Das Abstandsflächenrecht in Bayern - Franz Dirnberger - E-Book

Das Abstandsflächenrecht in Bayern E-Book

Franz Dirnberger

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Beschreibung

Umfassende Darstellung In Art. 6 der Bayerischen Bauordnung (BayBO) sind die Abstandsflächen und Abstände von Gebäuden und Anlagen mit gebäudegleicher Wirkung geregelt. Die Vorschrift wird in diesem Leitfaden detailliert und mit zahlreichen Abbildungen erläutert. Das erste Kapitel enthält eine grundlagenorientierte Einführung, das letzte Kapitel geht auf Abweichungen von den Abstandsflächenvorschriften nach Art. 63 BayBO ein. Auf aktuellem Stand Die 4. Auflage berücksichtigt insbesondere die Bauordnungsnovelle 2021. Sie hat die Vorschriften des Abstandsflächenrechts grundlegend verändert und beinhaltet u.a. die nahezu vollständige Übernahme des Modells der Musterbauordnung (MBO). Die Sonderregelung für Städte mit über 250.000 Einwohnern, für die weiterhin das alte Recht gilt, wird dabei ebenso erläutert wie die neu ins Gesetz aufgenommene abstandsflächenrechtliche Privilegierung von Maßnahmen zum Zweck der Energieeinsparung. Darüber hinaus geht der Autor ausführlich auf die umfangreiche jüngere Rechtsprechung zum Abstandsflächenrecht ein. Inklusive Formular und Vorschriftentext Das amtliche Formular zur Abstandsflächenübernahme und der Wortlaut des Art. 6 BayBO sind mit abgedruckt. Besonders empfehlenswert für alle am Bau Beteiligten, Bauherren, Planer, Sachverständige, Baubehörden, Nachbarn.

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Das Abstandsflächenrecht in Bayern

Systematische Darstellung mit detaillierten Abbildungen

Dr. Franz Dirnberger

Direktor Bayerischer Gemeindetag

Mit Abbildungen von Dr. Doris Dirnberger

4., überarbeitete Auflage, 2024

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek | Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

4. Auflage, 2024

PRINT-ISBN 978-3-415-07458-3

EPUB-ISBN 978-3-415-07564-1

© 2008 Richard Boorberg Verlag

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Titelfoto: © EKH-Pictures – stock.adobe.com

E-Book-Umsetzung: abavo GmbH, Nebelhornstraße 8, 86807 Buchloe

Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG | Scharrstraße 2 | 70563 Stuttgart

Stuttgart | München | Hannover | Berlin | Weimar | Dresden

www.boorberg.de

Vorwort zur 4. Auflage

Seit der 3. Auflage dieses Buchs sind nun mehr als neun Jahre vergangen. Allein schon diese lange Zeit hätte es notwendig gemacht, die seither umfänglich ergangene Rechtsprechung einzupflegen und auf neuere Tendenzen einzugehen. Was aber eine völlige Überarbeitung jedenfalls erfordert hat, war die Bauordnungsnovelle des Jahres 2020, die die Vorschriften des Abstandsflächenrechts grundlegend veränderte. Schon 2008 hatte der Gesetzgeber überlegt, das – deutlich einfachere – Abstandsflächenrecht der Musterbauordnung in Bayern einzuführen. Damals scheiterte dieses Unterfangen vor allem am erbitterten Widerstand der kommunalen Spitzenverbände, namentlich des Bayerischen Gemeindetags. 2020 wurde ein neuer Anlauf unternommen, der schließlich zu der jetzigen Gesetzesfassung geführt hat und die praktisch vollständige Übernahme des Modells der MBO beinhaltet. Ob das alles sinnvoll war oder ob die Argumente, die 2008 zur Beibehaltung des herkömmlichen Systems geführt hatten, immer noch schlagend gewesen wären, wird die Praxis der nächsten Jahre zeigen. Für den Kommentator des Rechtsgebiets wird die Aufgabe jedenfalls nicht leichter. Denn für Städte mit über 250.000 Einwohnern gilt weiterhin das alte Recht, sodass zumindest für eine gewisse Zeit in Bayern beide Systeme nebeneinander bestehen und damit auch erläutert werden müssen.

Danken möchte ich – wie auch schon bei den Vorauflagen – meiner Frau, die es tapfer ausgehalten hat, wenn die ohnehin knappe Freizeit des Autors intensiv dem bayerischen Abstandsflächenrecht gewidmet wurde. Sie hat sich darüber hinaus bei der Be- und Überarbeitung der Abbildungen extrem verdient gemacht.

Pfaffenhofen im Dezember 2023

Vorwort zur 3. Auflage

In den letzten Jahren hat sich die Welt der Abstandsflächen in Bayern nicht grundlegend verändert. Trotzdem war es an der Zeit, eine vollständige Überarbeitung dieses Buchs vorzulegen. Die 3. Auflage berücksichtigt vor allem die immer ausdifferenziertere Rechtsprechung des BayVGH, aber auch der anderen Obergerichte Deutschlands. Trotz des Umstands, dass das abstandsflächenrechtliche System doch schon vergleichsweise lange existiert, gibt es immer wieder – ab und an auch überraschende – Wendungen in den entsprechenden Judikaten. Eingearbeitet sind insoweit Rechtsprechung und Literatur bis Mitte 2014.

