Das Schweigen der Tukane - Anne Gold - E-Book

Das Schweigen der Tukane E-Book

Anne Gold

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Beschreibung

Im Kommissariat kursiert das Gerücht, dass ein Wachtmeister der Sitte ein Verhältnis mit einem Luxuscallgirl hat. Nadine Kupfer bittet ihren Chef, Kommissär Francesco Ferrari, dem Kollegen ins Gewissen zu reden. Ferraris Begeisterung hält sich in Grenzen. Doch bevor er sich mit dem Wachtmeister unterhalten kann, wird eine stadtbekannte Persönlichkeit ermordet, und zwar in der Wohnung des untergetauchten Callgirls. Der Fall scheint klar, die Meinungen sind schnell gemacht und im Kommissariat brodelt es mächtig. Während der Grossteil des Polizeikorps zum Wachtmeister hält, der von der Unschuld seiner Geliebten überzeugt ist, glaubt Nadine, dass er versucht, die Ermittlungen zu behindern. Die Fronten verhärten sich zusehends, bis der Konflikt zu eskalieren droht und sich eine Katastrophe abzeichnet.

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Anne Gold

Das Schweigen der Tukane

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

© eBook 2013 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Claudia Leuppi

Gestaltung: Bernadette Leus, www.leusgrafikbox.ch

Illustration: Tarek Moussalli

ISBN 978-3-7245-1952-2

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-1850-1

www.reinhardt.ch

Wir denken selten an das,was wir haben, aber immeran das, was uns fehlt.Arthur Schopenhauer

1. Kapitel

Kommissär Ferrari tippte eine Zahlenkombination in seinen Computer. Die ist selten und praktisch nie gespielt worden! Hm, das hat wohl seinen Grund … In den letzten drei Jahren spielte sie nur gerade zwei Mal einen Dreier ein. Sonst nichts. Das kann ich glatt vergessen. Auf Ferraris Tisch lagen drei Lottoscheine. Einer von Swiss Lotto, einer von Euro Millions und einer aus Deutschland. Wie viel ist eigentlich im Schweizer Jackpot? Er googelte. Nur noch knapp zweihunderttausend Franken, bei der letzten Ziehung wurde er geknackt. Vier Millionen betrug der Gewinn! Alles stinknormale Zahlen, sodass den acht Gewinnern letztendlich auch nur noch fünfhunderttausend übrig blieben. Na ja, besser als nichts. Wie lange muss ich für so viel Geld arbeiten? Die Miene des Kommissärs verfinsterte sich. Theatralisch warf er den Swiss-Lotto-Schein in den Papierkorb, um ihn Sekunden später wieder herauszufischen. Beinahe liebevoll strich er ihn glatt. Vielleicht gewinne ich ja gerade an diesem Wochenende. Die Wahrscheinlichkeit besteht, wenn auch … Aber lassen wir das. Ich ändere mein System. Genau. Die Geburtsdaten von Monika, Tochter Nikki und mir waren bisher nicht besonders erfolgreich. Auch die Zahlenkombinationen 6, 12, 18, 24, 30 und 36 bringen nichts. Geschweige denn die Primzahlen. Ferrari starrte wie gebannt auf den Bildschirm. Das wird jetzt mit diesem neuen Online-Lottosystem alles anders. Mit einem Klick weiss ich, was, wann, wo gezogen wurde, welche Kombinationen am erfolgreichsten sind, welche Zahlen selten bis nie vorkommen. Ein wahrer Segen, so ein Programm. Weshalb bin ich erst jetzt auf die Idee gekommen, dieses Teil zu kaufen?

«Der spinnt doch total», Nadine stiess die Tür von Ferraris Büro mit dem Fuss auf.

«Guten Morgen, Nadine. Meinst du Staatsanwalt Borer?»

Ferrari verdeckte mit seinem Arm die Lottoscheine.

«Quatsch! Gut, der hat auch nicht alle Blätter am Baum. Ich rede von Koch.»

«Koch? Koch … wer ist Koch?»

«Ein Freund von Noldi.»

«Ach, der mit der kleinen Nutte, die er bekehren will. So, so, ein Freund von deinem Freund.»

«Noldi ist nicht mein Freund. Aber darum geht es jetzt nicht und rede gefälligst nicht so abschätzig von Kochs Freundin.»

«Hm. Und warum spinnt er?»

«Weil er die kleine Nutte heiraten will.»

«Dann lass ihn doch. Wohin die Liebe fällt, wie es so schön heisst.»

Nadine setzte sich rittlings auf einen Stuhl.

«Nicht gerade ladylike.»

«Ich bin keine Lady. Das solltest sogar du inzwischen bemerkt haben. Im Mai wollen sie heiraten und Noldi ist Trauzeuge. Der spinnt übrigens auch», fügte sie kopfschüttelnd hinzu.

«Aha! Sehr interessant.»

Ferrari trommelte mit dem Kugelschreiber auf seinen Bürotisch.

«Du nervst mich mit dem Geklopfe, Francesco. Deine Marotten nehmen mit jedem Jahr zu. Echt krass.»

Unbeirrt erhöhte Ferrari die Schlagzahl.

«Wenn du mir jetzt noch sagst, was dich an der Beziehung so stört, ausser dass die Kleine auf den Strich geht, dann könnten wir uns wieder mit der Toten in der Rheingasse beschäftigen.»

«Es stört mich überhaupt nichts.»

«Wunderbar, dann ist ja alles bestens. Liegt Peters Obduktionsbericht vor?»

«Sicher! Soll ich ihn holen?»

«Nicht nötig, wenn du mir erzählst, was drin steht. Gibt es neue Erkenntnisse?»

«Eine Überdosis Medikamente führte zum Herzstillstand. Keine Anzeichen von Gewalt.»

«Also kein Mord, wie wir vermutet haben, sondern ein tragischer Unfall. Gut, somit können wir diese Akte schliessen. Übrigens, dieser Koch, was macht er beruflich?»

«Er ist bei der Sitte.»

Ferrari hörte mit seinem rhythmischen Klopfen auf.

«Ein Polizist?»

«Exakt. Deshalb regt es mich so auf. Der Mann ist nicht mehr tragbar, wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass er eine Nutte heiratet. Aber er lässt sich das Mädchen nicht ausreden, weder von Noldi noch von mir.»

«Dann soll er sich versetzen lassen, am besten zum Verkehrsdienst.»

