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Maya, die 18-jährige Tochter von Sheila, einer guten Freundin von Nadine Kupfer, verschwindet nach einem Nachtclubbesuch spurlos. Die sofort eingeleitete Suche bleibt erfolglos. Als zudem ein Model, das bis vor Kurzem bei Sheilas Modelagentur unter Vertrag stand, ermordet wird, übernehmen Nadine und Kommissär Francesco Ferrari den Fall. Ist es Zufall, dass Maya verschwindet und beinahe zeitgleich ein Model ermordet wird? Obwohl sich die beiden jungen Frauen kannten, scheint es keine Verbindung zwischen den zwei Ereignissen zu geben. Und so stellen sich die Ermittlungen als extrem schwierig heraus, das bewährte Duo kommt an seine Grenzen. Als Nadine zudem einen Alleingang wagt, kommt es beinahe zur Katastrophe ... Mit «Das Ende aller Träume» liegt der 17. Ferrari-Krimi der Bestsellerautorin Anne Gold vor.
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Seitenzahl: 269
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Anne Gold
Friedrich Reinhardt Verlag
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel
Lektorat: Claudia Leuppi
Korrektorat: Daniel Lüthi
Gestaltung: Bernadette Leus
Illustration: Tarek Moussalli
EPUB 978-3-7245-2640-7
Der Friedrich Reinhardt Verlag wirdvom Bundesamt für Kultur miteinem Strukturbeitrag für die Jahre2021–2024 unterstützt.
www.reinhardt.ch
www.annegold.ch
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Im Schatten der Ruhe findet das Licht seine Zeit.Unbekannt
Das Klima verändert sich. Basel erinnert mich immer mehr ans Tessin. Il Ticino … das waren noch Zeiten. Kommissär Francesco Ferrari schwelgte in Erinnerungen. Sommer für Sommer mieteten wir eine Villa in Brissago Piodina, nur für unsere kleine Familie: für Monika, Nikki und mich. Ab und zu kam noch eine Freundin von Nikki mit, so wurde unserer Tochter garantiert nicht langweilig. Die drei Wochen vergingen wie im Flug, ich genoss jeden einzelnen Tag. Gutes oder schlechtes Wetter war Nebensache. Fast täglich fuhr ich am Morgen mit Nikki nach Brissago zum Einkaufen, trank einen Kaffee in einem schönen Lokal am See, während sich Nikki auf dem Spielplatz tummelte. Besonders liebte ich den Swimmingpool, in dem Nikki schwimmen lernte. Unser Haus, das ganz oben am Hang lag und praktisch nur mit dem Auto erreichbar war, bot eine grandiose Aussicht. An wolkenfreien Abenden konnten wir sogar die Lichter von Ascona und Locarno sehen. Oft besuchten uns Freunde, Platz hatten wir in diesem grossen Haus mehr als genug. Das waren wirklich traumhafte Ferien. Ferrari schloss das Fenster seines Büros. Puh, diese Hitze. Bald gibt es ein heftiges Gewitter, Weltuntergangsstimmung inklusive, und nach einer halben Stunde wird sich wieder ein wolkenfreier Himmel zeigen. Genau wie im Tessin. Nur der See vor der Haustür fehlt, dafür fliesst der Rhein durch unsere Stadt. Naja, im Moment steht er eher, als dass er fliesst. Wo bleibt Nadine? Steckt sie im Stau? Normalerweise war seine Kollegin um diese Zeit längst zur Arbeit erschienen. Nervös tigerte Ferrari im Büro auf und ab. Komisch. Es ist ganz und gar nicht Nadines Art, sich nicht zu melden. Sie schickt mir doch sonst immer eine WhatsApp. Schluss mit der Warterei, ich sehe nach. Auf der Höhe von Nadines Büro hörte der Kommissär die Stimme des Ersten Staatsanwalts Jakob Borer.
«Das verbiete ich Ihnen. Ein für alle Mal, es bleibt dabei.»
«Du bist also doch schon da», wunderte sich der Kommissär.
«Sie fehlen mir gerade noch, Ferrari.»
«Um was geht es denn, Herr Staatsanwalt?»
«Fragen Sie Ihre Superkollegin.»
Borer zeigte missmutig auf Nadine Kupfer.
«Ich wollte mich nur erkundigen, was die Kollegen im Fall Mangold unternehmen.»
«Wer ist Mangold?»
