Neue Narren braucht das Land - Horst Radmacher - E-Book

Neue Narren braucht das Land E-Book

Horst Radmacher

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Beschreibung

In "Neue Narren braucht das Land" werden Geschichten erzählt, die unterhalten sollen: humorvoll, nachdenklich, pseudo-realistisch, satirisch - allesamt fiktiv, aber einige so, dass sie eventuell tatsächlich hätten geschehen können: Lebensläufe oder Begebenheiten, wie die - vom Intellektuellen, der die TV-Satire erneuert - vom Autor, dem kein guter erster Satz einfällt - vom futuristischen Traum eines Nobelpreisträgers - vom Tangomusiker mit Farbgenialität - vom ersten Mobil-Klo im alten Rom - vom Winzer im Kampf gegen die Unsitte der Weinschorle - von der Studentin, die an zufälligen Palindromen verzweifelt u. a. m.

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"Es ist nie passiert, und es wird nie passieren., und deshalb wird es aufgeschrieben."

(Karen Blixen)

Der Autor,

Horst Radmacher, 1948 auf Sylt geboren, Autor von vier Romanen:

AMERIKA ZUM NULLTARIF

(2014)

MORBUS MONITUS

(2013)

AMANDAS GEBURTSTAG

(2012)

DAS ANDEN KREUZ

(2011)

stellt in dieser Anthologie Kurzgeschichten vor, entstanden in den Jahren 2021 bis 2023.

Erzählt werden Geschichten, die unterhalten sollen: humorvoll, nachdenklich, pseudo-realistisch, satirisch, allesamt fiktiv, aber einige so, dass sie eventuell tatsächlich hätten geschehen können.

Inhaltsverzeichnis

Neue Narren braucht das Land

Die Sache mit dem ersten Satz

Wassserspiegelungen

Die Farben des Tangos

Der Traum des Nobelpreisträgers

Ein guter Wurm frisst alles

Kathedrale aus Rost

Die Verschorlung des Florian H.

Traum eines Adligen

Ewiger Winnetou

Sibylle und Kater Urmel

Waldbaden mit Dr. Nkumara

Man trifft sich immer zweimal

Verschwunden

Der Ritter mit den langen Haaren

Der letzte Lemming

Der Schlaf-Flüsterer

Nachtschwärmer

Zu stark verkopft

Aus dem Leben eines Außenseiters

Der Tag als Pippi Langstrumpf starb

Rückkehr

Leserwettstreit auf Schloss Hohenlimburg

Kleoptra kam bis Mittenwald

Bekehrung

Der letzte Flug des Silberkondors

Ein Mann mit Eigenschaften

Der Frieden von Leichlingen

Reiner Zufall

Neue Narren braucht das Land

Es gibt nur sehr wenige Menschen, die sich freiwillig der Lächerlichkeit aussetzen mögen. Meistens sind es solche, die beruflich auf diesem Gebiet tätig sind: Komiker, Clowns oder Gaukler, sowie Angehörige verwandter Metiers. Der Beruf des Hofnarren ist seit langer Zeit ausgestorben, auch wenn sich in den heutigen Medien Typen anbieten, die mehr oder weniger dummes Zeug verbreiten, Skurriles als die hohe Kunst des Humors verkaufen wollen.

Dr. phil. Ansgar Jester fühlte sich berufen, dem früheren, ehrbaren Stand des Hofnarren neues Leben einzuhauchen und durch eine moderne Spielart wieder zum Leben zu erwecken. Die Idee hierzu kam ihm während seines Studiums der Theaterwissenschaften an der University of Cambridge Dabei faszinierten ihn insbesondere Komödien aller Art. Er schloss dieses Studium mit der viel beachteten Dissertation, „Homeric laughter in the changing course of classical Greek tragedy and its relevance to medieval English comedies“, ab - veröffentlicht im britischen Fachjournal, W.o.W., World of Words. Humor, Satire und Lachen wurden zu seinem Lebensinhalt.