«Ausserdem hat sie ein Kind.»

«Was ist daran verwerflich?»

«Koch ist hin und weg, wenn er von der Kleinen erzählt.»

«Das ist doch schön. Patchworkfamilien sind schwer im Trend. Schau Monika, Nikki und mich an. Ich gehöre sozusagen zur Avantgarde. Dieser Koch, wie sieht er aus?»

«Also eine Patchworkfamilie definiert sich leicht anders. Die entstehen nämlich, wenn Väter und Mütter in neuen Beziehungen weitere Kinder bekommen. Und das trifft ja auf dich und Monika nicht ganz zu.»

Ferrari schmollte. Dieses Analysieren und Definieren ging ihm schwer auf den Geist. Frauen!

«Wenn du nicht weiter über deine avantgardistische Existenz diskutieren willst, kommen wir besser zum Thema zurück. Koch ist etwa eins achtzig, blond, Brillenträger … du kennst ihn. Noldi hat ihn dir vor etwa einem Monat vorgestellt.»

«Der Wachtmeister?»

«Genau der.»

«Ein sympathischer Mann. Weshalb erzählst du mir das eigentlich alles, Nadine?»

«Kannst du nicht einmal mit ihm reden?»

«Ich soll ihm seine … seine Freundin, wie heisst sie eigentlich?»

«Nora.»

«Ich soll ihm Nora ausreden?»

«Nein … doch ja. Du musst ihn unbedingt warnen. Das wird nämlich kein Spaziergang. Eine solche Beziehung ist ein gefundenes Fressen für die Kollegen. Er muss sie ja nicht gleich heiraten. Wieso seid ihr Männer nur solche Romantiker? Als gäbe es kein Leben ausserhalb der heiligen Ehe! Bis dass der Tod uns scheidet, dass ich nicht lache. Aber egal, wenn es denn unbedingt sein muss, dann soll er von Basel wegziehen und mit ihr woanders ein neues Leben anfangen. Ich könnte mit meinem Paps reden. Der kennt jede Menge aus dem Polizeikorps in Bern und hat ziemlichen Einfluss.»

Was sicher der Tatsache entsprach, zumal Nadines Vater einer der beliebtesten und angesehensten Nationalräte von Bern war.

«Also, was ist? Sprichst du mit ihm?»

«Wenns unbedingt sein muss.»

Nadine schwirrte um den Tisch herum und küsste ihn auf die Wange.

«Danke! Soll ich ihn gleich holen?»

Packen wir den Stier bei den Hörnern. Ich werde mir die Zunge fusselig reden, während der Wachtmeister dasitzen und brav nicken wird. Dann macht er einen Abgang und hasst mich, weil ich ihm seine grosse Liebe ausreden wollte. Der Nutzen wird sich in Grenzen halten, gelinde ausgedrückt, doch wenigstens ist Nadine dann ruhiggestellt.

«So nicht!»

«Was meinst du?»

«Dein Gesichtsausdruck spricht Bände. Du musst dich schon etwas anstrengen. Elan und Überzeugungskraft sind angesagt.»

«Hm!»

Ferrari zögerte, schliesslich ist jeder für sich selbst verantwortlich. Der Mann ist auf gutem Weg, steht auf der Leiter nach oben, Wachtmeister, wahrscheinlich bald Offizier. Wenn er unbedingt eine Dame aus dem Milieu heiraten will und sich der Konsequenzen bewusst ist, bitte, es ist sein gutes Recht. Selbst mit Nadine im Genick werde ich ihm seine Nora nicht madig machen können. Das ist auch nicht meine Aufgabe. Überhaupt, was geht mich dieser Koch an?

«Na, was ist jetzt, Francesco? Soll ich ihn holen?»

«Sagen wir in einer Stunde. Ich will mich noch auf das Gespräch vorbereiten. Damit eines klar ist, ich spreche ein einziges Mal mit ihm! Und wenn er an seiner Nora festhält, dann ist das Ding gelaufen.»

«Schöner Vorgesetzter! Dir ist es vollkommen egal, was die Kollegen tuscheln. Koch, die Nutte und ihr Betriebsunfall!»

«Wer sagt das?»

«Das halbe Kommissariat. Hinter vorgehaltener Hand verspotten sie ihn. Du tust ihm keinen Gefallen, wenn du nur halbherzig an die Sache rangehst. Was treibst du hier eigentlich?»

«Nichts, wieso?»

«Du sitzt wie ein kleiner Junge da, der beim Spicken ertappt wurde.»

«Unsinn!»

Mit einer blitzartigen Bewegung riss sie Ferrari die Lottoscheine unter dem Arm weg.

«Was ist denn das? Ein vom Spielteufel besessener Kommissär!»

«Gib mir sofort die Lottoscheine zurück.»

«Hol sie dir.»

Ferrari sprang hoch, versuchte, Nadine festzuhalten. Blitzschnell riss sie sich los und rannte um den Tisch.

«Was ist, alter Mann, keine Kondition?»

Na warte. Ferrari spurtete los und stolperte über einen Stuhl.

«Störe ich?»

Der Kommissär rappelte sich hoch und setzte sich mit hochrotem Kopf an seinen Schreibtisch.

«Überhaupt nicht, Herr Staatsanwalt.»

«Ein kleines, neckisches Spielchen während der Bürozeit? Hasch mich oder so …»

«Nicht … nicht, was Sie denken.»

Nadine stellte lachend den Stuhl wieder an seinen Platz.

«Und selbst wenn es so wäre, geht es Sie nichts an, Herr Borer.»

«Nicht ganz, Frau Kupfer, nicht ganz. Immerhin sind Sie im Dienst, aber Schwamm drüber. Kennen Sie eine Nora Schüpfer?»

«Nein!»

«Ja!»

«Was nun, ja oder nein?»

«Nadine kennt sie, ich nicht», präzisierte Ferrari.

«Stimmt es, dass sie mit einem Polizisten liiert ist?»

«Das geht Sie doch wohl überhaupt nichts an.»

«Werden Sie nicht frech, Frau Kupfer. Sonst ziehe ich andere Seiten auf. Vergessen Sie ja nicht, dass ich Sie hier mit Kommissär Ferrari in flagranti erwischt habe.»

«Sie …»

«Na, na, nur keine Beleidigungen! Getroffene Hunde bellen.»

