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Theo Tanner, ein Basler Unternehmer, wird wegen Mordes an einem 14-jährigen Mädchen verurteilt. Als der Mörder aus dem Strafgericht abgeführt wird, flüstert er der Kommissärin Andrea Christ zu, dass das Spiel noch nicht vorbei sei. Sie und ihr Partner Daniel Winter hatten ihn überführt. Kurz darauf wird Andrea auf dem Münsterplatz entführt. Ist das ein Zufall oder stecken die Geschwister des Täters hinter der Entführung? Kommissär Francesco Ferrari und seine Kollegin Nadine Kupfer übernehmen den heiklen Fall. Im Wettlauf mit der Zeit versuchen sie, ihre Kollegin zu finden – lebend. Die ersten 48 Stunden sind entscheidend. Die Spur führt zu den Tanners, doch als Theo im Gefängnis erstochen wird, tappen Ferrari und Nadine plötzlich wieder im Dunkeln. Gelingt es ihnen, ihre Kollegin rechtzeitig zu befreien, oder kommt jede Hilfe zu spät?
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Seitenzahl: 251
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Anne Gold
Wenn jede SEKUNDE
zählt
Friedrich Reinhardt Verlag
Alle Rechte vorbehalten
© 2024 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Lektorat: Claudia Leuppi
Korrektorat: Daniel Lüthi
Gestaltung: Bernadette Leus
Illustration: Tarek Moussalli
eISBN: 978-3-7245-2746-6
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2727-5
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2025 unterstützt.
www.reinhardt.ch
www.annegold.ch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Hass kann nur durch Liebe überwunden werden.
Mahatma Gandhi
Liebe Leserinnen und Leser
Mein Verlag wird öfters auf zwei Dinge angesprochen: Das Erste betrifft die Protagonisten, die immer wieder in den Krimis auftreten. Wer das erste Mal eines meiner Bücher liest, kann schon mal den Überblick verlieren. Aus diesem Grund habe ich am Ende des Krimis eine Art Personenregister erstellt. Der andere Punkt befasst sich mit der Frage, wie ich es mit dem Gendern halte. Hier gehe ich ganz pragmatisch vor und verzichte aufgrund des Lesef lusses auf zusätzliche sprachliche Mittel wie Sternchen oder Doppelpunkt. Ich hoffe dennoch, dass sich alle Geschlechtsidentitäten von meinen Texten angesprochen fühlen.
Herzlich
Anne Gold
Am Ausgang des Strafgerichts lieferten sich die Pressefotografen mit den Teams verschiedener Fernsehstationen eine Schlacht um die besten Plätze. Das Gerangel war gross. Alle wollten eine Nahaufnahme schiessen oder ein paar Sätze des Ersten Staatsanwalts Jakob Borer erhaschen. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, wurde der verurteilte Mörder im Hof des Strafgerichts in einen Wagen gesetzt. Sofort kam Bewegung in die Menge. Die Journalistenmeute schrie sich heiser und hielt unermüdlich die Mikrofone in Richtung des Fahrzeugs, das langsam anrollte und das Gelände verliess. Einige versuchten, über die Absperrungen zu klettern, wurden aber vom starken Polizeiaufgebot zurückgehalten. Für einen kurzen Moment konnte man durch ein kleines Fenster die Silhouette eines Mannes erkennen, was einen Blitzlichtsturm auslöste. Nach knapp einer Minute war der Spuk vorbei. Die Journalisten rannten zurück und nahmen erneut den Ersten Staatsanwalt in Beschlag. Kommissär Francesco Ferrari und seine Assistentin Nadine Kupfer sahen sich das Geschehen von der gegenüberliegenden Seite an.
«Das ist ein super Erfolg für Andrea und Dani.»
«Du sagst es, Nadine. Unsere Kollegen investierten enorm viel, sie waren monatelang mit diesem Fall beschäftigt. Zum Glück gelang es ihnen, Tanner zu fassen. Basel wird es ihnen danken.»
«Bis der nächste Wahnsinnige junge Mädchen umbringt. Unser Staatsanwalt ist ein wenig enttäuscht, Tanner scheint für die Medien weitaus interessanter zu sein.»
«Wollen wir ihn trösten?»
«Lieber nicht. Verziehen wir uns, bevor sie dich, den bekannten Schickimicki-Kommissär, erkennen. Du willst doch bestimmt nicht Andrea und Dani die Show stehlen. Heute ist ihr grosser Tag.»
«Und Borers. Schliesslich vernichtete er die Argumente der Verteidigung mit seinem Plädoyer bravourös.»
«Stimmt.»
Gut gelaunt spazierten sie über die Steinenschanze in Richtung Waaghof.
