Das Andenkreuz - Horst Radmacher - E-Book

Das Andenkreuz E-Book

Horst Radmacher

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Beschreibung

Bert Unger folgt einem alten Jugend-Traum und reist nach Peru, um dort die faszinierende Welt der untergegangenen Inka-Kultur für sich zu entdecken. Zusammen mit seiner Reisegefährtin Linda besucht er die mystische Ruinen-Stadt Machu Picchu. Sie geraten in ein Unwetter und irren orientierungslos durch den Dschungel des Amazonas-Quellgebietes. Als sie auf die Leiche eines Bergführers stoßen, nimmt ihr Leben eine verhängnisvolle Wendung: Sie geraten in das Visier des zwielichtigen Mönch-Ordens OD und stehen unter Mordverdacht. Im Monasterion San Salvador werden sie gefangen gehalten. Es gelingt ihnen zu fliehen. Ihre atemberaubende Flucht wird bald zu einer alptraumhaften Odyssee durch das Hochland Perus.

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Das Buch

Der deutsche Bildungsreisende aus Berlin, Bert Unger, folgt einem Kindheitstraum und besucht die alte Stadt der Inkas, Machu Picchu, im Hochland von Peru. Auf dem Weg dorthin lernt er die Amerikanerin Linda Selleck kennen. Die Beiden geraten im Bergdschungel der Anden in ein schweres Unwetter. In der Folge dieses Ereignisses verstricken sie sich in das Netz eines zwielichtigen Mönchsorden. Hinter den Mauern dessen Klosters werden sie als Mordverdächtige gefangengehalten. Um dieser bedrohlichen Situation zu entrinnen, bleibt ihnen nur die lebensbedrohliche Flucht durch die menschenfeindliche Natur des südamerikanischen Dschungels.

Der Autor

Horst Radmacher, 1948 in List auf Sylt geboren, bereist seit vielen Jahren ferne Länder auf allen Kontinenten. Diese Reisen sind in umfangreichen Fotoarbeiten dokumentiert. Die Beschäftigung mit der Geschichte und Kultur alter indigener Völker Südamerikas sind Anlass für seinen ersten Roman, DAS ANDEN KREUZ. Horst Radmacher lebt und schreibt in Neustadt in Holstein.

Für Renate

„No hay camino – El camino se hacer al andar.“ (Antonio Machado 1875 - 1939)

„Es gibt keinen Weg. Der Weg entsteht durch Gehen.“

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

EPILOG

PROLOG

Bert Unger kam erst in der Mitte des Lebens in der Realität seines Daseins an – am Schnittpunkt von Zweifel und Selbstfindung. Nicht Familie, Freunde oder sein früherer Lehrerberuf waren die Ursache hierfür, sondern ein eher beiläufiges Ereignis, der Besuch einer Debatte des Deutschen Bundestages in Berlin.

Für die an einem Freitagnachmittag stattfindende öffentliche Sitzung des Auswärtigen Ausschusses waren kurzfristig Eintrittskarten verfügbar gewesen und so nahm Bert Unger am frühen Nachmittag auf der Besuchertribüne über dem Plenarsaal platz. Das Plenum war von hier aus gut einzusehen, da der Saal lediglich zu maximal einem Viertel besetzt war. Der Bericht des Bundesaußenministers über seine aktuell stattgefundene Südamerikareise und andere Beiträge niederrangiger Politiker hielten offensichtlich viele Abgeordnete nicht davon ab, in ein vorgezogenes Wochenende zu fahren. Das vorhergesagte schöne Wetter verstärkte solches Verhalten zusätzlich.

Bert Unger war im Begriff nach dem Auftritt des Außenministers die Besuchergalerie gerade wieder verlassen, als der nächste Redner, ein Staatssekretär aus dem Ministerium, anfing, Datenmaterial über die wirtschaftspolitischen Beziehungen zum Staat Peru vorzutragen. Es ging dabei um aktuelle und geplante Kooperationsvorhaben beider Staaten.

Bert hörte schlagartig wieder sehr aufmerksam zu, als dieser Redner, Dr. Ulf Gronenberg, versuchte, seinen ansonsten eher drögen Beitrag mit dem Ausspruch 'todos somos viajeros', wir sind alle Reisende, aufzulockern. Ein Zitat, das in ihm äußerst unangenehme Erinnerungen aufsteigen ließ, zumal ihm dieser Dr. Gronenberg sehr wohl bekannt war.

Der Bericht enthielt Details zu einem Projekt nahe der Stadt Cusco, im Hochland Perus. Und hier schloss sich für Bert Unger ein Kreis: Eine schicksalshafte Verbindung zu äußerst gefährlichen Ereignissen während eines Aufenthaltes im Bergland Perus flammte wieder auf. Vor einigen Wochen erst war er aus Südamerika nach Deutschland zurückgekehrt, wo er sich zur Verwirklichung eines alten Kindheitstraumes aufgehalten hatte.

Nach mehreren, zum Teil sehr heftig geführten Auseinandersetzungen mit seiner langjährigen Ehefrau und Mutter seiner beiden Töchter, Rita, hatte er es endlich wahr gemacht und war seinem Traum folgend nach Peru gereist und hatte dafür nach gewaltigen Streitereien sogar einen geplanten Familienurlaub platzen lassen.

„Drehst Du nun komplett ab, den Hirngespinsten deines unmöglichen Großvaters auch noch hinterher zu reisen? Hat dieser versponnene alte Träumer nicht schon genug Unheil angerichtet?“

Sehr oft hatte Bert Unger den Lebensstil seines vor einigen Jahren verstorbenen Großvaters bei ähnlichen Gelegenheiten verteidigt, obwohl er den Unmut der Familie gut verstehen konnte. Dieser alte Mann hatte es geschafft, ein großes Vermögen nahezu zu pulverisieren. Ein Notverkauf des letzten Besitzes, eine Immobilie von einigem Wert in Berlin-Wilmersdorf, war gerade noch zu vermeiden gewesen.

