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Woche für Woche erzielt Arian Nostramo, der berühmte Hellseher von Basel, mit seiner TV-Sendung am Montagabend Rekordeinschaltquoten. Er polarisiert wie kein anderer. Während ihn die einen für den Wahrsager schlechthin halten, sehen seine Gegner in ihm den grössten Scharlatan auf Erden und Anführer einer gefährlichen Sekte. Eines Tages, mitten in der Livesendung, wird Nostramo von einem Anrufer bedroht. Kein Grund zur Sorge, denkt Kommissär Francesco Ferrari, der kaum eine Folge auslässt. Doch weit gefehlt. Seine Assistentin Nadine Kupfer beordert ihn nur wenig später nach Riehen, wo Ferrari eines Besseren belehrt wird. Hat der Anrufer seine Drohung wirklich in die Tat umgesetzt? Ist es reiner Zufall oder handelt es sich gar um ein geschicktes Ablenkungsmanöver des Mörders?
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Seitenzahl: 331
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Anne Gold
Alle Rechte vorbehalten
© 2011 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
© eBook 2013 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Lektorat: Claudia Leuppi
Gestaltung: Bernadette Leus, www.leusgrafikbox.ch
Illustration: Tarek Moussalli
ISBN 978-3-7245-1951-5
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-1763-4
www.reinhardt.ch
Es gibt mehr Dinge zwischenHimmel und Erde, als EureSchulweisheit sich träumen lässt.William Shakespeare
«Musst du dir diesen Mist anschauen?»
Kommissär Ferrari nestelte in seiner Chipstüte und starrte fasziniert auf den Bildschirm.
«He … Francesco, ich rede mit dir!»
«Wie … was meinst du, Monika?»
«Wieso ziehst du dir jeden Montag diesen komischen Typen da mit dem Turban rein?»
«Das ist kein komischer Typ, Monika. Oh, nein, Arian Nostramo ist ein Hellseher. Ein wirklich guter Psychologe, der dir in jeder Lebenslage hilft», erwiderte Ferrari andächtig.
«So ein Quatsch! Er ist einzig und allein ein Scharlatan! Der und seine Spezis sind ganz gewiefte Gauner, die mit ihren dummen Sprüchen den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen.»
Keine Reaktion. Ferrari war schon wieder in die unendlichen Sphären des Übersinnlichen entschwunden und somit unansprechbar. Arian Nostramo setzte einen verheissungsvollen Blick auf, faltete die Hände wie zum Gebet, rollte die Augen, als ob er soeben von einer göttlichen Eingebung erleuchtet worden wäre, und gab einer Yvonne, die mit ihm seit einigen Minuten ein Telefongespräch führte, die alles entscheidende Antwort, die ihr Leben verändern würde.
«Yvonne, meine liebe Yvonne, es wird für dich nicht einfach sein, was ich dir jetzt sage. Aber die Wege des Schicksals sind manchmal unergründlich. Du musst jetzt stark sein, meine Yvonne. Bist du stark, Yvonne?»
«Ja…», hauchte eine weibliche Stimme in den Hörer.
«So, wie du mir deinen Freund schilderst, wird nichts aus euch. Er meint es nicht ernst mit dir. Er benutzt dich nur.»
Yvonne begann zu schluchzen.
«Dann … dann gibt es keine Zukunft für mich und Rolf, Arian?»
Arians Augen blickten traurig in die Kamera.
«Manchmal, meine liebe Yvonne, manchmal ist eine Trennung besser. Sie muss ja nicht für immer sein. Etwas Distanz wird dir gut tun und auch deinem Freund Rolf. Vielleicht kommt er dabei zur Besinnung.»
«Meinst du … meinst du, dass er dann wieder zu mir zurückkommt?»
«Oh … wie herzzerreissend. Die arme Kleine kann einem leidtun. Ein aussergewöhnliches Schicksal, das wir …»
Ferrari warf Monika einen missbilligenden Blick zu, um sich danach sofort wieder Chips kauend mit dem wirklichen Leben der Yvonne M. aus L. auseinanderzusetzen. Arian hatte sich inzwischen in die vor ihm liegenden Karten vertieft. Er seufzte.
«Die Karten … sie geben mir keine endgültige Antwort, meine liebe Yvonne. Aber ich sehe …»
Ferrari wollte sich soeben einen besonders grossen Chip reinschieben, hielt aber mit offenem Mund inne.
«Das ist doch …»
«Psst, Monika, jetzt kommts!»
«… ich sehe, dass noch eine kleine Chance besteht, eure Beziehung zu retten. Aber du musst ihm heute noch sagen, dass es so nicht geht. Du musst ihm klarmachen, dass du dich von ihm trennen wirst, wenn er seine Beziehungen zu anderen Frauen nicht aufgibt. Und nur, wenn er deine Bedingungen akzeptiert, darfst du bei ihm bleiben.»
Yvonne weinte. Es war ein erlösendes Weinen.
«Danke, Arian. Du bist der Grösste. Genau so werde ich es machen. Danke, Arian, vielen, vielen Dank.»
Arian nickte mit seinem väterlichsten Lächeln und beendete das Gespräch.
«In wenigen Minuten sind wir zurück, meine Lieben. Schaltet nicht um, es geht gleich weiter. Wir sehen uns!»
«Puh!»
Ferrari atmete befreit auf und stopfte weitere Chips in sich hinein.
«Danke … danke, Arian … danke, dass du mir einen absolut blöden Rat gegeben hast. Danke, mein Guru … mein Gott!»
«Du musst gar nicht so zynisch sein. Er gab ihr wirklich einen guten Ratschlag. Dabei kennt er diese Yvonne kaum. Das hättest du nicht besser hingekriegt.»
«Dass ich nicht lache! Glaubst du etwa, das war eine göttliche Eingebung?»
«Soweit würde ich nicht gehen. Tatsache ist, er hat sie glücklich gemacht. Trotz spärlichen Informationen und mit wenigen, klaren Worten. Das kann er nur, weil er jemand Besonderes ist.»
«Du spinnst ja! Du glaubst womöglich den Mist wirklich!?»
«Das ist kein Mist, Monika. Es gibt weit mehr auf Gottes Erde, als die Frau Apothekerin, der Wissenschaft und nichts als der Wissenschaft hörig, begreift. Sobald etwas nicht mehr mit Logik zu erklären ist, setzen hier», er tippte sich an die Stirn, «die grauen Zellen aus. Es gibt sie, die übersinnlichen Kräfte.»
«Und dieser Scharlatan hat sie?»
«Er ist kein Scharlatan. Er ist ein guter Mensch, der anderen Menschen hilft.»
