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In Kleinhüningen haben sich auf dem Gelände des Immobilientycoons Gerhard Rufener Fahrende niedergelassen. Waren es zu Beginn nur wenige, gesellten sich im Laufe der Zeit auch Querdenker, Alternative und Aussteiger hinzu. Doch die vermeintliche Idylle ist bedroht, denn Rufener plant auf seinem Gelände Luxuswohnungen. Eine Zwangsräumung steht kurz bevor. Während sich die Polizei auf ihren Einsatz vorbereitet, wird Rufeners Tochter tot in den Langen Erlen aufgefunden. Steht der Mord im Zusammenhang mit der Besetzung? Für den Immobilienmagnaten ist der Fall mehr als klar. Öffentlich beschuldigt er die Besetzer des Mordes und setzt eine Belohnung von einer Million Franken auf die Ergreifung des Täters aus. Eine unbarmherzige Hetzjagd beginnt. Im Umfeld von Verdächtigungen, Hass und Intrigen ermitteln Kommissär Francesco Ferrari und seine Kollegin Nadine Kupfer. Das bewährte Duo versucht mit allen Mitteln, eine drohende Eskalation zu verhindern, und blickt immer tiefer in menschliche Abgründe …
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Seitenzahl: 283
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Anne Gold
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Lektorat: Claudia Leuppi
Gestaltung: Bernadette Leus, www.leus.ch
Illustration: Tarek Moussalli
eISBN 978-3-7245-2252-2
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2230-0
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird
vom Bundesamt für Kultur mit
einem Strukturbeitrag für die Jahre
2016–2020 unterstützt.
www.reinhardt.ch
www.annegold.ch
Liebe besteht nicht darin, dass man einander anschaut,sondern dass man gemeinsam in dieselbe Richtung blickt.
Antoine de Saint-Exupéry
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kommissär Francesco Ferrari zupfte an den Vorhängen im Wohnzimmer. Trübes Wetter. Nasskalt. Genau passend zu meiner Stimmung. Hoffentlich ist die kalte Jahreszeit bald vorbei. In den Bergen gehts ja gerade noch, da ist der Winter noch Winter. Weite weisse Landschaften, sanft geschwungene glitzernde Hügel, schneebedeckte Tannen und unberührte Schneefelder vor dunkelblauem Himmel – einfach traumhaft. Ganz anders in Basel. Hier bricht bei Schneefall in kürzester Zeit der Verkehr zusammen und das Stadtleben mutiert zum Albtraum. Na ja, von Schnee kann eigentlich gar nicht die Rede sein, denn das anfängliche Weiss verwandelt sich zusehends in braunen Matsch. Und dann überall das Salz! Kaum fallen nämlich die ersten Schneeflocken, rennen die Idioten aus ihren Häusern, schaufeln die Trottoirs frei, kratzen beinahe den Belag ab und salzen, was das Zeug hält. Entsprechend sehen auch meine Schuhe aus. Puma, die kleine schwarze Katze der Nachbarin, strich um Ferraris Füsse. Sie gehörte inzwischen ganz offiziell zur Familie, nachdem die alte Frau ins Altersheim ziehen musste. Der Kommissär öffnete die Tür zum Garten, doch Puma schien unentschlossen.
«Entscheide dich! Entweder rein oder raus, aber nicht auf der Schwelle stehen bleiben … Na los, mach schon. Es ist kalt.»
Puma setzte vorsichtig eine Pfote in den Schnee, schüttelte sie, zog die drei anderen Pfoten behutsam nach und schlich wie auf Zehenspitzen einige Meter ins Freie. Na, geht doch. Kaum gedacht, drehte sie sich um und rannte blitzschnell ins Haus zurück.
«Spinnst du, Francesco!», rief Monika, Ferraris Lebenspartnerin.
«Was? Wieso?»
«Schau dich um, Puma versaut mir den ganzen Teppich. Wie viele Male muss ich dir noch sagen, dass du sie abreiben sollst, vor allem die Pfoten?!»
«Es ging alles so schnell, ich hatte absolut keine Chance. Ich dachte, sie will ins Freie. Aber plötzlich dreht sie um und flitzt an mir vorbei ins Haus. Kein Wunder, bei der Saukälte.»
«Denken ist Glückssache. Hier, fang. Reib sie mit dem Tuch ab.»
«Das wird jetzt wohl auch nicht mehr viel bringen», brummte der Kommissär.
«Was meinst du?»
«Nichts, schon gut.»
Ferrari setzte sich aufs Sofa und fuhr Puma, die genüsslich schnurrte, mit dem Handtuch durchs Fell. Du bist eine kleine Geniesserin. Nur das mit dem Pfotenabreiben müssen wir noch ein wenig üben. Wahrscheinlich kitzelt sie das. Nach dem dritten Versuch fuhr Puma die Krallen aus. Gut, dann lassen wir das lieber, bevor du mir die Hand zerkratzt. Der Kommissär warf sich das Handtuch über die Schulter und hing erneut seinen trüben Gedanken nach. Dieses Mal fiel ihm ein Kissen zum Opfer.
«Du musst es nicht erwürgen, das Kissen kann nichts dafür», kommentierte Monika schmunzelnd.
«Muss es denn wirklich Oxford sein?»
«Es sind nur sechs Wochen, Francesco. Und unsere Tochter wohnt bei einer Familie, Nikki ist also nicht allein. Du kannst jeden Tag mit ihr telefonieren.»
«Das will sie bestimmt nicht.»
«Stimmt. Mein Gott! Was soll das Theater? Hallo! Es ist nur ein Sprachaufenthalt.»
«Aber warum gerade in England? Sie könnte auch ihr Französisch aufpolieren, zum Beispiel in Colmar oder in Strassburg.»
