Tausend Kompromisse - Anne Gold - E-Book

Tausend Kompromisse E-Book

Anne Gold

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Beschreibung

Zwei Jahre sind vergangen, seit Nationalrat Markus Christ seine geliebte Frau Anna verloren hat. Noch immer holt ihn die Vergangenheit ein. Dank seiner Assistentin Nicole Ryff bewältigt er zwar einigermassen den Alltag, stellt sich aber vermehrt die Frage nach dem Sinn des Lebens. Will er an seiner politischen Karriere festhalten und immer noch Bundesrat werden? Was ist im Leben wirklich wichtig? Auch seine Tochter Tina gerät in einen Gewissenskonflikt, denn sie zweifelt die Diagnose eines allseits geschätzten Arztkollegen an. Zu Recht? Spannungen sind vorprogrammiert und ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, zumal die Patientin immer schwächer wird. Ihre Schwester Andrea, die Kommissärin, und ihr Partner Daniel wiederum werden mit dem Mord an Daniels Freund konfrontiert. War er nur im falschen Moment am falschen Ort oder steckt mehr dahinter? Pfarrer Florian, der Jüngste des Geschwistertrios, schliesslich fühlt sich noch immer von seiner Lebenspartnerin Sara hintergangen. Die Situation spitzt sich extrem zu, als Sara versucht, einer verzweifelten Mutter von zwei Mädchen zu helfen, die am Rande eines psychischen Zusammenbruchs steht. Anne Gold legt den dritten Roman ihrer neuen Serie vor – der Christ-Clan.

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DER CHRIST-CLAN

Anne Gold

Tausend Kompromisse

Friedrich Reinhardt Verlag

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Claudia Leuppi

Korrektorat: Daniel Lüthi

Titelbild: Foto, Laurids Jensen; Creative Director, Dora Borostyan

eISBN 978-3-7245-2738-1

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2476-2

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

www.reinhardt.ch

www.annegold.ch

Der Weg der Reflexion ist der Weg des Kompromisses.

Agustina Bessa-Luís

INHALT

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

ANNE GOLD IM FRIEDRICH REINHARDT VERLAG

1. KAPITEL

Am frühen Morgen war es auf dem Friedhof am ruhigsten. Keine Gärtner, keine Trauergemeinde, keine weinenden Angehörigen, die ihre Hinterbliebenen beklagten, und auch keine Journalisten, die Fragen zu aktuellen Themen stellten, oder unbekannte Mitmenschen, die einen unbedingt kennenlernen wollten und nicht begriffen, dass auch ein bekannter Politiker seine Privatsphäre brauchte. Markus Christ liebte diese stillen Momente. Andächtig stand er vor dem Grab seiner Frau Anna, während seine Assistentin Nicole Ryff eine Kerze anzündete. Nicole erhob sich und trat einige Schritte zurück, um ihren Chef für einen Moment allein zu lassen. Die Erinnerung tat weh. Sehr sogar. Jetzt bist du bereits zwei Jahre tot und ich kann es noch immer nicht glauben, haderte Christ. Der Schmerz ist kein bisschen kleiner geworden. Ganz im Gegenteil. Es fällt mir unheimlich schwer, diesen unsäglichen Verlust zu akzeptieren, geschweige denn zu verkraften. Wie heisst es so schön? Die Zeit heilt alle Wunden. Nicht bei mir. Dein unnötiger Tod hinterlässt tiefe Narben, die noch lange nicht verheilt sind. Zu Hause höre ich dein Lachen, auf Schritt und Tritt begleitet mich dein Schatten. Wir hatten eine glückliche Zeit, doch nichts ist für die Ewigkeit, das hast du mir oft mit einem Lächeln gesagt. Wie wahr. Wir durften schöne und unglaublich intensive Jahre miteinander verbringen. Dafür bin ich dankbar. Es war dein ausdrücklicher Wunsch, dass ich die Vergangenheit hinter mir lasse, mich nicht in ihr verstecke, sondern nach vorne schaue, auch ohne dich. Ohne dich! Wut stieg in ihm auf und vertrieb die tiefe Trauer für einen kurzen Augenblick. Warum nur, Anna? Wir könnten noch immer zusammen sein, wenn du dich mir oder unserer Tochter Tina anvertraut hättest. Gemeinsam hätten wir den Krebs besiegt, aber du musstest ja immer den Alleingang wählen. Du hast dein schreckliches Geheimnis für dich behalten, bis es zu spät war. Anna! Du bist und bleibst die Liebe meines Lebens. Mit Tränen in den Augen legte er eine Rose aufs Grab und drehte sich zu Nicole um.

«Lass uns gehen.»

«Wir können auch noch bleiben.»

«Es ist gut. Danke, dass du mitgekommen bist.»

«Das ist selbstverständlich.»

«Ist es nicht und es bedeutet mir viel.»

«Anna war meine beste Freundin.»

«Ja, doch selbst dir erzählte sie nichts von ihrer Krankheit. Ich verstehe es noch immer nicht.»

«Das begreift keiner von uns.»

«Gehen wir, bevor der Rummel losgeht.»

«Rummel ist etwas übertrieben. Hier sind höchstens zehn Menschen.»

«Das sind zehn zu viel. Ich will mit Anna und dir allein sein. Du brauchst nicht gleich zu erröten, es ist einfach so. Dieser Moment gehört uns dreien.»

«Deine Komplimente sind gewöhnungsbedürftig.»

«Das waren sie von jeher. Anna lachte immer und sagte, ich hätte den Charme einer Dampfwalze.»