Danken möchte ich – wie schon bei den Vorauflagen – wieder meiner Familie, zuvörderst meiner Frau Doris, dafür, dass sie es klaglos ertragen haben, wenn an manchem Wochenende oder an manchen Abenden das Abstandsflächenrecht zum zentralen Bestandteil unserer Freizeitgestaltung geworden ist.

Pfaffenhofen im August 2014

Vorwort zur 2. Auflage

Seit der ersten Auflage dieses Buchs sind drei Jahre vergangen, in denen sich das Abstandsflächenrecht nicht grundsätzlich, aber doch noch einmal spürbar verändert hat. Der Gesetzgeber hat einige „Randunschärfen“ der Novelle 2008 zu beseitigen versucht und mit Art. 6 Abs. 5 Satz 4 BayBO eine neues, nicht unproblematisches Instrument zur Flexibilisierung der Abstandsflächenvorschriften eingefügt. Auch die Rechtsprechung ist nicht stehen geblieben und hat manches geklärt, anderes aber auch wieder infrage gestellt. Deshalb war es an der Zeit, auch dieses kleine Werk an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen.

Auch bei der 2. Auflage möchte ich an erster Stelle meiner Familie und vor allem meiner Frau Doris danken, die wieder mit großer Geduld ertragen haben, dass manchmal die Beschäftigung mit Abstandsflächen wichtiger war als die Freizeit. Ursula und Edgar „Piu“ Burkart vom Planungsbüro Wipfler PLAN danke ich ganz herzlich für die Erstellung der Abbildungen und für viele Gespräche und Diskussionen über die Probleme, die die Abstandsflächen und auch andere baurechtliche Vorschriften in der Praxis machen können.

„Iucundi acti labores.“

Pfaffenhofen a. d. Ilm im März 2011

Vorwort zur 1. Auflage

Dieses Buch ist Herrn Ltd. Ministerialrat Henning Jäde zu seinem 60. Geburtstag gewidmet. Er hat meine ersten vorsichtigen Schritte hinein in die Welt des Baurechts gelenkt und war mir seither ein steter und wohlmeinender Begleiter, selbst dann, wenn wir – was natürlich nur äußerst selten vorkam – nicht einer Meinung waren.

Danken möchte ich an erster Stelle meiner Familie und vor allem meiner Frau Doris, die mit großer Geduld ertragen hat, dass manchmal die Beschäftigung mit Abstandsflächen wichtiger war als die Freizeit. Ursula und Edgar „Piu“ Burkart vom Planungsbüro Wipfler PLAN danke ich ganz herzlich für die Erstellung der Abbildungen und für viele Gespräche und Diskussionen über die Probleme, die die Abstandsflächen und auch andere baurechtliche Vorschriften in der Praxis machen können.

Pfaffenhofen a. d. Ilm im März 2008

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort zur 4. Auflage

Vorwort zur 3. Auflage

Vorwort zur 2. Auflage

Vorwort zur 1. Auflage

Inhaltsverzeichnis

Literatur

A. Einführung

I. Eine – äußerst – kurze Geschichte der Abstandsflächen

II. Zwecksetzungen der Abstandsflächen

III. Verhältnis von Bauplanungsrecht und Abstandsflächen

1. Allgemeines

2. Exkurs: Abgrenzung bauplanungsrechtlicher von bauordnungsrechtlichen Regelungen

IV. Nachbarschutz

B. Die Grundforderung nach Abstandsflächen (Art. 6 Abs. 1 BayBO)

I. Erforderlichkeit von Abstandsflächen

1. Regelungsgehalt

2. Die erfassten Anlagen

a) Gebäude

b) Anlagen, von denen Wirkungen wie von Gebäuden ausgehen (Art. 6 Abs. 1 Satz 2 BayBO)

3. Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung

4. Freihalten von oberirdischen baulichen Anlagen

II. Vorrang des Planungsrechts (Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO)

1. Allgemeines

2. Notwendiger Grenzanbau (Art. 6 Abs. 1 Satz 3 1. Alt. BayBO)

a) Festsetzungen im Bebauungsplan

b) Innenbereich nach § 34 BauGB

3. Möglicher Grenzanbau (Art. 6 Abs. 1 Satz 3 2. Alt. BayBO)

III. Behandlung von „Fremdkörpern“

C. Die Lage der Abstandsflächen (Art. 6 Abs. 2 BayBO)

I. Grundsatz (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO)

II. Abstandsflächen auf öffentlichen Flächen (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 BayBO)

III. Abstandsflächen auf dem Nachbargrundstück (Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO)

1. Allgemeine Fragen

2. Nichtüberbaubarkeit aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen

3. Die schriftliche Zustimmung des Nachbarn

D. Das Überdeckungsverbot (Art. 6 Abs. 3 BayBO)

I. Grundsatz (Art. 6 Abs. 3 1. Halbsatz BayBO)

II. Zulässige Überdeckungen (Art. 6 Abs. 3 2. Halbsatz BayBO)

1. Allgemeines

2. Die Fallgruppen des Art. 6 Abs. 3 2. Halbsatz BayBO

a) Außenwände mit einem Winkel von mehr als 75 Grad

b) Außenwände zu einem fremder Sicht entzogenen Gartenhof

c) Bauliche Anlagen, die in Abstandsflächen zulässig sind

E. Das Maß der Abstandsfläche H (Art. 6 Abs. 4 BayBO)

I. Grundsatz (Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO)

1. Allgemeines

2. Einzelfälle

II. Die Wandhöhe (Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO)

1. Allgemeines

2. Die Geländeoberfläche als unterer Bezugspunkt

3. Die Schnittlinie mit der Dachhaut bzw. der Wandabschluss als oberer Bezugspunkt

III. Berücksichtigung von Dach- und Giebelflächen (Art. 6 Abs. 4 Sätze 3 und 4 BayBO)

1. Allgemeines

2. Hinzurechnen von Dachhöhen

3. Anrechnung von Dachaufbauten

4. Hinzurechnen von Giebelhöhen

F. Die Bemessung der Abstandsflächen (Art. 6 Abs. 5 BayBO)

I. Allgemeines

II. Abhängigkeit der Abstandsfläche vom Gebietscharakter (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO)

III. Vorrang gemeindlicher Entscheidungen (Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO)

1. Allgemeines

2. Voraussetzungen

a) Städtebauliche Satzungen und Satzungen nach Art. 81 BayBO

b) Abweichende Tiefe der Abstandsflächen

c) Berücksichtigung der abstandsflächenrechtlichen Zwecksetzungen

3. Rechtsfolgen

G. Die Sonderregelung für Großstädte (Art. 6 Abs. 5a BayBO)

I. Allgemeines

II. Das 16-m-Privileg (Art. 6 Abs. 5a Satz 2 BayBO)

1. Allgemeines

2. Der Begriff der Außenwandlänge

a) Die Außenwand

b) Die Länge der Außenwand

3. Nachbarschutz

III. Anrechnung von Dachflächen (Art. 6 Abs. 5a Satz 3 BayBO)

IV. Anrechnung von Giebelflächen (Art. 6 Abs. 5a Satz 4 BayBO)

V. Untergeordnete Dachgauben (Art. 6 Abs. 5a Satz 5 BayBO)

H. Vortretende Bauteile, Vorbauten, Dachaufbauten und Maßnahmen zur Energieeinsparung (Art. 6 Abs. 6 BayBO)

I. Allgemeines

II. Die Regelung im Einzelnen

1. Vor die Außenwand vortretende Bauteile (Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 1 BayBO)

2. Untergeordnete Vorbauten (Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO)

a) Erfasste Vorbauten

b) Größenbegrenzungen

3. Seitenwände von Vorbauten und Dachaufbauten (Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO)

4. Maßnahmen zum Zweck der Energieeinsparung an bestehenden Gebäuden (Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 4 BayBO)

I. Abstandsflächenirrelevante bauliche Anlagen (Art. 6 Abs. 7 BayBO)

I. Allgemeines

II. Die von Art. 6 Abs. 7 BayBO erfassten Anlagen

1. Gebäude (Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO)

a) Begriffe

b) Größenbegrenzungen

c) Gesamtlänge der Grenzbebauung von 15 m (Art. 6 Abs. 7 Satz 2 BayBO)

2. Solaranlagen (Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 BayBO)

3. Stützmauern und geschlossene Einfriedungen (Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO)

4. Antennen und Antennenmasten (Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 4 BayBO)

III. Die Rechtsfolgen des Art. 6 Abs. 7 BayBO

J. Abweichungen von den Abstandsflächenvorschriften nach Art. 63 BayBO

K. Bayerische Bauordnung (BayBO) – Auszug

Stichwortverzeichnis

Literatur

Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 15. Auflage 2022

Baumgartner/Jäde, Das Baurecht in Bayern, Loseblattsammlung

Boeddinghaus/Hahn/Schulte, Bauordnung für das Land Nordrhein-Westfalen, Loseblattsammlung

Busse/Bienek/Demmer/Dirnberger u. a., Baugesetzbuch/Baunutzungsverordnung, Loseblattsammlung

Busse/Dirnberger, Die neue Bayerische Bauordnung, 7. Auflage 2021

Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Loseblattsammlung

Dirnberger, Die neue Bayerische Bauordnung, Einführung und Synopse, 2008

Grigoleit/Otto, BauNVO, 8. Auflage 2021

Jäde, BayBO 2008 von A–Z, 2007

Jäde, Musterbauordnung (MBO 2002), 2003

Jäde/Dirnberger, BauGB/BauNVO, 10. Auflage 2022

Jäde/Dirnberger, Bauordnungsrecht Sachsen-Anhalt, Loseblattsammlung

Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiß, Die neue Bayerische Bauordnung, Loseblattsammlung

Jäde/Dirnberger/Böhme, Bauordnungsrecht Sachsen, Loseblattsammlung

Jäde/Dirnberger/Förster, Bauordnungsrecht Brandenburg, Loseblattsammlung

Jäde/Dirnberger/Michel, Bauordnungsrecht Thüringen, Loseblattsammlung

Jeromin, Kommentar zur Landesbauordnung Rheinland-Pfalz, 5. Auflage 2021

König/Roeser/Stock, BauNVO, 5. Auflage 2022

Molodovsky, BayBO 2008/1998, 2007

Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Loseblattsammlung

Reichel/Schulte, Handbuch Bauordnungsrecht, 2004

Schlotterbeck/Busch, Abstandsflächenrecht in Baden-Württemberg, 3. Auflage 2020

A.Einführung

I.Eine – äußerst – kurze Geschichte der Abstandsflächen

1

Seit die Menschen bauen, stellen sie Regeln dafür auf. Spuren baurechtlicher und sogar bauordnungsrechtlicher Vorschriften finden sich bereits in der möglicherweise ältesten Gesetzessammlung der Menschheit, nämlich dem Codex Hammurapi, der um das Jahr 1700 v. Chr. entstanden ist. Dort sind die – allerdings vergleichsweise drastischen – Folgen geschildert, mit denen ein Baumeister – heute würde man ihn wohl Unternehmer im Sinne des Art. 52 BayBO nennen – konfrontiert wurde, wenn er seine Aufgabe nicht ordentlich erledigt hatte:

