hätte kümmern können, fehlte das Geld. Also sah Guilford zu, wie Druckplatten und Lithographien entstanden, und lernte die Anfangsgründe dieses Handwerks. In den langen Pausen zwischen den Aufträgen las Guilford immer wieder seine Funk-Magazine und fragte sich, ob je eines der grandiosen Drahtlos-Projekte, die die Autoren entwarfen, zum Zuge kam – ob Amerika jemals eine andere DeForrest-Röhre7 bauen würde oder ob das Zeitalter der Erfindungen zu Ende war.
Oft hörte er zu, wenn sein Vater sich mit den beiden übrig gebliebenen Angestellten der Druckerei unterhielt, einem frankokanadischen Graveur namens Ouillette und einem mürrischen russischen Juden namens Kominski. Sie redeten meist leise und in düsteren Farben. Sie redeten miteinander, als sei Guilford nicht anwesend.
Sie redeten über den Börsenkrach und den Bergarbeiterstreik, die Arbeiterbrigaden und die Lebensmittelkrise und die steigenden Preise.
Sie redeten über die Neue Welt, das neue Europa, jene unwirtliche Wildnis, die ein solches Loch in die Weltkarte gerissen hatte.
Sie redeten über Präsident Taft und die Kongressrevolte. Sie redeten über Lord Kitchener8, der von Ottowa aus die kläglichen Überreste des British Empire leitete; sie redeten über die rivalisierenden Päpste und die Kolonialkriege, die die Besitzungen von Spanien, Deutschland und Portugal verwüsteten.
Und nicht selten redeten sie über Religion. Guilfords Vater war geborener Episkopale und durch seine Heirat Unitarier – war also alles andere als ein Dogmatiker. Für Ouillette, den Katholiken, war das Schicksal Europas ein ›offenkundiges Wunder‹. Kominski fühlte sich unwohl bei diesen Debatten, räumte aber freimütig ein, die Neue Welt müsse ein Akt göttlichen Eingreifens sein: Was sonst hätte es sein können?
Guilford war bedacht, nicht zu stören und sich ja nicht einzumischen. Falls man ihm überhaupt eine Meinung zugestand, so hatte er sie gefälligst für sich zu behalten. Er hielt dieses Gerede über Wunder für abwegig. Wie immer man es sah, war die Verwandlung Europas natürlich ein Wunder, unverhofft, unerklärlich und ganz deutlich im Widerspruch zu allen Naturgesetzen.
War das so?
Dieses Wunder, überlegte Guilford, trug keine Unterschrift. Gott hatte es nicht verkündet. Es war einfach passiert. Es war ein Ereignis, angekündigt von seltsamen Leuchterscheinungen und begleitet von eigenartigem Wetter (Tornados in Khartum, wie er gelesen hatte) und geologischen Störungen (beträchtliche Erdbeben in Japan, Gerüchte über verheerende Beben in der Mandschurei).
Für ein Wunder, überlegte Guilford, hatte es verdächtig viele Nebenwirkungen … es war keineswegs so sauber und entschieden, wie man sich ein Wunder vorstellte. Doch wenn sein Vater eben diese Einwände machte, reagierte Kominski mit Verachtung. »Die Sintflut«, sagte er. »Das war keine saubere Tat. Die Vernichtung von Sodom. Lots Weib. Eine Salzsäule: Macht das Sinn?«
Vielleicht nicht.
Guilford ging an den Globus, der auf dem Bürotisch seines Vaters stand. Auf den ersten vorsichtigen Zeichnungen in den Zeitungen hatte man einen Ring oder eine Schleife über die alten Karten gemalt. Diese Schleife halbierte Island, umschloss die Südspitze Spaniens und einen Halbmond von Nordafrika, durchquerte das Heilige Land und schnitt in einem provisorischen Bogen durch die russische Steppe und den nördlichen Polarkreis. Guilford drückte die Handfläche auf Europa, verdeckte die überholte Kartographie. Terra incognita, dachte er. Die Hearst-Blätter9, der nationalen religiösen Renaissance folgend, nannten den neuen Kontinent zuweilen ›Darwinia‹, womit man scherzhaft zum Ausdruck brachte, dass dieses Wunder die Naturgeschichte Lügen strafe.
Aber dem war nicht so. Davon war Guilford fest überzeugt, auch wenn er es für sich behielt. Kein Wunder, dachte er, aber ein großes Rätsel. Unerklärlich, aber nicht wirklich unerklärbar.