«Zu Recht. Irgendjemand stiehlt die Kerze von ihrem Grab.»

«Das behauptest du jedes Mal.»

«Ich behaupte es nicht, es ist wahr. Irgendein Verrückter klaut sie und stellt sie vermutlich auf ein anderes Grab.»

«Oder die Friedhofsgärtner entsorgen sie, sobald sie ausgebrannt ist. Wie auch immer, ich bin sicher, Anna stört das nicht.»

«Aber mich. Ich hätte die grösste Lust, den ganzen Friedhof nach unserer Kerze abzusuchen.»

«Etwas viel Aufwand wegen einer Kerze.»

«Es geht nicht um die Kerze. Ich finde es pietätslos und eine absolute Frechheit, dass so ein Idiot Annas Grab schändet.»

«Jetzt übertreibst du. Wenn jemand die Kerze klaut, stört er noch lange nicht Annas letzte Ruhe.»

«Der Dieb weiss ganz genau, dass wir immer am Dienstagmorgen kommen. Er wartet bestimmt hinter einem Baum und beobachtet uns. Wenn sie heute Abend nicht mehr da ist, stellen wir ihm eine Falle.»

«Heute Abend? Wir?»

«Rita wird einen Kontrollgang machen. Ist die Kerze weg, schnappen wir ihn nächste Woche.»

«Du setzt dein Team ein?»

«Logisch, Rita und Helen unterstützen mich voll. Und wenns sein muss, mobilisiere ich auch noch die Polizei. Der kommt nicht ungeschoren davon.»

«Denkst du etwa an meine Tochter Andrea, ihres Zeichens Kommissärin, und ihren Partner Dani?»

«Korrekt. Sie sind dabei.»

«Das ist nicht euer Ernst? Ihr wollt auf dem Friedhof einen Streit wegen einer Kerze anzetteln?»

«Genau das werden wir tun, falls notwendig. Und um deine Lieblingsworte zu zitieren: Ich will nicht weiter darüber diskutieren.»

Kopfschüttelnd blickte Christ zum Grab zurück. Du solltest es ihnen ausreden, Anna. Aus weiter Ferne hörte er ihr Lachen. Ja, ja, du hast gut lachen da oben auf deiner Wolke. Wärst du jetzt hier, würdest du die Sache regeln. Du hast zeitlebens die Familie zusammengehalten, du warst das Herz der Familie. Ich vermisse dich so sehr. Langsam erwachte der Friedhof zum Leben. Christ schmunzelte, irgendwie ein Widerspruch in sich. Eine kleine Gruppe gab einem Verstorbenen das letzte Geleit, requiescat in pace. Ich mag das Hörnli nicht, aber eines muss man zugeben – die Lage ist exklusiv. Bei klarer Sicht sieht man bis zum Blauen und zu den Vogesen. Eigentlich erstaunlich, dass bisher noch kein Politiker den Vorstoss wagte, die Gräber aus dem Wohngebiet zu verbannen.

«Wenns kein Friedhof wäre, könnte man hier einen super Park anlegen.»

«Oder Luxuswohnungen bauen.»

«Die Bevölkerung würde dich dafür schlachten. Das wäre das Aus deiner Karriere … Schau, dort sind zwei Rehe.»

«Wo? … Die sind aber gar nicht scheu.»

«Zurzeit leben rund 25 Rehe auf dem Friedhof. Du kennst ja die leidige Debatte um den Abschuss. Und alles weil sie ein paar Blumen fressen.»

«Mit der Frau dort bei dem Grab stimmt etwas nicht», bemerkte Christ.

«Wieso?»

«Sie kniet schon die ganze Zeit über vor dem Grabstein. Komm, fragen wir, ob wir ihr helfen können.»

Die alte Dame versuchte vergebens, sich am Grabstein hochzuziehen. Sanft zog Markus sie an den Armen hoch.

«Danke», keuchte sie. «Meine Beine wollen heute gar nicht. Das ist mir noch nie passiert.»

«Können wir Sie irgendwo hinfahren?»

«Das ist nicht notwendig. Ich schaffe es schon alleine», antwortete die alte Dame schwankend.

«Daran zweifeln wir nicht.» Lächelnd hängte sich Nicole bei ihr ein. «Aber manchmal tut Gesellschaft einfach gut. Unser Auto steht oben bei den Kapellen. Wir bringen Sie sehr gern nach Hause.»

«Das … Das kann ich nicht annehmen.»

«Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Nicole kennt keine Gnade. Glauben Sie, ich weiss, wovon ich spreche.»

Die Frau starrte Christ nachdenklich an.

«Ich … Ich kenne Sie doch … Mein Gott, Sie sind unser neuer Bundesrat.»

«So weit ist es noch lange nicht. Ich bin einer von vielen Kandidaten, die durch die Medien schwirren. Und selbst, wenn ich nominiert werde, weiss ich nicht, ob ich die Kandidatur annehme. Ich bin Markus Christ und das ist meine Assistentin Nicole Ryff, ohne die ich ziemlich hilflos bin.»

«Das ist ja ein schöner Zufall. Ich heisse Erika Roth.»

«Freut mich, Sie kennenzulernen. Wohin dürfen wir Sie bringen?»

«Ich nehme den Bus.»

«Damit wird Nicole nicht einverstanden sein. Ausserdem sieht es nach Regen aus, versuchen wir rechtzeitig ins Trockene zu kommen.»

«Also gut. Ich gebe mich geschlagen … Ich wohne in der Nähe vom Claraspital.»

«Das passt wunderbar, wir fahren sowieso in die Stadt zurück.»