Bevor Nadine dem Staatsanwalt das Gesicht zerkratzen konnte, mischte sich Ferrari ein.

«Es geht Sie wirklich nichts an. Und erst recht nicht, ob Nadine und ich ein Verhältnis haben. Um es klarzustellen, Nadine klaute meine Lottoscheine, die ich mir zurückholen wollte.»

«Sie spielen Lotto?»

«Manchmal.»

«Mit System?»

«Nicht wirklich. Ehrlich gesagt, spiele ich immer die gleichen Zahlen. Mein Geburtstag, die von Monika und Nikki. Dann halte ich mich an verschiedene Muster. Hier zum Beispiel ist ein kleines Schweizer Kreuz entstanden. Spielen Sie auch?»

«Nur ab und zu. Das mit dem Schweizer Kreuz ist höchst interessant. Zeigen Sie mir doch einmal Ihre Scheine.»

Nadine warf kopfschüttelnd die zerknitterten Lottoscheine auf den Tisch.

«Die kann ich so nicht mehr aufgeben.»

«In einer deiner Schubladen ist sicher noch ein kleiner Vorrat versteckt. Spieler sind Süchtige und bei Süchtigen ist der Stoff nicht weit.»

Staatsanwalt Borer und Ferrari sahen Nadine missbilligend an, bevor sie sich wieder dem wahren Leben zuwandten.

«Sehr interessant! Ah, hier spielen Sie eine Diagonale, da eine Vertikale. Ausgezeichnet. Und die Zahlenkombinationen, alles Primzahlen, soweit ich es beurteilen kann. Warten Sie …», er griff nach seiner Brieftasche und legte einige Lottozettel daneben, «das sind meine Zahlen. Ich spiele sie seit mehreren Jahren. Mit Erfolg. Die obere Reihe sind Tage, die für mich von besonderer Bedeutung sind. Hier zum Beispiel mein Hochzeitstag, mein eigener Geburtstag, der Geburtstag meines Sohnes und der meiner Tochter. Und das hier sind Daten aus der Weltgeschichte. Das mit der Diagonale und den Primzahlen werde ich mir merken. Ganz hervorragend, Ferrari. Sie überraschen mich doch immer wieder.»

«Auf die Idee mit Geschichtsdaten bin ich noch nie gekommen. Man könnte zum Beispiel den Tag der ersten Mondlandung …»

«… oder die Ermordung von John F. Kennedy nehmen. Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet.»

«Ich möchte Ihnen noch meine neuste …»

«Nicht, dass ich die höchst interessante Unterhaltung stören möchte, aber wollten Sie uns nicht einige Fragen stellen?», schaltete sich Nadine ein. Ihr zynischer Unterton war nicht zu überhören. «Oder sind Sie nur gekommen, um sich mit dem Kommissär über die Sucht von Spielern im Allgemeinen und die Sucht von Beamten im Speziellen zu unterhalten?»

«Fragen? Was für Fragen? Ah ja, natürlich, es geht um diesen Arthur Koch.»

Borer richtete sich zur vollen Grösse auf und schob seine Lottozettel in die Brieftasche.

«Er ist Wachtmeister bei der Sitte.»

«Anscheinend bin ich der Einzige hier im Kommissariat, der vom Verhältnis des Wachtmeisters mit einer Milieudame nichts wusste.»

«Sicher nicht grundlos.»

«Wie darf ich das verstehen, Frau Kupfer?», zischte der Staatsanwalt.

«Sie wären der Letzte, dem ich so etwas auf die Nase binden würde.»

«Aha! Klare Worte. Sie halten mich für einen Schwätzer. Nun, wie auch immer. Ich lasse mir von Ihnen meine gute Laune nicht vermiesen.»

«Was wollen Sie eigentlich von Nora Schüpfer?»

«Ich? Nichts! Aber Sie wollen etwas von ihr, wenn auch nicht ganz freiwillig.»

«Hören Sie mit den dummen Spielchen auf, Herr Staatsanwalt. Was soll dieser theatralische Auftritt?»

«Es gibt zu tun, Herrschaften. Kennen Sie Peter Grauwiler?»

«Den kennt doch wohl jeder. Kein offizieller Anlass ohne unseren schicken Nationalrat. Ein Hinterbänkler in Bern, aber sehr volksnah. Alles, was rechts von der Mitte ist, liebt ihn.»

«Tja, Nora Schüpfer mochte ihn anscheinend nicht besonders.»

«Was heisst das?», hauchte Nadine. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

«Heute Morgen wurde Peter Grauwiler in Nora Schüpfers Luxusappartement ermordet. Von ihr fehlt seither jede Spur.»

2. Kapitel

Ferrari erhob sich. Somit erübrigte sich das Gespräch mit Arthur Koch, zumindest vorerst. Es gab einen neuen Fall. Eine dunkle Vorahnung liess ihn nichts Gutes erwarten. War das nicht ein seltsamer Zufall? Eben noch bedrängte ihn Nadine, mit dem Wachtmeister wegen dessen Beziehung zur Edelprostituierten Nora Schüpfer ein ernstes Wörtchen zu reden, als diese wenig später verdächtigt wird, den Nationalrat Peter Grauwiler ermordet zu haben. Wenn das nur mit rechten Dingen zu und herging.

«Weiss es Koch schon?»

«Von mir nicht, Frau Kupfer. Das ist nicht meine Aufgabe, aber vielleicht hat sie ihn ja angerufen. Würde mich nicht wundern. Ein Polizist und eine Prostituierte. Das gefällt mir überhaupt nicht. Ich werde diesen Koch zu mir ins Büro zitieren.»

«Das übernehmen wir, Herr Staatsanwalt.»

«Ganz wie Sie wollen, Ferrari. Mir solls recht sein. Wenn Sie erlauben, möchte ich noch auf eine Kleinigkeit bei den Untersuchungen hinweisen …»

«… wir sollen diskret ermitteln, zumal es sich um unseren beliebtesten Nationalrat handelt, der in die ewigen Jagdgründe geschossen wurde.»

«In die Ewigkeit gestochen wurde, um bei Ihrem Vergleich zu bleiben, meine Beste. Sie haben es allerdings auf den Punkt gebracht. Ich könnte es nicht trefflicher formulieren. Ich erwarte also absolute Diskretion in diesem äusserst heiklen Fall.»

«Ein Parteifreund?»