Diese ganze Landmasse, diese Meerestiefen, Gebirge und Eiswüsten, alles das hatte sich über Nacht verwandelt … Der Gedanke war beklemmend, und noch beklemmender war es, sich das ganze Hinterland vorzustellen, das er mit der Hand abgedeckt hatte. Man kam sich so nichtig vor.
Ein Rätsel. Wie jedes Rätsel wartete es auf eine Frage. Auf etliche Fragen. Fragen, die wie Schlüssel waren, mit denen man einem widerspenstigen Schloss zu Leibe rückte.
Er schloss die Augen und hob die Hand. Er stellte sich ein Territorium vor, das leer war, mit neuen Legenden in einer unbekannten Sprache.
Rätsel über Rätsel.
Aber wie befragt man einen Kontinent?
»Wenn der Abendhimmel rot ist, dann sagt ihr: ›Morgen gibt es schönes Wetter‹, und wenn der Morgenhimmel rot und verhangen ist, dann sagt ihr: ›Es wird regnen.‹ Ihr könnt also das Aussehen des Himmels beurteilen und schließt daraus, wie das Wetter wird. Warum versteht ihr dann nicht, was die Ereignisse dieser Zeit ankündigen?«
– MATTHÄUS, 16.2,3
Die Crews der Dampfschiffe, die überlebt hatten, erfanden ihre eigenen Legenden. Große Geschichten, die offenkundig gesponnen waren, und Guilford Law hatte die meisten schon gehört, als die Odense den fünfzehnten Längenkreis passierte.
Ein betrunkener Deck-Steward hatte ihm von der Gegend erzählt, wo sich die beiden Ozeane trafen: der Alte Atlantik von Amerika und der Neue Atlantik von Darwinia. Die Niemandssee, so der Steward, war so flach wie ein Böengürtel und doppelt so tückisch. Die eine See war dickflüssiger als die andere, wie Öl, und Lebewesen, die von der einen in die andere wollten, waren dem Tod geweiht. Folglich wimmelte es in dieser Zone von den Kadavern bekannter und unbekannter Tiere: Delphine, Haie, Finnwale, Blauwale; Aale, Seewalzen, Ölfische, Fahnenfische. Sie trieben auf der Stelle, aufgerissene, milchige Augen, Seite an Seite und Maul an Afterflosse. Das eisige Wasser hatte sie außergewöhnlich gut konserviert, ein düsteres Omen für jedes Schiff, das so unklug war, sich seinen Weg durch das dichte und stinkende Treibgut zu bahnen.
Guilford wusste ganz genau, dass diese Geschichte erfunden war, eine Gruselgeschichte, um Leichtgläubige abzuschrecken. Doch zur richtigen Zeit nahm man solche Geschichten allzu gerne für bare Münze. Kurz vor Sonnenuntergang mitten auf dem Atlantik lehnte er an der fleckigen Reling der Odense. Der Wind blies Gischtfetzen von der wogenden See, doch gen Westen war die Wolkendecke aufgerissen, und die Sonne tastete mit langen Fingern über das Wasser. Irgendwo hinter dem östlichen Horizont lag die Bedrohung und die Verheißung der neuen Welt, das verwandelte Europa, der Wunderkontinent, wie die Zeitungen Darwinia immer noch nannten. Dort mochte es keine Glasfische geben, die den Kiel belagerten, und an allen Gestaden leckte das gleiche Salzwasser, doch Guilford wusste, er überschritt eine wirkliche Grenze, als sein Schwerpunkt aus dem Vertrauten ins Unbekannte driftete.
Er wandte sich ab, die Hände so kalt wie das Messing der Reling. Er war zweiundzwanzig und bis letzten Freitag noch nie zur See gefahren. Zu groß und zu hager, um einen guten Seemann abzugeben, manövrierte Guilford sich nur ungern durch die gefährlich engen Labyrinthe der Odense, die in den Jahren vor dem Wunder einer dänischen Passagier-Linie treue Dienste geleistet hatte. Die meiste Zeit verbrachte er in der Kajüte bei Caroline und Lily oder, wenn die Kälte es zuließ, hier auf Deck. Der fünfzehnte Längenkreis war die äußerste Grenze des großen Kreises, der in den Globus gekerbt war, und dahinter hoffte Guilford einen ersten flüchtigen Eindruck der Wasserfauna von Darwinia zu bekommen. Nicht unzählige tote Aale, ›verschlungen wie das Haar einer Ertrunkenen‹, sondern eher eine Seewalze, die an die Oberfläche kam, um ihre Wasserlungen zu füllen. Er war gespannt auf jeden Vorboten des neuen Kontinents und sei es nur ein Fisch. Wohlwissend, dass seine Ungeduld naiv war, gab er sich alle Mühe, sie vor den anderen Mitgliedern der Expedition zu verbergen.