Den beiden Kommissären Andrea Christ und Daniel Winter war es in den vergangenen Monaten in akribischer Kleinarbeit gelungen, den Mörder eines vierzehnjährigen Mädchens zu fassen. Der Täter Theo Tanner, ein allseits beliebter und angesehener Basler Unternehmer, leitete zusammen mit seiner Schwester und seinem Bruder in dritter Generation eine Baufirma in Kleinhüningen, die sich auf Altbaurenovationen spezialisiert hatte. Tanner war in mehreren Sportvereinen ehrenamtlich tätig, wo er auch sein Opfer, Selina Tschudin, kennenlernte. Das Opfer wurde in einem Haus in Frankreich gefunden. Im Laufe der Ermittlungen führten die Spuren zunächst ins benachbarte Deutschland und schliesslich ins Elsass. Zum Glück funktionierte die Zusammenarbeit in der Triregio ausgezeichnet. Vermutlich hätte es noch weitere Opfer gegeben, wäre Tanner nicht aus dem Verkehr gezogen worden. Die Kommissäre waren fest davon überzeugt, dass es sich bei Tanner um einen Serienmörder handelte. Nur leider konnten sie ihm keine weiteren Morde an jungen Frauen, die in den letzten Jahren tot aufgefunden wurden, nachweisen. Die Verteidigung plädierte zuerst auf unschuldig, doch als die Aussicht auf Freilassung während des Prozessess gänzlich schwand, schwenkte die Verteidigerin auf unzurechnungsfähig um: Er könne sich an gar nichts erinnern. Sie ging sogar so weit, dem Opfer die Schuld an ihrem Tod zu geben. Es sei kein Wunder, dass ein Mann der Versuchung nicht widerstehen könne, wenn sich eine junge Frau so aufreizend kleide. Sie legte dem Gericht Fotos des Mädchens vor, die das Opfer leicht bekleidet zeigten. Der Erste Staatsanwalt konnte sich angesichts dieser opferbelastenden Mythen nur mit Mühe zurückhalten.
«Hey, Chef! Hörst du mich?»
«Wie? Was sagst du?»
«Ich hab dich jetzt dreimal gefragt, ob ich dir auch einen Kaffee rauslassen soll.»
«Ach so, ja gern. Ich war in Gedanken beim Prozess. Die Verteidigerin von Tanner war eine absolute Zumutung.»
«Allerdings. Ich musste eben auch an sie denken.»
«Gibt dem Mädchen die Schuld, weil sie attraktiv war und sich aufreizend kleidete, wie sie mehrfach betonte.»
«Eine Frau verharmlost die Gewalt an Frauen. Ohne Worte.»
«Und dann störte Tanners Sippe gezielt den Prozess, allen voran sein Bruder Ralf. Er hält ihn nach wie vor für unschuldig. Hast du das Interview in der Zeitung gelesen?»
«Nein, das ist mir entgangen.»
«In einem ganzseitigen Interview spricht er von einem Showprozess. Tanner würde geopfert, weil die Polizei versagt habe. Die Faktenlage sei mehr als unklar und der wirkliche Täter nach wie vor auf freiem Fuss. Niemand dürfe sich wundern, wenn es zu weiteren Morden komme. Ich bin froh, dass wir nicht mit dem Fall betraut wurden.»
«Ich weiss. Dir liegt es nicht, wenn die Deutschen und die Franzosen mitmischen. Zu viele Köche verderben den Brei.»
«Es erschwert die Ermittlungen enorm. Ich bewundere Andrea, dass sie das kann.»
«Nur Andrea?»
«Ja, Daniel ist ganz klar der Mann fürs Grobe. Andrea ist das Gehirn des Duos.»
«Wie bei uns. Ich sage nur Frauenpower.»
«Hm!»
«Hier bitte», Nadine hielt Ferrari einen Cappuccino hin. «Oh, es scheint keine lange Pressekonferenz gewesen zu sein. Unser Staatsanwalt ist bereits zurück … Gratuliere, ein voller Erfolg.»
«Danke, Frau Kupfer. Aber es ist noch nicht zu Ende. Tanner geht bestimmt in die Berufung.»
«Auch einen Kaffee?»
«Gerne. Es waren mühsame Wochen. Die Journalisten belagerten uns förmlich. Ich liebe zwar die Auftritte in der Öffentlichkeit, doch dieser Rummel war sogar mir zu viel. Ich musste immer genau aufpassen, was ich sage. Die Verteidigerin, diese Ruth Minder, wartete förmlich auf einen Fehler von mir. Die Akten von Frau Christ und Herrn Winter lesen sich wie ein Horrorroman von Stephen King. Die junge Frau wurde von diesem Wahnsinnigen brutal gequält und schliesslich noch vergewaltigt. Ich sah schon vieles in meiner Lauf bahn, aber so etwas noch nie. Die Bilder haben sich bei mir eingebrannt. Ich weiss nicht, wie lange sie mich beschäftigen werden. Bestimmt einige Monate, wenn nicht Jahre.»
«Seine Schwester und sein Bruder glauben an seine Unschuld.»
«Und seine gesamte Belegschaft ebenfalls, wie wir vor Gericht lautstark miterleben durften. Zum Glück verwies der Richter die Leute des Saales. Ich bin froh, dass es vorbei ist – zumindest für den Augenblick.»
«Wie gehts Andrea und Daniel?»
«Gut. Sie sind sehr erleichtert. Während der Ermittlungen war Frau Christ mehrmals bei mir. Sie war ziemlich verzweifelt, das darf ich bestimmt sagen. Es gab eine Zeit, da ging es nicht weiter, jede noch so kleine Spur verlief im Sand. Tanner lenkte Frau Christ immer wieder in eine falsche Richtung.»
«Und Daniel?»