«Nur will sie das nicht. Englisch ist angesagt. Und komm mir bloss nicht damit, sie sei noch zu klein für das gefährlich grosse Oxford. Ganz zu schweigen von London.»
«Hm.»
«Nikki ist erwachsen, sie muss sich von uns abnabeln. Du kannst dein kleines Mädchen nicht länger in Watte packen.»
«Ja, ja. Ich halte mich zurück.»
«Und leidest still vor dich hin.»
«Wenn ich mir vorstelle … ich will es mir gar nicht vorstellen.»
Ferrari verpasste dem Kissen eine gestreckte Gerade.
«Zudem, sie fliegt nicht mal allein. Ihre Freundin Rahel ist dabei. Zwei junge Frauen mit Handys in der Tasche, die jederzeit den grossen, starken Mann anrufen können.»
Ferrari griff in seine Hosentasche. Irritiert blickte er um sich.
«Es liegt draussen im Flur.»
Gut. Ab sofort werde ich mein Handy rund um die Uhr auf mir tragen und den Rufton auf die maximale Lautstärke stellen, damit Nikki mich auch jederzeit erreichen kann.
Es klingelte an der Haustür und kurz darauf stand Nadine Kupfer, Ferraris Kollegin, im Wohnzimmer.
«Störe ich? Ehekrieg?»
«Ich versuche seit einer halben Stunde, Francesco zu beruhigen.»
«Wegen Nikki?»
«Du hast es erraten. Er macht sich Sorgen wegen der Gefahren, die im Sündenbabel London und Oxford auf Nikki und ihre Freundin warten.»
«Oxford ist nun nicht gerade eine Weltstadt. Da geht wohl kaum die Post ab.»
«Aber London ist nicht weit weg. Zudem wimmelt es in Oxford nur so von Studenten.»
«Ein logischer Einwand. Was spricht gegen die Studenten?»
«Muss ich dir das wirklich erklären? Am Tag studieren sie ein wenig und in der Nacht lassen sie den Bären raus.»
«Och, wie herzig! Papa fürchtet sich davor, dass sein Töchterchen verführt werden könnte. Von so einem nichtsnutzigen englischen Studenten.»
«Nein … ich meine, ja … es … nun, es könnte doch sein …»
«Jetzt hör aber auf mit dem Quatsch. Da gehören immer noch zwei dazu.»
«Ich würde mir keine Sorgen machen, wenn Nikki so wäre wie ihr», brummte der Kommissär.
«So wie wir?!», klang es gefährlich im Duett.
«Ihr seid selbstbewusst und wisst euch zu wehren.»
«Du meinst im Klartext, wir sind zwei Emanzen mit Haaren auf den Zähnen.»
Puma unterbrach ihre Fellpflege und schien gespannt der Unterhaltung zu lauschen.
«Das habe ich nicht gesagt, Monika.»
«Aber gedacht.»
«Ich sagte lediglich, dass ihr selbstbewusster seid. Mehr nicht.»
«Blödsinn! Deine Aussage ist eindeutig – wir sind emanzipierte Hyänen, gefürchtete Amazonen, vor denen jeder Mann Reissaus nimmt.»
«Nun hör aber auf, Monika.»
«Steh doch wenigstens zu deiner Meinung. Schau ihn dir an. Klammert sich am Kissen fest und jammert vor sich hin.»
Der Kommissär liess das Kissen los.
«Also wenn ihrs genau wissen wollt – manchmal könnt ihr mir schon ganz gewaltig auf den Nerv gehen. Mit eurer selbstgerechten Wir-mischen-die-gottverdammte-Männerwelt-auf-Art.»
«Nur weiter, Francesco. Oute dich.»
Pumas Schwanz bewegte sich immer schneller hin und her.
«Es gefällt euch, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe. Aber dieses Mal gebe ich nicht nach, ich werde die Reise für Nikki bis ins letzte Detail organisieren. Sie soll am Flugplatz von einem Taxi abgeholt werden, das sie direkt nach Oxford bringt.»
«Spinnst du?!»
«Noch besser. Ich rufe Olivia an. Sie soll ihren Privatjet rausrücken. Gibt es in Oxford einen Flugplatz?»
«Drehst du jetzt vollkommen am Rad, Ferrari?»
«Das ist es! Ah … ich sehe es euch an. Ihr vermasselt mir die Tour. Gut, dann lassen wir das mit Olivia. Ich frage Agnes Vischer. Die könnt ihr nicht einfach so einlullen, die hält zu mir.»
«Komm, Nadine. Wir trinken einen Kaffee in der Küche, bis sein Kreativschub vorbei ist. Das kann höchstens Stunden dauern.»
«Vielleicht stellt mir Agnes sogar einen ihrer Bodyguards zur Verfügung.»
«Das wird Nikki sicher gefallen», wandte Nadine ein.
«Es muss ja nicht offiziell sein. Ich stelle mir eine diskrete Überwachung vor.»
«Ein Undercoveragent.»
«Genau. Jemand, der mir täglich berichtet, wie es Nikki geht, und der natürlich in ihrer Nähe wohnt. Agnes wird das gerne für mich organisieren.»
«Geniale Idee. Monika hat übrigens recht.»
«Womit?»
«Dass du nicht mehr alle Ziegel auf dem Dach hast.»
«Aber …»
In diesem Moment öffnete sich die Haustür. Vollkommen verstört trat Nikki ein und warf sich ihrer Mutter schluchzend an den Hals. Ferrari sah seine Partnerin entsetzt an.
«Setz dich erst mal, mein Liebling», flüsterte Monika und führte ihre Tochter zum Sofa.
«Mam … es ist etwas … ganz Schreckliches passiert.»
Es klingelte.
«Ich geh schon», bot Nadine ihre Hilfe an.
Lisa und Thomas Hänggi, zwei Nachbarn, stürmten ins Wohnzimmer.
«Entschuldigt unseren Überfall. Wisst … wisst ihr es schon? Hat es euch Nikki erzählt?»