Markus öffnete Erika Roth die Beifahrertür und stieg hinten ein. Die alte Frau blickte irritiert zu Nicole.

«Ich fahre immer. Der Bundesrat in spe lässt sich gerne chauffieren.»

«Das war bei uns ganz anders. Mein Mann liebte sein Auto über alles.»

«Genau wie ich.»

«Nur wenn er nicht dabei war, sass ich hinter dem Steuer. Meine Schwester und ich sind dann immer losgerast. Einmal machten wir einen Ausflug nach Zürich … Ach, das waren noch Zeiten … Wir kamen erst um Mitternacht nach Hause.»

«Zum Ärger Ihres Gatten.»

«I wo! Er war sogar froh, mal seine Ruhe zu haben.»

«Was fuhren Sie für einen Wagen?»

«Hansruedi liebte grosse Amerikaner, er wechselte immer zwischen Dodge und Chevrolet. Nur einmal haben wir uns einen Ford angeschafft, einen Mustang.»

«Dodge und Chevi mit Flügeln?»

«Ja und mit Steuerschaltung. Vorne gab es keine Einzelsitze, nur eine Bank wie hinten. Da konnten drei Personen sitzen. Wir fuhren wie auf Engelsflügeln.»

«Wahnsinn!»

«Allerdings schluckten diese Autos enorm viel Benzin. Auf der Autobahn über zwanzig Liter. Fahrzeuge waren Hansruedis Leidenschaft. Sie müssen wissen, wir besassen drei Kipplaster. Mein Mann führte den Betrieb und ich erledigte die kaufmännischen Arbeiten. Wir waren ein sehr gutes Team.»

«Ist Ihr Mann schon lange verstorben?»

«Fünfzehn Jahre. Es war ein schrecklicher Unfall. Bei einem Aushub rutschte Hansruedi mit dem Laster über den Rand der Baugrube, sie konnten ihn nur noch tot bergen. Für mich brach die Welt zusammen. Ich verkaufte die Firma an einen seiner Fahrer, der baute sie in den letzten Jahren stark aus. Er macht sein Geld vor allem mit Abfalltransport. Ach ja, die Vergangenheit … Zum Glück warf unser Geschäft genug Geld ab. Wir konnten uns ein schönes Haus kaufen und eine hübsche Summe auf die Seite legen. Ausserdem schlossen wir in jungen Jahren eine Lebensversicherung ab. Hansruedi wollte zwar nicht, er hielt es für unnötig, doch ich setzte mich durch. Ich kann mich also nicht beklagen.»

«Eine neue Partnerschaft wollten Sie nicht eingehen?»

«Wenn Sie meinen Hansruedi gekannt hätten, wüssten Sie, dass es für einen neuen Partner hoffnungslos gewesen wäre. Er hätte sich immer mit ihm messen müssen. Nein, nein, es ist gut so, Frau Ryff. Dort vorne rechts. Es ist das Eckhaus am Ende der Strasse.»

Nicole stellte den Wagen vor dem Haus ab.

«Möchten Sie noch auf einen Kaffee reinkommen?»

«Gern ein anderes Mal. Markus hat in einer Stunde einen Termin.»

«So viel Zeit wird ja noch sein», erwiderte Markus und folgte der alten Frau ins Haus.

«Sie können sich ruhig umschauen, Herr Christ. Ich mache uns schnell Kaffee.»

Neugierig spähte er ins Wohnzimmer, in dem ein kleiner Schwedenofen und eine beeindruckende Bücherwand standen, öffnete vorsichtig die Balkontür und trat in einen wunderbar gepflegten Garten hinaus. Herrlich. Schliesslich gesellte er sich zu den beiden Damen in die Küche.

«Neugierde befriedigt?»

«Du hast was verpasst. Es ist viel grösser, als man von aussen glaubt, und der Garten ist ein Traum.»

«Als Hansruedi das Haus baute, standen hier nur ganz wenige. Inzwischen ist eine richtige kleine Siedlung entstanden. Leider zogen einige unserer Nachbarn weg und eine Pensionskasse kaufte die Häuser auf.»

«Die wissen nicht, wohin mit ihrem Kapital. Immobilien an solch einer Lage sind eine sichere Sache.»

«Sie wollten mein Haus ebenfalls kaufen, doch ich lehnte ab. Das können sie, wenn ich tot bin. Noch einen Kaffee?»

«Danke, wenns nach Markus ginge, würde er den ganzen Tag mit Ihnen plaudern. Aber wir müssen den Termin einhalten.»

«Noch eine Frage, vielmehr zwei. Können wir Sie alleine lassen?»

«Ja natürlich. Es war nur eine kleine Schwäche. Zur Sicherheit werde ich morgen zu meinem Arzt gehen.»

«Das ist vernünftig.»

«Und Ihre zweite Frage?»

«Ach ja … Haben Sie Kinder?»

«Leider nein. Darunter litt ich mein ganzes Leben lang. Ich wünschte mir so sehr Kinder. Wir konsultierten mehrere Ärzte. Am Ende stellte sich heraus, dass Hansruedi keine bekommen konnte, und eine Adoption kam für uns nicht infrage. Meine Schwester Sophie hat zwei Jungs, die sind wie meine eigenen Söhne. So, jetzt müssen Sie aber los, sonst kommen Sie zu spät. Vielen herzlichen Dank, dass Sie mich nach Hause gebracht haben.»

«Es war uns ein Vergnügen.»

Erika Roth winkte ihnen nach, bis sie in die Hauptstrasse einbogen.

«Ihre Stimme ist dir sicher.»

«Als National- oder als Bundesrat?»

