Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Am frühen Morgen wird im St. Alban-Park ein Mann tot aufgefunden, ermordet durch mehrere Messerstiche. Das Opfer ist ein erfolgreicher Junganwalt, der mit zwei gleichaltrigen Kollegen eine Kanzlei führte. Kommissär Francesco Ferrari und seine Assistentin Nadine Kupfer übernehmen den Fall und vermuten den Täter im beruflichen Umfeld des Toten. Dieser Verdacht erhärtet sich, als sie erfahren, dass zwei Klienten dem Anwalt offen drohten, weil sie durch dessen Schuld viel Geld verloren hatten. Kurze Zeit später kommt der zweite Anwalt ums Leben. Wer steckt hinter diesem brutalen Racheakt? Geht es wirklich um Geld oder verbirgt sich mehr dahinter? Und gelingt es dem eingespielten Ermittlungsduo, den Dritten im Bunde zu beschützen? Die Uhr tickt. Einmal mehr blicken Nadine und Ferrari in menschliche Abgründe und versuchen, das Unmögliche möglich zu machen. Spannend bis zur letzten Zeile. Mit «Über den Tod hinaus» liegt der 16. Ferrari-Krimi der Bestsellerautorin Anne Gold vor.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 255
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Anne Gold
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Lektorat: Claudia Leuppi
Korrektorat: Daniel Lüthi
Gestaltung: Bernadette Leus
Illustration: Tarek Moussalli
eISBN 978-3-7245-2552-3
ISBN 978-3-7245-2511-0
Der Friedrich Reinhardt Verlag wird
vom Bundesamt für Kultur mit
einem Strukturbeitrag für die Jahre
2021–2024 unterstützt.
www.reinhardt.ch
www.annegold.ch
Beherzt ist nicht, wer keine Angst kennt, beherzt ist,wer die Angst kennt und sie überwindet.
Khalil Gibran
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Grosse, gähnende Langeweile machte sich im Kommissariat breit. Seit Tagen war nichts los, eigentlich ein gutes Zeichen für die Stadt Basel und ihre Bewohner. Vielleicht war es den Verbrechern und Mördern auch nur zu heiss. Die Temperatur betrug sage und schreibe 36 Grad Celsius. Wahnsinn! Einzig ein paar Klimaaktivisten protestierten trotz der Hitze vor der UBS am Bankverein. Kollege Stephan Moser war mit seinem Team vor Ort und versuchte zwischen den Protestierenden und einigen aufgebrachten Passanten zu schlichten, offenbar war es zu einem Handgemenge gekommen. Die Lage sei wieder unter Kontrolle, liess ein Radiomoderator verlauten. Gut so. Ende Monat, am 31. Juli, findet traditionsgemäss das abendliche Stadtfest und das grosse Feuerwerk statt. Dann ist es aus mit der Ruhe. An den Tagen vor und nach dem Nationalfeiertag werden die Einsatzkräfte erfahrungsgemäss alle Hände voll zu tun haben. Vielleicht geschieht ja dann endlich wieder mal ein Mord. Kommissär Francesco Ferrari rieb sich nachdenklich die Stirn. Eigentlich darf ich so etwas nicht mal denken.
«Du bist schon da? Ich dachte, beim Bankverein gibt es ein Verkehrschaos?», begrüsste ihn seine Assistentin Nadine Kupfer.
«Guten Morgen, Nadine. Nein, der Verkehr ist zum Glück nicht blockiert. Die Klimaaktivisten haben sich mit Zelten vor dem Eingang der UBS eingerichtet, sie demonstrieren gegen die Klimaerwärmung. Die Banken sollen keine Firmen mehr unterstützen, die mit Erdöl, Gas und Kohle handeln.»
«Ökologische Fundis, absolut weltfremd. Ohne Erdöl, Gas und Kohle bricht alles zusammen. Kernkraftwerke wollen die Idioten ja auch nicht.»
«Es ist doch gut, wenn die jungen Leute Sorge zur Umwelt tragen.»
«Es gibt Gesetze, Francesco. Und bei allem Verständnis für die Jugend, auch sie hat sich daran zu halten.»
«Sehr richtig», polterte die sonore Stimme von Staatsanwalt Jakob Borer.
«Ah, der Vertreter der Staatsmacht. Guten Morgen, Herr Staatsanwalt.»
«Guten Morgen, die Herrschaften. Wo kommen wir hin, wenn alle tun und lassen, was ihnen gerade Spass macht. Dann würde die blanke Anarchie ausbrechen. Diese Chaotenbrut muss die ganze Härte des Gesetzes spüren. Ich war mit Stephan kurz vor Ort. Es sind rund sechzig Demonstranten. Nebst der Anführerin sie ist Mitte dreissig und spricht ein perfektes Baseldeutsch, kommen viele aus dem Ausland, sogenannte Klimatouristen.»
«Das Klima ist ein internationales Thema. Ist doch verständlich, wenn sich alle Aktivisten vereinigen», wandte Ferrari ein.
«Ist mir schon klar, dass Sie auf der Seite der Chaoten stehen. Wundert mich nicht bei Ihrer Biografie.»
«Weiss ich da etwas nicht?»
«Ihr dicker Chef …»
«Ich bin nicht dick.»
«Wie nennt man denn das, was Sie wie eine Trommel vor sich hertragen?»