Damit machte er akademisch zwar auf sich aufmerksam, konnte aber davon nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten. Ansgar Jester wollte mehr als nur ein intellektueller Klugscheißer sein. So war es daher nicht erstaunlich, dass er, zurückgekehrt nach Deutschland, die 'Academy of Sneaky Humor' in Hohenlimburg gründete. An dieser neuartigen Lehranstalt wurden nicht die hintergründigen Formen der Satire des antiken Griechenlands als Studienfach gelehrt, sondern Studierende können hier die Ausbildung zum diplomierten Hofnarren machen. Die orientiert sich am Bild des mittelalterlichen Hofnarren, der zunächst ungestraft die ungeschminkte Wahrheit sagen durfte. Die modernen Hofnarren werden in Ansgars Institut für einen Einsatz zum 'Comedy-Escort' für Politiker ausgebildet. Wie Ansgar richtig erkannt hatte, existierte hier ein enormer Bedarf. So wurden dann auch Absolventen seiner 'ASH“ häufig direkt nach den Examensfeiern von ihren neuen Auftraggebern vom Fleck weg engagiert.

Die ersten Auftritte dieser neuen Experten von Comedy und Satire stifteten beim Publikum Verwirrung. Kaum jemand, weder Redakteure der Fernsehsender noch das Publikum, verstand auf Anhieb, um was es sich hier handelte, als gesellschaftliche Themen enttabuisiert, in einer völlig neuen Form dargeboten wurden, so dass die ersten Ausstrahlungen Medienfachleute sowie die Zuschauer zunächst eher fragend als wissend zurück ließen. Dann hatte das Publikum den hintergründigen Humor des Autors jedoch verstanden. Bereits wenige Sendungen nach der Erstausstrahlung hatte sich eine umfangreiche Fan-Gemeinde vor den Fernseh-Geräten des Landes etabliert.

Eine solche Art von Darbietung kannte man aus früheren Fernsehformaten nicht. Dort traten Komiker als Solisten oder als Duo auf. Und nun erlebten die Zuschauer Darsteller im Doppelpack, stark angelehnt an das alte Vorbild aus dem Mittelalter: Herrscher und Hofnarr gemeinsam im Fokus des Publikums. Und es funktionierte, Politiker und Narr, Seite an Seite. Die 'Herren' blieben so, wie sie immer gewesen sind; die 'Hofnarren' entwickelten sich weiter zu Komödianten, die mit Witz und Schlagfertigkeit die Belange der Herrschaften kommentieren. Sie sind in diesem Spiel ihren Auftraggebern stets überlegen und können dies in ihrer Rolle, wie seinerzeit die Narren am Hofe, ungestraft vortragen. Ihre Kunst besteht darin, die scheinbar offene Kritik so zu vermitteln, dass der Zuschauer glaubt, er würde reale Zustände erleben. Dem ist aber nicht so. Am Ende bleibt ein augenscheinlich düpierter 'Herrscher' zurück, der durch geschickt gesteuerte Vortragskunst in der Pointe, die dem Publikum am Ende präsentiert wird, als ein geläuterter Herr im gewünschten Sinne erscheint. So werden auf diese Art dem Publikum manipulierte Fakten untergejubelt.

Diese Form des Pseudo-Infotainments wurde von vielen Politikern euphorisch angenommen, sie wurde zum Standard. Ein Kommilitone aus gemeinsamen Zeiten, der noch in England lebte, verfolgte das Geschehen mit dem Blick von draußen Er stellte aus dieser Sicht Abnutzungserscheinungen am neuen Satire-Format fest. Mehrere Politiker waren dazu übergangen, das Rollenspiel von Hofnarr und Herrscher zu manipulieren. Diese Beobachtungen teilte er Ansgar Jester mit. Leider zu spät, die Veränderungen hatten schon zu viel Eigendynamik entwickelt.