«Nein … sie ist soeben gekommen. Setzt euch doch bitte an den Tisch. Was ist passiert?»
«Rahel liegt auf der Intensivstation!»
«Was?!», entfuhr es Ferrari und Monika im Chor.
Nadine hatte sich zu Nikki gesetzt, die sich langsam erholte.
«Wir … wir waren zusammen in der Stadt. Wir wollten noch einige Sachen einkaufen … für Oxford.»
Der Kommissär verzog das Gesicht, was ihm einen bösen Blick von Monika eintrug.
«Beim Bankverein sind wir in eine Demonstration geraten.»
«So viel ich weiss, sind heute irgendwelche Spinner unterwegs, die für freien Wohnraum kämpfen. Die Demo ist bewilligt», kommentierte Ferrari.
«Es waren auch nur wenige, die liefen mit Transparenten an uns vorbei. Plötzlich tauchten Vermummte auf. Ich weiss nicht einmal, woher die gekommen sind. Sie kreisten die Demonstranten ein und gingen auf sie los.»
«Und dann auf euch?»
Ferraris Stimme zitterte. Der gefährliche Unterton war niemandem entgangen.
«Nein. Wir rannten weg und brachten uns unter den Arkaden am St. Alban-Graben in Sicherheit.»
«Und die Polizei?»
«Es waren nur ganz wenige Polizisten da. Vielleicht vier oder fünf. Sie stellten sich schützend vor uns, doch sie konnten nicht dagegenhalten. Einer forderte Verstärkung an.»
«Und dann?»
«Die Vermummten grölten und schlugen auf die Demonstranten ein. Und dann …»
Nikki begann wieder zu weinen. «Dann … dann lachten sie die Polizisten aus und bewarfen uns mit Schneebällen. Einer davon traf Rahel am Kopf. Sie … sie fiel um. Ich wollte ihr aufhelfen, aber …»
Ferrari sah hilflos zu Monika und Nadine.
«Es war kein Schneeball», berichtigte Thomas Hänggi mit trauriger Stimme. «Es … es war ein Golfball. Rahel wurde mit voller Wucht am Kopf getroffen. Die nächsten Stunden sind entscheidend. Wir holen rasch einige Sachen zu Hause und dann werden wir abwechselnd bei ihr wachen und beten. Gott wird uns erhören.»
«Ich bin mit Rahel im Krankenwagen ins Spital gefahren», flüsterte Nikki. «Wer tut so etwas, Mam? Was sind das für Menschen?»
Ferrari setzte sich an den Tisch. Die vermeintlichen Sorgen wegen Oxford schienen weit entfernt und so nichtig. Es gibt Momente, da schlägt das Leben unbarmherzig zu.
«Lisa … Thomas … ich weiss nicht, was ich sagen soll.»
«Schon gut, Francesco.» Lisa legte ihre Hand auf Ferraris Arm. «Schon viele Male waren wir in ähnlichen Situationen, nur betraf es bisher nie uns selbst.»
Der Kommissär nickte. Lisa war Pfarrerin in Basel, Thomas arbeitete als Spitalseelsorger. Leid, traurige Schicksale, menschliche Abgründe in den unterschiedlichsten Facetten waren ihnen bestimmt nicht fremd.
«Wir müssen jetzt auf Gott vertrauen. Mit seiner Hilfe wird unsere Rahel wieder gesund.»
«Wenn … wenn wir etwas tun können …», entgegnete der Kommissär irritiert.
«Wir werden mit unseren Kollegen sprechen», unterbrach Nadine ihren Chef. «Vielleicht verfolgen sie bereits eine Spur.»
«Danke, Frau Kupfer, aber das ist nicht so wichtig. Viel wichtiger ist, dass Rahel wieder gesund wird. Der Herr auferlegt uns eine Bürde, er prüft uns. Wir werden daran wachsen.» Thomas Hänggi erhob sich andächtig und wandte sich Nikki zu. «Danke, dass du bei Rahel geblieben bist. Du bist eine sehr gute Freundin.»
Monika begleitete ihre Nachbarn zur Tür und brachte dann Nikki in ihr Zimmer, sie hatte nur den Wunsch zu schlafen. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sie sich wieder zu Ferrari und Nadine ins Wohnzimmer.
«Sie ist vollkommen fertig. Hoffentlich kann sie ein wenig schlafen, das wird ihr guttun.»
Ferrari tigerte unruhig auf und ab.
«Wo waren unsere Kollegen, verdammt noch mal?»
«Das musst du ihren Boss fragen.»
«Darauf kannst du dich verlassen, ich werde mit Big Georg sprechen.»
«Aber vielleicht erst, wenn du dich beruhigt hast.»
«Wie kann ich mich beruhigen, wenn so etwas passiert? Fünfzig Zentimeter nach links oder rechts und Nikki würde jetzt im Spital liegen.»
«Es wird nicht besser, wenn du schreist, Liebling.»
Der Kommissär setzte sich an den Tisch.
«Entschuldigung … ich … ich darf gar nicht daran denken. Hoffentlich wird Rahel wieder gesund.»
«Es klang nicht besonders gut. Ein Golfball kann eine verheerende Wirkung haben und Rahel wurde offenbar voll am Kopf getroffen.»
«Absichtlich getroffen.»
«Wie meinst du das, Nadine?»
«Keiner schleppt einfach so Golfbälle mit sich herum. Die wollten bewusst die Demo aufmischen. Und weil sich die Demonstranten nicht wehrten, mussten die Wurfgeschosse anderweitig eingesetzt werden. Die Idioten versuchten, unsere Kollegen zu provozieren. Sind beide Eltern von Rahel Pfarrer?»
«Ja, ziemlich sektiererische.»
«Francesco!»
