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Nationalrat und Staranwalt Markus Christ kann nur schwer den plötzlichen Tod seiner geliebten Frau verkraften. Anna war die Liebe seines Lebens und das Herz der Familie. Markus fühlt sich verraten, ja, nach dreissig gemeinsamen Jahren brutal im Stich gelassen. Warum nur hat Anna ihre Krankheit verheimlicht? Auch die drei Kinder, Florian der Pfarrer, Tina die Ärztin und Claudia die Kommissärin, traf dieser Schicksalsschlag unvorbereitet. Vielleicht wäre Anna ja zu retten gewesen, wenn sie ihre Tochter Tina konsultiert hätte. Und wie geht es nun weiter ohne die gute Seele und treibende Kraft der Familie? Gelingt es Markus, die Familie zusammenzuhalten? Will er überhaupt noch Bundesrat werden? Kann er sich ein Leben ohne Anna vorstellen? Die bohrenden Fragen blockieren ihn, krallen sich gnadenlos in sein Herz. Zum ersten Mal in seinem Leben steht Markus vor einem düsteren Abgrund. Anne Gold legt den ersten Roman ihrer neuen Serie vor – der Christ-Clan.
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Seitenzahl: 273
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DER CHRIST-CLAN
Anne Gold
Wir bedanken uns für die Unterstützung bei:
Hugo Boss Basel
Hinz & Kunz Bar, Basel
Alle Rechte vorbehalten
© 2019 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Lektorat: Claudia Leuppi
eISBN 978-3-7245-2376-5
ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2321-5
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird
vom Bundesamt für Kultur mit
einem Strukturbeitrag für die Jahre
2016–2020 unterstützt.
www.reinhardt.ch
www.annegold.ch
Die einzige Konstante im Leben ist die Veränderung.Heraklit
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
Bedächtig senkte sich der Sarg in das Grab. Es war totenstill, niemand sprach ein Wort. Obwohl Markus Christ während des Trauergottesdienstes am vergangenen Samstag im Basler Münster ausdrücklich betont hatte, dass die Beisetzung seiner geliebten Frau nur im Kreise der engsten Familie stattfinden sollte, liessen es sich Freunde, Geschäftspartner und Politiker nicht nehmen, Anna Christ auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Mit roten Rosen oder einer Handvoll Erde nahmen die Trauergäste auf dem Hörnli Abschied, ein jeder mit seinen persönlichen Gedanken an die viel zu früh Verstorbene. Nach über einer Stunde lichtete sich die Menge. Kopfschüttelnd stand Markus Christ mit seinem Vater vor dem mit Blumen übersäten Grab. Wie konntest du nur, Anna? Eine tiefe Trauer und eine unsägliche Wut zerreissen mich fast. Du hast mich oft mit deinen Ansichten halb in den Wahnsinn getrieben, aber das hier, das treibt mich in den Abgrund. Wie soll es weitergehen ohne dich?
«Es ist nicht gut, wenn die Kinder vor ihren Eltern gehen müssen», wandte sich Ernst Christ an seinen Sohn.
Markus nickte zustimmend. Er wusste, was jetzt kam.
«Gar nicht gut. Sie war zwar deine Frau, doch für mich wie die eigene Tochter, die uns vergönnt blieb.»
«Ein sinnloser Tod.»
«Es ist auch nicht gut, wenn unsere Frauen vor uns gehen. Irene sagte immer, wenn du mich überlebst, muss ich mir da oben Sorgen machen, ob du allein zurechtkommst.»
«Warum hat sie nicht mit mir geredet? Oder mit Tina?»
«Weil sie euch nicht belasten wollte.»
«Nicht belasten? Das ist purer Hohn. Belastet uns ihr Tod nicht tausendmal mehr, als es das Wissen um ihre Krankheit getan hätte? Jetzt haben wir keine Wahl mehr. Wir müssen ohne Anna leben, irgendwie, mit dem schier unerträglichen Gedanken, dass sie bei rechtzeitiger Hilfe vielleicht noch leben könnte.»
«Möglicherweise unterschätzte sie ihre Krankheit, glaubte, die Schwindelanfälle würden wieder aufhören.»
«Dass sie ihren Tumor vor mir verheimlichte, kann ich noch verstehen. Aber Tina ist Ärztin. Wenn sie unsere Tochter im Anfangsstadium mit ihren Sehstörungen und ihren Schwindelanfällen konsultiert hätte, würden wir nicht hier stehen. Da bin ich ganz sicher.»
Markus nahm von seiner Assistentin Nicole einen Strauss Rosen entgegen und legte ihn sanft aufs Grab. Ruhe in Frieden. Du bist und bleibst meine grosse Liebe … nur, das verzeihe ich dir nie. Mit Tränen in den Augen wandte er sich ab.
«Sie ist einfach gegangen, Vater. Ohne Vorwarnung.»
«Ja, ich weiss. Es ist grausam. Vielleicht wusste sie, dass es keine Rettung mehr gab.»
Florian Christ legte seinem Vater eine Hand auf die Schulter.
«Wir sollten langsam aufbrechen, Paps. Die Gäste warten bereits im Lokal.»
«Geht schon mal vor. Ich bleibe noch einen Moment hier.»