«Ach der. Der ist doch höchstens Beigemüse. Wie bei … Könnte ich noch einen Kaffee haben, Frau Kupfer?»
«Wie bei Nadine und mir? Wollten Sie das sagen, Herr Staatsanwalt?»
«Nur nicht so gehässig, Ferrari. Das ist reine Interpretation Ihrerseits. Wo waren wir? Ah, ja, Frau Christ war eine Zeit lang sehr stark gefordert, doch dies ist nun vorbei. Sobald ich mit Ruth Minder gesprochen habe, lege ich die Akten zur Seite.»
«Dürfen Sie das überhaupt?.»
«In der nächsten Instanz vertrete ich nicht mehr die Anklage. Das wird Sebastian Kern übernehmen. Er wird auf Verwahrung plädieren.»
«Er ist ein guter Mann.»
«Ja, ein brillanter Denker und ein Hitzkopf.»
«Warum wollen Sie mit der Verteidigerin reden?»
«Ich verstehe, dass man seinen Mandanten mit allen Mitteln verteidigt, doch Ruth Minder ging eindeutig zu weit. Sie hat das Opfer als Männer verführende Lolita hingestellt, das kann und will ich nicht akzeptieren. Sie bezeichnete die junge Frau sogar als billiges Flittchen, das selbst schuld sei. Ihr Aussehen, die Art und Weise, wie sie sich kleidete, hätten Theo Tanner provoziert. Wie bitte? Wo sind wir denn, im Mittelalter? Plädierte sie am Anfang auf unschuldig, wechselte sie im Verlauf des Prozesses auf unzurechnungsfähig. Tanner sei ein Mann von Ehre – das hat sie wirklich gesagt – mit Prinzipien und einem tiefen christlichen Glauben. Als er in dem vierzehnjährigen Mädchen den Teufel erkannte, der ihn in Versuchung brachte, sei er durchgedreht. Die Wendung war nicht ganz im Interesse der Geschwister, die ihn klar als Opfer sahen. Ruth geht taktisch vor. Sie weiss ganz genau, dass sie mit der Unschuldsvariante in der zweiten Instanz chancenlos ist.»
«Und mit der Unzurechnungsfähigkeit nicht?»
«So ist es. Die Chancen sind zwar minim.»
«Wir haben gehört, Opfer und Täter haben sich über den Sport kennengelernt.»
«Korrekt. Die junge Frau spielte Tennis. Sie wurde bereits als kommender Superstar gehandelt, die neue Martina Hingis. Der Auf bau eines solchen Talents kostet natürlich Geld. Viel Geld. Die Eltern wollten sie zwar fördern, aber ihnen fehlten die notwendigen Mittel. Tanner sprang ein … Das Resultat kennen wir.»
«Unglaublich.»
«Das Schlimme ist, auf meinem Tisch liegen drei weitere ungeklärte Fälle aus dem benachbarten Elsass. Alle Opfer wurden nach dem gleichen Schema gequält, vergewaltigt und ermordet. Doch wir konnten bisher keinen Zusammenhang nachweisen, der Name Tanner tauchte nie auf. Während des ganzen Prozesses fürchtete ich, die Verteidigung könnte diese ungelösten Fälle auf den Tisch bringen. In Nullkommanichts wäre eine Polemik entstanden. Von wegen, die Polizei tappe im Dunkeln und führe nun Tanner als Unschuldigen zur Schlachtbank, während der wahre Mörder frei durch die Gegend laufe. Minder hätte dann einen Phantommörder herauf beschworen und auf unschuldig plädiert. Sie ist verdammt raffiniert.»
«Vielleicht gibt es zwei verschiedene Mörder.»
«Sie wieder! Ich hätte besser nichts erwähnt … Ich bin absolut sicher, dass die drei ungeklärten Fälle auf Tanners Konto gehen. Leider ermittelten die elsässischen Kollegen in eine andere Richtung. Es gab nämlich vor drei Jahren einen Wahnsinnigen, der es auf Teenager abgesehen hatte. Sein Motiv war eher sektiererisch. Die jungen Leute seien unmoralisch, deshalb wollte er die Unmoral ausrotten. Er wurde geschnappt und erhielt lebenslänglich.»
«Es laufen viele Spinner durch die Gegend.»
«Immer mehr, Frau Kupfer, immer mehr. Wir leben in schwierigen Zeiten.»
«Aber wenn unsere französischen Kollegen die drei Morde aufgeklärt haben, dann sind sie ja gelöst.»
«Ich persönlich glaube, dass die drei Toten, die dem Sektierer zugeschrieben werden, zur Handschrift von Tanner passen. Deshalb gab ich den Kollegen im Elsass einen Tipp. Sie gehen der Sache nach.»
«Ah, da kommt ja einer unserer Helden.»
«Das Beigemüse», murmelte Ferrari.
«Sie sind aber heute wieder besonders empfindlich.»
«Habt ihr etwas von Andrea gehört?», fragte Dani Winter.
«Ist sie nicht bei dir?»
«Nein. Sie wollte nach dem Urteil kurz zu ihrem Vater. Bloss, da war sie nicht. Und sie reagiert nicht auf meine Anrufe. Das passt nicht zu Andrea.»
«Vielleicht liess sie ihr Handy irgendwo liegen.»