«Stimmt doch. Sie geht ja noch, aber er … Der schämt sich bereits dafür, dass er nackt in der Unterhose steht.»
«Das ist pietätlos, Francesco.»
«Nur die Wahrheit. Ich bin auch christlich erzogen worden. So weit, so gut. Doch bei Thomas hat der Glaube eine extreme Ausrichtung angenommen, den würde ich keine Woche an meiner Seite ertragen.»
«Also ein Fundi», resümierte Nadine.
«Kann man wohl sagen. Er richtet sein ganzes Leben nach der Bibel aus.»
«Das müsste dir eigentlich gefallen. Du glaubst ja auch an Übersinnliches und all den Mist.»
«Aber nicht so. Thomas lebt streng nach Gottes Wort und hält sich unbeirrt ans Neue Testament – liebe deinen Nächsten bis zum Gehtnichtmehr.»
«So kam es auch rüber. Gott habe ihnen eine Bürde auferlegt, meint er das wirklich?»
«Absolut. Er sieht es als göttliche Prüfung. Auf den Gedanken, dass es nichts mit Gott zu tun hat, sondern einzig und allein mit irgendwelchen Krawallbrüdern, kommt er gar nicht.»
Nadine musste lachen.
«Verkehrte Welt!»
«Was meinst du damit?»
«Normalerweise reden Monika und ich so, während du uns mit Sprüchen wie ‹Es gibt mehr auf der Welt, als ihr mit eurem logischen Verstand aufnehmen könnt› vollquatschst.»
«Das stimmt ja auch. Nur bei Lisa und Thomas geht es mir viel zu weit, ich lehne jede Form von Extremismus ab.»
«Weiter als damals bei Alura Randa?»
Nadine sprach einen ihrer grössten Fälle an.
«Viel weiter. Im Vergleich mit Lisa und Thomas ist Alura eine Wissenschaftlerin. Was macht sie eigentlich? Hast du noch Kontakt zu ihr, Nadine?»
«Sie leitet eine Stiftung für behinderte Kinder. Wir treffen uns hin und wieder zum Mittagessen. Apropos Essen, ich muss dann mal weg. Yvo wartet auf mich am Barfi.»
Der Kommissär schmunzelte.
«Beherrsch dich! Ich sehe dir deine miesen Gedanken förmlich an.» Sie küsste Monika auf die Wangen. «Wie läufts jetzt eigentlich mit Nikkis Sprachaufenthalt?»
Oh, Schreck! Daran habe ich ja gar noch nicht gedacht. Wie in Trance setzte sich Ferrari neben Puma aufs Sofa. Rahel im Spital! Nikki geht alleine nach Oxford! Kommt überhaupt nicht infrage. Nur über meine Leiche.
«Das bespreche in aller Ruhe mit Francesco.» Monika drehte sich zu ihm um. «Sobald er aus dem Koma aufgewacht ist.»
Rahels Zustand veränderte sich über Nacht nicht, sie lag noch immer auf der Intensivstation. Der Golfball musste sie mit enormer Wucht an der Schläfe getroffen haben. Keiner der Ärzte konnte oder wollte momentan Stellung beziehen.
Mürrisch sass Ferrari an seinem Schreibtisch. Es ist einfach nicht fair. Eine junge Frau mit einer vielversprechenden Zukunft lag im Koma, weil ein Haufen Chaoten Streit suchte. In was für einer Welt leben wir eigentlich? Hoffentlich finden sie den Schweinehund.
«Auf ein Wort, Ferrari.»
«Guten Morgen, Herr Staatsanwalt.»
«Das wird sich noch weisen, ob es ein guter Tag wird», entgegnete Staatsanwalt Jakob Borer trocken.
«Was verschafft mir die Ehre?»
«Eine Vorsichtsmassnahme, sozusagen. Es geht um diese Rahel Hänggi.»
«Was ist mit ihr?»
«Keine Sorge, alles im grünen Bereich … Na ja, das trifft natürlich nicht auf diese arme junge Frau zu», Borer räusperte sich verlegen. «Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie unserem Fahndungsleiter einen Besuch abstatten wollen.»
«Ja natürlich. Big Georg steht ganz oben auf meiner Liste. Ich warte nur noch auf Nadine.»
«Gut. Dann komme ich zur Sache. Es wäre mir ein grosses Anliegen, wenn Sie sich für einmal … nur für dieses eine Mal, aus der Angelegenheit raushalten könnten.»
«Wie raushalten? Ich will mich nur erkundigen, warum ganze fünf Polizisten einen Demonstrationszug begleiten.»
«Nur erkundigen? Das ist es, was mir Sorgen bereitet. Das letzte Mal, als Sie und Ihr … Ihre Kollegin sich nur erkundigten, stand danach zwei Wochen lang der gesamte Waaghof Kopf. Ich kenne Sie zu genau, um zu glauben, dass es nur bei einem informativen Gespräch bleibt. Zudem verrät Sie der Unterton in Ihrer Stimme.»
«Sie können ja mitkommen.»
«Nur nicht so gereizt, Ferrari. Aber nein danke. Das fehlte noch, dass Sie mich zu Ihrem Handlanger degradieren.»
«Konkret wünschen Sie also, dass ich nicht mit Georg rede. Korrekt?»
«Nein, nicht korrekt. Sie missverstehen mich total. Wenn Sie mir versprechen, dass Sie ganz normal wie unter Kollegen mit ihm reden, ist absolut nichts dagegen einzuwenden.»
«Wenn es weiter nichts ist – ich verspreche es.»
«So … so ganz ohne Hintergedanken?»
«Guten Morgen, Francesco. Schon so früh unterwegs, Herr Staatsanwalt?»
«Ich bin seit sechs Uhr früh im Kommissariat, was man», Staatsanwalt Borer warf einen Blick auf seine Armbanduhr, «von Ihnen nicht behaupten kann.»