«Für vier Franken neunzig pro Minute. Das ist natürlich sehr edel.»
«Ihr Ärzte seid beim Abzocken auch nicht gerade zimperlich. Und nicht selten haut ihr mit euren Diagnosen voll daneben, wenn ich da nur an die vielen Kunstfehler denke.»
«Das nimmst du zurück, Ferrari!»
«Den Teufel werde ich. Was nicht in eure Akademikerschädel reingeht, ist Scharlatanerie. Ihr macht es euch verdammt einfach, ihr mit eurem Dünkel.»
Monika nahm einen Stuhl und setzte sich ihm gegenüber. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts Gutes. Ferrari rutschte ein wenig zur Seite, damit er den Bildschirm im Auge behalten konnte. Die Fortsetzung wollte er auf keinen Fall verpassen.
«Du behauptest also, dass dieser … dieser Gauner mehr drauf hat als jeder Arzt?»
«Das ist jetzt aber eine Unterstellung. Ich bin lediglich der Meinung, dass er über besondere Fähigkeiten verfügt.»
«Da bin ich deiner Meinung. Allerdings definiere ich ‹besondere Fähigkeiten› anders. Ich verstehe darunter eine perfekte Abzocke eines gefährlichen Spinners.»
«Auf diesem Niveau brauchen wir nicht weiter zu diskutieren, Monika. Du bist stur und uneinsichtig.»
«Stur?» Monikas Stimme nahm einen gefährlichen Unterton an. «Ich bin also stur. Dann wollen wir einmal den Verlauf der letzten Minuten logisch analysieren.»
«Bitte, dagegen ist nichts einzuwenden. Du wirst mir sicher logisch erklären können, weshalb Arian so viel über diese Yvonne weiss, obwohl sie vor zehn Minuten zum ersten Mal miteinander telefoniert haben?»
Unbemerkt hatte sich Nikki, Monikas Tochter, zu ihnen gesetzt und hörte der Unterhaltung interessiert zu.
«Dir haben anscheinend die vielen Chips das Gehirn vernebelt.»
«Aha … da sieht man es wieder! Kaum stelle ich eine Frage, die du nicht beantworten kannst, schon beleidigst du mich. Auch eine Methode, einer Diskussion aus dem Weg zu gehen, aber keine überzeugende.»
«ICH habe mich noch nie vor einer Diskussion gescheut. Im Gegensatz zu anderen … Gut, lass es mich so erklären, dass es auch der Dümmste versteht.»
Ferrari sah irritiert zu Nikki hinüber.
«Bist du schon lange da?»
«Nein, nein. Lasst euch nur nicht stören. Ich bin gespannt, wie das hier endet. Auf in die zweite Runde!»
«Deine Mutter mit ihrem logischen Verstand! Da hat nichts anderes Platz.»
«Gut, Ferrari! Du willst es nicht anders. Also, die ersten vier Minuten hat dieser Turbanheini …»
«Arian Nostramo …»
«… hat dieser Scharlatan die gute, liebe Yvonne ausgefragt. Falls dir das entgangen ist.»
«Ist es nicht!»
«Da ist ja wohl jedem einigermassen vernünftig denkenden Menschen klar geworden, dass dieser Rolf seine Freundin Yvonne nach Strich und Faden betrügt. Oder sieht der Herr Kommissär das anders?»
«Doch … na ja, schon. Scheint ein Casanova zu sein.»
«Und was hätte der Herr Kommissär, der lieben, guten, kleinen dummen Gans geraten, wenn sie eine Freundin von ihm wäre?»
«Ich weiss nicht … Aber die Frau Apothekerin wird es mir sicher gleich sagen.»
«Ich hätte ihr geraten, ihrem Freund Rolf einen kräftigen Tritt in den Hintern zu verpassen, bevor sie ihn hochkant rauswirft. Und genau das hat Superman Arian auch getan, wenngleich auf die liebenswürdige Tour. Und, damit er nicht Schuld daran ist, wenn Yvonne über ihren Rolf nicht hinwegkommt, hat er in die Karten geschaut. Und … oh welch Wunder! … die Karten verraten ihm, dass es noch eine kleine Chance gibt. Vielleicht, also unter gewissen glücklichen Umständen raufen sich der bumsfidele Rolf und das naive Dummchen Yvonne wieder zusammen. Du musst zugeben, das war einfach ein genialer Rat, der, ohne zu hellsehen, nie und nimmer möglich gewesen wäre.»
«Hm!»
«Ist das alles? Jetzt bist du dran, Francesco. Ich bin gespannt auf deine Version.»
«Ja, also so ist es nun auch wieder nicht.»
«Wie dann?»
«Ich meine … also, wenn ich …»
Monika erhob sich mit einem triumphierenden Lächeln.
«Hier habe ich eine engstirnige, sture und absolut unflexible Partnerin und im Büro gleich noch eine von dieser Sorte als Assistentin. Das Schicksal meint es echt hart mit mir», brummte Ferrari vor sich hin.
Nikki rollte mit den Augen und zog instinktiv den Kopf ein. Ein Gewitter war im Anzug.
«Was hast du gesagt?»
«Ich … ich … nichts, ich …»
«Gib dir keine Mühe, ich habe es genau gehört. Du vergleichst Nadine und mich. Das wäre an sich ja schmeichelhaft. Nur hast du keine netten Adjektive gewählt – engstirnig, stur, unflexibel. Die Palette liesse sich beliebig erweitern. Wie wäre es mit rechthaberisch, besserwisserisch, zickig, streitsüchtig und schrecklich emanzipiert? Das meinst du doch, oder?»
«Ich … es war …»
Der Werbeblock ging genau im richtigen Augenblick zu Ende.
«Es geht weiter, Monika. Können wir uns später darüber unterhalten?»
«Kommt nicht in Frage! Ich will jetzt eine Entschuldigung von dir hören … He, Francesco, ich warte!»
Ferrari war bereits wieder ins Reich der Hellseherei abgetaucht. Arian Nostramo hatte sich einen roten Turban aufgesetzt.
«Arian hier … mit wem spreche ich?»
«Ich bringe dich um, du verdammte Drecksau!», donnerte eine männliche Stimme.
Monika liess sich neben Ferrari aufs Sofa fallen.
«Wie … wer spricht denn da? … Kann ich dir helfen?»
«Du hast mein Leben zerstört. Das zahle ich dir heim, du elender Dreckskerl. Du hast von heute an keine ruhige Minute mehr. Ich kriege dich. Und dann wirst du vor mir auf dem Boden liegen und um dein Leben winseln. Du elende Drecksau.»
«Was … wie …», Arian rang sichtlich um Fassung. «Wer bist du? Und was habe ich dir getan?»