«Ein Bäuchlein, das gehört zu einem richtigen Mann.»
«Dass ich nicht lache. Das ist eine veritable Wampe. Wo waren wir? … Ah, Ihr Chef ist eine linke Socke.»
«Darauf bin ich stolz.»
«Er wurde zweimal wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt verhaftet.»
«Echt?»
«Was sollen die alten Geschichten? Woher wissen Sie das überhaupt?»
«Von Georg.»
«Aha, unser lieber Chef der Fahndung. Der hat es gerade nötig.»
«Wie meinst du das?»
«Das kann ich Ihnen erklären, Frau Kupfer. Georg ist auch eine linke Socke. Die beiden wurden zusammen eingebuchtet.»
«Das glaube ich nicht.»
«Das ist fast vierzig Jahre her. Wir kämpften damals für den Erhalt einer Grünzone in Kleinhüningen.»
«Aber da warst du noch nicht bei der Polizei, oder?»
«Das wäre noch schöner. Die beiden Querulanten bewarben sich erst später, wohlweislich verschwiegen sie ihre Delikte.»
«Es gibt doch sicher eine Akte über den Vorfall.»
«Damals herrschte akuter Personalmangel. Man war froh, wenn sich überhaupt jemand bei der Polizei meldete. Konnte einer nur halbwegs gerade laufen, wurde er eingestellt.»
«Das verbitte ich mir. Wir mussten eine knallharte Prüfung ablegen.»
«Lächerlich. Sie meinen wohl, wie eine Schnecke über die Tartanbahn kriechen, eine Kugel stemmen und sie in den Sand fallen lassen. Vermutlich trafen Sie dabei Ihre Zehen. Und zum Schluss noch Weitsprung, was wohl eher ein Nahsprung war.»
«Georg und ich waren die besten Kadetten.»
«Sie können sich in etwa vorstellen, wie damals unsere Polizei aussah, Frau Kupfer. Die meisten mussten zum Einsatz getragen werden. Zurück zu den Chaoten: Ich wies Stephan an, jeden Vermummten zu verhaften, und beim ersten Anzeichen von Gewalt lösen wir die Demonstration auf.»
«Ui! Ein gefundenes Fressen für die Medien. Ich freue mich schon auf die originellen Schlagzeilen.»
«Ich weiss nicht, Francesco. Die Menschen haben langsam genug von diesen Demonstrationen.»
«Ich bin ganz Ihrer Meinung. Auf Videoaufnahmen sieht man, wie die Klimaaktivisten mit einem Van vorfahren, in dem sie die Zelte transportierten. Das akzeptiert die Bevölkerung nicht länger.»
«Was mich noch interessieren würde, war eure Demonstration damals erfolgreich?»
«Leider nicht. Sie schleppten uns weg, dabei zerriss meine neue Jeans. Als sich Georg wehrte, legten sie ihm Handschellen an. Ich versuchte noch, dazwischenzugehen.»
«Doch dann haben sie dir eins übergebraten.»
«Nein, sie hielten mich fest.»
«Das entspricht nicht ganz der Wahrheit.»
«Doch, so war es.»
«Ich kenne die wahre Geschichte, Frau Kupfer. Ihr lieber netter Chef, ich gebe zu, auf den Fotos von damals sieht er sportlich aus, stolperte und fiel auf Georg.»
«Wirklich?»
«Ein Polizist brachte mich absichtlich zu Fall.»
«Die beiden logierten eine Nacht in der Zelle. Am anderen Morgen liess man sie geläutert laufen.»
«Und Jahre später wurden die zwei zum Vorbild einer ganzen Polizistengeneration. Das ist geradezu ein Märchen.»
«Auf Georg trifft das zu, er hat seinen Weg gemacht.
Aber Ihr Chef ist nach wie vor ein Querulant. Ich würde ihm durchaus zutrauen, dass er sich mit den Aktivisten verbrüdert.»
«Eine gute Idee. Wir fordern die Staatsmacht heraus – die Macht gehört dem einfachen Volk.»
«Das nimmt Ihnen keiner mehr ab. Mit euren Wohlstandsranzen verkommt ihr zur Lachnummer.»
«Gibt es von Ihnen auch solche Anekdoten?», fragte Nadine neugierig.
«Natürlich nicht. Seit Kindesbeinen an bewege ich mich auf der Seite des Gesetzes. Demonstrationen jeglicher Art waren und sind mir ein Gräuel. Ich engagiere mich politisch und vertrete so auf seriöse und demokratisch Art und Weise meine Anliegen.»
«Als Hinterbänkler im Grossen Rat.»
«Demnächst National- oder Ständerat.»
«Vorher werde ich Generalsekretär der EU.»
«Sie können mich nicht provozieren, Ferrari. Bei den nächsten Wahlen wird die Bevölkerung ein Zeichen setzen und Jakob Borer mit einem Glanzresultat zum Ständerat küren. Wollen wir wetten?»
«Um was?»
«Ein Essen für zehn Personen in einem Basler Lokal, das der Gewinner aussucht.»
«Einverstanden, die Wette gilt.»