«Beides, wobei Bundesräte ja nicht direkt vom Volk gewählt werden.»

«Und das ist auch gut so.»

«Ich weiss nicht. Es wäre spannend zu erleben, wie beziehungsweise wen die Schweizer Bürger wählen würden. Eine direktere Demokratie gäbe es nicht. Da würde der Laden mal richtig aufgemischt. Die ewigen Kompromisse und das Schmieden von Koalitionen hätten ein Ende. Ich ertrage das manchmal nur sehr schwer.»

«Du wärst eine schlechte Politikerin, immer auf Konfrontationskurs. Wenn dich jemand angreift, wird er fertiggemacht. Du würdest unzählige Leichen hinterlassen.»

«Das ist das schönste Kompliment von dir seit Langem. Es kann nicht jeder so ausgeglichen sein wie du.»

«Das klingt aus deinem Mund nicht besonders nett. Du meinst, der Partnertausch liegt nicht jedem.»

«Genau. Werden wir jetzt eigentlich Bundesrat?»

«Wärst du enttäuscht, wenn wir es nicht werden?»

«Ich kann gut damit leben.»

«Ehrlich gesagt bin ich noch immer unschlüssig. Einerseits reizt mich das Amt, andererseits liebe ich Basel und die Menschen hier. Als Nationalrat kann ich für meine Stadt mehr erreichen. Und solche Begegnungen wie eben würde ich sehr vermissen. Ich liebe den direkten Kontakt zu den Bürgern.»

«Dann bleib Nationalrat oder werde Regierungsrat.»

«Das ist eine hervorragende Idee. Ich könnte mich bei den nächsten Wahlen als Regierungsrat aufstellen lassen.»

«Mach das, du wirst bestimmt gewählt.»

«Jetzt hast du dich verraten – du willst gar nicht nach Bern.»

«Die Sessionen in Bern genügen mir vollauf. Ich bin jedes Mal froh, wenn wir wieder in Basel sind.»

«Warum hast du das noch nie so deutlich gesagt?»

«Weil ich nicht sicher war, ob du Bundesrat werden willst.»

Markus sah Nicole kopfschüttelnd von der Seite an.

«Du würdest mir zuliebe mit deinem gesamten Tross nach Bern ziehen?»

«Das haben wir demokratisch entschieden.»

«Du, Helen und Rita.»

«Exakt und nach Absprache mit Sebastian, denn Helen ist die einzige von uns dreien, die verheiratet ist.»

«Ich kann mir gut vorstellen, wie die Absprache ablief.»

«Sebastian könnte sich eine Karriere beim Bund durchaus vorstellen. Seine Wurzeln sind im Berner Oberland.»

«Das wusste ich nicht.»

«Er wird enttäuscht sein, dass wir nicht Bundesrat werden.»

«So weit sind wir noch nicht. Ich … Ich brauche Bedenkzeit. Wieso lachst du?»

«Die Entscheidung ist längst gefallen. Du willst nicht fort aus deiner geliebten Stadt. Entweder wir bleiben National- oder wir werden Regierungsrat.»

«Wenn du meinst.»

«Kannst du deine Rede?»

«Welche Rede?»

«Helen hat sie dir auf den Tisch gelegt … Das ist wieder einmal typisch für dich. Wir ackern Tag und Nacht, damit du dich nicht blamierst, aber der Herr nimmt das Ganze locker. Es ist schliesslich eine Tagung der Versicherungsbranche und nicht irgendein bedeutungsloser Kaninchenzüchter-Verein.»

«Nichts gegen Kaninchen.»

«Irgendwann geht es schief und dem Hinterletzten fällt auf, dass du nicht vorbereitet bist. Und das fällt dann auf uns zurück, aber das ist dem Herrn piepegal. Er unterhält sich lieber mit alten Damen bei einem Kaffee.»

«Was wichtig ist, wenn wir Regierungsrat werden oder Nationalrat bleiben wollen. Jede Stimme zählt. Zudem wächst die alte Bevölkerung stetig und sie nimmt ihr Wahlrecht wahr.»

«So, wir sind da. Ich bin gespannt, wie du den Kopf dieses Mal aus der Schlinge ziehen willst. Viel Vergnügen, kann ich da nur sagen.»

«Danke.»

Christ griff hinter sich auf den Rücksitz.

«Was ist das?»

«Helens Rede. Ich muss mich noch bei ihr bedanken, sie hat hervorragend recherchiert. Die Versicherungsmenschen werden von meinem Wissen begeistert sein.»

Der Gewerkschaftsvertreter des Staatspersonals referierte schon beinahe eine Stunde und ein Ende schien nicht in Sicht. Kommissärin Andrea Christ verfluchte ihn und vor allem sich selbst. Warum nur liess ich mich von Daniel zu dieser Versammlung schleppen? Der Typ drohte den Behörden, dass die Gewerkschaft durch einen Streik ihre Forderungen durchsetzen würde. Kein Tram würde mehr fahren, der Abfall nicht mehr abgeholt, vom Rhein her würden Ratten die Innenstadt erobern, sich Seuchen ausbreiten und die Kriminalität wie im Chicago der 1920er-Jahre ansteigen.

«Die Schnapsnase vergisst die Uniklinik und die Bahn.»

«Pst!»

Sie würden bis zum letzten Mann auf der Strasse kämpfen und die unfähige Regierung in die Knie zwingen. Alle für einen, einer für alle. Es sei an der Zeit, aufzustehen. Stand up for your rights. In anderen Ländern hätte das Volk gezeigt, was möglich sei.

«Er vergisst die Frauen.»