Am markantesten traten hierbei im Laufe der Zeit Politiker aus dem Süden des Landes hervor; ein kolossaler Pfälzer, ein Hüne aus Franken dazu ein langer Dürrer aus dem Sauerland. Sie waren es, die Ansgars Methode in ihrem Sinne ausmerzten. Sie strichen die Rolle des Narren und traten dann als Herr und und Hofnarr in Personalunion auf. Es gab lediglich einen, der wie biesher weitermachte und offensichtlich überhaupt nichts verstanden hatte. Es war ein kleiner Runder vom Niederrhein, äußerlich am besten in die Rolle eines Hofnarren passend. Die Reduzierung auf nur eine Person hatte er noch kapiert, aber ausschließlich den 'Herren' für sich gestrichen und machte nur noch als Narr weiter. Die Folge, er ging politisch unter gegen einen geschmeidigen Gegner aus dem hohen Norden, der stets solo auftrat, und die moderne Variante als automatisierter Darsteller bevorzugte.

Fast das gesamte Politspektrum der Republik wurde bald in Bezug auf öffentliche Darstellung nur noch nach der Methode Hofnarr® abgedeckt. Eine weitere, dem eigenem Anspruch nach fortschrittlichere politische Gruppierung, blieb bei der Methode 'Old School', sie bediente die Öffentlichkeit nach wie vor im Duo.

Diese verbohrten Polit-Desperados suchten daraufhin für eine Runderneuerung nach einem externen Coach. Wie die dabei auf Ansgar Jester gekommen sind, bleibt ein Rätsel. Es heißt, dass dieser sich milde lächelnd abwandte. Ansgar ist zwar bekannt für ein sehr breites Spektrum an Humor, aber das geht nicht so weit, solch einen völkischen Verein zu beraten.

Dr. phil. Ansgar Jesters geniale Idee war nach anfänglichem Erfolg an der Unberechenbarkeit seines Klientels gescheitert, was er unumwunden öffentlich zugab. Gleichzeitig gab er bekannt, dass er an einem neuen Projekt zum Thema Humor arbeiten würde. Es gilt als sicher, dass auf diesem Gebiet noch einiges von ihm zu hören sein wird.

Die Sache mit dem ersten Satz

J.P. Saager gehört zu denen, die Worte suchen, diese aber nicht finden. Dies trifft nicht auf die kompletten Texte seiner vielen Bestseller zu. Es ist ein guter erster Satz, der ihm aktuell nicht einfallen will.

Der Plot für den neuen Roman steht. Die Handlungsstränge, Charaktere, das ist alles in trockenen Tüchern, J.P. Saager könnte jederzeit loslegen. Und nun so etwas. Schon seit Wochen hat er diesen Hänger, ihm fällt kein perfekter erster Satz ein. Dabei wäre dies ein gelungener Einstieg, das Entrée für den Leser, ein Anreiz, sich direkt in die Geschichte zu begeben.

Stark frustriert ruft J. P. einen Kollegen an, der für seine Formulierungsstärke bekannt ist. Dieser ist hocherfreut, von dem Erfolgsautor um Rat gefragt zu werden. Nach einem brutal langen Telefongespräch ist J.P. bestens über den Vorrat an guten ersten Sätzen des Kollegen informiert. Dieser besitzt offensichtlich unglaublich viele solcher Sätze, kann jedoch bezeichnenderweise nur einen einzigen vollendeten Roman in vierunddreißig Jahren vorweisen. Der Kollege scheint auch ein Problem zu haben, eben an anderer Stelle. Seine Ratschläge mögen gut gemeint sein, aber helfen können sie J.P. nicht, denn dieser möchte sein neues Werk nicht mit einem Plagiat beginnen.

Der frustrierte Erfolgsautor wählt eine andere Option, um so die störende Blockade zu lösen. Zunächst stellt er seine Lebensgewohnheiten um. Statt ausschließlich spät am Abend, will er nun schon morgens, direkt nach dem Frühstück mit dem täglichen Schreiben beginnen. Die bisher obligatorischen abendlichen zwei bis drei Gläser Rotwein streicht er ersatzlos; einen Erfolg erzielt er dadurch nicht. Im Gegenteil, er hat den Eindruck, eher noch stärker blockiert zu sein. Inzwischen kommt ihm der Gedanke, es könne an seinem Alter liegen, seine achtundsechzig Jahre fühlen sich nun auf einmal fürchterlich alt an. Aber das kann es doch nicht gewesen sein, nach siebenundzwanzig international erfolgreichen Romanen einfach so zu scheitern? Und überhaupt, er versteht seine jetzige Verbohrtheit nicht, er wähnte sich längst im Zustand einer altersmilden Gelassenheit. Wie auch immer, er will diesen verfluchten ersten Satz.