«Sehr schön. Ich werde Sie daran erinnern, wenn es so weit ist. Nun, Herrschaften, wir müssen die weitere Vorgehensweise festlegen, sollte das Chaos beim Bankverein anhalten oder weitere Tumulte auftreten. Im Moment spielen wir auf Zeit. Deeskalation heisst das Schlagwort. Falls sich die Demonstration zu einem Flächenbrand ausweitet, müssen wir für Ordnung sorgen, damit Typen wie Ihnen, Ferrari, die Grenzen aufgezeigt werden. So, ich muss an eine Besprechung. Man sieht sich.»
«Hm!»
Auf dem Gang stiess der Staatsanwalt beinahe mit einem Kollegen zusammen.
«Was gibts, Rolf?»
«Ich will zu Nadine und Francesco … Hallo, ihr müsst dringend zum St. Alban-Tor. Es wurde eine Leiche gefunden.»
«Ein Mord?»
«Das weiss ich nicht. Es handelt sich um eine männliche Leiche. Mehr konnte mir Stephan nicht sagen.»
«Mein Gott! Womöglich einer der Aktivisten. Worauf warten Sie, Ferrari?! Wenn das erst einmal publik wird, ist der Teufel los.»
«Auf gehts, du linke Socke. Jetzt hast du endlich deinen Toten. Und pass auf, dass du nicht über einen Kollegen stolperst.»
Um dem Chaos rund um den Aeschenplatz auszuweichen, raste Nadine über die Wettsteinbrücke, bog in die Grenzacherstrasse ein, um nach der Hoffmann-La Roche rechts auf die die Schwarzwaldbrücke einzubiegen, und blochte die Zürcherstrasse hinauf. Die Beamten vor Ort hatten einen Teil der Parkanlage gesperrt. Als Kollege Moser die beiden sah, winkte er ihnen zu.
«Der Tote liegt in dieser Hecke, vom Trottoir aus kann man ihn nicht sehen.
«Danke, Stephan. Wo ist denn unser hoch verehrter Gerichtsmediziner?»
«Peter steckt mit seinen Leuten im Stau, ihr seid die Ersten.»
«Wer hat den Toten gefunden?»
«Eine Spaziergängerin. Sie wartet dort hinten auf euch.»
Nadine war bereits auf dem Weg zu ihr. Die ungefähr fünfzigjährige Frau sass bleich auf der Bank. Als sich Nadine näherte, erhob sie sich zitternd.
«Bleiben Sie bitte sitzen. Ich bin Nadine Kupfer und das ist Kommissär Ferrari.»
«Ist der Mann ermordet worden?»
«Das steht noch nicht fest.»
«Aber Sie sind doch von der Mordkommission. Ich habe Sie schon im Fernsehen gesehen.»
«Mich wohl eher nicht, nur meinen Chef.»
«Nein, nein. Sie standen im Hintergrund neben Herrn Ferrari.»
«Frau …»
«Jordi. Manuela Jordi.»
«Frau Jordi, Sie fanden den Toten. Ist das richtig?»
«Ja. Ich wohne an der Sevogelstrasse. Bei schönem Wetter gehe ich zu Fuss durch die St. Alban-Anlage und die St. Alban-Vorstadt, spaziere am Kunstmuseum vorbei in die Freie Strasse. Da arbeite ich in einem Souvenirladen.»
«Das ist ein langer Weg.»
«Etwa eine halbe Stunde, Herr Ferrari. Ich geniesse den Weg durch den Park und die Vorstadt. Man begegnet am frühen Morgen beinahe niemandem. Es war ein reiner Zufall. Normalerweise hätte ich den Toten nicht gesehen, aber heute morgen wurde ich durch ein Eichhörnchen abgelenkt. Es sprang an mir vorbei und kletterte hinter dem Gebüsch auf den Baum. Als ich mich umdrehte, sah ich einen Fuss. Ich dachte, da liegt ein Obdachloser im Gebüsch. Vorsichtig schob ich die Äste zurück und …», sie atmete tief, «der Mann starrte mich an. Ich wusste sofort, dass er tot ist.»
«Dann riefen Sie die Polizei an.»
«Das war nicht notwendig. Von der Breite her kamen zwei Streifenwagen die Zürcherstrasse hoch. Ich rannte zur Strasse und hielt sie an. Seither sitze ich auf dieser Bank. Mein Gott, ich muss mich um das Geschäft kümmern!»
«Einer der Streifenwagen wird Sie hinfahren. Nur noch eine Frage: Ist Ihnen irgendetwas oder irgendjemand aufgefallen?»
«Ich sah nur einen Mann mit seinem Hund, den sehe ich praktisch jeden Tag. Wir sprechen nicht miteinander, grüssen uns aber. Schon irgendwie komisch, ich kenne den Mann nicht und doch ist er mir vertraut. Das nächste Mal spreche ich ihn an, aber ich bin nicht gut in solchen Dingen. Ist das nicht eigenartig?»
«Nicht eigenartiger als im Tram immer auf dem gleichen Sitz zu sitzen, Frau Jordi. Stephan, kann einer deiner Leute Frau Jordi in die Freie Strasse fahren? Das wäre super und nehmt bitte ihre Personalien auf.»
«Wird erledigt, Nadine.»
Inzwischen war Gerichtsmediziner Peter Strub mit seinem Team eingetroffen.
«Ich würde das Dreckspack abräumen», polterte Strub. «Alles Schmarotzer. Fühlen sich stark, wenn sie dem Establishment eins auswischen können. Sie sollen besser arbeiten.»