Für Bert allerdings aber war und blieb dieser bemerkenswerte alte Mann für alle Zeit sein Opa Jan, bei dem er als kleiner Junge auf dem Schoß sitzend, mit Begeisterung abenteuerlichen Geschichten zuhörte. Diese zweifelte er mit zunehmenden Alter in Bezug auf deren Wahrheitsgehalt zwar immer öfter an, konnte aber von solchen Erzählungen kaum genug bekommen.

Die Hintergründe dieser Geschichten waren allerdings stimmig; denn Jan-Friedrich-Unger war in seinem Leben oft in ferne Länder gereist und hatte tatsächlich viel zu erzählen.

Beim Zuhören dieser abenteuerlichen Geschichten hatte der kleine Bert in seiner Sitzposition meistens so gesessen, dass er genau auf eine an der Wand hängende Abbildung der alten Inka-Ruine Machu Picchu blicken konnte. Dieses Bild hatte ihn immer wieder auf das Neue gefesselt. Er wäre schon frühzeitig in der Lage gewesen, dieses Bild genaustens zu beschreiben, oder es sogar aus dem Gedächtnis fast originalgetreu nachzuzeichnen.

Auf jeden Fall war ihm schon im Alter von ungefähr sechs Jahren klar, eines Tages die Ruinen von Machu Picchu für sich entdecken zu wollen.

KAPITEL 1

Die Umrisse der Stadt Cusco in Peru muss man sich bei der Draufsicht aus großer Höhe wie die Gestalt eines Pumas vorstellen: In gedachten Linien von den Ruinen-Komplexen oberhalb der Stadt in das Centro Historico hinein strahlenförmig verlaufend.

Ob das für jeden städtebaulichen Laien so einfach zu erkennen ist, konnte Bert Unger beim Anflug auf Cusco International Airport , Valesco Astete , nicht beurteilen; er zumindest nahm es so wahr.

Eine fast geschlossene, tiefhängende Wolkenschicht ließ zunächst keinen frühzeitigen Blick auf die Stadt zu. Dennoch, ein absolut faszinierender Anblick bot sich in diesen frühen Morgenstunden über den Wolken im Hochland um die alte Inka-Hauptstadt herum. Hell glitzernde Lichtspiele in vielfältigen Rot- Orange- und Silber-Farbtönen reflektierten im weichen Licht der Morgensonne auf den schneebedeckten Anden-Gipfeln: Ein optischer Hochgenuss; und das nicht nur für Landschafts-Romantiker.

Ein Vorteil beim Anflug auf Cusco ist es, dass der Sinkflug aus der Reisehöhe bis zum Aufsetzen auf die Landebahn aufgrund der Höhenlage kürzer als auf vielen anderen Flughäfen dieser Erde ist. Von Nachteil ist es, dieser Ort befindet sich auf circa dreitausendfünfhundert Metern Höhe über dem Meeresspiegel.

Für ankommende Flachlandbewohner ohne eine vorher durchgeführte Höhenanpassung kann diese extreme Lage zu erheblichen gesundheitlichen Problemen führen, bis hin zu ernsten Befindlichkeitsstörungen, wie einer lebensbedrohlichen Höhenkrankheit. Wen es trifft, ist nicht vorhersehbar und völlig unabhängig von Alter, Geschlecht und Konstitution.

Bert Unger kam vorbereitet an, zumindest was die Theorie dieser Thematik betraf. Sein Höhenerprobter Kollege Stefan Boldt hatte ihn kurz vor der Abreise mit einigen Tipps vorbereitet.

„Bert, denk unbedingt daran, nach Ankunft einen kompletten Ruhetag einzulegen. Mehr oder weniger schwere Anfangssymptome, wie Schwindel und oder Kopfschmerzen musst du unbedingt ernst nehmen. Mach aber nicht den Fehler, Dir schon vorher das Hirn zu zermartern und hochkonzentriert auf diese Anzeichen förmlich zu lauern; die kommen – wenn sie dann kommen sollten – ganz von alleine. Bei schwererem Verlauf musst du sofort in ärztliche Behandlung, am besten auf schnellstem Wege zurück ins Flachland.“

Bert fiel dazu ein: „Und was ist mit Aspirin oder Ähnlichem, kann ich mich damit behandeln?“

„Tu's lieber nicht. Das würde nur die Symptome überdecken. Wichtig ist in jedem Fall, viel zu trinken, allerdings ist Alkohol nicht angesagt. Ein hochwirksames Mittel der Einheimischen gegen Höhenkrankheit soll Koka-Tee sein. Stammt von derselben Pflanze wie Kokain, hat mit der Droge als solches aber nichts zu tun und ist, nicht nur in Peru, absolut legal.“

Durch diese Tipps vorbereitet, bewegte er sich bei seinen ersten Schritten nach der Landung in Cusco etwas vorsichtiger als er es in ähnlichen Situationen gewohnt war. Er stellte im Ankunftsbereich des Airports erfreut fest, dass die meisten Flughafenangestellten ein recht brauchbares Englisch sprachen. Bei dem von ihm georderten Taxifahrer war es genau so. Seine eigenen, sehr dürftigen spanischen Sprachkenntnisse, würden ihn hier im Land kaum weiterbringen.

Auf dem nicht sehr weiten Weg in das Zentrum Cuscos konnte Bert Unger aus dem fahrenden Taxi heraus gut das in diesen frühen Morgenstunden beginnende Alltagsleben der einheimischen Bevölkerung beobachten. Beladen mit vielerlei Taschen, Säcken und anderen Transportbehältern strömten Kleinhändler über den vom morgendlichen leichten Regen noch nass glänzenden Straßenbelag hinein in das Zentrum der Stadt. Dort, auf der weitläufigen Plaza de Armas, gibt es die besten Geschäftsmöglichkeiten für Händler, Schuhputzer, Los-Verkäufer und andere Handeltreibende.