«Das möchtest du wohl gern wissen?», die Stimme am Telefon klang überheblich und höhnisch. «Jetzt hast du Angst! Das geschieht dir ganz recht, du Scheisskerl. Wieso wühlst du auch dauernd im Dreck anderer Leute? Jetzt bist du an der Reihe.»
Arian blickte entsetzt in die Kamera. Bevor er etwas erwidern konnte, legte sein Gesprächspartner auf.
«Wow! Das war echt spannend. Arian macht sich vor Angst beinahe in die Hose.»
Ferrari schaute seine Freundin empört an.
«Das ist nicht witzig, Monika.»
Die Sendung war inzwischen abgebrochen worden.
«Tja, das hat man davon, wenn man seine Nase in die Angelegenheit anderer steckt und lauter gute Ratschläge erteilt!», hörte er Nikki aus dem Hintergrund sagen. «Logisch, dass es ihn auch einmal erwischt.»
«Noch hat es ihn aber nicht erwischt.»
«Das wird es wohl auch nicht, Mam. Da wollte ihm nur jemand Angst einjagen.»
«Aber wer?», fragte Ferrari nachdenklich.
«Es haben sicher einige eine Rechnung mit ihm zu begleichen. Wie lange läuft die Sendung schon?»
«Ein paar Jahre.»
«Und du bist einer seiner treusten Fans. Wie viele Sendungen hast du verpasst?»
«Beinahe keine», gestand der Kommissär leise.
«So ist es. Der Mann, der montags nicht kann. Ich erinnere mich noch gut an unsere Ferien im Tessin, da hast du solange Terror gemacht, bis wir deinen Guru empfangen konnten.»
«Jetzt mach mal aber einen Punkt.»
«Stimmt doch, Nikki?»
«Ja, korrekt. Du hast im Garten sogar eine Satellitenanlage installiert, nachdem du dich mit dem Vermieter des Hauses angelegt hast, weil Arians Sender übers Kabel nicht zu empfangen war.»
«Hm!»
Ein Sprecher des Senders nahm zum Vorfall Stellung. Er bat um Verständnis für die Unterbrechung und kündigte zur Überbrückung einen Block mit Videoclips an. Ferrari schaltete den Fernseher aus. Nikki hatte sich bereits in ihr Zimmer verzogen.
«Trinken wir noch ein Glas Wein?»
«Später, mein Schatz! Ich muss jetzt zuerst noch meine Buchhaltung nachführen. Dein Guru hat mich eine halbe Stunde gekostet.»
Das «mein Schatz» klang wie eine Drohung. Wird wohl noch ein Nachspiel haben. Aber ich bleibe dabei, Monika und Nadine sind genau gleich. Logik, Logik und nochmals Logik. Gut, bei der Aufklärung von Fällen ist das durchaus nützlich. Trotzdem, man darf sich nicht nur vom Verstand leiten lassen. Manchmal ist das Bauchgefühl weit mehr wert. Ferrari setzte sich aufs Sofa und blätterte die Zeitung durch. Ein dünnes Blättchen! Wie immer las er zuerst den Sportteil, danach das Regionale und zu guter Letzt überflog er noch die Schlagzeilen auf der Frontseite. Das Geld können wir uns bald einmal sparen, dachte der Kommissär. Nichts Neues, das stand alles bereits im «20 Minuten». Zwar nicht so detailliert, aber ausführlich genug, um informiert zu sein. Er legte die Zeitung zur Seite und zappte in der nächsten Stunde durchs Fernsehprogramm. Wie lange dauert das denn noch mit der Buchhaltung? Halt dich zurück, warnte ihn seine innere Stimme. Du bewegst dich heute Abend auf dünnem Eis. Setz jetzt ja nicht noch einen drauf.
«So, fertig! Jetzt kannst du den Wein einschenken.»
Ferrari reichte seiner Freundin ein Glas.
«Glaubst du, dass man die Drohung ernst nehmen muss, Francesco?»
«Es laufen genügend Spinner in der Gegend herum. Wir werden jeden Tag damit konfrontiert. Das Problem ist nur, dass wir erst gerufen werden, wenn es schon zu spät ist. Was natürlich in der Natur der Sache liegt – beziehungsweise am Job.»
«Und bei diesem Arian?»
«So eine grosse Nummer ist er nun auch wieder nicht. Er kann zwar Personenschutz beantragen, aber ich glaube nicht, dass dieser bewilligt wird.»
«Ich wünsche ihm ja wirklich nichts Böses …»
«Aber?»
«Irgendwie geschieht es ihm recht, dass er auch einmal einen auf den Deckel bekommt. Ich bleibe dabei, der Mann und seine Leute im Hintergrund sind gewiefte Abzocker.»
Ferrari verzog das Gesicht.
«Können wir das Thema wechseln, Monika. Bitte.»
«Noch nicht ganz. Da wäre noch eine Kleinigkeit. Du erinnerst dich bestimmt – du hast Nadine und mich beleidigt.»
«Habe ich nicht!»
«Hast du doch!»
«Ich habe nur die Wahrheit gesagt», murrte Ferrari.
«Interessant. Sehr interessant. Dann darf ich mal den Sachverhalt in Bezug auf die Ferrarische Wahrheit wie folgt zusammenfassen: Wahr ist also, dass du zu Hause einen unflexiblen, besserwisserischen, zickig-akademischen Hausdrachen und im Büro einen sturen, rechthaberischen, schrecklich emanzipierten Bürodrachen hast.»
«Hm …»
«Ich höre, Ferrari!»
Das Klingeln des Telefons rettete den Kommissär aus dieser verzwickten Situation. Zumindest vorerst.
«Dein rechthaberischer Bürodrache ist am Apparat … hier bitte.»
Kopfschüttelnd griff Ferrari nach dem Hörer, Frauen! Doch Monika hatte es sich bereits anders überlegt.
«Bitte entschuldige, Nadine», setzte sie fort. «Diese Formulierung entspricht natürlich nicht meiner Meinung, ganz und gar nicht. Wir hatten soeben eine kleine Diskussion und Francesco findet, dass du und ich gleich seien, nämlich zwei neunmalkluge Spinatwachteln, die ihm das Leben versauen.»
Ferrari nahm den Hörer entgegen.
«Gut zu wissen, wie du von uns denkst, Francesco!»
«Hallo, Nadine. Das … das hat Monika aus dem Zusammenhang gerissen. Es ist nicht so, wie es scheint.»
«Monika wird es mir sicher genau erzählen. Keine Angst. Ich glaube, du hast noch immer nicht verstanden, was Frauensolidarität bedeutet.»