§ 229

Wenn ein Baumeister einem Bürger ein Haus baut, aber seine Arbeit nicht auf solide Weise ausführt, sodass das Haus, das er gebaut hat, einstürzt und er den Tod des Eigentümers des Hauses herbeiführt, so wird dieser Baumeister getötet.

§ 230

Wenn er den Tod eines Sohnes des Eigentümers des Hauses herbeiführt, so soll man einen Sohn des Baumeisters töten.

2

Regelungen über die Abstandsflächen kennt der Codex Hammurapi zugegebenermaßen noch nicht. Über die Gründe mag man spekulieren. Dieser Rechtsbereich taucht erst gut tausend Jahre später in der Geschichte auf, nämlich in den römischen Zwölftafelgesetzen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.. Die zwölf Tafeln sind zwar offenbar nicht lang nach ihrer Herstellung bei einem Überfall der Gallier 387 v. Chr. wieder zerstört worden; ihre Regelungen sind uns aber zumindest fragmentarisch über Zitate römischer Schriftsteller überliefert. Sie blieben im Prinzip während der gesamten römischen Zeit in Geltung und haben teilweise auch Eingang in unser Rechtssystem gefunden.

3

Zu den Abstandsflächen kann man unter anderem – es gibt daneben Spezialvorschriften für Mauern oder für Abstandsflächen zu Leichenbrandstätten – folgende Bestimmung lesen:

TABULA VII, 1

XII tabularum interpretes ambitum parietis circuitum esse describunt (Varr., de ling. lat. 5, 22); … Ambitus … dicitur circuitus aedificiorum patens … pedes duos et semissem (Festus P. 5); … Sestertius duos asses et semissem (valet), … lex … XII tabularum argumento est, in qua duo pedes et semis „sestertius pes“ vocatur (Maecianus, assis distr. 46).[1]

4

Dies bedeutet nichts anderes, als dass im alten Rom eine Abstandsfläche von 2 ½ Fuß gefordert wurde, was in etwa einer Tiefe von 75 cm entspricht. Im Vergleich zu heutigem Standard – in Bayern immer noch grundsätzlich 0,4 H, mindestens 3 m – erscheint dies wenig. Man darf allerdings nicht vergessen, dass römische Wohnhäuser regelmäßig im Atriumstil errichtet wurden und immerhin von der Privilegierung des durch die Novelle 2008 eingefügten Art. 6 Abs. 3 Nr. 2 BayBO für fremder Sicht entzogene Gartenhöfe hätten profitieren können.

5

Der geneigte Leser muss jetzt nicht befürchten, im Folgenden eine Darstellung der Geschichte des Abstandsflächenrechts bis in die Neuzeit ertragen zu müssen; die historische Reminiszenz sollte lediglich die Wichtigkeit unterstreichen, die dieses Rechtsgebiet seit je besitzt. Wir lassen also rund 2400 Jahre unkommentiert und stoßen auf die neue Musterbauordnung, die seit 1999 auf bayerische Initiative und unter bayerischer Federführung überarbeitet und von der Bauministerkonferenz der Länder (ARGEBAU) im November 2002 einstimmig beschlossen worden ist. Die Überarbeitung der Musterbauordnung war deshalb erforderlich geworden, weil sich gerade in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts die Länderbauordnungen namentlich im Verfahrensbereich auseinanderentwickelt hatten und eine Wiedervereinheitlichung dringend notwendig erschien. Erklärtes Ziel der Musterbauordnung war es dabei, im Bereich des materiellen Rechts einen einheitlichen Standard zu schaffen, der allerdings das jeweils niedrigste Niveau der real existierenden Bauordnungen aufnehmen sollte.

6

Die Musterbauordnung (MBO) hat in Ansehung der bereits seinerzeit in Hessen, in Rheinland-Pfalz und im Saarland geltenden Regelungen die Regelabstandsflächentiefe auf 0,4 H zurückgeführt und damit das Abstandsflächenrecht auf ausschließlich bauordnungsrechtliche Zielsetzungen beschränkt. Zugleich entfiel eine Vielzahl von – auch deshalb – überflüssigen Detailregelungen. Da die Bestimmungen über die Abstandsflächen nicht mehr zum Prüfumfang des vereinfachten Verfahrens gehört, mussten alle Ausnahmen gestrichen werden, bei denen die Bauaufsichtsbehörde eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte. Schließlich musste aus eben diesem Grund die Vorschrift so einfach wie möglich ausgestaltet und vor allem von interpretationsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriffen entschlackt werden. Im Jahre 2012 wurde § 6 MBO nochmals geändert und vor allem – nach bayerischem Vorbild – das Verhältnis von Abstandsflächenrecht zum Planungsrecht zugunsten des Planungsrechts verschoben.[2]