Vorbei am sehr belebten Mercado Artesenal, dem größten Kunstgewerbemarkt der Stadt, ging es weiter in die Altstadt hinein. Durch die Avenida del Sol, vorbei an zahlreichen großen und kleinen Restaurants, Hotels und Läden jeglicher Art, fuhr das Taxis in das Herz der Altstadt.

Das Ziel, Hotel Colón, liegt sehr zentral in der Calle Pumacurco, nur wenige Gehminuten entfernt von der Plaza de Armas und den wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Es befindet sich in einem stilvollen Kolonialgebäude, das mit seiner gediegenen Eleganz sehr einladend auf Bert wirkte.

Diese Hotelkategorie hätte normaler Weise nicht in sein Reisebudget gepasst. Er hatte die Übernachtung dort über ein Internet-Portal zu einem sehr günstigen Preis erhalten, was wohl auf die Jahreszeit zurückzuführen war. Die galt jetzt im Januar in der Region um Cusco und Machu Picchu herum wegen häufiger Regenfälle nicht als günstigste Reisezeit. So wurde diese Gegend jetzt von nicht ganz so vielen Touristen, wie sonst üblich, besucht. Entsprechend leer war dann auch die Empfangshalle des Colón.

Eine kleinere Reisegruppe scharrte sich in der Hotel Lobby um ihren Reisebegleiter. Andere Hotelgäste waren auf dem Weg zum Frühstücksrestaurant oder kamen gerade von dort. Bert übergab dem Gepäckträger seine Reisetasche und stellte an der Rezeption erfreut fest, auch hier wird ein gut verständliches Englisch gesprochen. Die außerordentlich freundliche Empfangsdame, laut Namensschild eine Señora Maria Vargas, begrüßte ihn in ihrem fast akzentfreien Englisch sehr herzlich und übergab ihm den Zimmerschlüssel. Sie wies ihn dabei auf die im Hotel angebotenen Serviceleistungen hin.

Der Gepäckträger öffnete Bert anschließend mit dem Magnetkarten-Schlüssel die Tür zu Zimmer Nummer fünfunddreißig. Es folgte das, was wohl alle Gepäck-Boys weltweit Ihren Hotelgästen als Erstes und für sie anscheinend Wichtigstes erklären: die Bedienung der TV-Fernbedienung und die Funktion der Klimaanlage. Nach dieser Einweisung und Überreichen des obligatorischen Trinkgeldes fühlte Bert Unger sich endlich angekommen, im Land seiner Sehnsucht. Zwar noch nicht komplett, aber der erste Schritt in Richtung Verwirklichung seines Kindheitstraumes war getan.

Bert war in nicht ganz unbelasteter Stimmung abgereist. Sein Frau hatte sich bis zuletzt nicht mit seinem, für sie völlig idiotischen Reisevorhaben anfreunden können. Trotzdem war es für ihn selbstverständlich, sich nach seiner Ankunft in Peru bei seiner Familie zu melden. Für das Erste sollte aufgrund der Zeitverschiebung eine SMS genügen:

>Heil und sicher gelandet. Hotel prima. Hoffe, es geht Euch gut. Melde mich später ausführlich. Gruß an Alle, Bert<.

„Adalante“, rief er in seinem unbeholfenem Spanisch als Antwort auf ein Klopfen an seine Zimmertür.

Eine Mitarbeiterin des Service-Personals trat in das Zimmer, in der Hand ein Tablett haltend, auf dem eine silberne Kanne und eine große Flasche Mineralwasser standen

„Koka-Tee für Sie, Señor, Empfehlung des Hauses. Wird ihnen guttun. Das Beste gegen Höhenkrankheit“, sagte sie und verabschiedete sich wieder.

Bert öffnete die Kanne und goss etwas von der darin enthaltenen Flüssigkeit in eine Tasse. Eine schwarzbraune Brühe füllte das Gefäß bis zur Hälfte und er probierte vorsichtig. Dieses unappetitlich aussehende Gebräu schmeckte ausgesprochen bitter und er verdünnte dieses Konzentrat mit etwas Mineralwasser. Es war immer noch nicht der wahre Genuss, aber es sollte ja nicht gut schmecken, sondern wirksam gegen die Höhenkrankheit sein.

Während der nächsten Stunden beschränkte der neu Angekommene seine weiteren Aktivitäten auf wenig anstrengende Verrichtungen und verbrachte die meiste Zeit zur Einführung mit der Lektüre von verschiedenen Reisebeschreibungen. Bert Unger war bis auf die Hotel-Reservierung ohne weitere Vorausplanungen nach Peru gekommen. Die nächsten anstehenden Aktivitäten wollte er alle vor Ort organisieren und durchführen.

Die ersten Tage waren für die Erkundung der Stadt Cusco mit Inka-Tempeln und zahlreichen, sehenswerten Ruinen vorgesehen. Zur notwendigen Höhenakklimatisierung schien ihm diese Vorgehensweise das Richtige zu sein.

Nach den ersten Stunden seines Aufenthalts in dieser ungewohnten Umgebung in großer Höhe, verspürte er durchaus Befindlichkeitsstörungen wie Schwindel und leichten Kopfschmerz. Er hoffte jedoch, den Aufenthalt in dieser Höhe mit nur milden Beeinträchtigungen überstehen zu können.

Bert verspürte, und das kam ihm außerordentlich gesund vor, einen kräftigen Appetit auf eine leckere Mahlzeit. Nach einem weiteren Blick auf den Stadtplan verließ er das Zimmer und begab sich kräftesparend per Fahrstuhl zur Rezeption, wo er von Maria Vargas einige Informationen über die Stadt erhielt. Es folgten noch weitere Empfehlungen für in der Nähe befindlicher Restaurants.

„Muchas Gracias, für diese Tipps. Auf Ihr Angebot, eine Agentur für die Abwicklung meiner weiteren Pläne zu kontaktieren, komme ich später gerne zurück.“

So vorbereitet, schlenderte er gemächlich die Straße hinunter in die belebte Calle Agustin, die jetzt am späten Nachmittag voller geschäftigen Lebens war. Passanten, Straßenhändler sowie einige wenige Touristengruppen füllten die Straße, die unweit der Plaza de Armas eine der Innenstadtachsen bildet.