«Die sind doch harmlos.»
«Faule Hunde sind das. Das gefällt dir natürlich. Ihr Italiener seid schliesslich die Erfinder der Faulheit.»
«Zum Glück bin ich Schweizer.»
«Hoffentlich habt ihr nicht alle Spuren verwischt.»
«Unser Freund ist wieder einmal besonders gut gelaunt, Nadine.»
«Ach, leckt mich doch. Martin, du Trottel, siehst du nicht, dass dort ein Fussabdruck im Gebüsch ist? Muss ich denn alles selbst machen … Ihr bleibt gefälligst stehen. Es gibt nämlich keinen Tatort, an dem nicht irgendwo deine Fingerabdrücke kleben, Francesco. Hier, tragt gefälligst Handschuhe. So, dann wollen wir mal.»
Peter Strub kniete neben der Leiche nieder. Der Tote war mittleren Alters und trug Anzug und Krawatte.
«Klarer Fall. Der Mann wurde von hinten erstochen. Mit grösster Wahrscheinlichkeit drang das Messer ins Herz, er war sofort tot.»
«Wer kommt als Täter infrage, Mann oder Frau?»
«Aufgrund der Wucht des Einstichs vermute ich einen Mann, Nadine. Aber mit Bestimmtheit lässt sich das nicht sagen. Der Tote ist nicht besonders gross, etwa ein Meter siebzig. Und da der Stich gerade verläuft, war der Täter etwa gleich gross. Sieht aus wie ein Banker.»
Strubs Assistent Paul reichte ihm eine Brieftasche.
«Hier Nadine, vielleicht findest du einen Ausweis. Es gibt keine Schleifspuren, er wurde also hier erstochen. Den Fusspuren nach lief er im Kreis umher, sofern es seine sind. Gib mir mal einen seiner Schuhe, Paul.»
Peter legte den Schuh auf einen kaum sichtbaren Fussabdruck.
«Passt. Da sind einige wenige andere Fussspuren, kleinere. Die könnten zu einer Frau gehören.»
«Vermutlich sind sie von Frau Jordi. Sie fand die Leiche.»
«Wir werden von ihren Schuhen einen Abdruck nehmen. Seid ihr auch auf den Rasen getreten?»
«Nein.»
«Schön wärs. Wir nehmen auch eure Schuhabdrücke auf, das vereinfacht das Ganze.»
«Er heisst Lukas Brunner», informierte Nadine, «und ist siebenunddreissig. Auf seiner Visitenkarte steht, dass er Anwalt ist und zwar in der Kanzlei Brunner, Locher, Zwyssig an der Weidengasse.»
«Die läuft parallel zum St. Alban-Teich.»
«Wenn die Adresse noch stimmt, wohnt er in der Froburgstrasse.»
«Das ist auch nicht weit, näher bei der Breite.»
«Du bist ja ein wandelnder Stadtplan», kommentierte Strub bissig. «Wir sind hier fertig. Das Opfer ist etwa seit zwei Stunden tot, eine Mordwaffe fanden wir keine. Die genauen Ergebnisse bekommt ihr morgen. Ich würde sagen, das ist ein typischer Nadine-und-Francesco-Fall.»
«Und wieso?»
«Das Kerlchen trägt einen Anzug von Walbusch, reine Schurwolle. Die Schuhe sind von Heinrich Dinkelacker, auch nicht über Zalando erhältlich. Möchtet ihr noch wissen, was er für Unterhosen trägt?»
«Komm, wir gehen, bevor ich mich vergesse.»
«Oh, da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen. Wie heisst es so schön: Betroffene Hunde bellen. Auf jeden Fall kannst du hier so richtig punkten bei deinen Schickimickis. Und wenn dir der Mörder nicht passt, lässt du ihn einfach laufen.»
«Wie war das?»
Nadine zerrte den Kommissär nur mit Mühe vom grinsenden Polizeiarzt weg.
«Lass mich. Das nimmt er zurück, sonst liegt er in Nullkommanichts auf seinem Schragen oder in einer seiner Kühlkammern.»
«Lass dich nicht provozieren. Der hat sie nicht mehr alle.»
«Das habe ich gehört, Nadine. Ihr zwei habt sie nicht mehr alle. Wenn du glaubst, dass ich mich von dir einschüchtern lasse, irrst du dich. He! Was soll das? … Paul, Martin steht nicht so blöd herum, helft mir!»
Bevor die Mitarbeiter reagieren konnten, packte das Muskelpaket Stephan Moser den zappelnden Gerichtsmediziner und bugsierte ihn in den Wagen.
«Das hat ein Nachspiel. Glaub nur nicht, dass du mich beeindruckst.»
«Abmarsch. Paul, fahr den Irren in seinen Kühlraum und sperr ihn ein, bis er wieder normal ist.»
Kopfschüttelnd blickte der Kommissär dem Dienstwagen nach.
«Dass ihr zwei auch immer aneinandergeraten müsst.»
«Er fing an, wie immer.»
«Jaja. Themenwechsel: Vielleicht ist der Mörder ein unzufriedener Klient.»
«Oder eine eifersüchtige Ehefrau … Was schaust du mich so an?»
«Frag schon.»