«Was?»

«Er redet immer nur von Männern. Was ist mit uns Frauen?»

Endlich holte er zum entscheidenden Schlag aus: Die Welt blicke auf Basel. Sie würden ein Zeichen setzen, hier und heute, für den einfachen Mann, der nur um eines kämpfe, um seine Rechte. Die anwesenden Polizisten klatschten artig Beifall.

«Jetzt halten wir noch Händchen, singen die Internationale und dann gehen wir gestärkt an die Arbeit.»

«Warte. Ich will Eberhard zu seiner Rede beglückwünschen.»

«Du kennst den Bekloppten?»

«Ein Schulfreund von mir.»

Der Saal leerte sich unheimlich schnell. Eberhard Kuster wirkte zufrieden, sorgfältig packte er seine Sachen zusammen.

«Dani! Das freut mich aber, dass du gekommen bist.»

Sie umarmten sich.

«Das ist meine Partnerin Andrea Christ. Super Rede.»

«Danke. Finden Sie das auch, Frau Christ?»

«Ich habe selten grösseren Mist gehört.»

«Andrea!»

«Ich bin nur ehrlich. Sie sprechen von Klassenkampf, die Stadt soll brennen, das Chaos ausbrechen. Wo sind wir denn? Das hier ist Basel, eine gemütliche Stadt am Dreiländereck. Wer demonstrieren will, soll dies auf vernünftige Art und Weise tun. Ohne Krawalle. Unsere Kollegen sind schon reichlich bedient mit den Ausschreitungen, die es bei Fussballspielen gibt. Ich erinnere an den 10. April 2016.»

«Man muss die Menschen aus ihrer Lethargie wachrütteln. Sie müssen endlich realisieren, wie sehr sie ausgebeutet werden.»

«So ein Stuss. Wenn Sie Ihre Wahnsinnsideen in die Realität umsetzen, nehmen wir euch auseinander.»

«Haben Sie die Begeisterung im Plenum gespürt? Der tobende Beifall spricht für sich.»

«Vermutlich war ich an einem anderen Anlass. Die Kollegen klatschten aus Höflichkeit. Ich glaube kaum, dass einer von denen an Ihrem Kampf teilnimmt.»

«Dass Sie so denken, wundert mich nicht. Sie sind die Tochter von Nationalrat Christ.»

«Was wollen Sie damit andeuten?»

«Sie wohnen auf dem Bruderholz und gehören zum Establishment. Das ist genau die Gruppe, die es zu bekämpfen gilt. Sie fürchten um ihre Privilegien, wenn sich das Volk erhebt.»

«Ich kenne die ganze Familie. Sie sind anders.»

«Du hast dich einlullen lassen, Dani. Was ist aus dem Kämpfer geworden, der sich immer für die Schwachen einsetzte? Kehre um, solange du noch kannst.»

«Sie gehören in die Klapse. Zum Glück gibts andere Gewerkschafter. Solche, die die Realität erkennen und sich an den Verhandlungstisch setzen.»

«Und kläglich scheitern, weil sie von Leuten wie Ihnen verarscht werden.»

«Komm, Dani, das bringt doch nichts.»

«Nur noch eine Sekunde … Entschuldige dich bei Andrea und zwar auf der Stelle.»

«Niemals!»

«Dani, nicht!»

Er riss Kuster vom Podest und drückte ihn gegen die Wand.

«Hör zu, du Suffkopf. Wenn du noch einmal Andrea beleidigst, stehst du nie mehr auf einem Podium. Du warst schon in der Schule ein ewiger Querulant und ein Schmarotzer. Ich bedaure, dass ich deiner Einladung gefolgt bin. Noch mehr, dass ich Andrea zu dieser Veranstaltung geschleppt habe.»

«Lass ihn los. Er kriegt keine Luft mehr.»

«Die hat er bei seinem Schmarren verbraucht. Noch etwas. Sollte es tatsächlich zum Klassenkampf kommen, findest du mich in der ersten Reihe neben Markus Christ. Ich freue mich schon auf unsere Begegnung. Aber wie ich dich kenne, muss ich mich durch die Menge bis ganz nach hinten drängen, bis ich dich finde.»

Dani liess ihn los. Eberhard atmete tief durch und starrte seinen Schulfreund entsetzt an. Seine Notizen lagen wild verteilt auf dem Boden. Andrea sammelte die Blätter auf und drückte sie ihm in die Hand.

«Wir sehen uns. Ich bin gespannt, wie viele Leute Sie mit Ihren Reden mobilisieren. Von wie viel Lohnerhöhung sprechen wir?»

«Fünf Prozent!», krächzte der Geschockte.

«Soviel ich weiss, bot die Regierung anderthalb an bei einer Null-Prozent-Teuerung. Man wird sich bei zwei Prozent einigen.»

«Oh nein!»

«Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sie stehen auf verlorenem Posten, denn niemand will die von Ihnen gepriesene Anarchie, weder die Gewerkschaften noch die Regierung und schon gar nicht die Bevölkerung, für die Sie sich angeblich einsetzen.»

«Sie werden es erleben!»

«Komm, Andrea, ich muss hier raus.»

Vor der Eventhalle unterhielten sich einige Kollegen über die eben gehörte Brandrede. Sie waren sich einig, Eberhards Visionen hatten nichts mit der Realität zu tun. Als Andrea und Dani bei der Haltestelle ankamen, begann es zu nieseln.

«Sorry.»

«Wieso? Das war total amüsant. Bei uns wird es ihm nicht gelingen, die Massen aufzuwiegeln. Dafür gehts uns viel zu gut. In anderen Ländern sieht es anders aus.»