Er fühlte sich gut. Erstaunlich, wie schnell sich ein weiter Abstand zum Alltagsleben in Deutschland eingestellt hatte. Ohne, dass er unbedingt der Typ für ständige Eigenreflektion war, hatten ihn einige Dinge in seiner alltäglichen Lebensweise zuhause zeitweilig doch gestört, was ihm aber bisher relativ harmlos und normal erschienen war. Kommentare aus seinem Familien-und Freundeskreis in Bezug auf bei ihm vermeintlich vorhandene mentale Veränderungen hatte er nie besonders ernst genommen. Seelische Belastung durch aufkeimende Panik in der Lebensmitte erkannte er darin jedenfalls nicht.

In der Tat war eine länger als zwanzig Jahre anhaltende Ehe nicht frei von Routinebedingten Abnutzungserscheinungen. Ein frühzeitiges Ausscheiden aus der Position eines Lehrers für Geschichte und Englisch an einem Berliner Gymnasium hatten ebenfalls Spuren hinterlassen. Diesen Vorgang war er aber seinerzeit wohl durchdacht angegangen und diese Situation war mittlerweile zur Normalität in seinem Leben geworden.

Die neue Herausforderung als Mitarbeiter in einem wissenschaftlichen Buchverlag verschaffte ihm seitdem große Befriedigung, eben auf andere Weise. Insgesamt war er aber mit seinem Leben zufrieden, wenngleich der Weg zu dem oft zitierten Sinn des Lebens für ihn noch nicht eindeutig zu erkennen war.

Bert Unger verspürte jetzt schon nach wenigen Stunden des Aufenthalts in dieser, auf beeindruckende Weise anderen Welt, eine besondere Art von Leichtigkeit, die er vorher nie gekannt hatte: Das Eintauchen in die exotische Welt Perus entwickelte sich von Anbeginn an zu einem fesselnden Erlebnis. Wie der Eintritt in das faszinierende Leben eines riesigen Open-Air-Museums namens Cusco, kam es ihm vor.

Bert, der sein Temperament in etwa als kontrolliert lebhaft beschreiben würde, war über sich selber erstaunt, als er aus dieser unbeschwerten Stimmungslage heraus begann, die Melodie des Liedes „El Condor pasa“ zu pfeifen und musste über diese für ihn ungewöhnlich spontan Ausdrucksform lächeln. Die Faszination seiner neuen Umgebung hatte bereits stark von ihm Besitz ergriffen.

Er bog in eine Seitenstraße ein und kam genau auf das von der Rezeptionistin empfohlene Restaurant, La Parilla, zu. Das Innere des Lokals machte einen sehr gepflegten Eindruck: Ein freundlicher Raum mit sauber gedeckten Tischen und zu dieser Tageszeit etwa nur zu einem Drittel besetzt.

Bert Unger hielt es auf Reisen in fremde Länder mit Speisen und Getränken immer so, dass er sehr gerne die Spezialitäten des jeweiligen Gastlandes ausprobierte. Dieses sollte auch in Peru nicht anders werden. Er hatte sich allerdings etwas vorbereitet und würde bei aller Neugier auf kulinarische Genüsse des Landes auf eine Spezialität verzichten: Cuy, oder auch Little Guinea Pig genannt, hatte er vor, nicht probieren; denn seit frühen Kindheitstagen zog er Meerschweinchen als lebende Spiel- oder Kuscheltiere der gebratenen Form vor.

Die umfangreiche Speisenkarte des Lokals war peruanisch-italienisch ausgerichtet und sie wies eine ausreichende Auswahl anderer landestypischer Gerichte auf.

„Empfehlung von mir, Señor. Bei uns können Sie den besten Pisco Sour der Stadt bekommen.“

So offerierte ihm der Kellner schwärmerisch den in Peru sehr populären Cocktail als Aperitif. Bert machte wohl einen unentschlossenen Eindruck.

„Keine Angst. Unser Pisco Sour ist absolut spitze, den können selbst Neuankömmlinge in dieser Höhenlage bestens vertragen, sollte das ihre Sorge sein.“

Auf diese freundliche Art bedrängt, willigte Bert ein:

„Na, dann man los. Aber bitte wirklich nur einen. Ich bin gespannt.“

Bert Unger verspürte bislang kein unbehagliches Gefühl und ging ganz einfach davon aus, dass ihm einer dieser Piscos bestimmt nicht schaden würde. Der dann vorweg gereichte Cocktail war in der Tat hervorragend. Zum Essen trank er dann noch ein gut gekühltes Cerveza Cusqueña, das schmackhafte einheimische Bier und war mit seinem kulinarischen Einstieg mehr als zufrieden. Er verließ das La Parilla und schlenderte noch ein wenig über die nahe gelegene Plaza de Armas, auf der zu dieser Zeit ein buntes Treiben herrschte.

Die zahlreichen, sehr bemühten Andenkenverkäufer und Schuhputzer wimmelte er freundlich aber bestimmt ab und ging zum nordöstlichen Teil der Plaza direkt auf die Kathedrale Cuscos zu. Dieses monumentale Bauwerk gilt als eines der prächtigsten seiner Art in ganz Südamerika.

Durch die Eglesia Trifuno betrat er den üppig ausgeschmückten Innenraum mit seinen zehn Seitenkapellen. Die opulente Ausstattung beeindruckte ihn stark, selbst wenn diese barocke Pracht nicht unbedingt die von ihm bevorzugte Stilrichtung darstellte.

In der jetzigen, von Touristen üblicherweise nicht bevorzugten Jahreszeit, gab es nur wenige Besucher in der Kathedrale. So wurde Berts Augenmerk direkt auf eine Gruppe dreier Männer gelenkt, die sich unweit seines Standorts dicht an dem aus Zedernholz geschnitzten Chorgestühl unterhielten.