«Nicht die Präsenzzeit zählt, sondern die Erfolgsquote.»
«Das will ich überhört haben.»
«Staatsanwalt Borer wünscht, dass wir nicht mit Big Georg sprechen.»
«Das stimmt so nicht, Ferrari. Sie sollen einzig und allein normal mit ihm umgehen. Ein Gespräch unter guten Kollegen, ohne ihn gleich gegen sich aufzubringen.»
«Versprochen. Sonst noch etwas?»
«Nein, das wärs. Eine sehr schlimme Sache. Diese Chaotenbrut kriegen wir einfach nicht in den Griff. Hoffentlich erholt sich die junge Frau wieder.»
«Ja, das hoffen wir alle. Sie liegt noch immer auf der Intensivstation und ist nicht ansprechbar.»
«Sehr traurig. Sagen Sie doch bitte Pfarrer Hänggi und seiner Frau, dass ich mit ihnen mitfühle. Wenn mich die Herrschaften nun entschuldigen, ich habe zu tun.»
Und weg war er.
«Ein seltsamer Auftritt unseres beliebten Herrn Staatsanwalts», kommentierte Nadine. «Aber das sind wir uns ja langsam gewohnt. Komm, Francesco, Georg erwartet uns.»
Der hundertfünfzig Kilo schwere Leiter der Fahndung, den alle nur Big Georg nannten, sass schwer atmend hinter seinem Schreibtisch und wälzte sich durch eine Akte. Als er Nadine sah, strahlte er wie ein Maikäfer.
«Setzt euch. Schrecklich, das mit dem Mädchen. Ist sie eine Freundin von Nikki?»
«Ja. Sie stand neben Rahel, als der Golfball geflogen kam.»
«Verdammter Mist! Meine Leute konnten nichts dagegen tun. Wie ich diese sinnlose Gewalt verabscheue.»
«Warum waren nur fünf Kollegen vor Ort?»
«Im Aufgebot waren dreissig Mann. Dann rief mich Kurt an und meinte, es seien nur etwa zwanzig Demonstranten mit drei Transparenten. Also zog ich fünfundzwanzig Mann ab und liess meine alte Garde da. Plötzlich tauchten diese Typen wie aus dem Nichts auf, das war echt unerwartet. Meine Jungs hatten keine Chance und zogen sich mit den Passanten zurück.»
«Wer sind diese Typen? Der Schwarze Block?»
«Es scheint so, Nadine. Sicher sind wir nicht.»
«Wie viele waren es?»
«Auch nur etwa zehn, doch das war exakt geplant. Die kamen von der Elisabethenkirche her, warteten, bis die Demonstranten am Bankverein auftauchten, schlugen zu und verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen sind. Das ist nicht typisch für den Schwarzen Block. Ausserdem sind die politisch eher links anzusiedeln und vertreten vermutlich die Meinung der Demonstranten.»
«Wer könnte es denn sonst gewesen sein?»
«Das wissen wir noch nicht, die Abklärungen laufen. Die Hälfte der Demonstranten musste mit Gehirnerschütterungen oder Prellungen ins Spital. Die Idioten sind mit Schlagstöcken auf die Leute los. Wie die Irren.»
«Um was ging es eigentlich bei dieser Demo?»
«Um das Recht auf Freiraum. Seit wir die Wagensiedlung in Kleinhüningen auflösen sollen, rumort es.»
«Meinst du die Alternativen, die sich dort in einem Hinterhof verschanzen?»
«Ursprünglich waren es Mieter, die ihre Wohnungen nicht freiwillig räumen wollten. Inzwischen haben sich immer mehr Menschen hinzugesellt, aus Solidarität oder so. Da ist auch ein Lehrer dabei. Diese Alternativen, wie du sie nennst, wohnten zuerst in den vergammelten Gebäuden, bis der Besitzer den Strom abstellen liess. Jetzt verschanzen sie sich im Hinterhof in Wohnwagen. Das Gelände gehört Nufener und der will jetzt Mehrfamilienhäuser errichten.»
«Gerhard Nufener?»
«Ja, genau. Ich habe das Gelände selbst angeschaut. Echt vergammelt, diese Häuserzeile. Macht bestimmt Sinn, abzureissen und neu zu bauen. Ich wollte die Risiken für meine Leute einschätzen, wenn wir das Gebiet räumen. Die haben im Hof eine echte Wagenburg errichtet. Ich fühlte mich wie im Wilden Westen. Fehlte nur noch, dass Winnetou auf Iltschi erschienen wär.»
«Und wo sollen die Leute hin?»
«Das ist deren Problem. Die Wohnwagen stellen wir auf ein Gelände beim Otterbach-Zoll.»
«Davon hat Telebasel berichtet.»
«Weiss der Teufel, woher die das erfuhren. Die Räumung wird nicht gerade lustig.»
«Wie meinst du das?»
«Immer, wenn sich wichtige Politiker einschalten, kocht die Suppe über. In diesem Fall ist es die Wallimann, sie setzt sich für die Leute ein.»
«Esther Wallimann?»
«Du kennst sie, Francesco?»
«Wen kennt Francesco nicht», Nadine rollte die Augen.
«Kennen ist zu viel gesagt, ich bin ihr ein oder zwei Mal begegnet. Die sitzt sicher schon zehn Jahre im Grossen Rat. Sie ist bekannt dafür, immer mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.»
«Die hetzt die ganze Presse auf und macht auch sonst mobil. Die Demonstration gestern war auch ihre Idee.»
«Anscheinend keine besonders erfolgreiche.»