«In Frankreich zum Beispiel.»

«Genau. Die jugendlichen Arbeitslosen würden dieses Gedankengut aufsaugen und Eberhard blind folgen. Man könnte es ihnen auch nicht verdenken, sie haben null Perspektive, nichts gelernt, keine Arbeit, sind frustriert und latent gewaltbereit. Da braucht es nicht viel und eine Stadt oder ein ganzes Gebiet brennt. Ein komischer Typ, dein Schulfreund.»

«Er war schon immer ein Spinner. Ich hätte es wissen müssen, aber ich dachte, wenn er jetzt bei der Gewerkschaft arbeitet, ist er ausgeglichener geworden.»

«Seid ihr zusammen aufgewachsen?»

«Ja, in Oberwil. Wir gingen die ersten paar Jahre in die gleiche Klasse, dann zogen sie weg. Vor einem Monat traf ich ihn an einer Klassenzusammenkunft. Er machte einen ganz vernünftigen Eindruck, tja, so kann man sich täuschen.»

«Das Tram kommt.»

«Zurück in den Waaghof?»

«Ich möchte noch kurz für Tina in der Freien Strasse ein Parfum abholen.»

«Dann fahren wir bis zum Marktplatz.»

Als sie aus dem Tram stiegen, tobte ein heftiges Herbstgewitter. Gerade noch rechtzeitig ergatterten sie einen der letzten freien Plätze im Café Schiesser. Nach einer halben Stunde war das Schlimmste vorbei und die ersten Sonnenstrahlen drangen durch die Wolkendecke.

«So ein Regen hat auch was Gutes.»

«Stimmt. Ich mag die Atmosphäre hier, irgendwie spürt man die lange Tradition.»

«Ist es nicht sogar das älteste Kaffeehaus der Schweiz?»

«Gut möglich. Wollen wir los?»

«Klar.»

Sie schlenderten die Freie Strasse hinauf. Bei der Parfümerie Douglas blieb Andrea stehen.

«Kommst du mit rein?»

«Ich warte draussen.»

Die Haupteinkaufsstrasse belebte sich langsam wieder. In den Schaufenstern vieler Geschäfte hingen Schilder, die mit bis zu fünfzig Prozent Rabatt um kauffreudige Kunden warben. Pre-Sale – Sonderverkauf – Herbstrabatt. Offenbar läuft der Verkauf nicht besonders. Früher gab es zweimal im Jahr einen Ausverkauf, im Sommer und im Winter. Inzwischen wurden die Gesetze stark liberalisiert und wir erleben seither eine regelrechte Rabattschlacht. Ich darf gar nicht an den Black Friday oder den Cyber Monday denken, Dani stöhnte leise. Auf der einen Seite sind wir mit einer Konsumwut konfrontiert und auf der anderen mit der Zunahme von Menschen, die unter der Armutsgrenze leben. Auch hier in Basel nimmt die Armut zu, rund fünfundzwanzig Prozent können bereits heute ihre Steuern nicht mehr bezahlen, Tendenz steigend, während weitere fünfzehn Prozent die Steuerschulden abstottern. Erstaunlich, dass die Stadt weiterhin schwarze Zahlen im dreistelligen Millionenbereich schreibt. Dies ist der sehr fähigen, linken Finanzministerin zuzuschreiben. Nur fragt sich, wie lange der Geldsegen noch anhält. Was ist, wenn einer der beiden Pharmariesen das Weite sucht? Nicht auszudenken. Das wäre eine absolute Katastrophe. Menschen wie Eberhard würden sich darüber freuen, Dani schüttelte den Kopf. Es ist genau wie früher: Eberhard genoss es bereits als Kind, wenn sich zwei in die Wolle kriegten. Er war und ist ein Querulant. So einer gehört nicht in eine Gewerkschaft, vor allem nicht als Vordenker. Hoffentlich sehen es alle Kollegen so locker wie Andrea und seine Hetzkampagne trägt keine Früchte.

«Erledigt. Sorry, es dauerte etwas länger. Die Verkäuferin wollte mir unbedingt noch eine Neuheit andrehen. Wie findest du das?», Andrea hielt Dani ihren Arm hin.

«Verführerisch.»

«Wirklich? Heisst das, ich soll es kaufen?», stammelte die Kommissärin verlegen.

«Unbedingt! Dieser Duft ist betörend. Ich weiche dir nicht mehr von der Seite.»

«Dann überleg ich es mir lieber nochmal.» Andrea griff nach ihrem Handy. «Der Chef sucht uns … Ja? … Wir sind auf dem Weg ins Kommissariat … Totaler Mist. Ein frustrierter Aufwiegler … Nein, das glaube ich nicht. Der Applaus war mässig und draussen spotteten die Kollegen über den Typ … Okay, wir übernehmen. Wo ist es? … Friedrich Miescher-Strasse. Wo ist denn die? … Aha, kurz vor der Grenze … Gut … Wir sind mit dem Tram unterwegs … In Ordnung, wir warten in der Aeschenvorstadt vor der Buchhandlung Bider&Tanner.»

«Arbeit?»

«Jep. Ein Toter in einem Bürokomplex, vermutlich erschlagen. Wir werden am Bankverein von einem Streifenwagen abgeholt.»