Markus blickte seinen drei Kindern nach, die mit ihrem Grossvater den Friedhof verliessen. Anna, ich bin stolz auf unsere Kinder. Unsere Zweitgeborene, Tina, war immer dein Liebling. Ja, das ist so, ob du es zugeben willst oder nicht. Sie ist das geworden, was du dir immer gewünscht hast – Ärztin aus Leidenschaft. Markus schmunzelte. Ich sehe noch dein Gesicht vor mir, als Andrea, die Älteste im Bunde, verkündete, sie werde Polizistin. Für einen kurzen Moment warst du sprachlos, ich erinnere mich noch gut an unsere Sinnlosdiskussionen. Und dann folgte der zweite Schock, als unser Jüngster, Florian, uns eröffnete, er fühle sich zum Geistlichen berufen. Deine zahlreichen Versuche, ihn von seiner Berufung abzubringen, waren vergeblich. Ein Pfarrer! Wie schrecklich. Anwalt oder Architekt ja, das wäre in Ordnung gewesen, aber doch kein Pfaffe. In den letzten Jahren fandest du dich damit ab. Endlich, kann ich nur sagen. Und, wenn du ehrlich bist, weisst du, dass beide den richtigen Beruf gewählt haben. Gibs zu, du bist sogar stolz auf die erfolgreiche Kommissärin und den Pfarrer, der in den wenigen Jahren seines Wirkens viel in unserer Stadt bewegt hat. Anna! Warum lässt du mich allein? Wieso hast du mit niemandem über deinen Hirntumor gesprochen? Komm mir nicht damit, dass du es nicht wusstest. Es ist verdammt egoistisch von dir, mich einfach allein zurückzulassen.
«Chef, wir sollten langsam zu den anderen gehen», ermahnte ihn seine Assistentin sanft.
Irritiert sah sich Markus um.
«Nicole? Warst du die ganze Zeit hier?»
«Ja, natürlich. Wo soll ich sonst sein?»
«Bei den Gästen.»
«Wir sollten sie nicht länger warten lassen.»
«Gib mir noch eine Minute.»
Umständlich kramte Markus eine Münze aus der Jacke, legte sie ins Grab und bedeckte sie mit frischer Erde. Geh behutsam mit ihr um, Anna. Ich will sie zurück, wenn wir uns wiedersehen. Und das werden wir, meine Liebe.
«Der Wagen steht oben auf dem Parkplatz.»
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Der Schmerz und die tiefe Trauer wogen schwer.
«Danke, dass du gewartet hast.»
«Das ist mein Job.»
«Ist es nicht, aber ich weiss es sehr zu schätzen.»
Nicole Ryff begleitete die Karriere des Nationlarats seit mehr als zwölf Jahren. Als seine rechte Hand koordinierte sie alle Termine, hielt ihm den Rücken frei und griff zuweilen regulierend ein, wenn ihr Chef übers Ziel hinausschoss.
«Weshalb tust du das?»
«Was?»
«Du weisst, was ich meine.»
«Weil es mir Spass macht.»
«Einem mürrischen Politiker die Termine zu organisieren, stundenlang auf ihn zu warten und den ganzen Tag seinen Gemütsschwankungen ausgesetzt zu sein? Ich kann mir weit Besseres für eine intelligente, attraktive Dreissigjährige vorstellen.»
«Achtunddreissig.»
«Das ist keine Antwort.»
Nicole stieg in den Mercedes, Christ setzte sich auf den Beifahrersitz.
«Ist es ein Affront, wenn wir nicht am Leichenmahl teilnehmen?»
«Das ist es. Aber es wird keiner wagen, darüber ein Wort zu verlieren.»
«Und die Kinder?»
«Die kennen dich besser, als du dich selbst. Tina lässt dir ausrichten, dass es in Ordnung ist, wenn du nicht erscheinst. Sie versteht es.»
«Die Teilnahme so vieler Menschen entsprach absolut nicht meinem Wunsch nach einer Beisetzung im engsten Familienkreis.»
«Ja, leider. Da unsere Telefone in den letzten Tagen heissliefen, war ich darauf vorbereitet.»
«Deshalb auch der Lautsprecher ausserhalb der Kapelle.»
«Genau. Es war eine würdige Abdankung. Florian war sehr gut … Ich musste weinen.»
«Das heisst viel.»
«Das letzte Mal weinte ich beim Tod meines Bruders. Nach Hause?»
«Du schuldest mir noch eine Antwort.»
«Mir macht es wahnsinnig Spass, dein Sekretariat zu leiten.»
«Aber das genügt dir doch nicht auf lange Sicht.»
«Überlass das getrost mir. Für die nächsten Tage habe ich alle Termine abgesagt.»
«Und das gab keine Probleme?»
«Nein, das heisst, nur dein schmieriger Parteifreund war uneinsichtig.»
«Du magst Ingo nicht besonders, stimmts?»
«Korrekt. Ich sehe ihm seine perversen Gedanken förmlich an. Wenn er mich einmal, nur ein einziges Mal berührt, geht er durch die Hölle.»
«Was will er?»
«Das verschwieg er. Es sei ungeheuer dringend. Der Kerl kann ganz schön nerven.»
«Wann?»
«Morgen, um zehn. Wenn du willst, vertröste ich ihn auf den Nachmittag oder auf Donnerstag. So dringend wird es wohl nicht sein.»
«Schon gut. Ich will hören, was Ingo so dringend unter den Nägeln brennt.»
«Was war das für eine Münze?», fragte Nicole.
«Über diese Münze lernte ich Anna kennen. Ich vertrat als junger Anwalt eine Firma in einem Arbeitsprozess.»
«Eine Tochterfirma deines Vaters?»