«Na prima! Nur immer feste draufhauen. Weshalb rufst du eigentlich um diese Zeit an?»
«Aha, der Herr ist schlecht gelaunt! … Irgendjemand hat vor einer halben Stunde den grossen Seher, deinen Lieblingsguru mit dem Turban von TV8, abgemurkst.»
«Arian Nostramo?», hauchte der Kommissär entsetzt.
«Im wirklichen Leben hiess er Adrian Moosmann.»
«Wo?»
«Er liegt tot in der Garageneinfahrt seiner Villa. Eine Nachbarin hat ihn dort gefunden.»
«Wo wohnt er?»
«In Riehen beim Wenkenhof. Standesgemäss, wie es sich für einen Guru gehört.»
Ferrari notierte die Adresse.
«Ich bin in einer halben Stunde mit dem Taxi da.»
«Nicht nötig, du wirst abgeholt. Der Wagen ist schon unterwegs.»
Monika nippte an ihrem Weinglas.
«Du musst noch weg?»
«Ja … Arian Nostramo ist ermordet worden …»
«Eigenartig.»
Ferraris Augen blitzten, seine Laune war auf den Tiefpunkt gesunken.
«Wie meinst du das?»
«Das hätte der Meister doch vorhersehen müssen!»
Ferrari hasste die Übergangszeit vom Herbst zum Winter. Das Wetter war unberechenbar, feucht und kalt. Nichts erinnerte mehr an die leuchtend schönen Farben vergangener Tage, karg und irgendwie verloren wirkte die Vegetation. Nieselregen setzte ein. Ferrari schlug den Kragen seines Mantels hoch, den er unter lautstarkem Protest angezogen hatte. Ich kann es nicht ausstehen, wenn mich Monika wie ein kleines Kind bevormundet. Zugegeben, über den Mantel bin ich froh, Jacke und Pullover hätten nicht gereicht. Im Wohnblock gegenüber stritt sich ein Pärchen am Fenster. Der Kommissär konnte an ihren Gesten erkennen, dass sie eine ziemlich heftige Auseinandersetzung führten. Wenn das nur gut ausgeht. Endlich fuhr der Streifenwagen vor. Ferrari zwängte sich auf den Beifahrersitz.
«Hallo Stephan, wieso holst du mich ab?»
«Ich habe Nachtdienst und bin froh um diese Abwechslung. Schlimme Sache, die da passiert ist.»
Stephan Moser, Kommissär der Fahndung, fuhr durch Birsfelden über die Schwarzwaldbrücke nach Riehen.
«Scheisswetter!»
«Das kannst du laut sagen, Stephan.»
«Es hat zwar auch seine Vorteile. Den Verbrechern scheint es nicht ums Arbeiten zu sein. Meine Leute haben im Moment sehr wenig zu tun.»
Moser hatte den Weg übers Hörnli gewählt und bog am Ende der Rudolf Wackernagel-Strasse nach links in die Bettingerstrasse. Der Wenkenpark war eine grosszügige Parkanlage mit Herrschaftshaus, einem architektonischen Bijou, das ein Industrieller im neunzehnten Jahrhundert errichtet hatte. Eine wirklich schöne Wohngegend, dachte der Kommissär nicht ganz neidlos. Unterhalb des Parks fuhr Moser links in eine Seitenstrasse ein, passierte ein stattliches Tor und parkierte im Hof einer noblen Villa.
«Nicht schlecht! Der wusste, wie man lebt.»
«Jetzt hat er auch nichts mehr davon, Stephan.»
«Ich fahre dann mal wieder zurück. Hat mich gefreut, dich zu chauffieren.»
Peter Strub, der Leiter der Gerichtsmedizin, hatte Scheinwerfer aufstellen lassen. Der Nieselregen verstärkte sich und ging in leichten Graupel über. Nadine stand in der offenen Garage und winkte Ferrari zu.
«Saukälte! Dabei ist es erst anfangs November.»
«Warst du auf einem Ball?»
«Ja, ich wollte mit … das geht dich nichts an. Netter Versuch. So viel kann ich dir verraten, ich war essen, als der Bereitschaftsdienst anrief.»
«Mit Noldi?»
«Nostramo liegt neben seinem Mercedes.»
«Ziemlich vornehm.»
«Die Villa hier? Ja, nichts für arme Leute.»
«Ich meine dein Essen. So, wie du dich in Gala geworfen hast.»
«Das geht dich wirklich nichts an. Sind wir hier, um über meine Dates zu reden oder um einen Mord aufzuklären?»
«Ich glaube nicht, dass wir heute Abend einen Mord aufklären. Oder hat sich der Täter bei dir gemeldet?»
«Ha, ha!»
«Hier, nimm meinen Mantel, sonst holst du dir noch eine Lungenentzündung.»
«Nicht nötig …», sagte sie und mummelte sich schon darin ein. «Der Guru wurde von einer Nachbarin gefunden, sie heisst Anna von Grävenitz. In der Villa ist niemand …»
«Sagtest du Anna von Grävenitz? Wie alt ist diese Frau?», fiel ihr Ferrari ins Wort.
«Etwa in deinem Alter und ein wenig verschroben. Sie ging mit ihren Hunden spazieren und sah, dass die Einfahrt hell erleuchtet war und das Tor offen stand. Anscheinend war das bei Arian oder Adrian Moosmann nicht üblich. Scheint ein ziemlich misstrauischer Kerl gewesen zu sen.»
«Wie kommst du darauf?»
«Wirf einen Blick auf die Alarmanlage. Wer sich so etwas leistet, vertraut niemandem.» Nadine deutete auf den Durchgang von der Garage zum Haus. «Tor und Umzäunung gesichert, Haus gesichert. Das hier ist übrigens nicht die einzige Überwachungsstation. Im ganzen Haus sind solche Bildschirme verteilt, sogar im Schlafzimmer.»
Ferrari sah seine Kollegin fragend an.
«Ich habe mich ein wenig umgeschaut. Reine Neugierde und Langeweile, bis du gekommen bist.»
«Kameras?»
«Das ist interessant. Davon gibts jede Menge. Aber die waren ausser Betrieb. Wahrscheinlich schaltete er sie jeweils ein, wenn er nach Hause kam.»
«Schauen wir uns die Leiche einmal an.»
Peter Strub war mit seinen Leuten an der Arbeit.
«Hallo, Peter.»
«Ciao, Francesco. Scheisswetter.»
«Kann man wohl sagen. Wie weit seid ihr?»
«Ah, der Kommissär ist ein Gentleman. Friert sich selbst einen ab, aber gibt der schönen Kollegin den Mantel. Na ja, wirklich frieren wirst du wohl nicht. Dein Speckgürtel hält dich schön warm.»