«Nicht Andrea. Sie schläft praktisch mit dem Teil. Ich hätte meinem ersten Gedanken folgen und sie begleiten sollen … Ich bin ein Idiot! Nach dem Prozess f lüsterte Tanner Andrea zu, dass die erste Runde an uns gehe, aber das Spiel sei noch nicht zu Ende. Abgerechnet werde zum Schluss. Da stimmt etwas nicht. Mein Bauchgefühl täuscht mich nicht.»
«Du glaubst, Andrea ist entführt worden?»
«Ja, und es ist meine Schuld! Die Geschwister von Tanner stecken dahinter. Ich fahre nach Kleinhüningen und nehme die Bude auseinander.»
«Das lassen Sie gefälligst bleiben, Winter», befahl Borer. «Es gibt hier keine Alleingänge. Sie begleiten mich zu Georg. Der Chef der Fahndung wird sich mit seinem Team darum kümmern. Worauf warten Sie? Jede Minute zählt … Ich komme nachher nochmals zu Ihnen, Ferrari.»
«Gut, wir warten hier auf Sie.»
«Dani ist kurz vor dem Explodieren.»
«Das bedeutet nichts Gutes. Wenn seiner Andrea etwas geschehen ist, wird er sich gnadenlos an den Tanners rächen. Ob sie etwas damit zu tun haben oder nicht, ist ihm egal.»
«Dass Andrea gerade jetzt auf Tauchstation geht, ist ein komischer Zufall. Findest du nicht?»
«Entweder das Handy ist aus oder sie wurde tatsächlich entführt.»
«Und dann?»
«Müssen wir sie suchen.»
«Und wenn sie tot ist?»
«Daran darf ich gar nicht denken.»
«Und wenn es so ist?»
«Müssen wir den Mörder finden. Dani können wir es nicht überlassen.»
«Weil dann der Mörder nie vor Gericht gestellt wird.»
«So ist es.»
Nadine schaute den Kommissär fragend an.
«Bist du sicher, dass der Mörder einen fairen Prozess erwartet, wenn wir ihn fassen?»
«Er kriegt, was er verdient. Aber im Moment wissen wir nicht, was wirklich passiert ist.»
«Wenn Borer wüsste, wie du denkst, verbietet er uns, in dem Fall zu ermitteln.»
«Er weiss ja nicht, wie wir denken, Nadine.»
«Na, prima. Schauen wir mal, was die Medien über den Prozess berichten.»
Die Online-Kanäle brachten eine Zusammenfassung der Ereignisse. Ein Journalist warf die Frage auf, ob der Mord nicht zu verhindern gewesen sei, da mehreren Tennisspielerinnen aufgefallen war, wie intensiv sich Theo Tanner um Selina Tschudin kümmerte. Alle haben es gesehen, doch niemand unternahm etwas. Zum Schluss des Kommentars bemerkte er, dass die Verurteilung bestimmt Einf luss auf die Bautätigkeiten der Firma Tanner haben würde. Wer würde schon mit einem Baugeschäft zusammenarbeiten wollen, deren Inhaber und Mitarbeiter keinerlei Einsicht und Reue zeigten, wie deren Verhalten während des Prozesses klar zum Ausdruck brachte.
«Das glaube ich auch. Die werden keine Aufträge mehr bekommen. Recht so. Von keiner Seite ein Wort des Bedauerns. Im Gegenteil. Nichts als Rechtfertigungen und fiese Anschuldigungen gegen die Polizei, die Medien und vor allem gegen das Opfer. Irene Tanner sprach sogar von einem Schauprozess. Ihr Bruder sei unschuldig, doch die Polizei müsse aufgrund des öffentlichen Drucks einen Mörder präsentieren. Das hat sie sogar gepostet.»
«In den sozialen Medien kann jeder schreiben, was er will. Solche Aussagen, die für die Eltern der jungen Frau besonders schlimm sind, verbreiten sich rasant. Immerhin sind sich die Medien in einem einig: Tanner wurde zurecht verurteilt. Hoffen wir, dass nun Ruhe einkehrt.»
«Und dass Andrea bald auftaucht.»
Wie aufs Stichwort stürmte Staatsanwalt Jakob Borer ins Büro.
«Die Suche nach Frau Christ hat begonnen. Sie reagiert noch immer auf keine Anrufe. Auch ihr Handy konnte nicht geortet werden.»
«Wo befindet sich Dani?»
«Ich teilte ihn im Innendienst ein. Er ist bei Kommissär Moser unter Kontrolle.»
«Weiss Nationalrat Christ, dass seine Tochter verschwunden ist?»
«Ich habe ihn angerufen und ihn gebeten, mit niemandem, auch nicht mit seiner engsten Vertrauten, dieser Nicole Ryff, darüber zu sprechen.»
«Das wird er nicht lange durchhalten.»
«In ein oder zwei Tagen sickert sowieso etwas durch und dann ist die Hölle los. Wir müssen Andrea Christ finden.»
«Was schauen Sie mich an? Ich bin ja nur das Beigemüse.»