Zwei europäisch wirkende Personen in dunklen Anzügen und mit Krawatten bekleidet hörten einem Geistlichen aufmerksam zu, der sehr eindringlich auf sie einredete. Bert meinte, dieses Gespräch würde auf Deutsch geführt. Als er etwas näher an die Männer heranging, beendeten diese gerade ihre Unterredung und die beiden Europäer verabschiedeten sich per Handschlag vom einheimischen Geistlichen.

Dieser Priester, gekleidet im Stil eines katholischen Würdenträgers, nickte Bert Unger zu und dieser trat daraufhin näher an den Mann heran.

„Bischof Miguel de Navarra y Sotillo“, stellte sich der Geistliche vor.

Klingt sehr nach altem spanischem Adel, dachte Bert, der sich nun seinerseits vorstellte:

„Bert Unger, Tourist aus Deutschland. Bin heute gerade angekommen.“

Er meinte, bei seiner namentlichen Vorstellung ein Zucken um die Augenpartie des Bischofs festgestellt zu haben, der ihn aus auffällig stahlgrauen Augen mit einem stechenden Blick musterte. Vermutlich aber irrte er sich da. Der Geistliche fuhr in einem fast akzentfreien Deutsch fort:

„Dann passt es ja gut, wenn wir uns auf Deutsch unterhalten.“

„Donnerwetter. Solch ein gepflegtes Deutsch hätte ich hier in Peru nicht zu hören erwartet,“

entgegnete Bert erstaunt. Don Miguel lächelte kühl.

„Deutsch zu sprechen habe ich in Ihrem Land gelernt, während eines längeren Aufenthaltes in der Stadt Augsburg.“

„Ah, ja. Schöne alte Stadt“, bestätigte Bert Unger, „und sehr geschichtsträchtig.“

„Das kann ich nur bestätigen“, kam es zurück.

Bert hätte sich seine nächste Bemerkung wohl besser verkniffen, als er fortfuhr:

„Und Augsburg passt auch sehr gut zur hiesigen Geschichte. Nicht ohne Folgen für Südamerika. Die reichen und mächtigen Fugger aus Augsburg haben seinerzeit schon was bewegt. Sehr schicksalhaft, das alles. Und mit weitreichenden Auswirkungen bis in unsere heutige Zeit. Ich meine die Verbindung der reichen Kaufleute zum verarmten, damaligen König Karl V. von Spanien auf der Suche nach neuen Geldquellen, die er hier in Südamerika zu finden hoffte.“

Hierauf folgte nur eine abschließende und sehr kühl ausfallende Bemerkung De Navarras:

„Scherzen Sie? Dann merken Sie sich bitte, diese Art von Humor mögen wir gar nicht, Herr Unger. Über die Hintergründe unserer Geschichte müssen Sie mir nichts erklären.“

Damit ließ er Bert stehen und verschwand durch eine Tür im hinteren Bereich des Kircheninneren unter einem der über vierhundert Gemälde aus der spanischen Kolonialzeit.

„Meine Güte,“ murmelte Bert, „ist der aber empfindlich.“

Das Ganze hatte sich in nur wenigen Minuten abgespielt. Dem so im Zwielicht der dunklen Kirche zurückgelassenen Deutschen kam das eben Erlebte wie ein flüchtiger Spuk vor. Allerdings hatte er immer noch sehr plastisch den auffälligen Anstecker am Revers des Geistlichen in Erinnerung: ein ungewöhnlich stilisiertes Kreuz mit einem kreisrunden Loch in der Mitte, umrahmt von dem Spruch: „Todos somos viajeros.“

Von diesen Geschehnissen noch beeindruckt verließ Bert die Kathedrale und spazierte noch ein wenig durch die abendliche Altstadt.Vorbei an schwach beleuchteten Häusern, die zum Teil in Reste altern Mauern früherer Inka-Paläste oder Tempel hineingebaut worden waren.

Er nahm diese Umgebung mit all ihren exotischen Geräuschen, Gerüchen und sonstigen Eindrücken intensiv in sich auf. Nach einiger Zeit des Schlenderns wurde seine Aufmerksamkeit auf die neongrüne Leuchtreklame eines Lokals gelenkt :“Fiddler's Green – Irish Pub“, leuchtete es ihm einladend entgegen.

Ein kleines Feierabendgetränk? Das würde er wohl noch vertragen können. Seine Vorliebe für das irische Dunkelbier Guinness bekräftigte dieses Vorhaben.

Nach Betreten der Kneipe, eingerichtet so, wie man sich weltweit irische Pub-Gemütlichkeit vorstellt, mit rau geputzten hellen Wänden und viel dunklem Holz. Dieses strömte ein intensives, streng riechendes Aromagemisch aus Tabakrauch und Bierdunst aus. Diverse Barspiegel täuschten einen viel größere Raum vor, als tatsächlich vorhanden. Bert steuerte an Dartscheibe und einem Billardtisch vorbei direkt die Theke an, hinter der vor einer riesigen Batterie internationaler Spirituosen der Barkeeper namens Freddie die zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr zahlreichen Gäste am Tresen bediente. Zügig erhielt Bert sein bestelltes Pint Guinness und sah sich im Lokal um.

Er war an sich nicht der Typ, der völlig ungehemmt fremde Menschen ansprach, aber er fand es andererseits ziemlich unpassend, sich an einem Kneipentresen aufzuhalten und einfach nur stumm vor sich her starrend auf ein Getränk zu konzentrieren. Er wandte sich daher dem links neben ihm stehenden Gast zu und sprach ihn auf unverfängliche Weise an:

„Nettes Lokal. Sind Sie öfter hier?“

Sein Tresennachbar sah ihn an und antwortete ihm freundlich lächelnd:

„Na ja, ab und an schon. Ein guter Platz für ein Feierabendgetränk. Fast immer wenn ich in der Stadt bin, kehre ich hier gern auf ein Glas ein, oder auch auf ein paar mehr.“

Der andere Gast war in etwa in Berts Alter, so um Mitte Vierzig herum, und ihm auf Anhieb sympathisch.