«Was ist Walbusch und wer ist Heinrich Dinkelacker?»
«Walbusch ist eine deutsche Firma mit Niederlassungen in Österreich und der Schweiz. Keine der bekannten Marken, aber top Qualität. Und Dinkelacker, eine Budapester Firma, stellt vor allem handgefertigte Schuhe her. Der Anzug und die Schuhe kosten bestimmt zwischen eintausendfünfhundert und zweitausend Franken.»
«Er könnte sie auch im Ausverkauf gekauft haben.»
«Brunner sieht nicht so aus, als ob er auf der Rabattwelle reitet.»
«Ich kaufe nur im Ausverkauf.»
«Ja, du bist in der Tat ein professioneller Schnäppchenjäger.»
«Und stolz darauf. Warum soll ich den vollen Preis bezahlen, wenn ich zwei Wochen später alles zum halben Preis kriege?»
«Nur, was noch vorhanden ist. Du hast nicht mehr die volle Auswahl.»
«Ich klappere die Läden vorher ab, sondiere, was ich kaufen will. Sobald die Kleider runtergeschrieben sind, schlage ich zu.»
«Und wenn sie schon weg sind?»
«Ich stelle mir verschiedene Kombinationen zusammen, irgendetwas bleibt immer übrig. So spare ich Tausende von Franken.»
«Abgesehen von der Zeit, die du verplemperst.»
«Es macht mir Spass. Diese Schuhe zum Beispiel, sie kosteten ursprünglich dreihundertfünfzig Franken. Was meinst du, wie viel ich dafür bezahlt habe?»
«Hundertfünfundsiebzig. Gratuliere.»
«Nein, hundertfünfzig.»
«Wow! Ein super Schnäppchen.»
«Ganz glücklich bin ich nicht mit ihnen.»
«Weil sie unbequem sind?»
«Nein. Sie sind wie Finken. Man merkt gar nicht, dass man Schuhe trägt.»
«Was missfällt dir dann? Die Farbe?»
«Nein. Es ist genau die Farbe, die ich wollte.»
«Dann ist ja alles bestens.»
«Nein.»
Nadine blieb entnervt stehen.
«Was ist es dann?»
«Eine Woche später waren sie noch neunzig Franken. Ich hätte warten sollen. Jetzt denke ich immer, wenn ich sie trage, dass sie zu teuer waren … He, warte auf mich!»
Die Anwaltskanzlei befand sich im ersten Stock eines imposanten Neubaus. Der Empfang war grosszügig konzipiert, wirkte hell und freundlich. Was man von der Dame am Empfang nicht behaupten konnte. Sie war sichtlich genervt. Vielleicht störten sie die lauten Stimmen, die aus einem der Büros drangen. Offenbar diskutierten ein paar Mitarbeiter über den nächsten Urlaub, Mallorca war das Ziel ihrer Träume. Nadine stellte sich vor und erkundigte sich nach den Partnern der Kanzlei. Bernhard Locher war bei einem Klienten, aber die Empfangsdame würde schauen, ob Peter Zwyssig einige Minuten Zeit erübrigen könnte. Mit einem künstlichen Lächeln rauschte sie ab.
«Wenn ich das schon höre, geht mir der Deckel hoch.»
«Das sind Wirtschaftsanwälte. Die sind immer sehr beschäftigt.»
«Zumindest tun sie so.»
Fünf Minuten später empfing sie Peter Zwyssig, ein schlanker Mitdreissiger mit braunen Locken und stahlblauen Augen.
«Sie sind Kommissär Ferrari – es freut mich sehr, Sie in unserer Anwaltskanzlei zu begrüssen.»
«Bitte entschuldigen Sie, aber kennen wir uns?»
«Ich war einer von Ines Wellers Anwälten. Seit sie sich aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hat, gehöre ich leider nicht mehr dazu. Der neue CEO liess seine Beziehungen spielen. Er brachte nicht nur ein vollkommen neues Management mit, sondern ersetzte auch das Anwaltsteam. Leider.
«Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an Sie erinnern.»
«Kein Problem. Sie haben in Ihrem Beruf tagtäglich mit vielen Menschen zu tun. Aber bitte, kommen Sie doch in mein Büro. Kaffee?»
«Gerne.»
«Für Sie auch, Frau Kupfer?»
Nadine nickte.
«Edith, bitte drei Kaffees und Mineralwasser. Bitte, setzen Sie sich. Was verschafft mir die Ehre?»
Nadine erzählte, was sich heute früh in der St. Alban-Anlage abgespielt hatte. Es war schwierig, in solchen Momenten die richtigen Worte zu finden. Zwyssig sah sie entsetzt an.
«Was?! Das … Ich muss das zuerst verdauen. Lukas ist tot, ermordet, sagen Sie?!? War … War es ein Raubüberfall?»
«Geld und Kreditkarten wurden nicht entwendet.»
«Lukas … Nein, das kann nicht sein, das darf nicht sein! Sie irren sich bestimmt.»
«Wir fanden seine ID bei ihm. Es gibt keinen Zweifel.»
«Ich … Warum … Bitte entschuldigen Sie mich, mir ist schlecht.»
Er rannte aus dem Büro.
«Der wird uns keine grosse Hilfe sein. Er ist total geschockt.»
«Nicht alle sind so hartgesotten wie du.»