«Witzig wie immer.»
«Wir brauchen noch eine halbe Stunde. Willst du den Toten sehen? Keine Angst, er sieht nicht schlimm aus. Wie im Schlaf. Das verkraftet dein zartes Gemüt.»
Nadine kicherte. Sie wusste nur zu gut, dass der Gerichtsmediziner recht hatte. Und wie. Francesco Ferrari, seines Zeichens Kommissär der Basler Polizei, konnte kein Blut und keine Leichen sehen, vor allem keine verstümmelten. Solche Bilder verfolgten ihn noch wochenlang. Strub hob langsam das Leichentuch an.
«Kopfschuss. Sieht aus wie nach einer Hinrichtung.»
Ferrari kniete sich neben ihn hin.
«Brutal und pervers!»
«Was meinst du?»
«Schau dir das an, Nadine. Der Mörder hat ihm Mitten in die Stirn geschossen …»
«Aus allernächster Nähe. Wahrscheinlich sogar ein aufgesetzter Schuss.»
«Und dann faltete er ihm die Hände auf der Brust zusammen wie zum Gebet.»
«Das könnte der Leichenbestatter nicht besser hinkriegen», scherzte Strub.
«Das ist pietätlos, Peter. Hier liegt ein bedeutender Basler und du klopfst wie immer deine blöden Sprüche.»
«Ein bedeutender Basler? Wer zum Teufel ist denn dieser Adrian Moosmann überhaupt? Ich habe seinen Namen noch nie gehört.»
«Arian Nostramo war sein Künstlername.»
«Was!? Das ist dieser Heuchler von TV8? ‹Mein Lieber, was kann ich für dich tun?›», äffte er den Fernsehstar nach.
Nadine musste lachen.
«Was gibts da zu lachen? Er hat den Menschen nur geholfen. Da liegt ein grosser Mann unserer Stadt und ihr habt nichts als zynische Bemerkungen für ihn übrig. Ihr solltet euch schämen.»
«Spinnst du?»
«Er hat Hunderten von Menschen geholfen und irgendein Idiot knallt ihn einfach ab. Es trifft immer die Falschen. Er war selbstlos für jeden da.»
«Und von seiner aufopfernden, selbstlosen Hilfe konnte er sich diese Villa kaufen, die sicher die Kleinigkeit von fünf Millionen kostet. Der gute, nette Arian!»
«Wahrscheinlich wurde er von einem unzufriedenen Kunden gekillt, Nadine. Geld zurück oder du bist tot.»
Ferrari deckte behutsam das Gesicht von Adrian Moosmann wieder zu. Jede seiner Bewegungen verriet grösste Hochachtung und aufrichtigen Respekt.
«Jetzt dreht unser Aushängeschild vollkommen durch. Glaubt er an den Mist, den er verzapft?», fragte Strub leise.
«Jedes Wort! Er ist ein Nostramo-Jünger. Wurde die Waffe gefunden?»
«Im Haus gibt es keinen Waffenschrank. Der Mörder kam bewaffnet. Somit haben wir es mit einem vorsätzlichen Mord zu tun.»
«Worauf wartet ihr noch? Du kannst weitermachen, Peter. Wir schauen uns im Haus um. Komm Nadine», wandte sich der Kommissär an seine Kollegin.
«Was heisst, ich kann weitermachen? Ich mache weiter, wann ich will. Nur, weil der Herr Kommissär in Trauer ist, braucht er nicht seinen arroganten Schickimickiton rauszuhängen.»
«Wie meinst du das?», Ferraris Ton klang gefährlich.
«Genau so, wie ich es sage. Ihr Italiener seid schon ein komisches Völkchen. Wundert mich nicht, dass du den Quatsch von diesem Arian glaubst. Ihr rennt doch jedem Wunderheiler nach und betet dazu tausend Ave Marias.»
«Ich bin Basler und kein Italiener, du gehirnamputierter Trottel!»
«Das nimmst du jetzt sofort zurück.»
«Nun hört endlich auf damit. Deine Leute finden das richtig lustig, Peter.»
«Er soll das zurücknehmen, Nadine. Und zwar sofort.»
Ferrari drehte sich um und liess die beiden einfach stehen.
«Das ist der richtige Fall für dich, Salami-Araber! Da bist du doch zu Hause, bei den Mehrbesseren.»
«Es ist jetzt genug, Peter. Francesco hat es nicht so gemeint. Du provozierst ihn aber auch jedes Mal.»
«Das habe ich nicht.»
«Sehr wohl.»
«Ist klar, dass du zu ihm hältst. Vielleicht stimmt es ja, was man so munkelt.»
«Was und wer munkelt?»
«Ach, es gibt da so einige pikante Details, die man …»
Weiter kam er nicht.
«Hör zu, Peter! Wenn du damit sagen willst, dass Francesco und ich zusammen schlafen, dann kann ich es dir nur bestätigen. Jeden Tag. Wir treibens bei ihm auf dem Bürotisch und ab und zu sogar bei Borer auf der Polstergruppe. Natürlich nur, wenn er nicht da ist.»
«Ich … ich wollte …»
«Und jetzt wäre es wirklich gut, wenn du deine Arbeit wieder aufnehmen würdest.»
Nadine folgte Ferrari ins Haus.
«Hast du was? Du wirkst ziemlich sauer.»
«Es ist nichts. Nur, dass wir zusammen bumsen. Bei dir auf dem Tisch, täglich, und ab und zu bei Borer auf der Couch.»
«Das ist mir neu und ich müsste es ja eigentlich wissen, oder?»
«Vergiss es! Schauen wir uns das Haus an?»
«Wird wohl nicht allzu viel bringen.»
«Sorry, ich will das Ganze nicht ins Lächerliche ziehen. Aber schau dich hier um, aussen und innen alles vom Feinsten. Dein Guru ist kein selbstloser Heiliger gewesen, denn damit kann man sich keine Villa dieser Güteklasse kaufen. Moosmanns Gott war der Mammon.»
Ferrari seufzte.
«Eine solche Diskussion hatte ich heute schon.»
«Die Ihr-seid-beide-Spinatwachteln-Diskussion?»
«Ja, ich meine nein. Das habe ich nicht gesagt.»
«Freie Interpretation von Monika.»
«Ach, lassen wir das, Nadine. Gehen wir lieber durchs Haus und besuchen dann Anna von Grävenitz.»
Die Spurensicherung hatte einige Gläser eingepackt, einen Aschenbecher in eine Tüte geleert und zwei Teller samt Besteck mitgenommen. Die Einrichtung der Villa war vollkommen in weiss gehalten. Die Eingangspartie, eher eine Eingangshalle, ging über in eine grosszügige Wohnlandschaft mit Wintergarten. In der oberen Etage befanden sich mehrere Schlafzimmer, jedes mit direktem Zugang zum eigenen Badezimmer.