«Die Leute haben es satt. Viele müssen den Gürtel enger schnallen, sind arbeitslos oder sogenannte Working Poor. Sie haben kein Verständnis für Randgruppen, die sich nicht an die Gesetze halten, oder für Eltern anderer Kulturkreise, die für sich einen Sonderstatus einfordern, zum Beispiel im Schwimmunterricht, und gleichzeitig auf alle Rechte pochen. Wir leben in einer schwierigen Zeit und es wird immer härter.» Big Georg wischte sich den Schweiss von der Stirn, allein die Aufregung löste regelrechte Wallungen aus. «Im vorliegenden Fall besetzen diese Alternativen Nufeners Gelände illegal, glauben aber, sie seien im Recht. Schlimm daran ist, dass sich dann solche Menschen wie diese Wallimann profilieren wollen. Und wer badets aus? Meine Leute.»
Ferrari nickte.
«Das heisst, es waren vorwiegend Alternative, die demonstrierten?»
«Ja, sowie ein paar Freunde von dieser Wallimann. Die ist übrigens auch ziemlich vermöbelt worden. Ich bin erstaunt, dass die Medien noch nichts darüber berichtet haben.»
«Liegt sie im Spital?»
«Das nicht. Wahrscheinlich sitzt sie zu Hause und leckt ihre Wunden.»
«Wann räumst du das Gelände?»
«Am nächsten Montag. Aber das bleibt unter uns.»
«Selbstverständlich. Können wir dir irgendwie helfen?»
«Ihr könnt uns die Daumen drücken, dass alles glatt geht. Wir rechnen mit allem. Entweder lassen sie sich einfach wegtragen oder sie leisten vehement Widerstand.»
«Scheissjob!»
«Das kannst du laut sagen, Nadine. Was wir auch immer tun, wir ziehen dabei die Arschkarte.»
«Ah, da sind Sie ja!»
Staatsanwalt Jakob Borer trat ins Büro.
«Und der Herr Kommissär war auch ganz anständig.»
Big Georg sah Nadine verständnislos an.
«Staatsanwalt Borer flehte Francesco auf Knien an, nicht auszurasten und vor allem dein Mobiliar zu schonen. Kurz gesagt, er soll dich wie einen Schmusebären behandeln.»
«Im Übertreiben sind Sie Weltmeisterin, Frau Kupfer. In der Tat bat ich den werten Kollegen, den Ball flach zu halten, wie es so schön im Fussball heisst.»
«Was ich auch befolgt habe. Sie sehen also, es gibt keinen Grund, uns nachzuschleichen.»
«Also, ich muss schon bitten. Ich schleiche Ihnen nicht nach. Es gibt Arbeit, Herrschaften.»
Ferrari zog die Augenbrauen hoch.
«Das klingt etwas eigenartig, Herr Staatsanwalt.»
«Eine Leiche wurde gefunden. Eine junge Frau … eher noch ein Mädchen. Siebzehn oder achtzehn Jahre alt.»
«Nun machen Sie es nicht so spannend. Wann und wo?»
«Vor einer Stunde in den Langen Erlen. Ums genau zu nehmen am Waldrand beim Otterbach-Zoll.»
«Wo die Wohnwagen der Alternativen abgestellt werden sollen?»
Borer nickte. Ferrari sah ihn durchdringend an.
«Wer ist das Mädchen?»
«Lori Nufener, Gerhard Nufeners Tochter!»
Nadine raste mit ihrem Porsche die Innere Margarethenstrasse hoch, bog rechts aufs Birsigviadukt ein und folgte dem Einser. Auf der Höhe der Schützenmatte kollidierten sie beinahe mit einem von der Crossklinik her kommenden Bus, doch Nadine raste unbeirrt weiter, ganz im Stile eines Sebastian Vettel. Nach dem Voltaplatz tauchten sie auf die untere Ebene der Dreirosenbrücke ein und sausten durch den Tunnel bis zur Ausfahrt Kleinhüningen.
«Geil!»
Ferrari hielt sich am Armaturenbrett fest, was ihm einen vernichtenden Blick von Nadine eintrug. Weshalb rast die Wahnsinnige auch so durch die Gegend? Immer und immer wieder das gleiche Lied.
«Reiss mir nur nicht das Armaturenbrett ab.»
«Warum um Himmels willen blochst du so? Das Mädchen ist tot. Toter wird sie nicht mehr. Und Peter wirds verkraften, wenn er zehn Minuten länger auf uns warten muss.»
Nadine riss ihren Porsche nach rechts.
«Mist! Beinahe hätte ich die Ausfahrt verpasst, weil du mich so blöd anquatschst.»
Gott sei Dank, heil angekommen. Mühsam kroch Ferrari aus dem Recarositz. Sauwetter, hier ist es noch pflotschiger als in der Stadt. Das kommt von den vielen Lastwagen, die täglich über den Zoll nach Deutschland fahren und hier oft lange warten. Das gibt meinen Schuhen den Rest.
«Wer hat eigentlich die Leiche gefunden?»
«Ein anonymer Anrufer. Noldi meint, es klang nach einem jüngeren Mann, allerdings verstellte er seine Stimme.»
Ferrari sah Nadine von der Seite her an.
«Was ist? Die Sache ist längst gelaufen. Wir sind Kollegen, mehr nicht.»
Das war auch mal anders, dachte Ferrari. Schade eigentlich. Die beiden hätten gut zueinander gepasst, aber der IT-Trottel musste sich unbedingt bei einem Fall auf die falsche Seite stellen. Zurzeit ist ja mein Schulfreund Yvo angesagt. Was Nadine bloss an ihm findet? Der Altersunterschied ist viel zu gross, mit dem kann sie keine Familie gründen. Noldi ist der Richtige für sie. Nadine, Noldi und eine Schar von kleinen Kindern. Eine schöne Vorstellung.
«Wag es ja nicht, irgendetwas anzuzetteln!», zischte sie ihm zu.
«Hm.»
Peter Strub, der leitende Polizeiarzt, schien ebenfalls ziemlich schlecht gelaunt zu sein. Er schrie seine Leute an, die geduckt und in Erwartung weiterer Schimpftiraden ihrer Arbeit nachgingen.