«Nein. Die ersten Sporen verdiente ich mir in einer kleinen Kanzlei ab. Ein KMU entliess einen Mitarbeiter fristlos in seiner Zweigstelle in Lörrach, weil er angeblich die Portokasse geplündert hatte. An und für sich eine Lappalie, doch der Entlassene zog vor Gericht. Als ich den Mann sah, wusste ich, dass ich mir den Weg nach Lörrach hätte sparen können. Das war kein Dieb. Der Richter kanzelte mich als Vertreter des KMU grausam ab. Zu Recht. Und so kroch ich mit meiner Schlappe gebeutelt zum Parkhaus, ohne Kleingeld und plötzlich ging die Sonne auf. Eine wunderschöne Frau half mir mit einer Münze aus.»
«Anna.»
«Ja. Wir verliebten uns auf den ersten Blick. Es war Schicksal. Die Münze habe ich dann gar nicht benötigt, denn während wir uns unterhielten, kam der Beklagte und entschuldigte sich bei mir für die beleidigenden Worte des Richters. Ich könne ja nichts dafür. Er lud Anna und mich zum Kaffee ein und versorgte mich mit Kleingeld für die Parkgebühren. Annas Münze behielt ich als Erinnerung an unsere erste Begegnung.»
«Und jetzt liegt sie auf ihrem Grab.»
«Sie wird sie mir zurückgeben, wenn wir uns wieder treffen.»
«Ich dachte im ersten Moment an die griechische Mythologie.»
«Den Fährmann Charon, der die Toten gegen einen Obolus über den Acheron ins Reich des Hades fährt?»
«Exakt. So, wir sind da.»
«Kommst du noch auf einen Kaffee mit rein?»
«Natürlich.»
Nicole gab Hannah, der Hausdame der Familie Christ, zu verstehen, dass Markus einen Augenblick allein sein wollte, und zog sich mit ihr in die Küche zurück. Gedankenversunken setzte sich Markus an seinen Lieblingsplatz mit Sicht auf den Garten und den Swimmingpool. Wo ich hinschaue, erinnert mich alles an Anna. Als sie noch lebte, war mir das nie bewusst. Schon seltsam. Erkennt man wirklich erst, was man hat, wenn es bereits verloren ist? Vielleicht hat es etwas mit Glück zu tun, dass alles, was wir haben wollen, wir entweder nicht bekommen oder es uns genommen wird. So ein dummer Spruch oder steckt womöglich ein Funke Wahrheit darin? Anna, du fehlst mir so. Schaue ich in den Garten, sehe ich, wie du die Hecken schneidest, den Rasen mähst, um danach über die Gartenarbeit zu stöhnen. Meinen Vorschlag, für die schwere Arbeit einen Gärtner zu engagieren, winktest du jedes Mal aufs Neue ab. Das war Teil unseres Rituals. Der Garten war dein Reich. Nicht einmal unsere Kinder durften es wagen, in deinem Königreich zu wildern.
«Kaffee oder etwas Stärkeres?»
«Einen Whisky mit wenig Eis, bitte.»
«Kommt sofort.»
Wohin ich schaue, ich erwarte, dass Anna im nächsten Moment durch die Tür tritt und das Zimmer mit Leben füllt. «Du hast jeden Raum mit Sonne geflutet, hast jeden Verdruss ins Gegenteil verkehrt. Nordisch nobel, deine sanftmütige Güte, dein unbändiger Stolz. Das Leben ist nicht fair.» Wie recht Herbert Grönemeyer mit diesen Zeilen hat. Es ist, als hätte er sie für Anna geschrieben. Ich muss mich daran gewöhnen, dass ich allein bin. Irgendwie. Irgendwann. Zu Hause in dieser riesigen Villa sind der Schmerz und die Einsamkeit am grössten. Wie konnte das nur so enden? Anna, du fehlst mir so sehr! Wir verbrachten eine wunderschöne Zeit, wurden vom Glück verwöhnt. Drei wunderbare Kinder bereichern unser Leben und ehrlich, sie sind das Beste, was uns je passierte. Auch Geld spielte nie eine Rolle, es war einfach da. Diese finanzielle Unabhängigkeit hat unseren Alltag sehr erleichtert. Ich würde dem Spruch «Geld macht nicht glücklich» nie und nimmer zustimmen. Wir waren es, nicht zuletzt wegen unseres Vermögens. Am Anfang tat sich Anna schwer mit unserem Stand. Verständlich, wuchs sie als unerwünschtes Kind im Waisenhaus auf. Hinzu kam erschwerend, dass meine Mutter ihr offen zeigte, dass sie keine standesgemässe Partie für ihren Sohn war. Anna konnte sich bemühen, wie sie wollte, sie stiess auf totale Ablehnung. Der Tanz auf dem Vulkan dauerte ganze zwei Jahre.
«Hier Whisky mit wenig Eis.»
«Danke. Ich weiss nicht, ob ich in der Villa bleibe. Jede Kleinigkeit erinnert mich an Anna. Ich könnte dir über jedes Möbelstück, sogar über die Kissen und den Teppich eine Geschichte erzählen. Eben musste ich an ihren zwanzigsten Geburtstag denken.»
«Ihr wart lange zusammen. Was war am Zwanzigsten?»
«Paps lud uns ins Stucki ein und der Horror begann. Ich wollte die Einladung ausschlagen, weil ich ahnte, was passiert. Meine Mutter war eine schwierige Person. Leider tat ich es nicht, vermutlich war ich zu wenig aufmüpfig.»
«Du scheutest wohl die Konfrontation mit deiner Mutter.»
«Ja, bestimmt. Sie war sehr dominant, ich konnte ihr nicht auf Augenhöhe begegnen.»
«Was ist an dem Abend passiert?»