Unter Deck war es feucht und eng. Guilford und seine Familie hausten in einer winzigen Kajüte mittschiffs; Caroline verließ sie nur selten. Am ersten Tag nach dem Auslaufen aus Boston Harbour war sie seekrank gewesen. Jetzt gehe es ihr besser, beteuerte sie, doch Guilford wusste, dass sie nicht glücklich war. Sie hatte sich nicht für diese Reise erwärmen können, aber unbedingt mitfahren wollen.
Trotzdem, immer wenn er in die Kajüte kam und Caroline sah, schien er sich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Sie saß auf der Bettkante, den Rücken gebeugt, und kämmte ihr Haar mit einer Perlmuttbürste, die Bürste folgte immerzu bedächtig dem Schwung ihres Nackens. Die großen Augen waren nur halb offen. Sie sah aus wie eine Prinzessin im Opiumtraum: abwesend, träumend und unausgesetzt traurig. Sie war, dachte Guilford, ganz einfach schön. Er verspürte nicht zum ersten Mal das Verlangen, sie zu fotographieren. Kurz vor der Hochzeit hatte er ein Portrait von ihr gemacht, war aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden gewesen. Bei Trockenplatten gingen die Feinheiten des Ausdrucks verloren, die Pracht ihres Haars, sieben Graustufen.
Er setzte sich neben sie und widerstand dem Wunsch, ihre bloßen Schultern über dem Mieder zu berühren. In letzter Zeit schien sie seinen Berührungen eher auszuweichen.
»Du riechst wie das Meer«, sagte sie.
»Wo ist Lily?«
»Sie folgt dem Ruf der Natur.«
Er wollte sie küssen. Sie sah ihn an, dann hielt sie ihm die Wange hin. Die Wange war kühl.
»Wir sollten uns zum Dinner zurechtmachen«, sagte sie.
Finsternis umhüllte das Schiff. Das spärliche elektrische Licht verengte die Korridore zu Fuchsbauten. Guilford brachte Caroline und Lily zu der trübe erhellten Kammer, die als Esszimmer diente, und gesellte sich zu einer Handvoll Wissenschaftler am Tisch des Schiffsarztes, eines korpulenten und trinkfesten Dänen.
Die Naturwissenschaftler diskutierten die Klassifikationslehre. Der Arzt redete über Käse.
»Aber wenn wir ein ganz neues Linnésches System entwickeln …«
»Wie es die Sachlage erfordert!«
»… laufen wir Gefahr, einen Zusammenhang der Abstammung zu suggerieren, die Familienzugehörigkeit zu ansonsten wohldefinierten Spezies …«
»Gjedsar-Käse! Damals gab es Gjedsar-Käse sogar zum Frühstück. Apfelsinen, Schinken, Wurst, Roggenbrot mit Rotem Kaviar. Jede Mahlzeit eine Frokost.10 Nicht so ein Armutszeugnis wie das hier. Aha!« Der Arzt hatte Guilford erspäht. »Unser Fotograph. Und seine Familie. Gnädige Frau! Das kleine Fräulein!«
Die Speisenden erhoben sich und rückten zusammen. Guilford hatte sich mit einigen Naturwissenschaftlern angefreundet, besonders mit dem Botaniker Sullivan. Caroline, obwohl gern gesehen bei Tisch, hatte kaum Zugang zu den Gesprächen. Aber Lily hatte die Runde für sich gewonnen. Lily war kaum vier Jahre alt, doch ihre Mutter hatte ihr die einfachsten Regeln des Anstands beigebracht, und die Wissenschaftler ließen sich durch ihre Neugierde nicht stören … mit einer Ausnahme vielleicht; Preston Finch, der älteste Naturwissenschaftler der Expedition, konnte mit Kindern nichts anfangen. Doch der saß am anderen Ende des langen Tisches und belegte einen Harvard-Geologen mit Beschlag. Lily saß neben ihrer Mutter und faltete methodisch ihre Serviette auseinander. Ihr Näschen guckte gerade mal über die Tischkante.