Zehn Minuten später wurden sie mit Blaulicht und Sirene über den Ring chauffiert. Der Fahrer, ein junger Kollege, drückte trotz stärkerem Regen aufs Gaspedal. Beim Felix Platter-Spital bog er links in die Burgfelderstrasse, fuhr kurz vor der französischen Grenze am Helikopterlandeplatz und der Gärtnerei des Bürgerspitals vorbei und stoppte abrupt vor einem Bürogebäude, vor dem bereits zwei Streifenwagen warteten. Die uninformierten Kollegen begleiteten Andrea und Dani in den zweiten Stock. Nur mit Mühe bahnten sie sich einen Weg durch eine schaulustige Menschenmenge.

«Gut, dass ihr endlich kommt. Der Tote liegt im vorletzten Büro, nicht zu verfehlen. Was sollen wir den Leuten sagen?»

«Nehmt die Personalien auf und befragt sie, ob jemand etwas gesehen hat.»

«Ist bereits erledigt. Es sind keine Angestellten von Rodiha darunter.»

«Von was?»

«So heisst die Firma. Keiner der Gaffer will etwas bemerkt haben.»

«Dann sollen die wieder ihrer Arbeit nachgehen. Wer hat den Toten gefunden?», erkundigte sich Andrea.

«Eine Frau, die steht unter Schock. Sie wird von unserer Psychiaterin betreut und wartet im Chefbüro auf euch.»

«Gut. Zuerst sehen wir uns den Toten an.»

Die Leiche lag hinter einem Schreibtisch. Gerichtsmedizinerin Katharina Boll untersuchte den Toten, während ihr Team Spuren sicherte.

«Können wir reinkommen, Katharina?»

«Kein Problem, Dani. Nehmt Handschuhe und achtet auf die Blutspritzer.»

«Kannst du schon sagen, was passiert ist?»

«Auf den ersten Blick sieht es wie ein Raubmord aus.»

«Was gibts denn hier zu holen?»

«Die Firma handelt anscheinend mit Rohdiamanten, ganz genau weiss ich es nicht. Wir konnten ziemlich viele Fingerabdrücke sicherstellen und eines steht auch ohne Obduktion mit grosser Wahrscheinlichkeit fest: Dieser Briefbeschwerer ist die Tatwaffe.» Sie hielt einen metallenen Gegenstand in einer durchsichtigen Tasche in die Höhe. «Damit schlug der Täter auf das Opfer ein. Schaut euch die Wunde an … Er ist gegen die Schreibtischkante geknallt und danach auf den Boden gefallen.»

«Sind die Blutspuren von ihm?»

«Ich vermute es.»

«Vielleicht kam es zu einem Kampf.»

«Das schliesse ich aus. Seht euch seinen ungläubigen Blick an, er wurde vom Schlag vollkommen überrascht.»

«Wenn es Raubmord war, stellt sich die Frage nach der Beute. Fehlt etwas?»

«Das fragt ihr am besten die Angestellte im Büro des Chefs. Aber ich gehe davon aus, dass der Mörder Kasse gemacht hat, der Tresor ist nämlich ausgeräumt.»

«Wer ist der Tote?»

«Vermutlich ein Geschäftspartner, der im falschen Moment aufgetaucht ist.»

Dani bückte sich zum Toten hinunter und sah dann entsetzt zu Andrea auf.

«Was ist?»

«Der Tote ist Eberhard Kuster! Mein Schulfreund!»

Die Wanderung stand, zumindest in groben Zügen. Pfarrer Florian Christ war überrascht, dass sich über zwanzig junge Menschen für die Wanderwoche in Graubünden angemeldet hatten. Ich wäre mit der Hälfte zufrieden gewesen, gestand er sich ein. Anscheinend zog die Idee seiner Freundin Sara. Langsamkeit und insbesondere das Gehen erlebten momentan eine wahre Renaissance. Wenn man geht, kann man sich selbst sehen, schreibt etwa der Norweger Erling Kagge. Das hat etwas. Florian überprüfte die Strecken im Internet. Die Tage sollen nicht nur aus Wandern bestehen, ab und zu muss die Besichtigung einer Sehenswürdigkeit drin liegen. Die Abwechslung macht es aus. Das absolute Highlight kommt am Schluss: Zuerst eine Übernachtung im Pod und dann die Zugfahrt mit dem berühmten Glacier Express. Ein Erlebnis, das man nicht so schnell vergisst. Hoffentlich spielt das Wetter mit. Bleibt die Frage nach der Finanzierung, denn diese Woche wird nicht ganz günstig und die jungen Leute können sich das nicht leisten, auch nicht mit einem Zustupf ihrer Eltern. Die Kollekte kann einen solchen Betrag auch nicht decken. Hm, ich werde die Kirche für ein Sponsoring anfragen. Sollte ich eine Absage erhalten, bleibt immer noch der Ertrag aus dem Weihnachtsbasar. Und falls wirklich alle Stricke reissen, frage ich Paps oder besser noch meinen Grossvater um Unterstützung. Ernst ist nicht gerade das, was man unter einem Wandervogel versteht, aber für junge Leute besitzt er offene Ohren. Schade, dass die Wanderwoche erst im nächsten Sommer stattfindet. Ich hätte Lust, morgen schon aufzubrechen.

«Bist du an der Wanderwoche?»

«Ja. Das Grobkonzept steht. Ich wäre froh, wenn du es dir mal anschaust und auf die Machbarkeit hin prüfst.»

«Wir könnten die Strecken im Januar zusammen abwandern.»

«Eine super Idee, Sara.» Er küsste seine Freundin. «Meinst du, dass die Jungs mitkommen?»

«Wohl kaum, auch wenn sie noch Jokertage haben. Wandern ist nicht ihr Ding, zudem wäre es wohl auch zu weit für sie. Ich frage Ludmilla, ob sie für eine Woche zu ihr dürfen.»