«Anna freute sich riesig auf das Essen und interpretierte die Einladung als Zeichen dafür, dass sie endlich akzeptiert sei. Die Freude war von kurzer Dauer.»
«Deine Mutter machte Terror.»
«Und wie. Sie führte Anna richtig vor.»
«Und das liessest du zu?»
«Ich kam gegen meine Mutter nicht an. Du brauchst gar nicht mit den Augen zu rollen … Abwesend assen wir Gang um Gang und sehnten uns einzig und allein nach dem Ende des Schreckens. Plötzlich platzte Paps der Kragen.»
«Was deine Mutter nicht besonders beeindruckte.»
«Überhaupt nicht. Sie lachte nur verächtlich und begann mit Paps zu streiten. Der legte ganz ruhig sein Besteck auf den Tisch und sagte: ‹Irene, es ist jetzt besser, wenn du dich in ein Taxi setzt und nach Hause fährst.›»
«Das ist ihr eingefahren.»
«Ganz und gar nicht. Sie provozierte so lange weiter, bis sich Paps erhob. ‹Wenn du nicht gehst, ist es Zeit für mich›, entschied er. Dann entschuldigte er sich bei Anna. Als ihn Mutter unterbrechen wollte, rastete er aus. ‹Du bist sofort still, ich will kein Wort mehr hören. Nur, weil ich ein Christ bin und du eine Merian bist, gibt es uns noch lange kein Recht, auf andere herabzusehen.› Er erinnerte meine Mutter daran, dass sie nur mit grossem Engagement und mit etwas Glück die heruntergewirtschaftete Bank ihrer Eltern sanieren konnten, sonst würden sie nicht hier sitzen. Sie solle es ja nie mehr wagen, in seiner Gegenwart so aufzutreten wie heute. Das war eine starke Ansage von Paps. Zum Abschied nahm er Anna in den Arm. Die Liebe sei etwas Wunderbares und wir sollten unsere mit beiden Händen festhalten. Natürlich bekam ich auch noch mein Fett ab, weil ich mich zu wenig für Anna eingesetzt hatte. Was der Wahrheit entsprach. Zu guter Letzt lud er uns für Heiligabend ein, du hättest das Gesicht meiner Mutter sehen soll. Unbezahlbar.»
«Und Irene?»
«Sie schimpfte vor sich hin. Paps lächelte, küsste sie und gestand ihr seine Liebe. Er wüsste nicht, was er ohne sie machen würde. Das Seltsame daran war der Tonfall, ich bekam Gänsehaut. Damit war die Angelegenheit für immer erledigt. Ein Jahr später heirateten wir, kurz bevor Tina zur Welt kam.»
«Und das Verhältnis zwischen Anna und Irene?»
«Wurde nach und nach besser, aber nie besonders herzlich. Mutter wusste, dass sie einlenken musste. Dafür kannte sie ihren Mann zu gut. Paps ist der gutmütigste Mensch auf der Welt, bis ihm der Kragen platzt. Dann muss man sich sehr warm anziehen.»
«Du bist unverkennbar sein Sohn. Viele verwechseln allerdings deine Gutmütigkeit mit Dummheit und sind erstaunt, wenn sie abserviert werden. Noch einen Whisky?»
«Einen kleinen.»
Dreiunddreissig Jahre verheiratet! Niemand dachte, dass unsere Ehe hält. Doch wir meisterten alle Krisen, auch die heftigsten und ich bedaure keinen einzigen Tag. Ganz im Gegenteil. Anna, du bist und bleibst meine grosse Liebe.
«Hier zum Zweiten mit wenig Eis.»
«Danke. Florian sucht eine neue Wohnung, er soll in die Villa ziehen.»
«Guter Plan. Pfarrer Florian verkündet von der Kanzel herab, Geben ist seliger denn Nehmen, steigt in seinen Ferrari, rast durch die Stadt aufs Bruderholz und schwimmt einige Runden im Pool.»
«Nur nicht so zynisch.»
«Das ist eine Schnapsidee. Es sei denn, du erlaubst ihm, aus deinem bescheidenen Heim eine Obdachlosenunterkunft zu machen.»
«Wohl nicht der geeignete Standort dafür.»
«Wenigstens darüber sind wir uns einig. Wo möchtest du denn in Zukunft wohnen, wenn nicht in der Villa?»
«In einem unserer anderen Häuser. Davon gibts schliesslich genügend.»
«Lass es einen Monat oder zwei ruhen und entscheide dann. Übrigens, Tina fühlt sich schuldig.»
«Wegen Anna?»
«Ja. Sie gibt sich die Schuld an ihrem Tod.»
«Weshalb weiss ich nichts davon?»
«Weil es gestern Abend ein Gespräch unter Freundinnen war. Zudem erzähle ich es dir ja jetzt. Sie meint, dass sie aufgrund gewisser Symptome hätte aufhorchen müssen.»
«Anna war eine Meisterin darin, etwas zu verschleiern.»
«Das sagte ich Tina auch, aber wirklich beruhigen konnte ich sie nicht. Sie zweifelt total an sich. Als Ärztin habe sie versagt, weil sie die Anzeichen nicht bemerkte, als Tochter sowieso. Sie leidet extrem unter dem Tod ihrer Mutter.»
«Soll ich mit ihr sprechen?»
«Noch nicht. Wir gehen morgen nochmals essen. Dann sehen wir weiter. Brauchst du mich noch? Falls nicht, würde ich langsam gehen.»
«Ich begleite dich noch hinaus.»
«Wann soll ich dich morgen abholen?»
«Ingo kommt um zehn, sagen wir um neun.»