«Reissen Sie sich zusammen, Ferrari. Es geht jetzt nicht um Ihr angeknackstes Ego. Unsere Kollegin befindet sich womöglich in grosser Gefahr. Vielleicht wurde sie vom Tanner-Clan entführt und wird in dieser Sekunde gefoltert. Ich darf gar nicht daran denken, wie es enden könnte. Was schauen Sie mich an?!? Unternehmen Sie gefälligst etwas.»
«Und was?»
«Das weiss ich doch nicht. Herrgott nochmal. Schalten Sie Ihre dubiosen Freunde ein – diesen Hotz und den zwielichtigen Belinski. Wir müssen auf allen Fronten agieren.»
«Mark und Samir werden uns nichts nutzen. Informiert uns Georg, wenn seine Leute etwas herausfinden?»
«Selbstverständlich. Ich würde am liebsten mit einer Spezialeinheit die Bude der Tanners in Kleinhüningen ausräuchern.»
«Sie werden nicht so dumm sein, Andi dort gefangen zu halten.»
«Wie sicher ist es überhaupt, dass sie entführt wurde?»
«Ziemlich, Frau Kupfer. Ich muss dem Kollegen Winter recht geben: Es gibt keinen Grund, das Handy auszuschalten. Andrea Christ wollte ihren Vater aufsuchen, die beiden planten ein Überraschungsgeschenk für Andis Schwester. Doch Frau Christ tauchte nicht auf, Nationalrat Christ und Nicole Ryff warteten vergebens auf sie.»
«Das ist mehr als seltsam. Andrea ist sehr zuverlässig.»
«Wohin gehen Sie?»
«Wir unterhalten uns einmal mit Tanners Verteidigerin.»
Nadine stellte ihren Porsche auf den Kundenparkplatz der Kanzlei im Gellert. Ruth Minder liess sie einige Minuten warten. Offenbar führte sie ein wichtiges Telefongespräch.
«Scheint ein f lorierendes Geschäft zu sein.»
«Allerdings. Die Villa lässt sich sehen, alles vom Feinsten.»
«Der Prozess brachte ihr bestimmt einiges an Geld ein, nur kein Renommé.»
«Kommissär Ferrari?»
«Freut mich, dass Sie einen Augenblick Zeit erübrigen können, Frau Minder. Das ist meine Kollegin Nadine Kupfer.»
«Sie sind mir nicht unbekannt. Ich dachte, dass Sie beide im Fall Tanner ermitteln. Ich war ganz erstaunt, als sich herausstellte, dass Andrea Christ, die Tochter meines Parteifreundes, die Ermittlungen führt. Ich wusste nicht einmal, dass sie bei der Polizei arbeitet. Bitte nehmen Sie Platz. Möchten Sie einen Kaffee oder ein Glas Mineralwasser?»
«Nein, danke. Wir möchten keine Umstände machen.»
«Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs?»
«Es geht um eine sehr delikate Angelegenheit.»
«Jetzt wirds spannend.»
«Wir befürchten, dass kurz nach der Urteilsverkündigung unsere Kollegin Andrea Christ entführt wurde.»
«Was?!?» Für einen kurzen Augenblick verlor Ruth Minder die Beherrschung, setzte aber sofort wieder ihr Pokerface auf. «Sie denken natürlich jetzt, dass es die Familie Tanner war. Und daher führt Sie Ihr Weg zu mir.»
«Korrekt.»
«Was erwarten Sie von mir, Frau Kupfer?»
«Sollte unsere Vermutung zutreffen und wir gehen leider davon aus, möchten wir Sie bitten, die Tanners auf die Konsequenzen hinzuweisen, die eine solche Straftat mit sich bringt.»
«Wenn sie etwas mit der Entführung zu tun haben, wissen sie genau, auf was sie sich einlassen. Die Polizei wird keine Ruhe geben, bis Kommissärin Christ befreit ist. Und der Entführer, wer auch immer es ist, wandert für einige Jahre ins Gefängnis. Das ist wohl jedem sonnenklar.»
«Sagen Sie Ihren Klienten, sie sollen Andi frei lassen.»
«Wie stellen Sie sich das vor? Sie wissen ja gar nicht, ob Frau Christ von den Tanners entführt wurde. Ich bin zwar Theos Anwältin, aber nicht für alles zuständig. Bedaure, ich kann nichts für Sie tun.»
«Sie wollen nichts tun.»
«Das ist Ihre Interpretation. Wie gesagt, Sie haben keinerlei Beweise. Gut möglich, dass sich Andrea Christ nur eine Auszeit nimmt. Positiv denken ist wichtig.»
«Hm.» Ferrari erhob sich.
«Sollte Ihre Vermutung jedoch zutreffen, werde ich die Verteidigung der Entführer übernehmen.»
«Und das Opfer vor Gericht wieder als Täterin darstellen? Eine prima Strategie.»
«Spielen Sie auf Selina Tschudin an?»
«Erraten. Wir waren im Gerichtssaal. Ich fand Ihre Argumentation äusserst peinlich.»
«Wir werden in der nächsten Instanz brisante Dokumente vorlegen, die beweisen, dass Selina in Theo verliebt war. Spätestens Ende Jahr ist Theo auf freiem Fuss.»
«Ich widerspreche Ihnen ungern, aber ich würde darauf wetten, dass er nie mehr freikommt.»
«Wir werden sehen. Wars das, Herr Kommissär?»