„Bert Unger aus Deutschland“, stellte er sich vor, und weiter:

„Du kommst sicher aus den Vereinigten Staaten, vermute ich deiner Aussprache nach?“

„Leicht daneben,“

erwiderte dieser, der sich als Jonathan Wheeler aus Toronto in Kanada vorstellte.

„Für euch Europäer ist unser Akzent wohl nicht so einfach von dem der Yankees zu unterscheiden, macht aber gar nichts.“

Nach einem kurzem Small-Talk fanden die beiden Männer ein Thema, das sie gleichermaßen interessierte. Jonathan, oder kurz Jon, wie ihn seine Freunde nannten, war nicht als Tourist in Peru unterwegs.

Er war hier im Rahmen eines internationalen historischen Forschungsprojekts der University of Toronto tätig, das die Staaten Kanada und Peru gemeinsam betrieben: Die eine Seite forschte und zahlte, die andere stellte die Materialien zur Verfügung.

„Wir gehen hier dem bisher unbekannten Ursprung eines alten indianischen Symbols nach, dem sogenannten Anden Kreuz. Bislang ging die Forschung davon aus, dass dieses von den Inkas nur als Ornament für die Darstellung der vier Himmelsrichtungen benutzt wurde.“

Er beschrieb das Symbol schematisch mit dem Finger seiner rechten Hand und fuhr fort,

„Das mittige Rundloch soll dabei das Zentrum der damaligen Welt darstellen, die Stadt Cusco. Es gibt allerdings Hinweise, dass der Ursprung dieses Symbols viel weiter zurückliegt und eine ganz andere Bedeutung haben könnte.“

Bert hörte sehr aufmerksam zu.

„Ach, das ist ja interessant. Solch ein Kreuz ist mir gerade in der Kathedrale am Revers eines Geistlichen aufgefallen.“

„Große, schlanke Erscheinung? Strenge spanische Gesichtszüge und ein stechender Blick?“

„Ja, ganz genau. Der war mir überhaupt nicht sympathisch.“

„Kann ich gut nachvollziehen, geht mir ebenso, falls wir hier von ein und der selben Person sprechen. Miguel de Navarra y Sotillo?“

„Ja genau, so hat er sich genannt.“

Jon grinste Bert an.

„Volltreffer. Da hast Du gleich den Chef persönlich kennengelernt. Don Miguel, wie er sich gerne nennen lässt, ist der ranghöchste Prälat des Ordén Depuración hier in Peru. Schon einmal von denen gehört?“

„OD? Ja, gehört schon. Aber ich dachte, die gibt es nur in Europa. In der peruanischen Kirchenszene kenne ich mich allerdings nicht so gut aus.“

Jon gefiel es augenscheinlich, etwas ausführlicher über sein Fachgebiet zu referieren. Bert seinerseits war sehr an diesem Thema interessiert und folgte den Ausführungen aufmerksam.

„Der Ordén Depuracuón ist außer in Spanien und Italien international in Peru am aktivsten. Eine weitere bedeutende Wirkungsstätte des Ordens liegt aber auch in Deutschland, in der Stadt Augsburg.“

„Aha. Deswegen also. Don Miguel erwähnte einen Aufenthalt in Augsburg. Ich bin in den Gepflogenheiten der katholischen Kirche nicht so bewandert, aber soweit ich weiß, ist das Bistum Augsburg für seine strenge Ausrichtung bekannt.“

Jon grinste und fuhr fort:

„Ich muss mich hier ja zwangsläufig mit diesen Themen beschäftigen und stoße dabei ständig auf strenge Bräuche. Bei meiner jetzigen Arbeit bin ich allerdings sehr auf die Archive der Kirche hier im Lande angewiesen.“

Er nahm einen Schluck Guinness, wischte sich den Schaum von den Lippen, und erklärte seinem Gegenüber:

„Der OD hat ein hervorragendes Archiv in seinem Kloster, dem Monasterio San Salvador. Das befindet sich sehr abgelegen in den Bergen nahe Machu Picchu und hat eine der besten Bibliotheken Lateinamerikas. Wer dort forschen möchte, kommt an Don Miguel nicht vorbei.“

Jonathan Wheeler fuhr fort, seinem interessierten Zuhörer aus Deutschland weitere Information über den Ordén Depuricácion zu liefern.

„Das Ganze ist ein extrem reaktionärer Verein. Die Mitglieder halten ihre Organisation für die legitime Nachfolgeschaft der Heiligen Inquisition. Manchmal denke ich, die sind zum Teil noch schlimmer als das Original.“

Jonathan weckte immer größeres Interesse bei seinem Gegenüber.

„Flagellantentum und andere bizarre Formen der Selbstkasteiung, so etwas gehört zu ihren obligatorischen Bräuchen.“

Schmunzelnd fügte er hinzu:

„Wir nennen sie unter uns gerne die Reise-Onkel, oder etwas despektierlicher, Viajeros, wegen ihres Mottos

„Todos somos voajeros – wir sind alle Reisende.“

Bert lachte. Diese Art von Humor mochte er sehr gerne.

„Aber ist da nicht etwas Wahres dran? Auf eine Art reisen wir doch Alle: Von irgendwoher her nach irgendwohin.

„Na, du stehst doch wohl nicht im Banne des OD?“ fragte Jon, um dann wieder ernsthafter fortzufahren:

„Diese Typen nehmen für sich exklusiv in Anspruch, als Einzige den richtigen Weg zu kennen. Die fischen Menschen und wollen diese dann nach ihren Vorstellungen als selbsternannte Elite Gottes formen.“

„Meine Güte. Das klingt ja gewaltig schräge. Für solche elitäre und reaktionäre Denkweise habe ich nun überhaupt nichts übrig“, erwiderte Bert.