Nicole küsste ihn auf die Wangen.
«Kann ich dich wirklich allein lassen?»
«Ja, natürlich.»
«Gut. Aber keine Dummheiten machen.»
«Ich gebe mir Mühe.»
Christ zappte durchs Fernsehprogramm, während das von Hannah zubereitete Essen auf dem Clubtisch verkümmerte. Anna hielt die Familie zusammen, symptomatisch dafür war das wöchentliche Essen am Sonntagabend bei uns. Vater, die Kinder und je nach Lust und Laune der jeweilige Lebenspartner von Andrea und Tina. Florian brachte noch nie jemanden mit, was Andrea dazu verleitete, ihn zu provozieren. Mehrmals griff Anna im letzten Moment ein, bevor die Situation eskalierte. Andrea vermutete, ihr Bruder sei schwul. Ganz abwegig sind die Gedanken meiner Kommissärin nicht, auch wenn sich diese bisher nie bestätigten. Anna vertrat die Meinung, es sei einzig und allein Florians Entscheidung, ob und wann er sich outen wolle. Ich für meinen Teil hätte mir immer gewünscht, Florian steht dazu, vorausgesetzt er ist auch wirklich schwul. Im «10 vor 10» kam ein Bericht über den tragischen Tod der Milliardärsgattin von Nationalrat Markus Christ. Einige Prominente sprachen in kurzen Statements ihr Beileid aus. Das ist zwar nett gemeint, aber absolut unnötig. Markus trank seinen Whisky aus und ging nach oben. Ein schwerer Gang. Im Schlafzimmer verstreute er seine Kleider wahllos auf dem Boden und kroch unter die Decke. Wenn du mich jetzt sehen könntest, Anna. Noch keine zehn Stunden bist du unter der Erde und schon beginnt meine Verwahrlosung.
Nicole fuhr die kurvenreiche Lerchenstrasse hinunter ins Gundeli. Am Rotlicht beobachtete sie verstohlen ihren Chef.
«Keine Angst, es geht mir gut.»
«Davon bist du weit entfernt.»
«Wenn du meinst.»
«Du solltest dich im Laufe des Tages bei deinen Kindern melden.»
«Das wollte ich sowieso.»
«Andrea und Florian riefen mich heute früh an.»
«Wieso nicht mich?»
«Sie wollten dich nicht stören. Ich habe ihnen gesagt, dass es dir gut geht. Den Umständen entsprechend … Das ist keine gute Lösung.»
«Das finde ich auch. Sie sollen sich gefälligst bei mir melden.»
«Das meine ich nicht. Jedes Mal, wenn ich dich abhole, muss ich einen Zickzackkurs fahren, der immer in der Gundeldingerstrasse endet.»
«Du könntest am Stucki vorbei die Jakobsbergstrasse hinunter.»
«Das kommt aufs Gleiche raus.»
«Wie gehts den Kindern?»
«Andrea ist okay, Florian schwer angeschlagen.»
«Andrea kann sich besser verstellen. Sie kommt zumindest in dieser Beziehung nach ihrer Mutter. Tina?»
«Mit ihr unterhielt ich mich gestern Abend noch lange. Es geht ihr gar nicht gut. Sie wollte unser heutiges Essen verschieben, weil sie mir doch nur wieder die Hucke vollheulen würde. Es bleibt aber dabei. Wir treffen uns um sieben im Ufer 7.»
«Das kenn ich nicht.»
«Ein kleines Restaurant direkt am Kleinbasler Rheinufer, ein Steinwurf von der Mittleren Brücke entfernt. Dort lässt sichs ungezwungen plaudern und das Essen ist gut. Soll ich dich an der Schifflände ausladen oder kommst du mit zur Garage?»
«Ich laufe gern noch ein paar Schritte.»
Nicole fuhr die Petersgasse hoch und stellte den Mercedes in die Einzelgarage eines Altstadthauses.
«So. Bitte alles aussteigen.»
«Ich bin immer wieder von Neuem fasziniert, wie dir das gelingt. Die Garage muss ein Vermögen kosten.»
«Finanziert durch den Steuerzahler. Schlappe vierhundertfünfzig Mäuse im Monat.»
«Das ist nicht dein Ernst?»
«So viel wird ein Nationalrat doch seinem Volk wert sein.»
«Das machst du auf der Stelle rückgängig. Wenn du schon unbedingt aus Bequemlichkeit in der Altstadt parkieren willst, dann bezahlen wir es aus dem eigenen Sack.»
«Der Herr ist wieder einmal höchst empfindlich. Wenn ich sehe, was sich deine Kolleginnen und Kollegen so alles leisten, dann sind die paar Franken zu vernachlässigen. Eine Investition in den Vorzeigenationalrat. Aber ich kann dich beruhigen, unser Parkplatz wird gesponsert.»
«Noch schlimmer. Womöglich von einer Person, die dafür die ewige Dankbarkeit erwartet.»
«Es sind nicht alle auf dein Beziehungsnetz aus.»
«Sag mir seinen Namen und ich sage dir, was er von mir will.»
«Ernst Christ.»
«Paps?»
«Exakt. Das Haus gehört ihm. Ich habe ihm die Garage abgeluchst. Clever, nicht?»
Markus trat einige Meter zurück und schaute sich das kürzlich renovierte Gebäude an, bestimmt einige Hundert Jahre alt.
«Johannes Froben soll in diesem Haus gelebt haben.»
«Der Buchdrucker?»