7

Die anfangs der 2000er-Jahre gefasste Absicht, das Abstandsflächenrecht der Musterbauordnung auch in Bayern einzuführen, stieß auf heftigen Widerstand insbesondere der kommunalen Spitzenverbände. Sie befürchteten, dass die Vorschrift zu einer baulichen Verdichtung führen würde, die nur über erheblichen bauleitplanerischen Aufwand in geordnete Bahnen gelenkt werden könnte. Dieser Kritik hat sich der Gesetzgeber seinerzeit schließlich gebeugt und im Rahmen der großen Novellierung der Bauordnung im Jahre 2008 die grundsätzliche Tiefe 1 H nebst 16-m-Privileg beibehalten.

8

Gut zehn Jahre später wurde ein neuer Anlauf zur Übernahme der Musterbauordnung in das bayerische Bauordnungsrecht – und nunmehr erfolgreich – unternommen. Mit der vom Landtag beschlossenen Bauordnungsnovelle 2020 (Gesetz zur Vereinfachung baurechtlicher Regelungen und zur Beschleunigung sowie Förderung des Wohnungsbaus)[3] hat der Gesetzgeber die Vorschriften der MBO weitgehend in das bayerische Landesrecht überführt und so die Vorschriften des Abstandsflächenrechts den Regelungen aller anderen Bundesländer angepasst. Eine Ausnahme davon sieht das Gesetz allerdings gemäß Art. 6 Abs. 5a BayBO für Städte mit mehr als 250.000 Einwohnern vor, die im Prinzip das alte System behalten, es sei denn, sie führen das neue System über eine örtliche Bauvorschrift nach Art. 81 Abs. 1 Nr. 6 b BayBO herbei. Nur in München und Augsburg gilt also zumindest im Grundsatz ein anderes Abstandsflächenrecht als im übrigen Bayern und im Rest von Deutschland; denn Nürnberg hatte das neue Abstandsflächenrecht flächendeckend schon über eine Satzung eingeführt gehabt.

Es ist an dieser Stelle müßig, die rechtspolitischen Argumente nochmals auszutauschen, die für die Beibehaltung des alten Systems gesprochen hätten (und 2008 auch dazu geführt haben), sowie die Gründe, die für eine Neuordnung der Abstandsflächen im Sinne der MBO streiten, ein weiteres Mal darzustellen. Fraglos sind die neuen Vorschriften – insbesondere wegen des Wegfalls des 16-m-Privilegs und der Anrechnungsregelungen für Giebelflächen – in der Anwendung erheblich einfacher. Und durch die grundsätzliche Verkürzung der Gebäudeabstände werden flächensparendes Bauen und die Verdichtung bereits bebauter Areale erleichtert, also letztlich auch der Wohnungsbau vorangebracht. Warum diese Argumente aber beispielsweise in Augsburg anders zu bewerten sind als in Regensburg, Erlangen oder auch kleineren und mittleren Städten, bleibt das Geheimnis des Gesetzgebers. Schwieriger wird es jedenfalls für die Gemeinden, innerorts Freiflächen, die übrigens auch für das Kleinklima von entscheidender Bedeutung sind, zu erhalten.

Wesentlich für die Novelle des Abstandsflächenrechts 2020 sind zwei Neuerungen:

Die Regelabstandsflächentiefen werden gegenüber dem früheren Rechtszustand deutlich verringert. Die Tiefe beträgt nunmehr 0,4 H, in Gewerbe- und Industriegebieten 0,2 H; die Mindestabstandsflächentiefe von 3 m bleibt erhalten. Das Schmalseitenprivileg entfällt – konsequent – ersatzlos.

Die bisherige – sehr komplizierte – Anrechnungsregel für Giebelflächen wird gestrichen. Die Giebelflächen werden als Außenwandteil behandelt. Die Form der Abstandsfläche vor der Giebelseite eines Gebäudes ist damit nicht mehr notwendig rechteckig, sondern entspricht in ihrer Form (wegen Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO gestaucht) der Form des Giebels.

II.Zwecksetzungen der Abstandsflächen

9

Abstandsflächen sollten und sollen einer Vielzahl von Zwecken dienen. Zunächst wird durch Abstände zwischen Gebäuden dafür gesorgt, dass die darin befindlichen Räume ausreichend belichtet, besonnt und belüftet werden. Diese ursprüngliche, insbesondere durch Erwägungen des Gesundheitsschutzes begründete Zielsetzung von Abstandsflächen mag den modernen Erkenntnissen nicht mehr in vollem Umfang entsprechen. Vor allem der hygienische Aspekt der Abstandsflächen ist sicherlich in den Hintergrund gerückt. Gleichwohl haben genügend Tageslicht, Besonnung und Belüftung erhebliche Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden und somit auch auf die Gesundheit der in den Gebäuden wohnenden und arbeitenden Menschen.[4] Der – etwas überkommene – Begriff der Besonnung hat im Übrigen keine über den Begriff der Belichtung hinausgehende eigenständige Bedeutung.[5]