«Nein, zum Glück nicht. Aber eine hoch angesehene Persönlichkeit unserer Stadt.»

«Es wird Ihnen nicht leicht fallen, der Presse zu erklären, weshalb er seinen Schniedelwutz bei einer Prostituierten schwenkte.»

«Ich muss doch sehr bitten, Frau Kupfer. Ihre Wortwahl passt überhaupt nicht zu einer Lady. Um die Presse kümmere ich mich, da machen Sie sich mal keine Gedanken. Der Fall ist jedoch nicht ganz einfach», Borer wischte sich mit einem Kleenex den Schweiss von der Stirn, «Sie müssen sich zu zwei verschiedenen Tatorten begeben.»

«Zwei Tatorte?»

«Nora Schüpfer arbeitete in einem Luxusappartement in der Lerchenstrasse.»

«Wo der Mord begangen wurde?»

«So scheint es, Ferrari. Die Leiche wurde hingegen in Grauwilers Büro am Nadelberg gefunden.»

«Woher wissen Sie das?»

«Von Hanspeter Sonderegger, einem Bekannten aus der Politik. Angeblich liess sich Grauwiler an die Lerchenstrasse fahren, wo sein Chauffeur im Auto wartete und diese Nora Schüpfer aus dem Haus rennen sah. Als sein Chef nach einer gewissen Zeit nicht zurückkam, ging er in die Wohnung und fand Grauwiler tot auf dem Bett. Anstatt die Polizei anzurufen, informierte er Hanspeter Sonderegger.»

«Wer ist das?»

«Der Vorsitzende von Grauwilers Partei. In einer Kurzschlusshandlung brachte Sonderegger mithilfe einiger Freunde die Leiche in Grauwilers Büro. Ziemlich verworrene Angelegenheit. Sonderegger informierte mich zu spät. Er weiss, dass er sich total falsch verhalten hat, aber das lässt sich jetzt nicht mehr korrigieren.»

Ferraris Stirn lag in Falten. Nur zu hoffen, dass unser lieber Herr Staatsanwalt bei diesem genialen Plan nicht beteiligt war. Möglich wäre es. Ein Ablenkungsmanöver, damit ja niemand von der Presse an Grauwilers Lack kratzen kann.

«Schauen Sie mich nicht so an, Ferrari. Ich weiss genau, was Sie jetzt denken. Sie irren sich. Mir ist auch nicht wohl bei der Sache, deshalb möchte ich auch den Fall in Ihre bewährten Hände legen.»

«Dann wollen wir mal. Komm, Nadine, wir schauen uns den Tatort an.»

«Aber bitte diskret!», seufzte Borer.

«Unser zweiter Vorname heisst Diskretion!»

Nadine klopfte dem Staatsanwalt auf die Schulter und reichte ihm beim Vorbeigehen ein weiteres Kleenex.

Nachdem Nadine ihren Kollegen Noldi, den IT-Spezialisten, kurz orientiert hatte, fuhren sie ins Gundeldingerquartier zum Tatort.

«Alles Vogelnamen. Amselstrasse, Drosselstrasse … ah, da ist die Lerchenstrasse.»

Der Rechtsmediziner Peter Strub und sein Team waren bereits an der Arbeit.

«Ciao, Francesco! Hallo, Nadine! Du siehst heute wieder sensationell aus!»

«Danke für das Kompliment, Peter. Soll ich dir ein Geheimnis verraten?»

«Na klar, ich kann schweigen wie ein Grab.»

«Ich sehe immer sensationell aus.»

«Du bist ja ganz schön eingebildet, wenn auch zu Recht … Kommen wir zum Fall. Wir haben mit dem Lokalaugenschein und der Spurensicherung begonnen und jede Menge Fingerabdrücke entdeckt. Wahrscheinlich von den Idioten, die Peter Grauwiler weggeschleppt haben. Mich wundert, dass niemand etwas bemerkt hat. Da wird ein Toter in eine Decke gewickelt, mit dem Lift in die Tiefgarage gebracht und in ein Auto verfrachtet. Wie in einem schlechten Krimi. Wenn ihr den Weg der Leiche verfolgen wollt, müsst ihr nur den Blutspuren nach.»

«Wo ist der Tote jetzt?»

«Der liegt bestimmt schon auf meinem Tisch und wartet auf die Obduktion. Zum Glück haben die Toten eine Engelsgeduld», Strub kicherte. «Ich sehe schon, das ist nicht euer Humor. Gut. Also, wir waren zuvor am Fundort des Opfers, wo wir auch die Tatwaffe sichergestellt haben. Ich habe meinen Leuten gesagt, dass sie Grauwilers Computer mitnehmen, wenn sie mit den Untersuchungen fertig sind, und ihn zu Noldi bringen sollen. Ist das okay?»

«Bestens. Kannst du etwas zur Tatwaffe sagen?»

«Drei Stiche mit einem Messer. Einer davon war tödlich. Sie hat ganze Arbeit geleistet.»

«He, he! Noch wissen wir nicht, ob es Nora Schüpfer gewesen ist. Und bis dahin gilt die Unschuldsvermutung. Klar?!»

Ferrari wusste, was nun folgte. Nadine und Strub würden sich einige Minuten lang streiten und sich dann mit viel Brimborium versöhnen. Zeit genug, um sich in der Wohnung umzuschauen. Die vier Zimmer waren modern und sehr geschmackvoll eingerichtet. Vermutlich standen einige Designklassiker herum, nur entzog sich dies Ferraris Kenntnis. Monika wüsste das natürlich, ganz bestimmt. Eigentlich viel zu schade für einen Sexspielplatz, dachte der Kommissär und betrat den grossen Balkon mit Sicht ins Grüne und auf exklusive Villen. Erstaunlich und spannend zugleich, es gibt in dieser Stadt immer wieder Neues zu entdecken! Ferrari schloss die Balkontür. Im Wohnzimmer hing ein grosser Fernsehapparat an der Wand, sicher mit HD. Davon verstand er etwas, denn seit Langem wollte er sich ein solches Monstrum, wie es Monika nannte, anschaffen. Vor allem für die Sportsendungen. Ferrari stellte den Fernseher an. Das Bild war sensationell. Wahrscheinlich mit Swisscom-TV, doch ein Empfangsgerät war nirgends zu sehen. Was war das? Neben dem Fernseher schien etwas in die Wand eingelassen zu sein. Der Kommissär drückte auf den Knopf. Langsam öffnete sich eine Klappe und aus der Wand kam der Receiver. Raffiniert! Alles vom Feinsten. Mit leuchtenden Augen drückte er die Off-Taste. Allem Anschein nach war Nora Schüpfer eine Edelprostituierte, die sich einiges leisten konnte. Das Schlafzimmer war im Vergleich schlicht eingerichtet. Ein grosses Doppelbett, ein Tisch mit zwei Stühlen und ein Sideboard, sonst nichts. Eigenartig. Die ganze Wohnung war mit viel Liebe zum Detail ausgestattet, nur das Schlafzimmer liess zu wünschen übrig. Ferrari kehrte zu den Streithähnen zurück.