«Ernst ist sich sicher. Erasmus von Rotterdam sei bei ihm ein und aus gegangen. Er druckte für ihn auch das griechische Neue Testament in Zusammenarbeit mit seinen Druckerspezies Johannes Amerbach und Johannes Petri.»
«Paps sammelt alte Bibeln. Warst du einmal in seiner Bibliothek?»
«Er lud mich auf einen Drink ein, doch ich bin noch nicht dazu gekommen.»
«Das darfst du dir nicht entgehen lassen. Er besitzt aus der Zeit von Froben einige Bücher, die von Hans Holbein dem Jüngeren illustriert wurden … Interessant … Ich wusste nichts von dem Kauf. Will er darin wohnen?»
«Das verriet er mir nicht. Vielleicht sein Lustschloss, wo er ungestört von seinem neugierigen Sprössling und seinen Enkeln Damen empfangen kann.»
«Denen begegnest du auch in seiner Villa.»
«Los, komm. Mit einem Zwischenspurt sind wir beinahe pünktlich.»
Nicole rannte die Stufen des Kellergässleins hinunter durch die Stadthausgasse zum Marktplatz, wo einige wenige Früchte- und Gemüsehändler sehnsüchtig auf Kunden warteten.
«Nicht gerade Hochbetrieb.»
«Wunderts dich bei den Preisen? Am Dienstag kaufte ich ein Kilo Schwarzwurzeln für acht Franken. Ganz schön heftig, wenn man bedenkt, dass beim Rüsten ein Drittel verloren geht.»
«Dafür sind es lokale Produkte, das hat eben seinen Preis. Waren sie gut?»
«Hervorragend.» Im Büro am Rheinsprung angelangt, überprüfte Nicole die Mails. «Dein Besucher verspätet sich anscheinend. Ich bring ihn zu dir rein, wenn er da ist. Kaffee?»
«Gern. Und ein Croissant.»
Nicole bat eine der beiden Sekretärinnen, Croissants zu besorgen, die andere servierte inzwischen einen Kaffee. Fünf Minuten später traf ein sichtlich genervter Ingo Rust ein. Ohne Nicole zu beachten, stürmte er ins Büro des Nationalrats.
«Setz dich, Ingo. Kaffee oder Tee?»
«Weder noch, danke. Ich war gerade drüben im Schiesser. Bumsvoll. Es dauerte eine geschlagene Viertelstunde, bis ich zahlen konnte. Deshalb bin ich auch zu spät.»
«Du wolltest mich dringend sprechen, um was geht es?»
Rust warf einen prüfenden Blick auf Nicole, die in der offenen Tür stand.
«Unter vier Augen.»
«Nicole ist meine Vertraute», er lächelte seine Assistentin an. «Komm bitte rein und schliess die Tür. Du musst also mit sechs Augen vorliebnehmen. Was gibts so Geheimnisvolles?»
«Es geht um Bernd.»
«Was ist mit ihm?»
«Du musst dich von ihm trennen. Sofort.»
«Weshalb?»
«Er ist in den Fall Michael Redding verstrickt.»
«Ich weiss, er vertritt ihn vor Gericht.»
«Ja, das auch, doch darum geht es nicht. Bernd ist in Wirklichkeit einer der Strippenzieher.»
«Sagt wer?»
«Das spielt keine Rolle. Er ist an der Schweinerei beteiligt, dafür gibt es genügend Beweise. Verstehst du? Er ist nicht nur Reddings Anwalt, sondern sein Kompagnon. Du musst dich vor ihm fernhalten, sonst reisst es dich mit in den Abgrund. Es ist eine Frage von Tagen, dann sitzen beide im Waaghof.»
«Sagen deine Zuträger.»
«Du kannst dich darauf verlassen, es stimmt. Ich weiss es aus erster Quelle.»
«Deine Sorge um mich ist wirklich nett. Aber ich kenne Bernd seit meiner Kindheit, wir studierten zusammen. Er mag ein Schlitzohr sein, doch mit Sicherheit kein Betrüger. Da musst du mir schon konkrete Beweise vorlegen. Und selbst dann würde ich zuerst mit Bernd reden, bevor ich ihm meine Freundschaft aufkündige.»
«Du bist ein Narr, Markus. Du stehst kurz vor dem Sprung in den Bundesrat. Wenn wir dich nominieren, wird dich die Vereinigte Bundesversammlung im ersten Durchgang wählen. Mit einem Glanzresultat. Hältst du an Bernd fest, bist du erledigt. Möglicherweise kannst du dich nicht mal als Nationalrat halten.»
«Ich opfere keinen Freund aufgrund vager Anschuldigungen.»
«Wie du meinst. Somit stellen wir dich nicht als Bundesratskandidaten auf. Was gibts da zu lachen, Frau Ryff?»
«Das ist der grösste Blödsinn, den ich in letzter Zeit gehört habe. Wen wollt ihr denn nominieren?»
«Es gibt einige, die nur darauf warten, dass wir sie berücksichtigen.»
«Mir fällt auf die Schnelle in Basel niemand ein. Sie können lediglich aus einer Ansammlung von lebenden Leichen wählen.»
«Das verbitte ich mir.»
«Gut. Nennen Sie mir einen vollwertigen Ersatz für Markus und ich entschuldige mich bei Ihnen … Ich warte.»
«Sie werden überrascht sein, wenn ich Ihnen unseren neuen Kandidaten präsentiere. Markus, überleg es dir. Ich meine es gut mit dir. Du wärst ein hervorragender Bundesrat. Aber du hast nicht den Hauch einer Chance, solange sich Otter an dich klammert. Du musst ihn loswerden.»