Der Arzt strahlte – leicht alkoholisiert, wie Guilford feststellte. »Klein Lilian sieht hungrig aus. Magst du ein Schweinekotelett, Lily? Ja? Mager aber essbar. Und Apfelmus?«
Lily nickte und gab sich Mühe, nicht mit den Augen zu plimpern.
»Gut. Gut. Lily, das große Meer haben wir halbwegs hinter uns. Das große Europa winkt. Freust du dich?«
»Ja«, sagte sie artig. »Aber wir fahren nach England. Nur Daddy fährt nach Europa.«
Wie die meisten Leute machte Lily einen Unterschied zwischen England und Europa. Obwohl England von dem Wunder genauso betroffen war wie Deutschland oder Frankreich, hatten die Überlebenden ihre territorialen Ansprüche erfolgreich durchgesetzt, bauten London und die Seehäfen wieder auf und wachten eifersüchtig über ihre Flotte.
Preston Finch wurde hellhörig. Vom Fußende des Tisches blickte er stirnrunzelnd über seinen buschigen Schnauzbart hinweg. »Ihre Tochter trifft da eine falsche Unterscheidung, Mr. Law.«
Die Tischgespräche auf der Odense waren nicht so lebhaft, wie Guilford gedacht hatte. Ein Teil des Problems war Preston Finch, der Verfasser von Appearance and Revelation11, dem Urtext Noachitischer Naturwissenschaft noch vor dem Wunder von 1912. Finch war groß, grau, humorlos und strotzte vor Selbstbewusstsein. Sein Leumund war makellos; er hatte zwei Jahre am Colorado und Rouge River zugebracht, um Beweise für eine globale Überschwemmung zu sammeln, und war seit dem Wunder eine treibende Kraft in der Noachitischen Renaissance gewesen. Alle anderen benahmen sich mehr oder weniger wie bekehrte Sünder, bis auf den Botaniker Dr. Sullivan, der älter als Finch und so selbstsicher war, diesen gelegentlich mit einem Zitat von Wallace oder Darwin zu ärgern. Bekehrte Anhänger der Evolutionslehre mit weniger Autorität mussten vorsichtiger sein. Alles lief auf ein angespanntes und verhaltenes Tischgespräch hinaus.
Guilford selbst hörte meist nur zu. Vom Fotographen der Expedition erwartete man nicht, dass er wissenschaftliche Meinungen von sich gab, und das war vielleicht gut so.
Der Schiffsarzt bedachte Finch mit einem bösen Blick und bemühte sich um Carolines Aufmerksamkeit. »Haben Sie schon ein Unterkommen in London, Mrs. Law?«
»Lily und ich werden bei Verwandten wohnen«, sagte Caroline.
»Ach was! Der englische Cousin? In London gibt es nur Soldaten, Waldläufer und Ladenbesitzer.«
»Ja, Sie haben Recht. Die Familie führt ein Eisenwarengeschäft.«
»Sie sind eine tapfere Frau. Das Leben im Grenzland …«
»Es ist ja nicht für ewig, Doktor.«
»Während die Männer Snarks jagen!« Etliche Männer sahen ihn fragend an. »Lewis Carroll! Ein Engländer! Wo bleibt Ihre Bildung, Gentlemen?« 12
Schweigen. Schließlich sagte Finch: »Europäische Schriftsteller werden in Amerika kaum zur Kenntnis genommen, Doktor.«
»Natürlich. Tut mir leid. Der Mensch vergisst. Wenn er Glück hat.« Der Arzt sah Caroline herausfordernd an. »London war einst die größte Stadt der Welt. Wussten Sie das, Mrs. Law? Nicht so primitiv wie jetzt. Baracken und Abtritte und Morast. Aber ich wünschte, ich könnte Ihnen Kopenhagen zeigen. Das war eine Stadt! Eine so kultivierte Stadt.«
Guilford kannte Menschen wie den Schiffsarzt. Einen fand man in jeder Hafenkneipe in Boston. Entwurzelte Europäer, die grimmige Toasts auf London oder Paris oder Prag oder Berlin ausbrachten und einen Club suchten, dem sie beitreten konnten, irgendeinen Heimatverein, ein Plätzchen, wo ihre Sprache gesprochen wurde, als sei sie nicht schon tot oder zum Tode verurteilt.