«Für den Moment ja. Wir sehen uns wieder, Frau Minder.»
«Das klingt wie eine Drohung.»
«Es ist ein Versprechen. Wie Sie gesagt haben, wir ruhen nicht, bevor wir unsere Kollegin gefunden haben. Und sollten sich unsere Vermutungen bewahrheiten, müssen Sie sich warm anziehen. Behinderung der Ermittlungen, Verschleierungstaktik und so weiter und so fort. Ich lege Ihnen dann persönlich Handschellen an.»
«Das ist doch …»
«… noch ein Versprechen. Ich rate Ihnen, Ihre Klienten zu überzeugen, Andrea sofort freizulassen. Und sollten sie ihr etwas antun, dann …»
«Was dann?»
Ferrari sah Frau Minder fest in die Augen.
«Wenn Andrea gefoltert wurde oder tot ist, werden Sie keine Angeklagten verteidigen können.»
«Sie wissen, was Sie damit sagen.»
«Sehr genau. Richten Sie dies den Tanners aus.»
Die Stimme des Kommissärs klang drohend, Ruth Minder wich instinktiv zurück.
«Ich verstehe, es ist Ihr absoluter Ernst. Ja, ich hörte von Ihren eigenartigen Methoden, Herr Kommissär, auch von Ihrem Beziehungsnetz zu einigen wichtigen Persönlichkeiten unserer Stadt und zu zwielichtigen Personen aus dem Milieu. Dass Sie jedoch die Unverfrorenheit haben, der Familie meines Mandanten mit Mord zu drohen, übersteigt alles.»
«Noch fehlen uns die Beweise. Vielleicht haben Sie recht und Andrea taucht plötzlich wieder auf oder jemand anderer hat sie entführt. Wir werden es bald wissen. Ich möchte lediglich, dass die Tanners wissen, was sie erwartet, falls sie involviert sind. Mehr nicht.»
«Ich denke darüber nach, ob ich mich da einmische oder nicht. Letztlich gerate ich nur zwischen die Fronten …»
«Das müssen wir Ihnen überlassen. Danke für Ihre Zeit.»
Nadine setzte sich mit einem tiefen Seufzer hinters Steuer.
«Das war deutlich, mehr als deutlich.»
«Sie sollen wissen, was passiert, wenn sie Andrea töten.»
«Du meinst es ernst.»
«Ja. Die Geschwister Tanner kämpfen mit harten Bandagen. Sie versuchten von Beginn weg den Prozess zu stören, Richter und Staatsanwalt einzuschüchtern. Zum Glück bissen sie auf Granit. Und diese Minder ist genau gleich. Weder Gesetz noch Gerechtigkeit interessieren sie, nur ihr persönlicher Erfolg. Wenn Andrea in den Händen der Tanners ist, müssen wir sie in den nächsten achtundvierzig Stunden retten. Danach sehe ich schwarz.»
«Beziehungsweise rot.»
«Nicht nur ich, Dani wird nicht zu bremsen sein. Wir machen lediglich die Augen zu, wenn er ein Massaker anrichtet, oder wir helfen ihm dabei. Schau dir die Fotos von Selina an. Ich musste mich übergeben. Das sind keine Menschen, die so etwas tun. Die stoppst du nur mit den gleichen Methoden.»
«Was würde passieren, wenn mich jemand entführt?»
«Ich würde ihn persönlich töten. Langsam, Stück für Stück. Dein Mörder würde eine Ewigkeit leiden … Weshalb küsst du mich?»
«Weil du ein wildes Tier bist.»
«Na ja, das war einmal. Inzwischen bin ich ruhiger geworden.»
«Stephan ruft an … Ja, was gibts? … Wir sind im Gellert … Okay, in etwa einer Viertelstunde, bis gleich … Stephans Leute haben eine Zeugin aufgetrieben.»
«Wo?»
«Auf dem Münsterplatz. Sie sah, wie eine junge Frau in einen Kombi hineingestossen wurde.»
Ein Kollege stellte Ferrari und Nadine einer Frau um die fünfzig vor, die vor dem Münsterbrunnen wartete. Sibylla Roth wirkte nervös und irgendwie unsicher.
«Ich weiss nicht, wen Sie suchen, Frau Kupfer, aber mir kam das schon komisch vor.»
«Erzählen Sie uns bitte, was Sie gesehen haben. Jedes noch so kleine Detail kann wichtig sein.»
«Gut, ich versuche es. Ich wohne am Schlüsselberg und arbeite in der St. Alban-Vorstadt in einer Agentur, halbtags. Meine Arbeitszeit kann ich einteilen, wie ich will. Ich war also gerade auf dem Weg ins Büro, etwa auf der Höhe vom Isaak, als eine jüngere Frau in Jeans und einer kurzen Jacke am Brunnen vorbei über den Platz lief. Sie fiel mir auf, weil sie so beschwingt ging, sie schien sehr zufrieden, und auch weil sie kurz an die Seite griff. Zu meinem Erstaunen trug sie einen Halfter – so wie die Polizisten in den Fernsehkrimis. Ich dachte noch, das ist bestimmt eine Detektivin in Zivil. Dann ging alles schnell. Von der Rittergasse fuhr in rasantem Tempo ein weisser Lieferwagen auf den Platz. Die junge Frau wich aus. Die Seitentüre öffnete sich und ein junger Mann schlug sie zu Boden.»