«Der Tod ist schliesslich unser Geschäft. Wir mussten schon tragischere Nachrichten überbringen.»
Nach zehn Minuten setzte sich Zwyssig wieder an den Besprechungstisch. Er schien einigermassen gefasst.
«Wir waren gestern Abend zusammen essen … Er wollte Ende Woche in Urlaub fliegen, nach Ibiza. Bernhard und er diskutierten heftig darüber, ob es noch zeitgemäss sei, für ein paar Tage auf eine Insel zu fliegen. Ich musste schlichten. Bernhard entwickelt sich immer mehr zu einem Ökofreak. Lukas … Er wollte auf Ibiza eine Hazienda kaufen, es ist … war seine Trauminsel. Darüber sprach er aber nicht mit Bernhard. Der wäre vollkommen ausgerastet.»
«Bernhard ist der dritte Partner, richtig?»
«Sorry, ja, Bernhard Locher. Wir studierten alle drei zusammen und verloren uns dann eine Weile aus den Augen. Seit drei Jahren sind wir Partner – Anwälte für Wirtschaftsdelikte. Jeder von uns arbeitet auf eigene Rechnung, die Infrastruktur finanzieren wir gemeinsam. Natürlich halten wir uns auch gegenseitig Aufträge zu und helfen uns, wenn einer von uns überlastet ist.»
«Was können Sie uns über Lukas Brunner erzählen?»
«Siebenunddreissig, Single, das sind wir alle, und ein gefragter Wirtschaftsanwalt. Er wohnt … wohnte gleich hier um die Ecke. Sein grosses Hobby war Golf. Für mich absolut unverständlich, ich kann dem Sport nichts ab. Obwohl, er akquirierte viele Aufträge auf dem Green.»
«Eine feste Freundin?»
«Das kann ich mit absoluter Sicherheit verneinen, Frau Kupfer. Hin und wieder tauchte er mit einer Frau auf, aber es war nie was Ernstes.»
«Feinde?»
«Es gibt einige, die echt sauer auf ihn sind. Nämlich all jene, gegen die er vor Gericht gewann und vielleicht den einen oder anderen verärgerten Klienten. Doch das sind keine Mörder.»
«Können Sie uns eine Namensliste zusammenstellen?»
«Selbstverständlich, Herr Kommissär.»
«Wurde er in letzter Zeit bedroht oder erpresst?»
«Erpresst nicht, das hätte er uns erzählt.»
«Aber bedroht.»
«Ja, es gab da einen Fall vor einiger Zeit. Genauer gesagt, schleppt er ihn seit fast zwei Jahren mit sich herum. Lukas musste das Mandat unbedingt annehmen, um uns zu beweisen, dass er der Beste ist. Bernhard und ich hatten es abgelehnt.»
«Um was handelt es sich?»
«Kennen Sie die Firma Servisol?»
«Nein, das sagt mir nichts. Dir, Nadine?»
«Ist das nicht die Personalvermittlungsfirma, die wegen zweifelhaften Geschäftsmethoden Schlagzeilen machte?»
«Genau. Sie bietet anderen Firmen Personal an. Ein Beispiel: Sie machen eine Versandfirma auf. Anstatt eigene Angestellte zu verpflichten, erteilen Sie Servisol den Auftrag. Sie selbst stellen lediglich die leitenden Angestellten, alle anderen sind bei Servisol unter Vertrag. Das hat den Vorteil, dass Sie niemandem kündigen müssen, wenn es nicht läuft.»
«Da war doch irgendein tödlicher Vorfall.»
«In einer Verpackungsfirma kam es zu einem tragischen Zwischenfall: Eine Mitarbeiterin hatte Herzbeschwerden. Da sie ihren Job nicht verlieren wollte, schuftete sie weiter und brach zusammen. Sie starb noch vor Ort an einem Herzinfarkt. Die Untersuchungen zeigten, dass in der Halle tropische Verhältnisse herrschten. Offenbar beklagten sich im Vorfeld einige Mitarbeiter mehrmals bei ihrem Arbeitgeber, doch Servisol hielt die Temperatur für zumutbar.»
«Es kam zu einem Strafprozess.»
«Sie haben den Fall gut verfolgt. Servisol opferte einen seiner Direktoren, ein Bauernopfer. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt.»
«In der Folge schalteten die übrigen Mitarbeiter einen Anwalt ein. In einem Zivilprozess klagten sie Servisol auf Schmerzensgeld ein. Natürlich verloren sie dadurch ihre Stelle.»
«Und Lukas Brunner vertrat Servisol.»
«Exakt – Ingo Blaser, den Firmeninhaber. Bernhard und ich wollten nichts mit der Schweinerei zu tun haben. Ich hätte nie gedacht, dass es in der Schweiz solch schlimme Arbeitsbedingungen gibt. Meist sind es ausländische Arbeitskräfte und alleinerziehende Schweizer Frauen, die dringend auf einen Job angewiesen sind. Reine Ausbeutung, das ist moderne Sklaverei.»
«Wusste das Lukas Brunner?»
«Klar. Es störte ihn nicht. ‹Sie müssen ja nicht dort arbeiten› war seine Antwort.»
«Ihr Partner war skrupellos.»