Caroline aß still vor sich hin, und selbst Lily war merkwürdig ruhig, der ganze Tisch gewahrte, dass man die Mitte überschritten hatte und den bedrohlichen Rätseln mit einem Mal näher war als den grauen Gewissheiten von Washington oder New York. Nur Finch schien ungerührt und diskutierte hitzig die Bedeutung von Hornfeuerstein mit jedem, der es hören wollte.
Guilford war ihm zum ersten Mal in den Büros von Atticus and Pierce begegnet, einem Bostoner Lehrbuchverlag. Liam Pierce hatte sie miteinander bekanntgemacht. Im Jahr zuvor war Guilford im Westen unterwegs gewesen, und zwar mit Walcott, dem offiziellen Fotographen für die Landvermessungen am Gallatin River und Deep Creek Canyon. Finch war dabei, eine Expedition zu organisieren, um das Hinterland des südlichen Europas kartographisch zu erfassen, und er hatte gut betuchte Hintermänner und die Unterstützung des Smithsonian Instituts. Er suchte noch einen erfahrenen Fotographen. Guilford erfüllte die Bedingungen, weshalb Pierce ihn wahrscheinlich mit Finch bekanntgemacht hatte; vielleicht hing es aber auch damit zusammen, dass Pierce zufällig Carolines Onkel war.
Tatsächlich wurde Guilford den Verdacht nicht los, Pierce habe ihn lediglich ein weiteres Mal loswerden wollen. Der erfolgreiche Verleger und sein angeheirateter Neffe waren nicht immer einer Meinung, auch wenn jeder von ihnen Caroline ins Herz geschlossen hatte. Nichtsdestoweniger war Guilford den Umständen dankbar, mit Finch in die neue Welt zu dürfen. Die Bezahlung war verhältnismäßig gut, und die Arbeit würde ihn bekannt machen. Der Kontinent faszinierte ihn nun mal. Er hatte nicht bloß die Berichte der Donnegan-Expedition gelesen (1918, am Rand der Pyrenäen entlang, von Bordeaux nach Perpignan), sondern (was er für sich behielt) auch die ganzen Geschichten über Darwinia in den Abenteuermagazinen Argosy und All-Story Weekly, besonders die von Edgar Rice Burroughs.
Womit Pierce nicht gerechnet hatte, war Carolines Hartnäckigkeit. Sie wollte kein zweites Mal mit Lily allein bleiben, auch nicht für ein, zwei Monate, egal wie viel es kostete und egal wie oft ihr ein Dienstmädchen versprochen wurde. Nicht dass Guilford sie besonders gern allein gelassen hätte, aber die Expedition war der Angelpunkt seiner Karriere, womöglich der Unterschied zwischen Armut und Sorglosigkeit. Doch Caroline lenkte nicht ein. Sie drohte, ihn zu verlassen (obwohl das ein Widerspruch war). Guilford ging ruhig und geduldig auf all ihre Einwände ein, und sie gab nicht einen Zoll nach.
Schließlich stimmte sie einem Kompromiss zu, demzufolge Pierce ihr die Reise nach London bezahlte, wo sie mit Lily im Schoß der Familie blieb, derweil Guilford seine Reise fortsetzte. Zur Zeit des Wunders waren ihre Eltern zu Besuch in London gewesen, und sie wollte unbedingt sehen, wo sie gestorben waren.
Selbstverständlich war es verpönt zu sagen, das Wunder habe jemanden umgebracht: Die Menschen waren ›heimgeholt‹ worden, oder sie waren ›heimgegangen‹, als seien sie von einem Augenblick auf den anderen in die Ewige Glückseligkeit entrückt worden. Wer weiß, dachte Guilford. Vielleicht war es ihnen tatsächlich so ergangen. Fest stand, dass etliche Millionen Menschen einfach von der Bildfläche verschwunden waren, zusammen mit ihren Gehöften und Städten und ihrer Flora und Fauna, und Caroline fand nichts Versöhnliches an dem Wunder; sie fand es grausam.
Es war schon ein komisches Gefühl, der Einzige an Bord der Odense zu sein, der Frau und Kind im Schlepptau hatte; aber bisher hatte es keine Anspielungen gegeben, und Lily hatte schon ein paar Herzen erobert. Warum war er nicht einfach glücklich?