«Ach hör doch auf, Nadine! Du bist befangen. Noldi ist schliesslich der beste Freund von Koch. Und die Spatzen pfeifens von den Dächern, dass diese Schüpfer Kochs Flamme ist.»

«Was noch lange nicht heissen muss, dass sie die Mörderin ist.»

«Gut, gut! Ich will mich nicht mit dir streiten, Nadine. Sonst hetzt du mir wieder deinen Gorilla auf den Hals.»

Strub machte eine abschätzende Handbewegung und liess Nadine einfach stehen. Ferrari, der nur die letzten Worte hörte, sah sie fragend an.

«Das Urteil ist bereits gesprochen. So viel zur Unvoreingenommenheit und zur Objektivität. Aber er will keinen Streit mit mir, weil du ihm sonst den Hals umdrehst.»

«Ich werde diesem Leichenfledderer zeigen, wo Gott hockt.»

«Lass es, Francesco. Sonst kannst du dich gleich mit dem ganzen Polizeikorps anlegen, denn so wie Peter denken doch alle.»

Ferrari drehte sich um und stiess eine von zwei Holzplastiken von einem Sockel. Nadine konnte sie im letzten Augenblick auffangen.

«Nicht den Tukan kaputt machen, Francesco. Das bringt Unglück.»

«So ein Ding oder etwas Ähnliches steht auch bei uns zu Hause.»

«Und bei mir, nur etwas kleiner. Monika und ich unterstützen damit ‹antoras›.»

«Was ist das?»

«Eine Stiftung, die mit fair produzierten Produkten handelt, mit Kunst, Kunsthandwerk und auch mit Kinderspielzeug.»

«So ähnlich wie Max Havelaar?»

«Ja, so was in der Richtung. Die Max-Havelaar-Stiftung vergibt ein Gütesiegel für fair gehandelte Produkte und verbessert durch fairen Handel die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Kleinbauern und Plantagenarbeitern. Die Gründung vor genau zwanzig Jahren hatte zum Ziel, dass der faire Handel aus einer Nischensituation befreit wird und sich auch bei Grossverteilern durchsetzt.»

«Und ‹antoras›?»

«Eine Basler Stiftung. Sie vergibt zwar kein Gütesiegel wie Max Havelaar, doch faire Produktion wird auch hier grossgeschrieben. Die Einnahmen fliessen direkt zurück und es wird auch kontrolliert, wie die Gelder vor Ort angelegt werden.»

«Wers glaubt.»

«He! Im Stiftungsrat sitzen ziemlich viele Promis. Willst du etwa sagen, die seien korrupt?»

«Hm.» Ferrari nahm Nadine die Holzplastik aus der Hand. «Zum Glück steht der Tukan bei uns bestens geschützt auf dem Bücherregal. An exponierter Stelle würde ich ihn wahrscheinlich immer umstossen. Sieht ziemlich schwer aus, ist aber federleicht.»

Der Kommissär stellte das Kunstwerk auf den angestammten Platz zurück.

«Lass uns mit den Nachbarn reden, Nadine. Vielleicht hat jemand etwas Ungewöhnliches bemerkt.»

Eine halbe Stunde später gaben sie auf.

«Wie immer, niemand weiss etwas, alle sind überrascht, dass hier im Haus eine Prostituierte ihrer Arbeit nachgegangen ist. Alles ehrenwerte Bürger.»

«Oder wie Udo Jürgens singt», klinkte sich Strub in die Unterhaltung ein, «ein ehrenwertes Haus. Was schaust du mich so an, Francesco? Dein Gesichtsausdruck ist irgendwie komisch …»

«Vielleicht siehst du den Gorilla in mir?»

Strub wich unweigerlich zurück.

«Keine Sorge, heute bin ich ganz friedlich. So, wie Gorillas von Natur aus sind. Es sei denn, sie werden provoziert.»

Nadine raste zurück ins Kommissariat, vermutlich mit neuem Streckenrekord. Weshalb lasse ich mich immer wieder auf diese Tortur ein? Sobald sie hinter dem Steuer sitzt, benimmt sie sich wie eine Wahnsinnige.

«Das war Rot!», entfuhr es dem Kommissär.

«Blödsinn. Höchstens Orange.»

«Dunkelrot!»

«Beifahrer Klappe halten! Und zerkratz mir nicht das Armaturenbrett. Du brauchst dich nicht so krampfhaft daran festzuhalten. Das ist eine Beleidigung für meinen Fahrstil.»

Der Kommissär liess los und versuchte, so locker wie möglich zu bleiben.

«Und hör mit dem blöden Ein- und Ausatmen auf!»

«Also bitte, das Atmen wirst du mir doch wohl noch erlauben.»

«Du schnaufst wie ein Ross. He … schau dir diesen Trottel an … er hat mich geschnitten!», sie zeigte einem Motorradfahrer den Stinkefinger. «Arschloch!»

Ferrari lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das war die absolut einzige Möglichkeit, ruhig zu bleiben oder zumindest den Anschein von Gelassenheit zu erwecken.

«Kennst du den Song ‹Slow down›?», fragte Ferrari nach einer Weile.

«Nö, das sagt mir gar nichts.»

Wen wunderts.

«Endstation! Du kannst die Augen wieder aufmachen.»

Slow down. You’ve got to slow down and take ist easy. Slow down. You’ve got to slow down and take it easy, oh yeah!, summte der Kommissär beim Aussteigen leise vor sich hin. Wer sagts denn, mit Humor und Gelassenheit geht alles viel besser, sogar eine Irrsinnsporschefahrt.

«Sag mal, Nadine, warum bist du heute Morgen zu mir gekommen?»

«Wegen Koch.»