«Meine Antwort kennst du. Bernd ist und bleibt einer meiner besten Freunde. Ich danke dir, dass du mich auf die Gefahren hinweist.»
«Wie du willst.» Rust erhob sich schwerfällig. «Etwas Zeit bleibt dir noch, falls du es dir noch anders überlegst. Sie planen, Otter und Redding am Freitag hochzunehmen. Wir könnten morgen mit einer Pressekonferenz dem Ganzen zuvorkommen.»
«Und was soll ich da sagen?»
«Dass dich der Fall Redding bis ins Mark getroffen hat und du die Staatsanwaltschaft aufforderst, schonungslos alles aufzuklären. Ich werde dann der Presse einen Hinweis geben, dass du jeglichen Kontakt zu Otter abgebrochen hast. Das Timing stimmt. Die Bevölkerung wird im Nachhinein glauben, deine Pressekonferenz habe den Ausschlag für die Verhaftung gegeben. Die Medien werden dich feiern.»
«Ohne mich. Ich will dich nicht länger aufhalten, Ingo. Du hast bestimmt wichtige Termine.»
«Du bist ein weit grösserer Narr, als ich dachte.»
Nicole öffnete die Tür und vollführte einen Hofknicks.
«Mein herzliches Beileid!»
«Was soll das?»
«Anna wurde gestern beerdigt. Ich habe Sie weder an der Beerdigung gesehen, noch Ihre Beileidsbezeugung gehört. Ein Gentleman, wie er leibt und lebt. Beehren Sie uns bald wieder, Herr Rust.»
«Dumme Gans! Ihnen wird das Lachen noch vergehen.»
«Wieso sollte es, wenn laufend die grössten Clowns der Stadt bei uns ihr Programm zum Besten geben.»
Ingo Rust verliess mit hochrotem Kopf das Büro.
«War das notwendig?»
«Oh ja. Der Typ ist stillos und sein Parfum eine einzige Katastrophe. Stört es dich, wenn ich kurz lüfte? … Schade, ich wollte schon immer für einen Bundesrat arbeiten, mit ihm um die Welt fliegen und die Giganten der Politszene kennenlernen.»
«Trump und Putin?»
«Die auch.»
«Tut mir leid, dass ich dir deine Karriere vermassle. Aber ich schliesse keine faulen Kompromisse der Karriere wegen auf dem Rücken eines Freundes.»
«Rust hat recht.»
«Dass ich ein Narr bin?»
«Du solltest dich von Otter distanzieren.»
«Fängst du jetzt auch noch damit an?»
«Redding ist dumm, allerhöchstens bauernschlau und nur der Strohmann. Ein Verführer ohne Klasse. Sieht gut aus, wirkt vertrauenswürdig. Alles nur Show. Otter zieht die Fäden im Hintergrund.»
«Bernd?»
«Er ist der wahre Meister des guten alten Schneeballsystems. Schon tausendmal mit Erfolg angewendet. Ich erinnere nur an Behring.»
«Schluss damit, ich will nichts mehr davon hören. Bernd ist die integerste Person, die ich kenne.»
«Warum arbeitet er dann für Redding?»
«Weil er zu Beginn von seinen Visionen fasziniert war, an das Geschäftsmodell und an seine Ehrlichkeit glaubte. Leider hat er den richtigen Moment für den Absprung verpasst. Vermutlich ist er nun aus falsch verstandener Loyalität weiter für ihn tätig.»
«Sagt er.»
«Ich glaube Bernd. Die Staatsanwaltschaft hat keine Handhabe gegen ihn. Ingo täuscht sich.»
«Wie du meinst … Hier sind noch deine Termine für nächste Woche.»
Christ ging die Liste durch.
«Kannst du das am kommenden Mittwoch absagen?»
«Kein Problem. Ich werde den Verantwortlichen bei Telebasel sagen, dass du lieber ein anderes Mal an ihrer Talkshow teilnimmst. Was hast du denn so Wichtiges?»
«Bowling.»
«Mit Otter?»
«Und Daniel Gross.»
«Ich glaube nicht, dass Freund Gross auftaucht, und noch weniger, dass du mit Otter bowlst.»
«Ende der Diskussion. Endgültig.»
Der scharfe Ton liess keine Widerrede zu.
«Wie du wünschst, Chef. Dann kann ich mich jetzt ja um mein Sekretariat kümmern. Du weisst, wo du mich findest.»
Das Wartezimmer war bist auf den letzten Stuhl besetzt. Vor allem ältere Personen konsultierten die junge Frau Doktor gern. Eine glückliche Wende, wenn Tina an den harzigen Start dachte. Der kurz vor der Pension stehende Kollege Hans Sommer hatte sich zwar redlich Mühe gegeben, seine Patienten auf den Wechsel einzustimmen. Aber dienstags und donnerstags, wenn Frau Doktor die Praxis alleine führte, blieben die Patienten aus, um dann in Scharen an den anderen Tagen ihre Blessuren vom richtigen Arzt pflegen zu lassen. Erst, als sich herumsprach, dass Tina auch Hausbesuche mache, brach das Eis. Sommer verkaufte die Praxis an Tina und geniesst seinen wohlverdienten Ruhestand in Südfrankreich. Inzwischen zählten auch immer mehr jüngere Menschen zu den Patienten, der Mundpropaganda sei Dank. Und so mauserte sich die Praxis zu einer wahren Goldgrube. Monatelang suchte Tina intensiv nach einer Partnerin, aber diejenigen, die mit ihr studiert hatten, winkten alle ab, rümpften die Nase bei der Vorstellung, Hausärztin zu werden. Es war einem glücklichen Zufall zu verdanken, dass ihre Suche Erfolg hatte. An einer christlichen Tagung lernte ihr Bruder Florian eine Ärztin kennen, die in Afrika für Ärzte ohne Grenzen tätig gewesen und nun auf Jobsuche war. Tinas Skepsis verflog rasch, als sie sich auf Drängen ihres Bruders trafen. Sabine Stettler entpuppte sich als aufgeschlossene, lebensfrohe Person und keineswegs als christliche Sektiererin mit Weltverbesserer-Genen. Die beiden Frauen ergänzten sich optimal. Nach einem halben Jahr bot Tina ihr eine Teilhaberschaft an, die beinahe an einem Missverständnis scheiterte. Während Tina keine Minute über einen Einkauf in die Praxis nachdachte, lehnte Sabine aus finanziellen Gründen ab. Zum Glück brachte der zufällige Besuch und die direkte Art ihres Vaters Klarheit. Sabine konnte nicht glauben, dass sie zum Nulltarif Partnerin wurde, und Tina war entsetzt, dass es beinahe am Geld gescheitert wäre.