Jon stimmte dem zu: „Das geht den meisten vernünftig denkenden Menschen so. Hier in Peru allerdings kommt man kaum an diesen mafiösen Strukturen vorbei. Deren Einfluss reicht bis in höchste Kreise von Politik und Wirtschaft.“

Diese Aussage gipfelte dann in der Information, dass selbst ein früherer Staatspräsident und eine aktuelle Ministerin mit diesem Orden sympathisierten. Bert Unger hörte aufmerksam zu.

Er konnte zwar keine Verbindung zu seinem hier im Lande geplanten Reisevorhaben erkennen, aber das soeben Gehörte beinhaltete durchaus Informationen, die seinem Gesamtverständnis der Gesellschaft hier im Lande dienlich sein konnten.

„Klingt schon seltsam, aber wie passt denn die Rolle solch einer Frau in derartige Strukturen“?, wollte Bert wissen.

„Kann ich dir auch nicht erklären. Frauen gelten im allgemeinen in dieser Organisation als minderwertig. Man munkelt allerdings von sexuell geprägten Ritualen, in die auch hochrangige Ordensführer verstrickt sein sollen. Es geht da offensichtlich um maso-sadistische Praktiken. Das sind allerdings nur Gerüchte.“

All diese Details waren eine Menge an Informationsstoff, den Bert zwischen dem Genuss zweier Pints Guinness zu verarbeiten hatte.

Jon hatte Verständnis dafür, dass sein neuer Bekannter, noch etwas belastet von den Anstrengungen des ersten Tages in großer Höhe, nun zurück in sein Hotel gehen wollte.

„War nett. Vielleicht sieht man sich ja noch einmal?“

„Bestimmt. Wird ganz sicher wieder interessant.“

Der kanadische Historiker verabschiedete sich von Bert.

Im Hotel Colon angekommen, begab sich Bert unverzüglich auf sein Zimmer, nahm vor dem Schlafengehen noch eine Kapsel Melatonin, um mögliche Beschwerden eines Jet-Lag zu vermeiden und fiel ziemlich schnell in einen tiefen Schlaf.

Der nächste Tag begann für Bert Unger in aller Frühe. Gegen fünf Uhr dreißig war er hellwach. Er fühlte sich ausreichend gut ausgeschlafen und verspürte keine nennenswerten Beeinträchtigungen seines Befindens. Die Anpassung an die ungewohnte Höhenlage verlief offensichtlich erfolgreich.

Der Frühstücksraum im Erdgeschoss des Hotels war bereits mit den ersten mit Gästen gefüllt, die anscheinend gleich nach dem Frühstück zum Zug nach Machu Picchu wollten. Es gab nur eine Verbindung dort hin, und die startete sehr früh morgens. Eine solche Fahrt hatte Bert auch noch vor sich. Für die Planung und Durchführung am Zielort würde er eine der zahlreichen Reiseagenturen in Anspruch nehmen.

Nach einem ausgiebigen Frühstück vom Buffet, dazu eine Tasse Koka-Tee als Gesundheitsergänzung, begab er sich zwecks Beratung durch eine Hotelangestellte an die Rezeption. Eine zuverlässige Agentur für seine weiteren Reisevorhaben sollte sie ihm nennen. Nach einigen Kurz-Infos über verschiedene infrage kommende Reisebüros entschied er sich für die Travel-Agentur Cusco Trekking, die Maria Vargas ihm empfahl.

„Richten Sie bitte Señor Xavier Garcia einen schönen Gruß von mir aus, er wird Sie ganz bestimmt gut beraten. Mit der Empfehlung durch unser Haus erhalten Sie einen außerdem noch einen Rabatt von zehn Prozent.“

„Vielen Dank auch. Das klingt vielversprechend“, erwiderte Bert, der sich bereits in unternehmungslustiger Stimmung befand.

Das Büro von Cusco Trekking lag nur wenige Minuten vom Hotel entfernt. Bert Unger ging gleich früh morgens dort hin und wurde von einem gut gelaunten Mitarbeiter, es war besagter Xavier Garcia, begrüßt.

Für den Nachmittag des selben Tages buchte er eine Führung durch die Altstadt Cuscos. Der Besuch einer großen Anzahl von Kirchen, Klöster und anderer Sehenswürdigkeiten wurden von Cusco Trekking mit englischsprachiger Führung angeboten. Am darauf folgenden Tag sollte dann eine Besichtigung per Jeep, und ebenfalls englischsprachig begleitet, zu den den Ruinen oberhalb der Stadt und ins Tal des Rio Urabamba führen. Um einen größeren Ansturm von Touristengruppen zu vermeiden, sollte die Tour dorthin, mit ihm als einzigen Teilnehmer, in aller Frühe starten.

Bert freute sich auf diesen Ausflug besonders; denn der sollte einen guten Einstieg auf die für einige Tage später geplante Fahrt zur Ruine von Machu Picchu bieten.

Für die nächsten Tage standen ihm sehr attraktive Unternehmungen bevor, wie er zufrieden feststellte. Den Rest des Vormittags verbrachte Bert mit einem Bummel durch die malerische Altstadt Cuscos. Er erstand noch verschiedene nützliche Artikel des alltäglichen Gebrauchs in einem der kleinen Super-Mercados.

Am Rande der Plaza de Armas genoss er einen aromatischen Kaffee einheimischer Herkunft in einem der vielen Straßen-Cafés mit Blick über den gesamten Platz und auf die mächtige Kathedrale. Dann gönnte er sich sich nach der Lektüre einer englischsprachigen Tageszeitung eine kleinere Mittagsmahlzeit, um dann noch vor Beginn der ersten Tour eine Pause einzulegen.

Gegen vierzehn Uhr wurde er vom Guide der Reise-Agentur abgeholt, um an der Besichtigung der Altstadt teilzunehmen. Jaime, der Englischsprechende Guide der Agentur, startete den Rundgang nach einer kurzen Einweisung an der Treppe vor dem Eingang zur Kathedrale.