«Ja, schon. Aber war das eine spontane Eingebung?»

«Wenn ich es mir genau überlege, gab es einen konkreten Anlass. Ich traf Koch unten bei Noldi. Er druckste so komisch herum und ging dann wieder.»

«Ist dir das schon öfters aufgefallen?»

«Eigentlich nicht, nein. Ich sagte zu Noldi, mit dem stimmt etwas nicht. Ich rede mit Francesco darüber … Du meinst …?»

«Bei dem Fall machen mich einige Dinge stutzig», Ferrari blickte auf seine Armbanduhr. «Jetzt ist es kurz vor Mittag. Wann bist du bei mir reingestürmt, so um halb zehn?»

«Das kommt hin. Ich bin um halb neun oder viertel vor neun bei Noldi gewesen.»

«Und der Mord geschah nach bisherigem Kenntnisstand zwischen halb acht und acht. Übrigens ein weiterer Punkt, der mir nicht gefällt. Nicht gerade die optimale Zeit für einen kleinen Beischlaf.»

«Ein frühes Huhn legt ein grosses Ei!»

Der Kommissär lachte.

«Den Spruch höre ich zum ersten Mal.»

«Eine alte Bauernweisheit. Du meinst, Peter Grauwiler wollte Nora gar nicht zum Schäferstündchen besuchen und Koch wusste bereits, dass der Nationalrat tot ist, als ich ihn bei Noldi traf?»

«Durchaus möglich.»

«Und jetzt?»

«Jetzt unterhalten wir uns mit dem Kollegen Koch. Wenn der überhaupt ansprechbar ist.»

3. Kapitel

Ferrari stand am Fenster und ging einer seiner Lieblingsbeschäftigungen nach, er sah dem Treiben unten im Hof zu. Der Abwart des Waaghofs unterhielt sich mit Jakob Borer. Wenn ich das Fenster öffne, kann ich vielleicht ein paar Fetzen der Unterhaltung aufschnappen. Doch der Kommissär widerstand der Versuchung. Nach einigen Minuten klopfte Borer dem Hausmeister kräftig auf die Schulter, rieb sich die Hände und verschwand im Treppenhaus. Durch das Tor fuhr ein Streifenwagen in den Hof. Eine Polizistin stieg aus, öffnete die Beifahrertür und half einem Kollegen aus dem Auto, der sich anscheinend bei einem Einsatz verletzt hatte. Ferrari schaute zum Himmel hinauf. Regenwolken. Es war Ende April, diese Übergangszeit vom Winter zum Frühling liebte er nicht besonders. Schwankende Temperaturen, mal kalt, dann plötzlich über Nacht zwanzig Grad. Es ist gut, wenn es nach dem strengen Winter endlich ein wenig wärmer wird. Die Natur, das konnte man deutlich beobachten, war einige Wochen im Rückstand. Normalerweise blühte die Vegetation viel üppiger, aber es schien, als ob sie der Sache nicht so richtig traute und weiterhin Winterschlaf hielt.

«Ähm!»

«Ah, Arthur! Komm rein und setz dich. Seid ihr schon lange da?», wandte sich Ferrari an Nadine.

«Lange genug. Was gibts da draussen so Spannendes?»

«Regenwolken und einen verletzten Polizisten. Hoffentlich nichts Ernstes.»

«Basti Schweiger», brummte Koch. «Er ist beim Aussteigen ausgerutscht und hat sich den Fuss verknackst.»

Der Kommissär setzte sich zu Koch an den Klubtisch, während Nadine auf dem Chefsessel hin- und herwippte.

«Thuri, es … es fällt mir nicht leicht, mit dir über den Mord an Grauwiler zu sprechen. Aber ich muss dir ein paar Fragen stellen. Ist Nora Schüpfer deine Freundin?»

«Wir werden heiraten!»

«Das freut mich. Ja, wirklich, du brauchst mich gar nicht so misstrauisch anzuschauen. Ich schätze Menschen, die zu ihrer Überzeugung stehen.»

Koch wurde etwas lockerer.

«Ist dir bewusst, dass Nora die Hauptverdächtige in diesem Mordfall ist?»

«Sie ist keine Mörderin!»

«Hat sie dir das gesagt?»

«Nein! Ich versuche sie seit Stunden vergeblich zu erreichen. Sie reagiert einfach nicht. Nora bringt niemanden um.»

«Aber es gibt einen Zeugen, der schwört, dass sie zum Zeitpunkt des Mordes aus dem Haus gerannt ist.»

«Das leugne ich ja auch nicht, Nadine. Wir telefonierten heute früh miteinander. Sie bat mich, Julie, das ist Noras Tochter, am Mittag von der Schule abzuholen.»

«Weshalb?»

«Sie konnte nicht. Ein … wegen einem Termin.»

«Wann genau hast du mit ihr gesprochen?»

«Kurz nach sieben. Ich war ziemlich erstaunt, dass sie mich so früh anruft. Sie meinte, dass ausnahmsweise jemand um acht vorbeikäme.»

«Was eigentlich ausserordentlich früh ist …»

«… in diesem Metier. Du musst mich nicht schonen, Francesco. Ich stehe zu Nora und weiss von ihrem Beruf. Nicht, dass es mir egal ist, aber es ist nun mal so.»

Damit war eine weitere Frage bereits beantwortet. Ferrari konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sich mit einer Frau einlassen würde, die mit Männern für Geld ins Bett ging. Das würde ihn rasend machen.

«Wer hat Julie zur Schule gebracht?»

«Rebecca Haller. Das ist Noras beste Freundin, sie kennen sich seit der Kindheit.»

«Nach dem Gespräch um sieben meldete sie sich nicht mehr bei dir?»

«Nein!»

Ferrari blickte auf die Uhr.

«Es ist kurz vor zwölf. Du wolltest doch Julie abholen?»

«Noldi springt für mich ein. Julie kennt ihn und die Lehrerin auch. Er bringt Julie zu Rebecca.»

«Wo wohnt Nora?»

«In Bettingen, mitten im Dorf in einem grossen Einfamilienhaus. Eigentlich ganz in der Nähe der Badi.»

«Woher kennst du Nora?»

«Einer ihrer Freier war auf perverse Spielchen aus. Als Nora nicht mitmachen wollte, ging er auf sie los. Sie erstattete Anzeige und ich war derjenige, der das Protokoll aufnahm. So haben wir uns kennengelernt.»