Bis um zehn untersuchten sie in ihren Sprechzimmern die Patienten. Einige litten unter der Grippewelle, andere stellten sich zu Nachuntersuchungen ein. Tina versuchte, sich so gut es ging auf ihren Job zu konzentrieren, schweifte aber immer wieder mit ihren Gedanken ab. Was habe ich falsch gemacht? Wie konnte mir das passieren? Was bin ich bloss für eine Ärztin, erkenne bei meiner eigenen Mutter die Symptome nicht? Allein die ewige Müdigkeit hätte bei mir Alarmstufe rot auslösen müssen. Aber ich war nur für meine Patienten da und sah vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Wie konnte ich nur?! Schmerzerfüllt stürzte sich Tina wieder in die Arbeit. Gegen halb zwölf war der letzte Patient versorgt und auch Sabine legte ihr letztes Dossier auf den Tisch.
«Ich bin fix und fertig. Wie fühlst du dich?»
«Ganz okay.»
«Sag mir, wenn ich dich unterstützen kann. Du kannst gern ein Time-out nehmen, Norbert springt bestimmt ein. Er ist gerade für zwei Wochen aus Afrika da.»
«Um dich zu überzeugen, dass du in Kenia gebraucht wirst?»
«Es war eine schöne und intensive Zeit. In jeder Beziehung, auch mit Norbert. Doch das ist vorbei. Ich träumte immer von einer eigenen Praxis, von Patienten, die mir vertrauen, für die ich da sein kann. Spitäler sind und werden für mich immer Horrorgebilde bleiben. Ich könnte da nie arbeiten. In Afrika gings noch einigermassen, wir mussten oft improvisieren. Das fordert dich und kostet Substanz. Eine Zeit lang verkraftest du die chaotischen Zustände, aber nicht auf Dauer. Ich war lange auf der Suche, dank dir bin ich endlich angekommen.»
«Ist Frau Morath schon da?», Tina deutete auf die Krankenakte.
«Nein, noch nicht. Soll ich beim Gespräch dabei sein?»
«Besser nicht, sonst bekommt die Diagnose eine noch drastischere Bedeutung. Bleib aber bitte in der Nähe. Wenn sie blockiert, bin ich auf deine Unterstützung angewiesen.»
Einige Minuten später wurde die Patientin von der Sprechstundenhilfe in den Behandlungsraum geführt.
«Setzen Sie sich bitte, Frau Morath. Wie geht es Ihnen?»
«Ich fühl mich schlapp. Ich würde am liebsten den ganzen Tag schlafen, schlafen und nochmals schlafen. Ist das Resultat gekommen?»
«Ja. Leider treffen meine Befürchtungen zu.»
«Krebs?»
«Brustkrebs. Die linke Brust ist betroffen.»
«Sind Sie ganz sicher?»
«Es bestehen keine Zweifel.»
Dagmar Morath blickte nachdenklich in die Ferne. Sie wirkte in sich zusammengesunken.
«Ich hatte es geahnt. Was … was kann man dagegen tun?»
«Sie haben Glück im Unglück. Sie sind im Frühstadium zu mir gekommen. Ich möchte Sie an einen Spezialisten überweisen, der weitere Untersuchungen vornehmen wird. Ihre Heilungschancen stehen gut.»
«Muss ich operiert werden?»
«Ja, das ist unabdingbar und danach steht eine Chemotherapie an. Ich möchte, dass Sie sofort meinen Kollegen aufsuchen.»
«Wie … was ist der Grund, dass ich Brustkrebs bekommen habe?»
«Mit absoluter Sicherheit kann Ihnen das niemand sagen. Es gibt verschiedene Risikofaktoren. Rauchen, falsche Ernährung, zu viel Alkoholkonsum, mangelnde Bewegung, Übergewicht, Diabetes Typ II und auch Vererbung.»
«Bin … bin ich danach entstellt?»
«Wenn wir sofort reagieren, kann der Tumor vermutlich ohne grosse sichtbare Veränderung der Brust entfernt werden. Wichtig ist, dass wir nicht lange zuwarten.»
«Es … es kommt so plötzlich … Krebs … Sind Sie wirklich sicher?»
«Ja. Dagmar, ich weiss, dass Sie jetzt schockiert sind. Doch die Gewissheit hat auch Vorteile. Wir können jetzt rasch handeln.»
«Ich … ich muss es mit Erwin besprechen.»
«Das ist Ihr Mann?»