«Da lässt es sich wohnen. Beinahe noch eine Spur schicker als bei Olivia Vischer.»
«Mir ist das hier alles zu steril. Die Inneneinrichtung zeugt zwar von Geschmack, aber wohnlich oder gar gemütlich ist es nicht. Das hier sind nur die Gästezimmer. Mach mal die Tür dort hinten auf.»
Das Schlafzimmer des Hausherrn war mehr als beeindruckend. Ein gigantisches Bett, eine Bar und ein extrem grosser Fernsehapparat gehörten zu den Highlights. Ferrari verschlug es kurzerhand die Sprache.
«Im Bad ist auch alles vom Feinsten. Schwarze Schieferplatten am Boden und ein Whirlpool, in dem du problemlos eine kleine Orgie feiern kannst. Wenn du dich sattgesehen hast, gehen wir noch in den Keller.»
«Wahnsinn! Das muss ein Vermögen kosten.»
«Bestimmt. Kommst du?»
Nadine rannte die Treppe hinunter und versetzte Strub, der in der Eingangspartie stand, absichtlich einen kräftigen Stoss.
«Sorry, ich konnte nicht mehr bremsen», flunkerte sie mit einem spöttischen Lächeln.
Ohne seine Antwort abzuwarten, ging Nadine weiter, während Ferrari am Treppenabsatz stehen blieb.
«Deine Bemerkung über Nadine und mich werde ich mir merken, Peter», zischte Ferrari, als er an ihm vorbeiging.
«Getroffene Hunde bellen!», höhnte Strub hinterher.
Ferrari blieb stehen und drehte sich um.
«Wie war das?» Er ging auf Strub zu, der unwillkürlich bis zur Wand zurückwich. «Was hast du gesagt?»
Nadine, die bereits im Keller gewesen war, kam zurück und zerrte ihren Chef mit sich.
«Komm, Francesco! Ich will dir den Keller zeigen.»
Der Kommissär riss sich los.
«Nur noch zehn Sekunden, Nadine, dann komme ich. Aber zuerst prügle ich unserem Gerichtsmediziner seine schlechten Gedanken aus dem Kopf.»
«Das wagst du nicht!», entgegnete Strub, aber so ganz fehlte ihm der Glaube.
Nadine warf sich zwischen die Streithähne. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, denn wenn Ferrari vor Wut kochte, war guter Rat teuer.
«He Kurt, hilf mir!»
Doch Kurt Mahrer, Peter Strubs Assistent, machte keinerlei Anstalten zu helfen.
«Für kein Geld auf der Welt, Nadine. Wenn Francesco durchdreht, will ich nicht unter die Räder kommen. Das soll Peter mit ihm allein ausmachen.»
Ferrari hatte sich inzwischen einigermassen beruhigt und liess sich von Nadine zum Kellereingang führen. An der Tür drehte sich der Kommissär nochmals um.
«Glaub nur nicht, dass die Geschichte schon gegessen ist. Ich hole morgen Mittag den Obduktionsbericht persönlich ab. Dann sprechen wir uns unter vier Augen.»
«Nun, wie gefällt dir der kleine Pool, Rowdy!»
«Wow! Das sind ja dreissig Meter.»
«Und hinten befinden sich die Wohlfühloasen mit Sauna, Dampfbad, Solarium und Massagebetten. Und jetzt erzähl mir nochmals das Märchen vom lieben Arian im Dienste der Menschheit.»
«Du ziehst voreilige Schlüsse. Reichtum heisst noch lange nicht, dass er kein guter Mensch gewesen ist.»
«Du bist unverbesserlich! Und erst noch ein sturer Bock.»
Ferrari lächelte.
«Wir werden im Laufe der Ermittlungen ja sehen, wer von uns recht bekommt. Wollen wir wetten? Ich behaupte, dass Arian ein guter Mensch gewesen ist, und du behauptest, dass er ein verkommenes Subjekt war. Einverstanden? Wer verliert, muss den anderen zu einem Essen ins ‹Les Trois Rois› einladen. Da war ich nämlich noch nie.»
«Die Wette gilt!»
Ferrari musste niesen.
«Du hast dich erkältet. Kein Wunder, du läufst ohne Mantel rum und das ist ganz allein meine Schuld», säuselte Nadine.
«Dummes Zeug! Ich trage ja noch das Jacket und den Pullover drunter.»
«Oh, der Herr Kommissär mimt den Starken. Wie süss!»
Ferrari nieste erneut. Sauwetter, verfluchtes! Womöglich hatte Nadine ins Schwarze getroffen und bei seinem Glück mutierte diese Erkältung noch zu einer Lungenentzündung. Nadine musste lachen.
«So schlimm wirds nicht werden. Noch lebst du, Francesco. Nach zweimaligem Niesen steht man noch lange nicht am Rande der Grube. Männer und ihre Krankheiten …»
Nadine und Monika lesen in mir wie in einem offenen Buch! Sie sind eben doch gleich. Themenwechsel.
«Genug gesehen, Nadine. Besuchen wir Anna von Grävenitz. Wo wohnt sie?»
«In der Villa nebenan. Wahrscheinlich so ähnlich wie die hier. Du kennst sie?»
«Flüchtig.»
Der Nieselregen hatte aufgehört. Immerhin. Doch die düstere Stimmung blieb. Wortlos wurde Adrian Moosmanns Leiche abtransportiert. Ferrari spürte für einen Sekundenbruchteil eine unbeschreibliche Traurigkeit. Es war diese Endlichkeit, das Unausweichliche, das einem in solchen Momenten bewusst wurde. Einmal mehr. Ja, ich habe Angst vor dem Tod, gestand sich Ferrari kleinlaut ein. Keiner weiss, was kommen wird, auch wenn viele es zu wissen glauben. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte es auch, an ein besseres Leben im Jenseits glauben. So viel einfacher würde das Leben auf Gottes Erden. Aber mit dem Glauben ist es wie mit der Liebe. Beide lassen sich nicht erzwingen.
«Hallo Francesco, bist du noch da?»
«Ja, klar … Weisst du … Es tut mir leid, dass unsere Kollegen so über uns tuscheln, Nadine.»
«Dafür kannst du nichts. Schliesslich verbringen wir teilweise Tag und Nacht miteinander. Da kann man schon auf solche Gedanken kommen.»
«Ich zerlege Peter morgen in seine Einzelteile.»