10

Diese Überlegung führt im Übrigen zu einem weiteren Zweck der Abstandsflächen, der allgemein gesprochen als die Gewährleistung „störungsfreien Wohnens“ umschrieben werden könnte. Abstandsflächen dienen jedenfalls auch dazu, die eigene private Sphäre gegenüber fremder Sicht bzw. gegenüber fremden Einwirkungen verschiedenster Art abzuschirmen, im weitesten Sinn also Lebens- und Wohnqualität gegen allzu große Beengung zu sichern, ein Mindestmaß an Freiräumen zu gewährleisten.[6] Diese Funktion gilt zwar nur für Gebäude, in denen tatsächlich gewohnt wird,[7] trotzdem – und dies wird auch durch die erheblich niedrigeren Mindestabstandsflächen beispielsweise in Gewerbe- und Industriegebieten deutlich (vgl. Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO) – hat der Gesetzgeber offenbar auch diesen Zweck zur Grundlage seiner Regelungen gemacht.

11

Ein wichtiges Ziel der Abstandsflächen ist auch der Erhalt von Freiflächen, die aus verschiedenen Gründen zwischen Gebäuden erforderlich sind. So ist z. B. an Zugangs- und Zufahrtsmöglichkeiten zu den Hinterliegergrundstücken zu denken; nicht überbaute Flächen können auch für Kfz-Stellplätze (vgl. Art. 47 BayBO) oder für Kinderspielplätze (vgl. Art. 7 Abs. 3 BayBO) benötigt werden.

12

Schließlich stellt der Brandschutz einen besonders beachtenswerten Zweck der Abstandsflächen dar. Wenn auch diese Funktion wegen der Verwendung schwerentflammbarer Materialien, wegen des Baus von Brandwänden und wegen anderer Maßnahmen häufig nicht mehr den entscheidenden Stellenwert einnehmen mag, so wird durch eine räumliche Trennung von Gebäuden doch das Übergreifen von Bränden auf das Nachbargebäude deutlich erschwert.

13

Die Regelungen über die Abstandsflächen werden den oben angesprochenen Zwecken im Grundsatz gerecht; durch ihre starke Ausdifferenziertheit stellen sie einen gerechten Ausgleich zwischen der grundrechtlich garantierten Baufreiheit und den den Zwecksetzungen zugrunde liegenden öffentlichen Belangen dar. Sie sind daher verfassungsmäßige Inhaltsbestimmungen des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG.[8]

III.Verhältnis von Bauplanungsrecht und Abstandsflächen

1.Allgemeines

14

Das die Abstandsflächen regelnde Bauordnungsrecht und das in erster Linie einer geordneten städtebaulichen Entwicklung dienende Bauplanungsrecht sind zwar prinzipiell zwei Rechtskreise, die sich nicht überschneiden;[9] allerdings können sie nicht völlig unverbunden nebeneinander stehen. Sie verfolgen zwar vom Ansatz her verschiedene Zwecke, beschäftigen sich aber mit demselben Regelungsgegenstand, nämlich der Frage, welche Abstände Baukörper zueinander haben sollen.

15

Als erster Grundsatz gilt dabei, dass die Anforderungen der beiden Rechtsgebiete unabhängig voneinander anwendbar sind. Ein planungsrechtlich zulässiges Vorhaben kann daher bauordnungsrechtlich unzulässig sein;[10] ein bauordnungsrechtlich unbedenkliches Vorhaben kann aus planungsrechtlichen Gründen scheitern.[11] Dabei kann etwa § 34 BauGB im Hinblick auf das in ihm enthaltene Rücksichtnahmegebot auch dann verletzt sein, wenn die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind.[12] Denn das planungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme überdeckt sich zwar zumindest teilweise mit den Überlegungen und Zielsetzungen, die dem Abstandsflächenrecht innewohnen. Dort, wo diese Überdeckungen aufzufinden sind, hat das Rücksichtnahmegebot keine über das Abstandsflächenrecht hinausgehende Bedeutung.[13] Aber dort, wo das Rücksichtnahmegebot andere und/oder zusätzliche Zwecke aufnimmt, kann es eigenständig eingebracht werden.[14] Allerdings kann die Einhaltung der Abstandsflächen ein Indiz dafür sein, dass das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt ist.[15]

16

Der Identität des Regelungsgegenstandes „Gebäudeabstände“ ist sowohl vom Bundesrecht als auch vom Landesrecht Rechnung getragen worden. So regelt § 23 Abs. 5 BauNVO, dass bauliche Anlagen in den nicht überbaubaren Grundstücksflächen planungsrechtlich zugelassen werden können, soweit sie nach dem Recht der Landesbauordnungen in den Abstandsflächen zulässig sind oder zugelassen werden können. Diese Öffnung des Planungsrechts für bauordnungsrechtliche Vorschriften bildet jedoch die Ausnahme. Grundsätzlich gewähren die Regelungen des Abstandsflächenrechts dem Planungsrecht den Vorrang. Typische Beispiele sind Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO oder Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO. Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO legt fest, dass Abstandsflächen nicht erforderlich sind, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Nachbargrenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf; in Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO wird dieser Vorrang des Planungsrechts noch deutlicher. Die Vorschrift lässt die abstandsflächenrechtlichen Grundregeln immer dann zurücktreten, wenn von einer städtebaulichen Satzung oder einer Satzung nach Art. 81 BayBO – vereinfacht ausgedrückt – andere Abstandsflächen vorgeschrieben oder auch nur zugelassen werden. Auch Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO lässt bauplanungsrechtliche Vorgaben ins Bauordnungsrecht einfließen, indem er unterschiedliche Tiefen je nach planungsrechtlichem Gebietscharakter genügen lässt.