«Konnten Sie sehen, womit?»
«Es sah wie ein Rohr aus. Es könnte auch ein Wagenheber gewesen sein. Sie brach sofort zusammen. Der Mann sprang aus dem Wagen und zerrte sie hinein. Das dauerte keine halbe Minute. Ich … ich war total schockiert.»
«Konnten Sie sich die Autonummer merken? Oder die Marke des Wagens?»
«Weder noch. Tut mir leid. Ich war dermassen geschockt, dass ich nur dastand und zusah. Es war ein Kleintransporter, solche, die man mieten kann. Meine Tochter hat vor zwei Wochen mit so einem Auto Möbel transportiert … Bei Automarken kenne ich mich leider nicht aus. Es tut mir sehr leid, ich bin keine grosse Hilfe.»
«Fuhr der Lieferwagen danach wieder in die Rittergasse?»
«Ja, er drehte blitzschnell und fuhr zurück. Vor dem Münster hätte er beinahe einen Velofahrer gerammt.»
«War das die junge Frau?» Nadine zeigte ihr ein Foto von Andrea.
«Möglich … Die Haare waren anders, auch schwarz, aber kurz.»
«Andrea liess sich vor ein paar Tagen die langen Haare schneiden, Francesco. Das war sie!»
«Was unternahmen Sie danach, Frau Roth?»
«Ich wählte den Notruf, 117. Es kamen zwei Polizisten vorbei, die sich meine Aussage notierten. Ehrlich gesagt nahmen mich die beiden nicht besonders ernst.»
«Wann genau geschah die Entführung?»
«So gegen Viertel vor elf. Ich wollte nämlich um elf im Geschäft sein. Im Moment arbeite ich an einem Konzept für eine Fotoausstellung über Bäume und vergass gestern einige Unterlagen. Aber ich schweife ab …»
«Und dann?»
«Ich rief nochmals bei der Polizei an, das Ganze liess mir einfach keine Ruhe. Die Dame am Telefon fragte mich, warum ich nochmals anrufe. Die Beamten hätten ja meine Aussage aufgenommen. Ich erklärte ihr, dass die zwei Polizisten mich vermutlich für eine hysterische Kuh hielten, für eine Spinnerin, doch das sei ich nicht. Ich wiederholte, was ich gesehen hatte. Sofort leitete sie mich an einen Kommissär Moser weiter. Der bat mich, hier auf ihn zu warten. Ist die entführte Frau Ihre Kollegin?»
«Ja, wir gehen davon aus.»
«Schrecklich. Ich zittere noch immer, wenn ich daran denke.»
«Das ist verständlich. Unser Kollege wird Sie nach Hause begleiten. Vielen Dank, Frau Roth. Sie haben uns sehr geholfen.»
Der Kommissär schüttelte den Kopf.
«Unfassbar, diese Vollidioten … He, Nadine, wohin gehst du?»
«Zur Pfalz. Dort kannst du dich ein wenig abreagieren.»
«Ich will wissen, wer diese beiden Beamten sind. Nur weil sie die Zeugin nicht ernst nahmen, vergingen wertvolle Minuten. Du weisst ja, jede Sekunde zählt.»
«Stephan soll dies intern klären, wir kümmern uns jetzt einzig und allein um die Entführung. Wir müssen Andrea finden.»
«Ich knöpf mir diese beiden Trottel vor und wenn ich mit ihnen fertig bin, dann …»
«Willst du durchs Fernrohr schauen? Ich gebe dir zwei Franken aus. Die Sicht auf die Kleinbasler Skyline ist grandios.»
«Ich verzichte.»
«Wir haben Postkartenwetter, du verpasst etwas.»
«Jaja. Ich rege mich schon wieder ab. Wieso war Andrea auf dem Münsterplatz? Das Strafgericht befindet sich an der Schützenmattstrasse. Ich hätte sie beim Spalentor entführt, nicht auf dem Münsterplatz, das wäre logischer.»
«Sie spinnt genau wie du – ihr grosses Vorbild – und fährt immer mit dem Tram, in dem Fall mit dem Dreier vom Spalentor zum Barfi. Dann läuft sie zu Fuss den Münsterberg hoch, über den Münsterplatz in die Augustinergasse und weiter zum Rheinsprung. Vermutlich macht sie auch jedes Mal einen Abstecher zur Pfalz.»
«Woher wussten die Tanners, dass Andrea auf dem Münsterplatz war?»
«Ich nehme an, sie wurde beschattet. Während Andrea von der Pfalz die Aussicht genoss, brachten die Tanners den weissen Lieferwagen in Stellung.» Nadine sah dem Kommissär in die Augen. «Und du lässt deine Wut nicht an den Kollegen aus. Ist das klar?»
«Das kann ich dir nicht versprechen. Zuerst knöpfe ich mir diese beiden Idioten vor und dann mache ich die Baufirma der Geschwister Tanner in Kleinhüningen platt.»
«Nur zu. Soll ich Dani auf bieten? Am besten noch unsere Freunde aus dem Kleinbasel, Mark und Samir. Sie würden ihre Armee sofort in Bewegung setzen. Aber ob wir so Andrea finden, bezweif le ich.»