«Ah, da seid ihr endlich!», blaffte der Arzt.
«Was heisst hier endlich? Nadine ist in Rekordzeit vom Waaghof hierhergefahren. Wo befindet sich das Mädchen?»
«Bei der Hütte dort drüben. Und haltet mir bloss das Arschloch vom Leib oder es setzt was!»
Ferrari sah Nadine verständnislos an. Sie deutete auf vier Männer, die von einigen Polizisten davon abgehalten wurden, den Tatort zu stürmen.
«Das ist Nufener!», erklärte Strub. «Der dreht vollkommen durch.»
Ferrari seufzte und ging auf die Gruppe zu.
«Lasst Herrn Nufener durch», befahl der Kommissär.
Der kleine, höchstens eins sechzig grosse Unternehmer drängte an den Polizisten vorbei und schritt Ferrari energisch entgegen.
«Sind Sie hier der Befehlshaber?»
«Das könnte man so sagen. Mein Name ist Ferrari, Francesco Ferrari, und das ist meine Kollegin Nadine Kupfer. Wir ermitteln in diesem Fall.»
«Ferrari? Irgendwie sagt mir das etwas … Ich will zu meinem Kind.»
«Selbstverständlich. Wir brauchen nur noch ein paar Minuten …»
«Nein, jetzt!»
«Wie Sie wünschen. Möglicherweise zerstören Sie aber wichtige Spuren, die uns bei der Aufklärung helfen könnten.»
Der untersetzte Mann drehte sich zögernd um. Ferraris Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.
«Ich … Mann, begreifen Sie denn nicht?! Da liegt mein über alles geliebte Kind, tot im Dreck!», schrie er. «Von diesem Lumpenpack ermordet. Und ich soll ruhig warten, bis ich zu ihr kann?»
«Das ist sehr schwer, Herr Nufener. Ich verstehe Sie gut, sehr gut sogar. Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid ausdrücken. Geben Sie uns noch einige Minuten. Sobald Peter Strub mit seinem Team alles gesichert hat, können Sie zu Ihrer Tochter.»
Nufener sah mit Tränen in den Augen zu Ferrari hoch.
«Sie … gut, ich gebe mich geschlagen. Sie haben recht, ich warte.»
Nadine gab den Beamten ein Zeichen. Sie führten den Unternehmer hinter die Absperrung zurück.
«Gut gemacht, Riese. Der Zwerg kapituliert.»
«Warten wirs ab. Peter soll sich beeilen, bevor die Situation aus den Fugen gerät.»
Strub kniete neben der Toten.
«Wahrscheinlich liegt sie schon einige Stunden hier. Vielleicht zehn oder zwölf. Genau kann ich es erst nach der Obduktion sagen.» Er drehte sie zur Seite. «Keine sichtbaren Verletzungen. Seltsam.»
«Was ist die Todesursache?»
«Vermutlich ein Genickbruch, Nadine. Ich kann nicht einmal sagen, ob es ein Mord oder ein Unfall war. Schau, der Hals ist unnatürlich verrenkt. Entweder ist sie saudumm gefallen oder jemand hat ihr das Genick gebrochen.»
Ferrari drehte sich ab, ihm war elend zumute. Ein junges Mädchen, etwas jünger als Nikki, war tot. Genick gebrochen! Nachdenklich sah er zu Nufener hinüber. Ich kann es ihm nachfühlen. Wie würde ich reagieren, wenn es Nikki wäre? Vermutlich würden mich unbändige Wut, abgrundtiefer Hass und unerträglicher Schmerz zerstören. Ich wäre jenseits von Gut und Böse und nicht mehr kontrollierbar. Hoffentlich gerate ich nie in diese Situation. Vor zwei Jahren betraf es die Tochter von Big Georg. Wie ein Film lief es vor Ferraris geistigem Auge ab, als wäre es gestern gewesen. Schrecklich. Damals wollte ich den Bettel hinschmeissen. Diese Momente des Haderns, des Zweifelns kehren immer und immer wieder. Die Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz, zwischen Schwarz und Weiss gleicht einem waghalsigen Seiltanz und manchmal, ja manchmal stürzt man ab. Jeder Beruf hat seine Schattenseiten, aber nicht jeder bewegt sich im Umfeld von Verbrechern und Toten, die gleich dem abgeschlagenen Kopf der Hydra doppelt nachwachsen. Kämpfen wir gegen Windmühlen? Leisten wir schlicht und einfach Sisyphusarbeit? Wo ist der Sinn? Die menschlichen Tragödien hinterlassen ganz offensichtlich Spuren.
«Hallo, Chef! … Nadine an Francesco! … Ist der Herr Kommissär zu sprechen?!»
«Wie? … Was? … Ich dachte darüber nach, ich …»
«Du hast dir vorgestellt, wie es wäre, wenn Nikki da liegen würde.»
«Ja. Und welchen Sinn es macht, sich jeden Tag mit Verbrechern und Mördern rumzuschlagen.»
«Der Sinn besteht darin, tagtäglich einen kleinen Teil des Ungeziefers von Basels Strassen zu holen.»
«Und jedes Mal, wenn wir jemanden aus dem Verkehr ziehen, tauchen neue Parasiten auf. Sisyphusarbeit.»
«Wenn du mit der griechischen Mythologie fertig bist, solltest du dich um Nufener kümmern. Der macht Stunk.»
«Wie weit seid ihr, Peter?», wandte sich Ferrari an den Polizeiarzt.
«Gerade fertig. Den Bericht hast du morgen. Du kannst den Vater jetzt zu seiner Tochter lassen, aber glaub mir, das gibt noch Ärger.»
Genau das Gleiche dachte Ferrari.
«Wir warten dort drüben auf der Lichtung. Sobald er Abschied genommen hat, nehmen wir die Tote mit.»