«Hart formuliert, Frau Kupfer. Lukas nahm jeden hoffnungslosen Auftrag an und meistens führte er ihn zum Erfolg. Er war wirklich gut. Dementsprechend hoch fiel auch sein Honorar aus. Davon können Bernhard und ich nur träumen.»
«Aber Ingo Blaser war am Ende unzufrieden, oder?»
«Ja. Lukas lernte im Anwalt der Servisol-Mitarbeiter seinen Meister kennen. Ein smarter Kollege, Sie würden ihn als Held des kleinen Mannes feiern, Frau Kupfer. Er liess Lukas nicht den Hauch einer Chance. Blaser ging sang- und klanglos unter. Wir berieten Lukas, schlugen einen Vergleich vor, doch das lehnte er ab. Lukas war zu arrogant und Blaser hörte auf ihn. Dieser Fehler kostete ihn ein Vermögen.»
«Von welcher Summe reden wir?»
«Mangold, das ist der Anwalt der Gegenpartei, wäre mit einer Abfindung von drei Millionen einverstanden gewesen, ein absolut fairer Deal. Seine Klienten feierten bereits das grosse Geld. Für sie war es wie ein Lottosechser. Aber eben, Lukas lehnte ab. Daraufhin ging Mangold aufs Ganze: Er verklagte Servisol auf zwanzig Millionen und gewann haushoch.»
«Blaser schäumte vor Wut.»
«Die zwanzig Millionen wird er verschmerzen», bemerkte der Kommissär trocken.
«Stimmt, aber die folgenden Prozesse werden ihn in den Ruin treiben. Andere Mitarbeiter, die Blaser unter Vertrag hat und wo ebenfalls unzumutbare Zustände herrschen, rannten Mangold buchstäblich die Tür ein. Und so prasselte eine nie dagewesene Klagewelle, sozusagen ein Tsunami, auf Servisol nieder. Das wird Blaser nicht überleben.»
«Geschieht ihm recht.»
«Er versucht zu retten, was er noch retten kann. Am vergangenen Freitag, Lukas hatte sein Mandat niedergelegt, kam es zur Auseinandersetzung. Blaser und sein Geschäftsführer drohten ihm. Müssten sie Servisol wegen Lukas’ Unfähigkeit schliessen, würde er dafür bezahlen. Wir riefen die Polizei, bevor das Ganze vollends eskalierte. Blaser traue ich alles zu.»
«Haben Sie seine Adresse?»
«Selbstverständlich … Edith, bringst du mir bitte die Kontaktdaten von Ingo Blaser? … Danke.»
«Kennen Sie Lukas Brunners nächste Angehörigen?»
«Seine Mutter Eva. Sie wohnt in einer Dachwohnung an der Froburgstrasse, das Haus gehört … gehörte Lukas. Wenn Sie erlauben, begleite ich Sie. Eva verlor vor einem halben Jahr ihren Mann bei einem tragischen Unglück. Ein Unwetter tobte und Lukas’ Vater wurde von einem umstürzenden Krahn erschlagen … Sie wird Lukas’ Tod nicht verkraften.»
«Ist er ihr einziges Kind?»
«Ja. Eva vergötterte Lukas. Zeitlebens versuchte sie ihn vor der bösen Welt zu beschützen.»
Peter Zwyssig teilte Eva Brunner so behutsam wie nur möglich die schlechte Nachricht mit. Wie sagt man einer Mutter, dass ihr Kind, ihr Ein und Alles tot ist? Das Leben ist nicht fair. Eva Brunner schloss die Augen und verschränkte die Hände ineinander, als wollte sie beten. Hilflos schaute Ferrari zu Nadine, die nur mit den Schultern zuckte.
«Hast du mich verstanden, Eva?»
«Lukas war ein gutes Kind. Ohne ihn würde ich nicht in Luxus leben. Ich weiss nicht, woher er diese Fähigkeiten hatte, bestimmt nicht von Anton und mir. Er ist unser ganzer Stolz. Sie müssen wissen, Herr Ferrari, Lukas war der Erste in unserer Familie mit einem Doktortitel. Ich kann mich noch gut an die Feier im Goldenen Sternen erinnern. Es war ein unvergesslicher Abend, obwohl ich mich in diesem feinen Restaurant nicht wohl fühlte. Unsereins gehört dort nicht hin. Genauso wenig wie in diese Wohnung.»
«Sie ist wunderschön. Eine solche grossartige Aussicht auf den Rhein hat nicht jeder.»
«Sie müssen den Dachgarten anschauen, Frau Kupfer. Man sieht über die halbe Stadt. Lukas ist … war wirklich ein sehr guter Junge. Während des Studiums sagte er uns: ‹Ich werde reich und kaufe euch ein Haus mit einem wunderschönen Dachgarten, von dem aus ihr die ganze Stadt seht.› Wir lachten nur. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass man als Anwalt so viel Geld verdient. Als mein Mann starb, weinte Lukas fürchterlich, viel mehr als ich. Ich … Ich kann nicht wirklich weinen. Das war schon immer so, keiner weiss den Grund. Aber Lukas, er konnte nicht mehr aufhören. Er weinte wie ein kleines Kind. Ich tröstete ihn, so gut es ging. Es war ein tragischer Unfall und jetzt Lukas … Ich bin sehr gläubig und der Glaube gibt mir Kraft. Der HERR gibt uns das Leben und er nimmt es uns wieder. Früher oder später. Lukas zweifelte an Gott. Er konnte nicht verstehen, warum ihm Gott seinen über alles geliebten Vater nahm. Nach einer schweren Zeit rappelte sich Lukas wieder auf. Er wollte die Baufirma verklagen. Was daraus geworden ist, weiss ich nicht. Ich fragte ihn nie danach.»