«Eins schwör ich dir: Sollten die Entführer Andrea töten, mache ich genau das.»
«Ich bin dabei … Wenn man vom Teufel spricht», Nadine blickte auf ihr Handy. «Hallo, Mark. An dich habe ich gerade gedacht … Ja, das ist nichts Neues. Er trägt sein iPhone nur mit sich herum, weil es in ist. Wir sind auf der Pfalz … Okay, in zehn Minuten. Francesco ist mies drauf … Wir erzählen es dir gleich. Ciao.»
«Was will er?»
«Mark lädt dich zu einem Hotz Spezial ein, zur Beruhigung. Ich bin heute grosszügig und ausnahmsweise damit einverstanden. Besser ein betrunkener, lockerer Partner an meiner Seite als ein unberechenbarer Vulkan.»
«Gehen wir.»
Mark Hotz erdrückte Nadine beinahe zur Begrüssung.
«Schön, euch wieder mal zu sehen. Und, ist er wieder normal?»
«Nein, er spinnt immer noch.»
«Erlaubst du ihm einen Spezial?»
«Sogar zwei.»
«Dann muss etwas Furchtbares passiert sein. Setzt euch. Ich rufe Michelle, Clara und Jake dazu. Ich will euch etwas fragen.»
Ferrari nippte gedankenversunken an seinem Glas.
«Könnt ihr mir sagen, was in der Stadt los ist? Es wimmelt nur so von Polizisten. Und komm mir nicht damit, dass das normal sei. Die sind alle total nervös und übel gelaunt wie Francesco.»
«Wir dürfen nicht darüber sprechen», brummte der Kommissär und nahm einen grossen Schluck.
«Andrea Christ ist entführt worden.»
«Was?! Die Tochter von Nationalrat Christ?!»
«Ja, exakt. Sie ist Kommissärin und eine verdammt gute dazu.»
«Ach du grosse Scheisse. Jetzt ist mir auch euer Grossaufgebot klar. Habt ihr einen Verdacht?»
«Der Tanner-Clan.»
«Wer?»
«Die Geschwister von Theo Tanner.»
«Das ist doch der Kerl, der das Girl auf dem Gewissen hat und heute zu lebenslänglich verdonnert wurde.»
«Genau der. Andi und ihr Partner Daniel ermittelten in diesem Fall. Die Entführung kann nur ein Racheakt der Tanners sein.»
«Kennen wir die?», wandte sich Mark an Jake, der sich zusammen mit Michelle und Clara an den Tisch gesetzt hatte.
«Die sind allesamt pervers. Frag Samir, er wird dir das bestätigen. Theos Bruder, Ralf Tanner, war Stammgast bei ihm. Eines von Samirs Mädchen ist beinahe wegen seinen brutalen Spielchen krepiert.»
«Und warum lebt er noch?»
«Sein Bruder löste ihn aus. Das Mädchen war bildhübsch, jetzt ist sie vollkommen entstellt. Ralf liebt Sadomaso-Spielchen. Als sie nicht freiwillig mitmachte, turnte ihn das erst recht an. Ein Perverser, genau wie sein Bruder.»
«Scheisse. Willst du noch einen?»
«Nein.»
«Du bist echt gesprächig, Francesco. Wie stehst du zu dieser Andrea?»
«Sie ist eine fähige Kollegin.»
«Mehr nicht?»
«Sie himmelt Francesco an», erklärte Nadine. «Sie will unbedingt so werden wie er.»
«Und was ist mit ihrem Partner? Wieso passt der nicht auf sie auf?»
«Weil wir Frauen auf uns selbst aufpassen können.»
«Klar, wie der Vorfall und etliche andere zeigen. Ich sage nur Erzengel.»
«Das höre ich wohl noch die nächsten hundert Jahre.»
«Oh ja, und zwar zu Recht. Dein Alleingang damals war unverantwortlich.»
«Ich kenne Tatjana», brachte sich Michelle ins Gespräch ein. «Das ist die Russin, die von diesem Ralf übel zugerichtet wurde. Die Tanners sind wirklich voll durch den Wind. Wie können wir euch bei der Suche nach eurer Kollegin unterstützen?»
«Verkehrt Ralf Tanner immer noch im Milieu?»
«Jake?»
«Bei uns ist er nie mehr aufgetaucht, bei Samir auch nicht. Der getraut sich nicht mehr zu uns. Alle wissen, dass er bekloppt und pervers ist.»
«Gut. Ich bin einerseits froh, dass die Armada nicht uns gilt, und andererseits beunruhigt, wenn ich Francesco anschaue. Mach ja keine Dummheiten, hörst du?» Mark legte seinen Arm um Ferraris Schultern. «Überlass die Drecksarbeit Belinski oder uns. Ich habe mich an dich gewöhnt. Ich will dich nicht wegen einer Unvorsichtigkeit verlieren.»
«Wo ist eigentlich deine Schwester, Clara?»
«Zu Hause. Sie weiss nicht, dass ihr bei uns seid. Ich will nicht, dass sie alles mitbekommt.»
«Dann richte ihr besser keinen Gruss von mir aus.»