Nufener fiel vor Lori auf die Knie, liebevoll nahm er sie in den Arm und strich ihr zärtlich über die Haare. Tränen liefen über sein schmerzverzerrtes Gesicht. Aus dem anfänglichen Schluchzen wurde ein hemmungsloses Weinen. Als ihn einer seiner Leute beruhigen wollte, winkte ihm Nadine zu.
«Kommen Sie, ich glaube, wir sollten ihn für einen Augenblick allein lassen.»
Nufeners Kollege zündete sich zitternd eine Zigarette an.
«Auch eine?»
«Nein, danke, ich rauche nicht mehr.»
«Und ich nur noch selten. Heute ist so ein Tag. Übrigens, ich bin Bastian Steger, Gerhard Nufeners Geschäftsführer.»
«Freut mich. Nadine Kupfer, die Assistentin des Kommissärs.»
«Lori war sein Ein und Alles. Klingt banal, ich weiss, aber er lebt nur für seine Tochter.»
«Was ist mit seiner Frau?»
«Ihre Ehe wurde vor fünf Jahren geschieden. Regina ist seine zweite Frau und nach Indien ausgewandert. Die beiden hatten sich auseinandergelebt, wie es ja oft passiert.»
«Wie lange arbeiten Sie schon für Nufener?»
«Fünf Jahre.»
Nadine sah ihn überrascht an.
«Ja, der Zeitpunkt ist kein Zufall. Regina ist kurz nach der Scheidung mit dem ehemaligen Geschäftsführer abgehauen, die beiden hatten schon länger ein Verhältnis. Ich bin sein Nachfolger.»
«Wie alt war Lori?»
«Achtzehn.»
«Was können Sie mir über sie erzählen?»
«Nicht allzu viel. Gerhard hält Privatleben und Geschäft strikt auseinander. Sie ging in die Minerva, machte dort die Matura. Sie soll … sollte die erste Akademikerin in der Familie werden.»
«Privater Umgang?»
«Keine Ahnung. Da müssen Sie den Chef fragen.»
«Wohnte sie bei ihrem Vater?»
«Ja und nein, das heisst teilweise im Elternhaus und ab und zu in einer WG an der Südquaistrasse in Kleinhüningen. Sie müssen wissen, das Haus gehört uns, ich meine Herrn Nufener. Lori bewohnt … bewohnte dort mit einigen Freundinnen das Penthaus.»
«Wo wohnt Nufener?»
«Am Mühlenberg.»
«Hatte Lori einen festen Freund?»
«Ich glaube nicht, aber sicher bin ich mir nicht.»
Langsam erhob sich Gerhard Nufener. Sein Blick war leer.
«Was … was geschieht jetzt mit meiner Tochter?»
«Wir müssen sie in die Gerichtsmedizin bringen.»
«Sie sieht so friedlich aus. Wie ist sie … wie …»
«Wir wissen es noch nicht. Der leitende Polizeiarzt vermutet einen Genickbruch. Es kann auch ein Unfall gewesen sein.»
«Ein Unfall? Glauben Sie das wirklich, Herr Kommissär?»
«Was ich glaube, ist nicht von Bedeutung, Herr Nufener. Nur die Fakten zählen. Sobald der Obduktionsbericht vorliegt, wissen wir mehr.»
«Es war Mord, kaltblütiger Mord», raunte der Unternehmer. «Diese Brut hat sie umgebracht.»
«Die Alternativen?»
«Ja, natürlich. Um mich zu vernichten.»
«Wurden Sie bedroht?»
«Das wagt das Pack nicht. Nein, sie haben sich hinterhältig an meiner Tochter vergriffen und mich damit an meiner Achillesferse getroffen.» Nufener atmete tief durch. «Wie … wie sieht sie danach aus?»
«Wie eine schlafende junge Frau.»
«Meine …», er fuhr sich mit zittriger Hand durchs Haar, «… meine über alles geliebte Prinzessin. Ich werde dich rächen. Oh ja. Die kommen damit nicht durch, das schwöre ich dir.»
Offenbar hatte sich der Polizeieinsatz unter den Basler Medienleuten bereits herumgesprochen, die Beamten hatten alle Hände voll zu tun, Journalisten abzuwehren und ein Kamerateam davon abzuhalten, den Tatort zu filmen. Nufener ging schnurstraks auf die Medienschaffenden zu.
«Da … da liegt meine Tochter. Ermordet von diesem verdammten Pack in Kleinhüningen, das mein Gelände besetzt. Aber die kommen damit nicht durch, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist!» Sein Geschäftsführer wollte ihn wegzerren, Nufener riss sich los. «Ich finde den feigen Mörder, auch ohne die Polizei. Wer mir sachdienliche Hinweise geben kann, soll mich kontaktieren.» Er wandte sich voll der laufenden Kamera zu. «Und ich setze eine Belohnung von einer Million Franken für denjenigen aus, der mir den feigen Mörder bringt. Ich will ihn lebend. Eine Million bar auf die Hand, wenn ich sicher bin, dass es der Mörder meiner Tochter ist!»
Die Journalisten stellten lautstark weitere Fragen, doch Nufener drehte sich ab und stapfte zum Kommissär zurück.
«Wenn Sie mir den Mörder bringen, kriegen Sie die Million … Das ist nicht mehr als fair. Bastian, wir gehen. Hier …», er warf einen zögerlichen Blick zur Fundstelle der Leiche, die inzwischen weggebracht worden war, «hier haben wir nichts mehr verloren.»
Es begann leicht zu schneien. Ferrari schlug mürrisch den Kragen seines Mantels hoch. Na prima, somit ist die Hetzjagd eröffnet. Das hat uns gerade noch gefehlt.
«Komm, lass uns einen Kaffee trinken. Dort vorne bei der Tankstelle», schlug Nadine vor.
«Gute Idee.»