«Was wurde aus der Strafanzeige?»

«Die wurde unter den Teppich gekehrt. Der Typ war ein Promi.»

«Strafanzeigen kann man nicht einfach unter den Teppich kehren.»

«Wo lebst du, Francesco? Dort draussen auf der Strasse geht es anders zu als hier in unseren geschützten Büros. Das solltest du eigentlich nach mehr als zwanzig Jahren wissen.»

Nadine wurde unruhig, ihr Wippen schneller. Das Verhör lief nicht nach Wunsch. Ganz und gar nicht.

«Wann war das?»

«Vor acht Jahren, Nadine.»

«Und seither trefft ihr euch regelmässig?»

«Beinahe täglich. Ich bin schon fast bei ihr eingezogen.»

«Hast du eine Vermutung, weshalb Grauwiler ermordet worden ist? Ich sage bewusst nicht, von Nora, obwohl es eigentlich auf der Hand liegt.»

Ferrari schüttelte den Kopf. Psychologie war eindeutig nicht Nadines Stärke. In die Enge getrieben, bleibt oft nur noch der Angriff.

«Keine Ahnung! Sie war es nicht, Nadine», Koch schlug wie ein trotziger Junge mit der Faust auf Ferraris Klubtisch. «Sie ist der liebenswerteste Mensch auf dieser Welt. Trotz all der Vorurteile», er blickte dabei zu Ferrari hin, «mit denen sie täglich konfrontiert wird.»

«Nora war keine normale Prostituierte, eher eine Edelnutte. Richtig?»

Kochs Augen funkelten.

«Ja … es verkehrten ziemlich viele Promis bei ihr.»

Nadine wippte noch immer mit dem Stuhl.

«Kannst du uns eine Liste von den Promis machen?»

«Ich … ich kenne diese Leute nicht.»

«Du behauptest also, dass du nicht weisst, wer deine Freundin bumst?»

Koch sprang hoch.

«Du … du … sprich nicht so, sonst …»

Nadine war ebenfalls aufgesprungen. Sekundenlang fixierten sie sich. Die Spannung war zum Greifen nah.

«Du drohst mir? Na bravo. Dann hör gefälligst auf, uns zu verarschen. Du kennst wahrscheinlich mehr als einen ihrer Freier. Und hör auch mit den saudummen Sprüchen auf, von wegen, dass es dich nicht stört, mit wem sie bumst. Es macht dir sehr wohl etwas aus.»

Also eigentlich hatte Koch ja betont, dass es ihm nicht gleichgültig sei. Aber Ferrari blieb keine Zeit für Haarspaltereien, wie es seine Kollegin nennen würde. Im letzten Augenblick konnte er verhindern, dass sich Koch auf Nadine stürzte.

«Setz dich, Arthur!»

Zur Sicherheit hielt ihn der Kommissär fest, bis er wieder auf dem Stuhl sass. Koch atmete heftig, Schweiss stand auf seiner Stirn.

«Auch wenn es dir nicht gefällt, Nora ist unsere Hauptverdächtige. Sie ist aus der Wohnung gerannt, vermutlich in Panik aufgelöst. Gibt es dafür deiner Meinung nach eine Erklärung, Arthur Koch?», setzte Nadine unbeirrt nach.

«Nein … nein … ich verstehe das nicht.»

«Dann noch etwas anderes. Ich bin mir sicher, dass du nach dem Mord mit Nora telefoniert hast. Hundertpro!»

«Nein!»

«Wir trafen uns doch heute früh bei Noldi. Du erinnerst dich, ja? Gut. Da wolltest du uns etwas sagen, hast es dir dann aber anders überlegt. Das war exakt zu der Zeit, als Nora floh.»

«Das stimmt alles nicht. Ich sage jetzt nichts mehr.»

Ferrari trommelte mit den Fingern auf den Glastisch. Ein Zeichen, dass sein Gehirn auf Hochtouren arbeitete.

«Du bist für Nora keine Hilfe, wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest, Thuri. Das ist kontraproduktiv. Alle Indizien sprechen im Moment gegen sie. Wenn du wirklich überzeugt davon bist, dass sie unschuldig ist, solltest du uns alles sagen, was du weisst.»

«Ich weiss nichts, gar nichts!»

«Gut, dann können wir die Befragung jetzt abbrechen. Du kannst gehen.»

Langsam, mit einem wütenden Seitenblick zu Nadine öffnete Arthur Koch die Tür.

«Was … was wisst ihr denn schon! Ihr könnt es euch doch gar nicht vorstellen, wie Nora ist. Eine Edelnutte! Eine, die sich für Geld verkauft, und somit gehört sie eindeutig zum Abschaum. Prima, abgestempelt und schubladisiert. Ihr macht es euch verdammt einfach. Aber der Mensch, die wunderbare und einfühlsame Frau, die hinter der Fassade steckt, die interessiert euch nicht. Ihr kotzt mich an!»

Mit einem gewaltigen Krach flog die Tür zu.

«Das war wohl nix!», resümierte Nadine.

«Du hast ihn provoziert.»

«Nachdem du mit deiner liebenswürdigen Art gescheitert bist.»

«Deine Holzhammermethode war dafür umso erfolgreicher … Wie auch immer, die Vermutung liegt nahe, dass Thuri ziemlich viele Freier kennt und nach der Tat mit Nora Schüpfer Kontakt hatte.»

«Nur schweigt er wie ein Grab.»

«Schicken wir jetzt zuerst mal die Kollegen nach Bettingen, sie sollen das Einfamilienhaus auseinandernehmen. Vielleicht finden wir irgendeinen Anhaltspunkt, wo Nora sein könnte. Wurde ein Terminkalender gefunden?»

«Nein. Peters Leute haben das Appartement minutiös durchsucht. Keine Agenda, auch keine elektronische.»

«Dann sollen sie in Bettingen explizit danach suchen. Nora hat ihre Verabredungen bestimmt notiert.»

«Das denke ich auch. Irgendwo muss sie sein. Was mir einfach nicht aus dem Kopf will – wenn sie nicht die Mörderin ist, weshalb ist sie heute Morgen davongerannt?»

«Panik. Sie ist mit Grauwiler zusammen, als plötzlich jemand auftaucht und ihren Kunden ersticht. Da würdest du auch um dein Leben rennen.»