Und J.P. unternimmt weitere Versuche, den Durchbruch zu schaffen. Zuerst versucht er es mit Sport, er war früher ja ein beachtlicher Schwimmer. Aber den Unterschied zwischen Früher und Heute stellt er schnell fest. Es müsste wohl eher etwas Ruhigeres sein, etwas, das von innen heraus wirkt. Und so landet er erst bei Tai-Chi und dann bei Yoga. Siehe da, schon nach wenigen Wochen kann er feststellen, er ist entspannter. Seine Blockade ist jedoch nicht überwunden; nur stört ihn diese jetzt nicht mehr. Doch das war es nicht, was er erreichen wollte.

An einem seiner erfolglosen Abenden, es ist ein milder Samstagabend Anfang Oktober, verlässt J.P. frustriert seine Wohnung, um sich ins Kneipenleben zu stürzen. Das hat er schon lange nicht mehr getan, vielleicht hilft ihm das ja weiter. Fußläufig zu seiner Wohnung gibt es zahlreiche Gaststätten, in denen er Ablenkung finden könnte. Hier, am Rande des Hamburger Uni-Viertels, steuert er ein Lokal an, aus dem Gesprächsfetzen und Lachen in verträglicher Lautstärke an sein Ohr dringen. Er betritt die gut besuchte Kneipe und nimmt am hinteren Ende des Tresens platz. Die Entspannung setzt zügig ein. Nach ein zwei Gläsern Bier fühlt er sich deutlich wohler. Hat ihm möglicherweise eine solche Umgebung mit einem gepflegten Getränk gefehlt? J.P. will es nicht ausschließen und gönnt sich noch einen seiner Lieblingsgetränke, einen Ron Botucal, einundzwanzig Jahre im Fass gereift – ein Genuss.

In dem Moment, als er sich nach einem Gesprächspartner umsieht, schlängelt sich eine Frau an ihm vorbei und nimmt auf dem Hocker neben ihm platz. J.P. kann in seinem Alter mit solch einer Situation entspannter umgehen, seit er nicht mehr den Reflex verspürt, ansehnliche Weiblichkeit automatisch anzuflirten. Er bietet der Dame, wesentlich jünger als er, aber keine ganz junge Frau mehr, ein Getränk an. Von seiner ungezwungenen Art angetan, nimmt diese die Einladung an und deutet auf sein Glas Botucal Rum. Gemeinsame Vorlieben bei Getränken, so etwas verbindet. Und so kommt es völlig unverkrampft zu einem angenehmen Gespräch zwischen den beiden.

Wie sich schnell herausstellt, ist Elena Kastor an diesem Samstagabend aus einem ähnlichen Grund unterwegs wie er. J.P. erfährt, dass sie Werbetexterin in einer großen Agentur ist und eine Hemmung sie aktuell in ihrer Kreativität blockiert; ihr will der passende Slogan für die Werbekampagne eines wichtigen Kunden partout nicht einfallen. Beider ähnliche Ausgangssituationen führen dazu, dass die Unterhaltung schnell intensiv wird; bald können sie über die Zufälligkeit ihrer Probleme lachen. J.P. und Elena verbringen einen unterhaltsamen Abend miteinander; ihre beruflich bedingten Blockaden lösen sich an diesem Abend allerdings nicht. Etwas angetrunken, aber noch unter Kontrolle, verabschieden sie sich in den frühen Morgenstunden voneinander. Auch dieser Abschied verläuft unverbindlich, aber herzlich ab. Nicht einmal Telefonnummern oder E-Mailadressen tauschen sie aus, vielleicht trifft man sich ja wieder einmal, rein zufällig, einfach so, wie an diesem Samstagabend im Oktober.