Nach dem Dinner ging man auseinander: Der Schiffsarzt verdrückte sich, um einem Flachmann mit kanadischem Roggenwhisky zuzusprechen, die Wissenschaftler trieb es in den Rauchersalon, um über zerschlissenen Filztischen Karten zu spielen, Guilford suchte seine Kajüte auf, um Lily ein Kapitel aus einem guten amerikanischen Märchen vorzulesen, The Land of Oz. Die Oz-Bücher waren allgegenwärtig, seit die Gebrüder Grimm und Andersen in Ungnade gefallen waren, weil sie den Nachgeschmack von Old Europe hatten. Lily hatte gottlob keine Ahnung, dass Bücher etwas mit Politik zu tun hatten. Sie liebte Dorothy ganz einfach. Inzwischen hatte auch Guilford das Mädchen aus Kansas liebgewonnen.
Schließlich legte Lily den Kopf zurück und machte die Augen zu. Während er zusah, wie sie schlief, bekam Guilford plötzlich Gewissensbisse. Es war schon komisch, wie das Leben alles durcheinanderbrachte. Wie kam er nur dazu, an Bord eines Dampfschiffes zu sein, das nach Europa fuhr? Vielleicht hatte er sich doch nicht richtig entschieden.
Aber es gab kein Zurück mehr.
Er breitete die Decke über Lilys Koje, drehte das Licht aus und legte sich zu Caroline ins Bett. Caroline schlief, ihr Rücken ein einziger Bogen menschlicher Wärme. Er kuschelte sich an und ließ sich vom Wummern der Maschinen einlullen.
Kurz nach Sonnenaufgang wachte er unruhig auf; zog sich an und schlüpfte aus der Kajüte, ohne seine Frau oder Lily zu wecken.
Die Luft an Deck war rau, der Morgenhimmel blau wie Porzellan. Nur ein paar hohe Wolkenkritzel am östlichen Horizont. Guilford lehnte sich in den Wind und dachte an nichts Besonderes, als ein junger Offizier zu ihm an die Reling kam. Der Seemann verriet weder Rang noch Namen, er lächelte bloß, die beiläufige Kameraderie zwischen zwei Männern, die sich in bitterkalter Frühe begegneten.
Sie starrten in den Himmel. Nach einer Weile wandte der Seemann den Kopf und sagte: »Es ist nicht mehr weit. Der Wind trägt den Geruch.«
Guilford zog eine krause Stirn und erwartete die nächste große Geschichte. »Welchen Geruch?«
Der Seemann war Amerikaner; die träge Aussprache erzählte vom Mississippi. »Ein bisschen wie Zimt. Ein bisschen wie Wintergrün. Ein bisschen wie etwas, das man noch nie gerochen hat. Wie ein staubiges altes Gewürz aus einer Gegend, in die noch kein Weißer den Fuß gesetzt hat. Man riecht es besser, wenn man die Augen schließt.«
Guilford schloss die Augen. Er gewahrte die eisige Kälte der Luft, als er sie in die Nase sog. Ein kleines Wunder, wenn man bei dem Wind überhaupt etwas roch. Und dennoch …
Gewürznelke, fragte er sich. Kardamom? Weihrauch?
»Was ist das?«
»Die neue Welt, mein Lieber. Jeder Baum, jeder Fluss, jeder Berg, jedes Tal. Der ganze Kontinent reist mit dem Wind über den Ozean. Riechen Sie ihn?«
Guilford glaubte ihn zu riechen.
Eleanor Sanders-Moss entsprach genau den Erwartungen von Elias Vale: eine dralle Aristokratin aus dem Süden, die die besten Jahre hinter sich hatte, Wirbelsäule kerzengrade, Kinn hoch, der Regen troff vom seidenen Schirm, Würde besiedelte die Ruinen der Jugend. Sie stieg aus einem Hansom13, der am Rinnstein stand: Offenbar war die Renaissance des Automobils an Mrs. Sanders-Moss vorübergegangen. Die Jahre waren es nicht. Sie litt an Krähenfüßchen und Argwohn. Die Falten waren nicht mehr zu vertuschen; den Argwohn zu verbergen, war sie sichtlich bemüht.