«Der grosse Unbekannte? Unwahrscheinlich. Vielleicht war unser Nationalrat ja auch pervers und es war Notwehr.»

«Hm. Was meint Peter zum Messer?»

«Er will zuerst die Einstiche untersuchen. Danach wissen wir mehr.»

«Gut. Sammeln wir Fakten. Wir müssen alles über Nora und über Grauwiler in Erfahrung bringen.»

«Ich übernehme Nora und der Schickimicki-Kommissär mit seinen guten Beziehungen zum Basler Daig kann die dunklen Seiten des Strahlemanns an die Oberfläche kehren.»

«Aber bitte diskret, Herrschaften!» Jakob Borer war unbemerkt ins Zimmer gekommen. «Und damit meine ich um einiges diskreter als das Verhör mit Kollege Koch.»

«Hat er sich bei Ihnen beschwert?»

«Das wäre noch! Nein, das Geschrei zwischen Ihnen und Koch war einfach nicht zu überhören, Frau Kupfer.»

«Ich gehöre halt nicht zur Samthandschuhabteilung. Dafür ist Francesco zuständig.»

«Wie wahr, wie wahr! Ich vermute, dass er sich bei seinem Chef über die Art der Ermittlungen beschweren wird. Aber, Herrschaften, da kann ich sie beruhigen. Das geht mir, wie Sie zu sagen pflegen, werte Frau Kupfer, das geht mir am Arsch vorbei!»

Selbst Nadine musste darüber lachen.

«Gibt es einen Hinweis, wo sich Nora Schüpfer aufhalten könnte?»

«Keine Spur. Sie ist wie vom Erdboden verschwunden.»

«Verstehe. Das war zu befürchten.» Borers Miene verfinsterte sich. «Wenn ich da eine Bitte aussprechen darf», der Staatsanwalt zögerte einen Augenblick, «sicher werden Sie sich auch mit Emma Grauwiler unterhalten.»

«Das lässt sich kaum vermeiden.»

«Sie … wie soll ich das sagen … Emma war … ist eine gute Freundin aus alten Zeiten. Eine sehr sensible Frau. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn sie Emma so schonend wie möglich befragen könnten. Das ist mir ein persönliches Anliegen. Vielleicht sollten Sie …»

«Sie meinen, Francesco soll am besten allein zu Ihrer Emma gehen, weil ich ein zu grosser Risikofaktor bin?»

«Es ist nicht meine Emma, Frau Kupfer. Ansonsten finde ich das eine ausgezeichnete Idee. Wirklich ausgezeichnet.»

Ohne eine Antwort abzuwarten, verliess der Staatsanwalt das Büro.

«Ist das nicht edel vom weissen Ritter? Steigt er doch tatsächlich aus seinem Pflanzendickicht in die Niederungen des Alltags hinunter, um eine holde Schöne zu beschützen?! Mir kommen gleich Tränen der Rührung. Nun, Francesco, deine Stärken sind gefragt. Immer schön um den heissen Brei herum reden. Ihr Gatte, liebe Emma, wurde leider bei einem Höpperchen abgemurkst. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das bleibt unter uns. Die Freunde Ihres Mannes, sicher auch Kunden bei Nora, waren sofort zur Stelle. Sie wickelten ihn in eine Decke, schleppten ihn in sein Büro und setzten ihn nackt auf seinen Bürostuhl.»

«Er sass nackt auf dem Stuhl?»

Nadine lachte.

«Manchmal bist du schon etwas naiv. Das ist meiner Fantasie entsprungen.»

«Ach so. Schräge Fantasie. Borer war viel zu … viel zu liebenswürdig. Er fleht förmlich, dass wir diese Emma schonen.»

«Vielleicht ist diese Flamme ja noch nicht erloschen und hinter der Selbstlosigkeit unseres ehrwürdigen, notabene verheirateten Staatsanwalts steckt mehr, als er uns verraten will.»

4. Kapitel

Ferrari lag im Krieg. Ein paar Schlachten hatte er bereits verloren, aber er dachte nicht daran aufzugeben. Sein Gegner war kein Geringerer als der Kaffeeautomat des Kommissariats. Das Ding hasst mich. Jeder kommt problemlos zu seinem Kaffee, nur ich nicht. Jetzt kriegst du deine letzte Chance, bevor ich dich in deine Einzelteile zerlege. Ferrari warf einen Jeton ein, drückte auf Cappuccino und wartete, bis der Automat zu rattern begann. Ein leerer Pappbecher brachte sich in Stellung und langsam lief der Kaffee hinein. Geht doch! Nach fünf Sekunden war das Schauspiel zu Ende. Ferrari griff nach dem Becher. Das ist nie und nimmer ein Cappuccino, höchstens ein Espresso! Dieser verfluchte Automat! Der Verzweiflung nahe trank der Kommissär den Espresso, stellte den Becher an den Ausgangspunkt zurück, warf einen weiteren Jeton in den Schlitz und drückte nochmals auf Cappuccino. Der Vorgang wiederholte sich. Ein leerer Pappbecher versuchte sich in Stellung zu bringen. Da bereits der alte dort stand, kam es zur Konfrontation. Die beiden Becher lieferten sich ein heftiges Gefecht, der eine rutschte von der Halterung, während sich der andere auf dem Sockel verhedderte. Derweil lief der Cappuccino ins Auffanggefäss und auf den Boden.

«Was machst du denn jetzt schon wieder? Kannst du nicht einmal einen Kaffee aus dem Automaten lassen?»

«Also, ich muss schon bitten. Ich bin doch kein kleines Kind. Der Automat hasst mich … Steh nicht so blöd rum, unternimm was.»

Inzwischen war die Lache auf dem Boden zu einem kleinen See angewachsen.

«He, wohin gehst du?»

Eine Minute später drückte Nadine dem Kommissär eine Kleenexschachtel in die Hand.

«Die Abwaschtücher sind alle, aber damit solltest du die Sauerei auch wegkriegen.»

Schöne Hilfe. Fluchend wischte der Kommissär den Boden auf und warf die beiden leeren Pappbecher in den Abfalleimer.

«Was willst du?»

«Einen Cappuccino», murrte Ferrari kleinlaut.

Nadine warf einen Jeton ein und das verdammte Ding produzierte den besten Cappuccino.

«Hier! Gesponsert!»

«Danke. Scheissapparat!»

Ferrari gab dem Automaten einen Tritt und verschwand.