17

Andererseits kann jedoch auch ein Bebauungsplan unter bauordnungsrechtlichen Gesichtspunkten bedenklich sein, beispielsweise wenn er Festsetzungen enthält, deren volle Ausnutzung Konfliktfelder schafft, die im Bereich der Abstandsflächen wurzeln.[16]

18

Hinzuweisen ist im Übrigen darauf, dass § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB die Möglichkeit enthält, planungsrechtliche Abstandsflächen im Bebauungsplan vorzusehen, die gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 2 BayBO den bauordnungsrechtlichen vorgehen.[17] Damit wollte der Gesetzgeber auf § 6 MBO reagieren, der – wie dies auch Art. 6 Abs. 5 BayBO tut – mit einer Regelabstandsflächentiefe von 0,4 H, mindestens 3 m, keine städtebaulichen (Neben-)Zwecke (mehr) verfolgt.[18] Die Ermächtigung erstreckt sich dabei nur auf die Maße der Tiefe der Abstandsflächen. Sie erlaubt damit allein, den Rechenfaktor für die Ermittlung der Tiefe der Abstandsfläche aus der Wandhöhe zu verändern. Das kann eine Vergrößerung, aber auch eine Verringerung sein (also etwa 1 H oder 0,3 H statt 0,4 H).

2.Exkurs: Abgrenzung bauplanungsrechtlicher von bauordnungsrechtlichen Regelungen

19

Mit Art. 81 Abs. 1 Nr. 6 BayBO öffnet sich ein Bereich, der in ganz eigentümlicher Weise im Grenzbereich zwischen Bauordnungs- und Bauplanungsrecht angesiedelt ist und zwar im Grunde in zweierlei Weise: Zum einen regeln natürlich auch bauplanungsrechtliche Vorschriften, welchen Abstand bauliche Anlagen zueinander aufweisen müssen. Man denke nur an die Regelungen über die überbaubaren Grundstücksflächen oder über die Bauweise. Zum anderen wird als Rechtfertigungsgrund für die örtlichen Bauvorschriften das Ortsbild herangezogen, das offenbar auch im Bauplanungsrecht – vgl. §§ 1 Abs. 5 Satz 2, Abs. 6 Nr. 5, 34 Abs. 1 Satz 2 2. Halbsatz, 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB – Anknüpfungspunkt für Anforderungen sein kann.

20

Es verwundert nicht, wenn in diesem Spannungsfeld unterschiedliche Auffassungen darüber bestanden und teilweise weiter bestehen, welche Möglichkeiten und welche Grenzen örtliche Bauvorschriften im Zusammenhang mit Abstandsflächen (noch) haben. Zu dieser Frage sind vor allem zwei Entscheidungen ergangen, die zumindest etwas Licht in die Betrachtung gebracht haben, bei genauerem Hinsehen aber weiterhin Fragen offen lassen.[19] Beide Fälle beschäftigten sich mit gemeindlichen Bauvorschriften auf dem Gebiet des Bauordnungsrechts, in beiden Fällen hat das Gericht die jeweiligen Regelungen für nichtig erachtet, weil letztlich mit bauordnungsrechtlichen Mitteln städtebauliche Ziele verfolgt worden waren.

21

Die Begründungen der Entscheidungen sind aber nur auf den ersten Blick ähnlich. Beide Entscheidungen nehmen zwar den gleichen Ausgangspunkt, indem sie meinen, dass eine Trennlinie zwischen Bauplanungsrecht und Bauordnungsrecht gezogen werden muss. Lediglich dem Bauordnungsrecht zugehörende Vorschriften sollen von der Ermächtigungsgrundlage in der BayBO gedeckt sein. In der Argumentation lassen sich aber doch spürbare Unterschiede erkennen.

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Zunächst ist der Ansatz der Rechtsprechung richtig, dass eine Unterscheidung zwischen Bauplanungsrecht und Bauordnungsrecht zu erfolgen hat und dass es insoweit keine Überlappungsbereiche geben darf. Eine Regelung kann aus kompetenzrechtlichen Gründen nur einem Bereich zugeordnet werden. Bei den Abstandsflächenvorschriften handelt es sich nicht um Bodenrecht, auch wenn Gebäudeabstände logischerweise einen bodenrechtlichen Bezug aufweisen. Dieser Bezug tritt aber nur mittelbar ein. Die Vorschriften des Abstandsflächenrechts bleiben über ihre sicherheitsrechtlichen Zwecksetzungen gerechtfertigt. Bauordnungsrechtliche Abstandsflächenvorschriften dürfen dabei auch über einen unbedingt notwendigen Mindeststandard hinausgehen, ohne dass sie ihren sicherheitsrechtlichen Charakter verlieren würden.[20] Solange der Gesetzgeber sicherheitsrechtliche Zwecksetzungen verfolgt, liegt es in seiner sehr weiten Einschätzungsprärogative, welches Niveau er erreichen will.