Sie sagte: »Elias Vale?«
Er lächelte, erwiderte ihre Reserviertheit, focht um einen Vorteil. Jede Pause eine Waffe. Darin war er gut. »Mrs. Sanders-Moss«, sagte er. »Treten Sie bitte ein.«
Sie trat in den Türrahmen, schloss den Schirm und ließ ihn ohne Umschweife in den hohlen Elefantenfuß fallen. Sie blinzelte, als er die Tür schloss. Vale bevorzugte gedämpftes Licht. An trüben Tagen wie heute stellte sich das Auge nur träge um. Das war gefährlich für die Navigation, doch die Atmosphäre zählte: Er betrieb schließlich das Geschäft des Unsichtbaren.
Und die Atmosphäre tat ihre Wirkung bei Mrs. Sanders-Moss. Vale versuchte, sich die Szene aus ihrer Perspektive vorzustellen, den verblassten Glanz dieses gemieteten Reihenhauses auf der falschen Seite des Potomac. Regale mit viktorianischen Bronzen: griechische Ringkämpfer, Romulus und Remus nuggelten an den Zitzen einer Wölfin. Japanische Drucke, die sich im Schatten versteckten. Und Vale selbst, vorzeitig weißes Haar (zweifellos ein Pluspunkt), korpulent, das Jackett mit Samt besetzt, unscheinbares Gesicht aufgewogen durch lebhafte und scharfe Augen. Grüne Augen. Er war ein Glückskind: Haar und Augen waren überzeugend, stellte er immer wieder fest.
Er wob ein Gespinst aus Schweigen. Mrs. Sanders-Moss wurde nervös und sagte schließlich: »Wir haben einen Termin …?«
»Natürlich.«
»Mrs. Fowler hat Sie …«
»Ich weiß. Bitte kommen Sie in mein Studio.«
Er lächelte wieder. Was sie wollten, diese Frauen, war jemand Outriertes, Unirdisches … ein Monster, aber ihr Monster; ein domestiziertes Monster, aber nicht handzahm. Er führte Mrs. Sanders-Moss durch Samtvorhänge in ein kleineres Zimmer, in dem ringsherum Bücher standen. Die Bücher waren alt, schwer und imposant, es sei denn, man machte sich die Mühe, die verblasste Goldprägung auf dem abgewetzten Rücken zu entziffern: Sammlungen von Predigten aus dem neunzehnten Jahrhundert, die Vale auf der Versteigerung einer Farm erstanden hatte, für ein paar Pfennige. Das Arkanum14 schlechthin, wie die Leute glaubten.
Er dirigierte Mrs. Sanders-Moss in einen Lehnstuhl und nahm hinter der polierten Tischplatte Platz. Sie sollte nicht merken, dass er auch nervös war. Mrs. Sanders-Moss war keine gewöhnliche Klientin. Sie war die Beute, an die er sich seit mehr als einem Jahr herangepirscht hatte. Sie hatte gute Beziehungen. Auf ihrem Landsitz in Virginia unterhielt sie einen monatlichen
Titel der amerikanischen Originalausgabe
DARWINIA
Deutsche Übersetzung und Anmerkungen von Hendrik P. und Marianne Linckens
Neuausgabe 3/2010 Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1998 by Robert Charles Wilson Copyright © 2010 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
eISBN: 978-3-641-09396-9
www.heyne-magische-bestseller.de
www.randomhouse.de
Leseprobe
Das Werk Robert W. Chambers (geb. 1865) wird als Meilenstein der Horror-Literatur betrachtet.
amerikanische Kriegsflotte
Come quick, danger!
Great Island liegt in Süd-Irland.
J. P. Morgan and Co.: 1895 in den USA gegründetes internationales Bankunternehmen
1634 Gründung des Boston Common, des ersten öffentlichen Parks in Amerika
1909 wurden 500 $ in die Arbeit an Lee DeForrests Audion-Röhre investiert, eine Elektronenröhre, die in ihrem Vakuumkörper aus Glas ein Signal verstärken konnte.
Vermutlich Horatio Herbert Kitchener, ab 1892 Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee, ab 1909 brit. Feldmarschall.
William Randolph Hearst (geb. 1863), amerikanischer Verleger, gilt als Mitbegründer der sogen. Yellow Press.
Dänisches Buffet mit lukullischen Vorspeisen.
Anschein und Offenbarung
Hunting of the Snark, Gedicht von Lewis Carroll. Das Fabeltier ist halb Schlange, halb Hai.
zweirädrige Droschke
Geheimnis, Geheimelixier