Bert, als Letzter der kleinen Gruppe, legte einer auf der Treppe sitzenden, verhutzelten alten Frau in der Tracht der Quetchua-Indianer, eine kleine Münze in die zum Betteln ausgestreckte Hand. Die alte Frau prüfte das Geldstück kurz und warf es dem Spender eine Verwünschung murmelnd vor die Füße. Die Gabe entsprach offensichtlich nicht ihren Erwartungen.

„Na, na. Mütterchen, ganz schön verwöhnt,“

sagte Bert, wobei er allerdings einräumte, den Wert des Geldstückes möglicherweise nicht richtig eingeschätzt zu haben. Er würde aber den vielen Bettlern hier im Lande keine größeren Beträge spenden, kleinere Summen für etwaige Dienstleistungen einmal ausgenommen.

Die Besucher der Kathedrale hatten sich schnell an das schummrige Licht im Inneren dieses Raums gewöhnt und der Rundgang konnte beginnen.

Der Fremdenführer Jaime begann dann seine Ausführungen mit der Entstehungsgeschichte der Kathedrale, für deren Bau Mitte des sechzehnten Jahrhunderts wegen Geldmangels mehr als hundert Jahre benötigt wurden. In dem für Peruaner typischen, stark akzentuiertem Englisch, fuhr Jaime fort.

„Das alles, was man hier sieht, wurde gebaut auf den alten Grundmauern des Palastes des 8. Inka, Viracocha. Selbstverständlich wurden für die Arbeit nur eingeborene Sklaven der neuen Herren aus Spanien herangezogen.“

Mit einer weit ausladenden Armbewegung deutete er, einen Halbkreis beschreibend, auf die im Halbdunkel liegende Innenstruktur des mächtigen barocken Kirchenschiffes. Vor dem Altar, gegenüber dem hölzernen Chorgestühl, fiel besonders die Form der Seitenlehnen auf. Verschiedene Darstellungen von indianischen Frauenfiguren waren deutlich zu erkennen.

„Die sehen ja aus, als wenn sie schwanger wären,“ bemerkte eine der amerikanischen Touristinnen der Gruppe.

„Nicht schlecht. Originelle Deutung,“ kommentierte der Guide diesen Auspruch.

„Tatsächlich ist es aber eher eine Anspielung auf einen Bauchgürtel, einen sogenannten Chumpi. Der sollte Blähungen und Furze während des Gottesdienstes verhindern.“

Auf diese Bemerkung hin ging ein ein Kichern durch die Gruppe. Es folgten Erklärungen über Einzelheiten der mehrere Hundert zählenden Wandbilder. Die Besucher ließen diese Darstellungen im alten Cusceño-Stil auf sich einwirken.

Bert hatte bei Betreten des dunklen Seitenschiffes eine Keramikscheibe bemerkt, die das ihm inzwischen bekannte Symbol eines Anden Kreuzes aufwies.

„Sagen Sie das Zeichen da an der Wand, wofür steht dieses Symbol eigentlich?“

Er wandte sich mit dieser Frage an den Reiseführer Jaime.

„Das ist ein altes Inka-Symbol, das Anden Kreuz, das häufig als Ornament verwendet wurde. Es wird vermutet, dass die ursprüngliche Bedeutung in einer sehr viel früheren Epoche zu suchen ist. Die Deutung des Ornaments ist jedoch bekannt: Das Kreuz symbolisiert die vier Himmelsrichtungen, der runde Kreis in der Mitte stellt das Zentrum der damaligen Welt dar, die Stadt Cusco. So etwas in ähnlicher Art können Sie heutzutage als Souvenir in fast jedem Andenkenladen kaufen.“

Diese Erklärung genügte Bert erst ein mal. Die ungewöhnliche Form dieses Kreuzes aber hatte es ihm angetan; er würde bei passender Gelegenheit gerne mehr darüber in Erfahrung bringen.

Nach Beendigung der Besichtigung der Kathedrale wurde die Gruppe zum Sonnentempel Coricancha am Ende der nicht weit entfernt liegenden Calle Romerito geführt. Auf dessen komplett zerstörten Mauern hatten die spanischen Eroberer im sechzehnten Jahrhundert eine Kirche sowie das Kloster Santo Domingo gebaut.

„Der Coricancha-Sonnentempel war der wichtigste Tempel der Inka“, erklärte Jaime.

„Seine Wände muss man sich voller Gold und Silber vorstellen. Das alles wurde von den Konquistadoren abgerissen, um es anschließend einzuschmelzen. Dabei fielen den Spaniern auch die lebensgroßen Goldfiguren des berühmten goldenen Gartens in die Hände. Dadurch ist ein unermesslich wertvoller Schatz für immer verschwunden. Man muss dazu wissen, dass das spanische Königshaus der damaligen Zeit hoch verschuldet war und überall in den neuen Kolonien wie hier in Neu-Kastilien, nach Edelmetallen suchte, immer der Legende über das sagenhafte Land El Dorado folgend.“

Der weitere Verlauf der Besichtigungstour führte zwischen Häusern der heutigen Bewohner und Resten alter Inka-Mauern zur Eglesia Compania de Jesus. Ein Besuch der Casa Almirante schloss die Excursion ab. In diesem vielseitigen Regionalmuseum konnten die Teilnehmer der Tour noch einmal einen kompletten chronologisch geordneten Überblick über die Entwicklung der alten Inka-Metropole Cusco erhalten. Mit den Worten,

„Das war's, liebe Freunde, ich hoffe, Sie haben diesen Rundgang durch die Geschichte des damaligen Nabels der Welt, Cusco, genossen. Gracias und Adios“ Damit wurden sie verabschiedet.

Bert schloss sich nicht den anderen Mitgliedern der kleinen Gruppe an, die ein in der Nähe liegendes Lokal ansteuerten. Er würde sein heutiges Abendessen im Hotel einnehmen, wobei er nicht ausschloss, anschließend noch auf einen Drink in das Fiddler's Green