«Sie bezahlten eine hohe sechsstellige Summe.»
«Wirklich?», Eva Brunner lächelte traurig. «Zwei Monate nach Antons’ Tod überraschte mich Lukas mit dieser Wohnung.»
«Sprach er mit Ihnen über seine Fälle?»
«Nein, nein. Das hätte ich sowieso nicht verstanden. Wenn er, Bernhard und Peter miteinander diskutierten, klang es wie eine Fremdsprache. In all den Jahren wurde ich nur zwei Mal mit seinem Beruf konfrontiert. Da war diese Freundin, ich glaube, dass er sie vom Studium kannte …»
«Du meinst sicher Brigitte.»
«Eine blonde, ziemlich gutaussehende Frau in eurem Alter.»
«Ja, das ist Brigitte.»
«Zuerst dachte ich, es sei seine neue Freundin. Wissen Sie, Herr Kommissär, die jungen Menschen wechseln oft ihre Partner. Zu oft für meinen Geschmack. Das war früher anders, damals …»
«Diese Brigitte war also nicht seine neue Freundin, richtig?», versuchte Ferrari beim Thema zu bleiben.
«Genau. Es sei eine Klientin, sagte er. Nur, warum kam sie zu uns nach Hause? Das fand ich seltsam, aber sie war nur ein einziges Mal hier.»
«Bei uns in der Kanzlei hielt sie sich öfters auf. Es ging um eine Erbschaftsangelegenheit, konkret um ein Reisebüro, das Brigitte und ihre beiden Brüder von den Eltern geerbt hatten. Der werte Kollege, der Brigitte am Anfang vertrat, war ein absoluter Loser, er liess sich total von der Gegenpartei einlullen. Die beiden Brüder machten ihm weis, dass die Firma nichts wert sei. Daraufhin engagierte Brigitte Lukas, der fuhr beim gegnerischen Anwalt wie ein Tornado ein.»
«Lukas erzählte mir nicht, wie der Fall ausging. Er erzählte nie viel.»
«Und der zweite?»
«Das war eine sehr unangenehme Sache. Vor einigen Tagen tauchten zwei unbekannte Männer auf. Natürlich liess ich sie nicht einfach herein, das soll man ja nicht tun. Der eine wurde richtig wütend und drohte, die Türe einzuschlagen. Zum Glück kam dann Lukas. Er verschwand mit ihnen in seiner Wohnung. Die stritten sich so laut, dass ich sie bis hier oben hörte.»
«Um was ging es bei dem Streit?»
«Keine Ahnung. Lukas sagte nur, es gehe um einen Fall, bei dem er zu hoch gepokert hätte.»
«Haben Sie die beiden gesehen?»
«Nein, ich sprach mit ihnen nur durch die Sprechanlage.»
«Das waren bestimmt Blaser und sein Geschäftsführer.»
«War das ein Kunde von Lukas?»
«Sein wichtigster und auch sein hinterhältigster.»
«Jetzt bin ich ganz auf mich allein gestellt. Zuerst Anton, jetzt Lukas. Ich weiss nicht, wie ich das alleine schaffe.»
«Bernhard und ich sind für dich da, Eva. Du kannst immer auf uns zählen.»
«Ihr seid gute Jungs. Wissen Sie, Frau Kupfer, die drei sind zusammen aufgewachsen. Anton sagte immer, sie sind unzertrennlich wie die drei Musketiere. Wir wohnten alle in der gleichen Strasse. Ich könnte Ihnen Müsterchen erzählen, was die drei alles so angestellt haben … Bernhard musste am meisten den Kopf hinhalten.»
«Und warum?»
«Sein Vater war Wachtmeister. Hatten sie wieder einmal Mist gebaut, bestrafte er seinen Sohn stellvertretend für alle. Ich kann mich noch gut an das Gokart erinnern.»
«Ich auch», lachte Peter. «In der Nähe unseres Wohnorts befand sich eine Tankstelle. Der Pächter war fanatischer Gokart-Fahrer. An einem schönen Sommerabend kletterten wir über den Hag, holten den Reserveschlüssel fürs Tor, der über der Eingangstür zum Laden hing, und liehen uns ein Gokart aus.»
«Sie fuhren im Quartier herum.»
«Bis uns in einer Einbahnstrasse ein Polizeiauto entgegenkam. Dann war der Spass vorbei.»
«Bernhard versteckte sich bei uns. Als sein Vater ihn abholen wollte, stellte sich Anton vor den Jungen. Sie müssen wissen, mein Mann war früher Turner in der Nationalmannschaft. Es kam zum Streit zwischen den Männern und …»
«Bernhards Vater flog durchs halbe Treppenhaus.»
«Der Wachtmeister drohte meinem Mann mit einer Anzeige wegen Körperverletzung, aber dazu ist es zum Glück nie gekommen. Ja, mein Anton war ein kräftiger Bursche.»
«Es war eine schöne Zeit. Die Schönste.»