Ziemlich genau ein Jahr später. J.P. Saagers neuer Roman ist soeben erschienen. Passend zu diesem Zeitpunkt kommt es zu einer nie geahnten Duplizität der Ereignisse. Der Tag der Erstveröffentlichung von J.Ps neuem Roman ist auch exakt der Tag, an dem eine große Hamburger Werbeagentur unter der Federführung der Werbetexterin Elena Kastor eine viel beachtete Werbekampagne für eine japanische Automarke mit einem spektakulären Slogan startet. Dieser Spruch besteht aus den gleichen Worten wie der erste Satz aus J.P. Saagers neuem Buch: „Nichts ist unmöglich.“

Wasserspiegelungen

Wenn man das kleine schweizerische Dorf Bremgarten in Richtung des Flusses Reuss verlässt, kann man von der letzten Anhöhe vor dem Tal das Auengebiet der Reuss erblicken. Von hier sieht die Mündung des Flüsschens wie ein Flussdelta aus, was in einer Gebirgslandschaft in dieser Form als Gewässer eigentlich nicht vorkommt. Die Seitenarme der Reuss vereinen sich hier zu einer Ausbuchtung, die dann in den Hauptstrom mündet. Erst dicht am Rande des Gewässers fällt auf, wie klar und durchsichtig das Wasser hier ist. Allerdings kann man bei bestimmten Lichtverhältnissen nicht bis auf den Grund sehen, denn die Oberfläche des Weihers spiegelt die Objekte der Umgebung scharf und realistisch wieder.

Philipp Sender geht diesen Weg zum ersten Mal seit langer Zeit wieder. An seiner Kleidung fällt auf, dass er am linken Arm eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten trägt. Seine rechte Hand bewegt einen weißen Stock, seine Augen sind von einer schwarzen Dunkel-Blindenbrille bedeckt. Phillipp ist jedoch nicht blind, obwohl seine Körperhaltung und die Bewegungen denen eines Blinden gleichen.

Zielsicher geht er bis ans Ufer des Gewässers vor, setzt sich auf einen großen Stein und starrt auf die Wasseroberfläche. Darin sieht er, stark lichtgedämpft, sein Gesicht, umgeben von den Konturen der Landschaft hinter ihm. Er nimmt die Brille von den Augen und betrachtet nun alles unter normalen Lichtverhältnissen. Es ist vor allem die Spiegelung seines Antlitzes, die ihm besonders gefällt. Alles erscheint ihm genau wie vor zwanzig Jahren, nur dass er heute das Gesicht eines erwachsenen Mannes erblickt anstatt das eines Jugendlichen. Dieses hatte er in früheren Jahren in ungezählten Sitzungen fasziniert betrachtet. Jetzt fühlt er sich stark in diese Zeit zurückversetzt. Der heutige Philipp Sender ist allerdings aus einem anderen Grund an das Gewässer gekommen als früher.

In den Tagen seiner Kindheit und Jugend verbrachte er mit seinen Eltern die meiste Zeit der Sommerferien hier, im Vorgebirgsland des Kantons Argau, eine knappe Autostunde von Zürich entfernt. Er war seinerzeit der von der ganzen Dorfjugend bewunderte, fantasievolle Großstadtjunge aus Deutschland, der die Kinder in seiner mitreißenden Art für aufregende Abenteuerspiele begeistern konnte. Unter seiner Anleitung entstand aus den vielen Flussläufen, Flussauen und Höhlen die spannende Welt für Erlebnisse im Stile eines Tom Sawyer. Mit großem körperlichen Einsatz und einer überbordenden Fantasie schufen sie zusammen die Kulisse dafür. Philipp war der Bestimmer, er war für die Kinder des Dorfes für viele Jahre der bewunderte, charismatische Held ihrer Freizeit.

Dieser genoss eine solche Anerkennung, er brauchte Lob und Bestätigung in einem viel größeren Umfang als andere Menschen. Philipp Sender wies schon in diesem Alter narzisstische Züge auf, er war selbstverliebt und eitel. In seinen einsamen Stunden fehlte ihm häufig die Bewunderung der Eltern oder der Applaus von Freunden. Dann konnte er stundenlang in die Betrachtung seines Äußeren versinken.