«Wunderbar. Die Woche wird uns guttun.»

«Unten wartet eine Iris Gründel auf dich.»

«Der Name sagt mir nichts … Ich speichere nur noch die Datei ab, dann komme ich.»

Sara sass mit Iris Gründel im Wohnzimmer. Als der Pfarrer eintrat, erhob sie sich.

«Bleiben Sie doch sitzen. Ich sehe, dass Ihnen meine Frau bereits Kaffee angeboten hat.»

«Möchtest du auch eine Tasse?»

«Sehr gerne. Danke. Sie waren in den letzten Wochen in meiner Sonntagspredigt.»

«Sie können sich an mich erinnern?»

«Es kommen selten neue Gesichter dazu, Frau Gründel», schmunzelte der Pfarrer. «Da fällt ein Unbekanntes auf.»

«Ich wohne erst seit einigen Monaten im Quartier. Ich … ich bin geschieden. Wir waren zwei Jahre getrennt und ich hoffte so sehr, dass wir wieder zusammenfinden. Wie heisst es so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Mein Mann wollte nicht mehr.»

«Wissen Sie, warum?»

«Zuerst vermutete ich eine andere Frau, doch er lebt seit unserer Trennung allein. Es ist eigenartig, seit wir nicht mehr zusammenleben, können wir wieder ganz normal miteinander umgehen. Vorher stritten wir uns jeden Abend … Einzig wegen unserer Mädchen ist er immer noch ein wenig eingeschnappt.»

«Wie alt sind Ihre Töchter?»

«Sie werden im Januar acht.»

«Zwillinge?»

«Ja, eineiige. Der Klassenlehrer kann sie nicht unterscheiden. Er weiss nie, mit wem er spricht. Manchmal hab sogar ich Mühe.»

«Teilen Sie sich das Sorgerecht mit Ihrem Mann?»

«Ja, allerdings hatten wir von Anfang an eine klassische Aufteilung. Seit ihrer Geburt kümmere ich mich um die Kinder, während Robert hundert Prozent und mehr arbeitet. Er besitzt ein eigenes Geschäft, das ihn voll und ganz fordert. Zusammen mit seinem Geschäftspartner liefert er Produkte an rund zweitausend Coiffeurbetriebe. Letztes Jahr entwickelten sie sogar Softwareprogramm, mit dem die Kunden online bestellen können. Es ist speziell auf die Bedürfnisse der Coiffeurgeschäfte angepasst und das läuft sehr gut … Vielleicht wäre es besser, wenn die Mädchen bei ihm aufwachsen würden.»

«Wieso?»

«Weil ich verrückt bin.»

Florian sah Sara überrascht an.

«Einen solchen Eindruck vermitteln Sie uns aber nicht.»

«Absolut nicht. Sie sind so normal wie wir.»

«Danke, aber … Etwas stimmt mit mir nicht. Seit ich hier in Kleinhüningen wohne, verstärkt es sich. Ich überliess Robert das Haus in Allschwil, es ist sein Elternhaus, und ich wollte einen Schlussstrich unter mein bisheriges Leben ziehen. Ein Neuanfang würde uns guttun, dachte ich. Mein Exmann zahlte mich aus, er war sehr grosszügig. Ich erhielt nicht nur die Hälfte des geschätzten Wertes des Einfamilienhauses, sondern er bezahlte auch die Einrichtung meiner neuen Wohnung. Zudem erhalte ich monatlich siebentausend Franken.»

«Das freut mich für Sie. Viele Ehen enden leider ganz anders.»

«Ich bin auch sehr froh darüber. Robert sieht die Mädchen regelmässig, entweder das ganze Wochenende oder nur an einem Wochenendtag. Ich befürchtete am Anfang, dass er sie gegen mich aufstacheln würde. Das ist überhaupt kein Thema. Er liebt unsere Mädchen und geniesst die Zeit mit ihnen.»

«Wie äussert sich die … Ihre Verrücktheit?»

«Es fing mit Kleinigkeiten an. Zum Beispiel fand ich meine Schlüssel nicht mehr.»

«Das passiert Florian und mir oft.»

«Aber Sie finden sie dann bestimmt nicht im Kühlschrank. Oder ein anderes Beispiel: Es klingelt, vor der Tür steht ein Pizzakurier und liefert meine Lieblingspizza, die ich nicht bestellt habe. Die E-Mail-Bestellung, die er mir zeigte, widerlegte allerdings meine Aussage.»

«Vielleicht war das ein Streich Ihrer Mädchen.»

«Die waren zu diesem Zeitpunkt bei Robert. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, eine Pizza bestellt zu haben.»

«Sie sind vielleicht etwas zerstreut, aber keinesfalls verrückt.»

«Das sagt meine Psychiaterin auch. Ich bin seit drei Monaten in Behandlung, doch geändert hat sich nicht viel. Ganz im Gegenteil, die Aussetzer nehmen zu und das macht mir Angst. Vor einer Woche erhielt ich mehrere Lieferungen von Zalando. Kleider für mich und meine Kinder, die waren natürlich begeistert. Ich rief sofort bei Zalando an. Die Dame am Telefon entschuldigte sich zuerst für das Versehen, doch kurz darauf stellte sie mir eine Mail mit meiner Bestellung zu. Ich schaute sofort meine Mails durch und tatsächlich, es stimmte. Bloss, ich kann mich nicht daran erinnern. Meine Psychiaterin sagt, das seien vermutlich Auswirkungen der Scheidung, die ich zuerst verarbeiten muss. Sie verschrieb mir Beruhigungstabletten.»