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Vor diesem gemeinsamen Hintergrund bewegen sich die Überlegungen der beiden genannten Judikate aber spürbar auseinander. Während der BayVGH in seiner Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage des Art. 81 Abs. 1 Nr. 6 BayBO annimmt, lässt der BayVerfGH diese Frage ausdrücklich offen. Der Ansatz des BayVGH dürfte richtig sein. Art. 81 Abs. 1 Nr. 6 BayBO ist verfassungskonform und enthält einen bauordnungsrechtlich gerechtfertigten Spielraum für die Gemeinden. Dieser Spielraum wird umso wichtiger, wenn Landesbauordnungen auf der Grundlage der Musterbauordnung das Niveau der Abstandsflächenvorgaben vermindern.

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Der BayVGH unterscheidet Bauordnungsrecht und Bauplanungsrecht durch die Zielsetzung der jeweiligen Regelung. Differenziert wird danach, ob die Gemeinde Gründe der Bau- oder Ortsbildgestaltung verfolgt oder bodenrechtlich plant. Eine bauordnungsrechtliche Regelung soll dann vorliegen, wenn die Gemeinde anknüpfend an die Gestaltung einzelner baulicher Anlagen Bestimmungen trifft und der Einfluss auf das Gesamterscheinungsbild gleichsam nur mittelbar eintritt. Der BayVGH unterscheidet damit einen bauordnungsrechtlichen und einen bauplanungsrechtlichen Ortsbildbegriff.[21] Dass zur Steuerung bodenrechtlich relevante Merkmale benutzt werden, ist für den BayVGH nur ein Hilfsargument. Der BayVerfGH argumentiert demgegenüber sehr viel stärker instrumental. Wenn die Gemeinde Gebäudeabstände regeln wolle, soll es – gleichsam automatisch – um ein städtebauliches Anliegen gehen. Dort, wo ein planungsrechtliches Instrumentarium zur Verfügung steht (Baugrenzen), soll es sich um Bodenrecht handeln. Tendenziell dürfte eine Gemeinde nach dieser Ansicht also nur Parameter benutzen, die durch abstandsflächenrechtliche Schutzgüter gerechtfertigt werden (Wandhöhe, Dachneigung), sie wäre damit erheblich in ihren Steuerungsmöglichkeiten eingeschränkt.

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Richtig dürfte die Auffassung des BayVGH sein. Die Regelungsinstrumente sind allenfalls ein Indiz für die Zuordnung zum Bauordnungsrecht oder zum Bauplanungsrecht. Ausschlaggebend ist die gesetzgeberische Zwecksetzung. Eine so klare Abgrenzung wie bei gestalterischen Regelungen ist allerdings bei Abstandsflächenvorschriften nicht möglich und hängt stark von der jeweiligen Begründung der Gemeinde ab.

IV.Nachbarschutz

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Wie ein Blick auf die Zwecke der Abstandsflächen zeigt, werden durch die entsprechenden Vorschriften nicht ausschließlich öffentliche Interessen verfolgt, sondern es geht auch und zum Teil vor allem um die Interessen des Nachbarn. Es gehört zu seinen – insbesondere vom Grundrecht auf Eigentum geschützten – Belangen, nicht durch bauliche Anlagen beeinträchtigt zu werden, die in rechtswidriger Weise die Belichtung, Belüftung oder Besonnung seines Grundstücks beeinflussen, Brandgefahren bilden oder durch ihre Nähe das gedeihliche Zusammenleben stören. Im Grundsatz ist daher davon auszugehen, dass die Vorschriften des Abstandsflächenrechts drittschützend im Sinne der Schutznormtheorie sind.

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Während in Bezug auf dieses Ergebnis in Literatur und Schrifttum prinzipielle Einigkeit konstatiert werden kann, herrscht hinsichtlich der Einzelfragen Streit. Drei Grundpositionen lassen sich ausmachen:

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Eine vor allem in der Rechtsprechung vertretene Auffassung misst den Abstandsflächen in ihrer jeweils konkreten Ausgestaltung Nachbarschutz zu, unabhängig davon, nach welcher Vorschrift sich die Tiefe berechnet.[22] Eine spürbare tatsächliche Beeinträchtigung des Nachbarn ist nicht erforderlich.[23] Nach dieser relativ weitgehenden Ansicht kann sich ein Nachbar erfolgreich gegen jede Baugenehmigung wehren, die gegenüber seiner Grundstücksgrenze eine geringere Abstandsflächentiefe zulässt, als dies nach Art. 6 BayBO erforderlich wäre. Die Einhaltung von ausreichenden Abstandsflächen gegenüber anderen Grundstücksgrenzen kann ein Nachbar natürlich nicht verlangen.

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Demgegenüber wird in einer Reihe von Äußerungen in der Literatur, die allerdings vereinzelt geblieben sind und mittlerweile als überholt angesehen werden müssen, vertreten, dass die konkret einzuhaltenden Tiefen nur zu einem Teil als nachbarschützend angesehen werden können, wobei auch der nachbarschützende Teil unterschiedlich bestimmt wird. Herangezogen werden die in Meter ausgedrückten Mindesttiefen oder auch ein Bruchteil von H.[24] Nach dieser Auffassung hat ein Nachbarrechtsbehelf nicht in jedem Fall einer rechtswidrigen Verkürzung der notwendigen Abstandsflächen Erfolg, sondern nur dann, wenn der nachbarschützende Teil unterschritten wird.

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