«Er wird dich nicht allein empfangen», lachte Nadine. «Ich komme aber zur Sicherheit mit. Peter ist in Ordnung, aber er weiss nicht, wann er mit seinen zynischen Sprüchen zu weit geht. Ich mag ihn, im Gegensatz zu unserem Staatsanwalt.»
«Ist das das Haus von Anna?»
«Genau. Auch nicht schlecht.»
«Wie war übrigens dein Abend?»
«Gut. Bis zum Anruf aus der Zentrale. Ich war mit … He, nice try! Beinahe wäre ich darauf reingefallen.»
Ferrari verzog das Gesicht und überhörte die Bemerkung von Nadine, dass alte Männer übermässig neugierig seien.
Obwohl es schon kurz vor Mitternacht war, wartete Anna von Grävenitz auf sie. Ferrari küsste sie auf beide Wangen.
«Lang, lang ists her, Francesco.»
«Darf ich dir meine Kollegin Nadine Kupfer vorstellen?»
«Freut mich sehr. Kommt rein. Trinkst du noch immer nach zehn Uhr abends keinen Kaffee, Francesco?»
«Heute schon.»
«Setzt euch ins Wohnzimmer. Immer geradeaus.»
«Flüchtige Bekannte?», flüsterte Nadine Ferrari ins Ohr, dem das Ganze sichtlich peinlich war.
Anna von Grävenitz’ Villa hielt dem Vergleich mit jener von Adrian Moosmann durchaus stand. Nur in einem Punkt unterschied sie sich deutlich, sie war sehr wohnlich eingerichtet. Man spürte Wärme und Behaglichkeit, ja sogar eine gewisse Geborgenheit.
«Setzt euch. Tja, Francesco, so sieht man sich wieder.»
Der Kommissär rührte in seiner Kaffeetasse herum.
«Wissen Sie, Nadine, wir kennen uns schon lange.»
«Das interessiert Nadine nicht, Anna.»
«Oh doch! Das interessiert Nadine sogar sehr! Sind Sie zusammen aufgewachsen?»
«Ganz richtig, Haus an Haus im Kleinbasel. Im Horburgquartier, um es genau zu sagen. Francesco ist einige Jahre jünger als ich. Ich brachte ihm sozusagen das Laufen bei.»
Anna von Grävenitz schmunzelte verschmitzt.
«Das Laufen beigebracht? Ich verstehe nicht.»
«Das gehört auch nicht hierher. Anna, kannst du bitte …»
«Na, junge Frau, Sie wissen schon. Ich habe Francesco in die Liebe eingeführt.»
Nadine musste laut lachen.
«Sie waren seine Lehrerin in Sachen Sex?»
«Nur kurz. Ich habe ihn entjungfert. Das war schon eine schöne Zeit, nicht wahr?»
«Ja, ja … schon gut, Anna. Können wir jetzt bitte das Thema …?»
«Und, wie war er?»
«Nadine!»
«Man hört ja viel von seinen Qualitäten als Kommissär, aber im Bett war der Kleine eine totale Niete. Ein Rohrkrepierer. Er …»
«Jetzt ist es aber genug, Anna! Wenn ihr weiter so über mich redet, gehe ich.»
«Das hat er damals schon nicht verkraftet, Nadine. Ich sagte ihm, Junge, du bringst es nicht. Ich habe dir jetzt gezeigt, wie es geht. Das wärs. Denn so einen wie dich kann ich nun wirklich nicht auf Dauer gebrauchen.»
Nadine krümmte sich vor Lachen, japste nach Luft und wischte sich die Tränen aus den Augen.
«Gut! Wie ihr wollt, jetzt gehe ich! Ihr könnt ja weiter über mich lästern. Viel Vergnügen.»
«Ach, nun hab dich nicht so, Francesco. Wie lange arbeitest du schon mit dem Kerl zusammen, Nadine?», fragte Anna von Grävenitz, die ins vertrauliche Du übergegangen war.
«Das sind jetzt schon einige Jahre.»
«Und, treibt ihrs miteinander?»
«Anna!»
«Nein. Francesco ist nicht mein Typ.»
«Na, na, Mädchen, wenn das mal die Wahrheit ist. Aber lassen wir es so im Raum stehen. Monika ist ein ähnlicher Typ wie du.»
«Woher kennst du Monika?», schaltete sich der Kommissär wieder ein.
«Wir trafen uns auf einer Party bei Olivia.»
«Und da hast du ihr sicher gleich brühwarm erzählt, dass wir ein Paar waren.»
«Aber natürlich. Wir amüsierten uns köstlich. Wobei, ehrlich Francesco, ein Paar waren wir nie. Ich habe dich einige Male vernascht, das war alles. Mein seliger Mann und ich, wir waren ein Paar, ein ganz wunderbares sogar», Anna von Grävenitz geriet ins Schwärmen, «er war mein Traummann. All das hat er mir hinterlassen.»
«Du lebst hier allein?»
«Gott bewahre! Mit einem Heer von Angestellten. Und ich gehe mindestens zwei Mal in der Woche aus und amüsiere mich. Das Leben ist viel zu kurz, um zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen.»
«Wahrscheinlich ist dein Mann im Bett an einem Herzinfarkt gestorben», brummte der sichtlich genervte Ferrari.
«Das war jetzt aber ein Schlag unter die Gürtellinie, Francesco!»
«Ach, lass ihn nur, Nadine. So ganz unrecht hat er nicht einmal. Wir waren in St. Moritz im Urlaub. Ski fahren. Ziemlich gut drauf. Bei einer Waldhütte ist es über uns gekommen. Du weisst schon … Er übernahm sich. Die Anstrengung vom Skifahren, die Kälte in der Hütte und der Sex. Das war etwas zu viel für ihn. Er war ja auch zwanzig Jahre älter als ich. Das ist jetzt … rund fünf Jahre her. Seither lebe ich allein. So einen wie ihn finde ich nicht mehr. Intelligent, smart, gut aussehend, witzig, sexy und sehr potent.»
«Gut! Das wäre es jetzt endgültig. Können wir noch ein wenig über den Mord an Adrian Moosmann plaudern? Sonst würde ich gern ein Taxi bestellen und nach Hause fahren. Ich bin müde und friere.»
«Ganz wie du willst, Francesco», flötete Anna von Grävenitz.
«Du hast den Toten gefunden?»
«Ja, ich war mit meinen Hunden spazieren.»
Nadine suchte vergeblich nach den Tieren.
«Sie schlafen oben auf dem Teppich vor meinem Bett. Ich bin zum Wenkenpark rauf. Das ist meine alltägliche, oder besser, meine allnächtliche Tour. Es klingt vielleicht komisch, aber ich hatte auf meinem Weg zum Park schon das Gefühl, einen Knall zu hören. So wie ein Auspuff oder eben wie ein Schuss. Auf dem Rückweg kam ich an Arians Haus vorbei. Ich sah, dass das Tor offen stand.»
«War das nicht üblich?»
«Der junge Mann lebt … lebte ziemlich zurückgezogen. Der Elektriker, der bei uns die Alarmanlage installierte, nicht, weil ich Angst vor einem Überfall habe, sondern weil es die Versicherung wegen der Kunstsammlung so verlangte, also dieser Elektriker hat drüben bei Arian auch eine Alarmanlage eingebaut. Er erzählte, dass das Haus nur so mit Kameras und Alarmanlagen gespickt sei. Wie waren noch seine Worte? Ah ja, der braucht ein eigenes Kraftwerk für all seine Alarmanlagen. Anscheinend glaubte er nicht so ganz an seine eigenen Liebesbotschaften.»
«Kanntest du ihn gut?»
«So, wie sich Nachbarn halt kennen. Er gehörte zu einer anderen Generation. Nicht nur vom Alter her, Francesco. Seine ganze Einstellung war mir viel zu sektiererisch.»
«Aber sein Lebensstil war offensichtlich eher extravagant.»
«Die Villa vermachte ihm der alte Hauser.»
«Der Kaufhauskönig?»
«Ja. Hauser war einer seiner grossen Anhänger. Arian ging bei ihm ein und aus. Der alte Herr schlug seiner Familie dann beim Testament ein Schnippchen. Clever, sehr clever. Zu Hauser hatte ich einen guten Kontakt.»
«Was für ein Schnippchen?»
«Er vermachte Arian das Haus und noch einiges mehr und liess im Testament eine Klausel einfügen, die vorsah, dass das gesamte Vermögen in eine Stiftung fliessen würde, sollten die Töchter gegen seinen letzten Willen vorgehen. Das war wohl überzeugend. Auf jeden Fall verzichteten die beiden lieber auf das Haus und einige Millionen, als sich mit dem Pflichtteil abfinden zu müssen.»
«Es sind ja sicher noch einige Franken übrig geblieben.»
«Das kann man so sagen. Und seither, das war vor etwa drei Jahren, lebt Arian in der Villa Hauser. Er liess das Haus umbauen. Das Interieur, ums genau zu sagen. Alles in weiss, absolut schrecklich. Wie im Spital.»
«Fanden bei ihm Partys statt?»
«Wenige bis gar keine. Ab und zu kamen irgendwelche Freunde zu Besuch. Den einen oder anderen kenne ich aus den Fernsehsendungen. Aber so richtig wie ein Guru, mit einer Schar junger Mädchen, die er alle schwängert, lebte er nicht. Enttäuschend! Er war ein introvertierter Jüngling und lebte eher zurückgezogen.»
«Das Tor stand also offen. Da bist du einfach reinspaziert? Hattest du keine Angst?»
«Angst?» Sie pfiff kurz zwei Mal. Auf der Treppe hörte man Getrampel und innert weniger Sekunden hatten sich zwei mächtige, Zähne fletschende Dobermänner vor Ferrari aufgebaut. «Schon gut. Debbie, Harry! Platz. Das ist ein Freund.»
Die Hunde legten sich links und rechts neben ihre Herrin, behielten aber den Kommissär im Auge, der seine Füsse hochgezogen hatte.
«Frage beantwortet? Du kannst jetzt deine Schuhe wieder runternehmen. Du machst mir meine Couch kaputt.»
Vorsichtig setzte Ferrari das eine Bein auf den Boden, dann das andere.
«Haben die Hunde Arian entdeckt?»
«Ja, Debbie. Er lag friedlich da, allerdings mit einem Loch im Kopf.»
«Und vom Mörder haben deine Hunde keine Witterung aufgenommen?»
«Harry hat kurz angegeben, aber ich habe mir nichts dabei gedacht.»
Ferrari erhob sich und gähnte.
«Ich bin müde. Ich muss ins Bett.»
«Er ist halt nicht mehr der Jüngste, dein Partner. Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen, Nadine. Und wenn du mehr über Francesco wissen willst, du weisst ja, wo du mich findest.»
Ferrari verliess fluchtartig das Haus.
«He! Warte auf mich, Francesco. Soll ich dich nach Hause fahren?»
Das fehlt mir gerade noch. Was für ein Abend! Dabei fing alles ganz gemütlich mit meiner Lieblingssendung an. Dann folgte Schlag auf Schlag: die unsägliche Diskussion mit Monika, der tragische Mord an DEM bedeutenden Hellseher Arian Nostramo, eine Jugendliebe, die sich mit meiner Kollegin über meine Potenz unterhält, zwei Hunde, die mich zerfleischen wollen, und zum krönenden Schluss bin ich dazu verdammt, mit einer Spinnerin in ihrem Porsche durch die Gegend zu rasen. Der helle Wahnsinn!
«Du kannst auch ein Taxi nehmen!»
«Nein, nein! Schon gut. Ich bin froh, wenn du mich nach Hause fährst.»
Zwanzig Minuten und ein überfahrenes Rotlicht später, weil es um diese Zeit keine Ampeln mehr brauche, wie ihr überaus schlüssiges Argument lautete, stoppte Nadine vor seinem Haus.
«Monika ist sicher noch wach. Kommst du auf einen Kaffee mit rein?»
«Gerne.»
Ferrari schleppte sich niesend und fröstelnd die Treppe hoch. Ab ins warme Bett, aber schnell. Ich habe mir eine Lungenentzündung geholt. Es geht mir vielleicht wie dem verstorbenen von Grävenitz, Nässe, Kälte, bloss kein Sex! Tja, das war der Unterschied. Hoffentlich nicht der einzige … Im Halbschlaf hörte er, wie sich Monika und Nadine köstlich amüsierten. Wahrscheinlich über mich, über meine Potenz und über die dämlichen, alten Geschichten mit Anna! Weiter kam er nicht, friedlich sank er ins Reich der Träume.
Staatsanwalt Jakob Borer goss seine Pflanzen.
«Ah … schön, dass Sie kommen konnten, Ferrari. Treten Sie ein. Ah, ich sehe, Ihr … Ihre Kollegin ist auch dabei. Nehmen Sie bitte Platz.»
Ferrari schaute mürrisch zu Nadine.
«Sie sehen bleich aus, Ferrari.»
«Es ist gestern spät geworden.»
«Und das Wetter ist auch nicht besonders gut. Hoffentlich haben Sie sich dort oben auf dem Hügel in Riehen nicht erkältet. Dort ziehts immer unheimlich.»
Der Kommissär bekam urplötzlich Gänsehaut.