«Sheila Mangold. Sie ist meine Nachbarin und wohnt mit ihrer Tochter unter mir.»
«Ist das die stark geschminkte Vierzigjährige, die jeden Morgen in einem Parfümfass badet?»
«Sheila ist eine gute Freundin und ja, das ist sie. Niemand ist perfekt.»
«Was ist mir ihr?»
«Ihre Tochter Maya wurde entführt.»
«Was? Davon habe ich nichts gehört. Wie alt ist sie?»
«Achtzehn.»
«Vermutlich ist sie durchgebrannt.»
«Meine Rede und die unserer Kollegen», brummte Borer.
«Maya haut nicht einfach ab. Sheila und ich glauben, dass sie entführt wurde.»
«Gibts dafür einen speziellen Grund?»
«Vermutlich steckt Mayas Vater dahinter.»
«Wer betreut den Fall?»
«Das geht Sie nichts an.»
«Bruno Suter und Evelyne Meier.»
«Ein eingespieltes Team. Die beiden sind wirklich gute Ermittler.»
«In diesem Punkt pflichte ich Ihnen bei, Ferrari. Dann sind wir uns einig: Sie lassen die Finger von dem Fall, Frau Kupfer.»
«Ich wollte mich nur erkundigen, ob die Kollegen eine Spur verfolgen. Nicht mehr und nicht weniger.»
«Wers glaubt. Sie mischen sich da nicht ein. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?»
«Absolut. Sie sind kaum zu überhören.»
«Ich kenne diesen Blick und Ihr Schmunzeln … Sollten Sie es wagen, sich in die Belange von Suter und Meier einzumischen, lernen Sie mich von einer anderen Seite kennen, Herrschaften.»
«Entführungen sind nicht unser Metier. Wir würden unseren Kollegen niemals in die Quere kommen.»
«Sie sind also meiner Meinung?», fragte der Staatsanwalt erstaunt.
«Voll und ganz.»
«Und Sie glauben tatsächlich, dass ich Ihnen das abnehme? Für wie blöd halten Sie mich? Wenn ich dieses Büro verlasse, werden Sie sich bei der Meier einschmeicheln, denn sie kann ihrem ach so tollen Vorbild nichts abschlagen.»
«Ich schwöre, dass wir nicht mit den Kollegen sprechen werden. Wann fand die Entführung statt?»
«Am Samstagabend. Maya war mit ihrer Freundin Doro auf einer Party. Als sie um ein Uhr in der Früh nicht nach Hause kam, rief Sheila bei der anderen Familie an. Doro schlief bereits. Sie hatten die Party um halb zwölf mit einem Taxi verlassen. Doro stieg zuerst aus, Maya ist nie zu Hause angekommen.»
«Was für ein Taxi? Konnte der Fahrer ermittelt werden?»
«Ein Uber-Taxi. Der Fahrer, der sie eigentlich abholen wollte, wartete vergebens am Eingang.»
«Wurde der Fahrer kontrolliert?»
«Selbstverständlich wurde er von den Kollegen verhört … Stop! So nicht … Wohin gehen Sie, Frau Kupfer?»
«Zu Suter.»
«Wie Sie wünschen. Dann zwingen Sie mich dazu, Sie zu suspendieren, bis der Fall gelöst ist. Was ich hiermit anordne.»
Nadine stiess Borer zur Seite und rannte aus dem Büro.
«Das war total unnötig.»
«Absolut angebracht. Sie hat sich wie jeder andere an die Vorschriften zu halten.»
«Sie mussten sich wieder einmal aufplustern.»
«Ich lasse mich von Ihnen nicht provozieren.»
«Das ist keine Provokation, sondern eine Tatsache. Seit Sie zum Ersten Staatsanwalt befördert wurden, kennen Sie sich nicht mehr.»
«Das verbitte ich mir.»
«Sie sind ein richtiger Kotzbrocken geworden.»
«Passen Sie auf, was Sie sagen, sonst vergesse ich mich.»
«Ein arroganter Giftzwerg.»
«Sie sind ebenfalls suspendiert.»
«Ganz, wie Sie wünschen.»
«Wohin gehen Sie?»
«Nach Hause. Sie haben mich soeben suspendiert. Das bedeutet, ich bin nicht mehr im Dienst. Falls Sie mich suchen, finden Sie mich im Garten.»
Staatsanwalt Borer setzte sich auf Nadines Stuhl und begann zu wippen.
«Sie nehmen das so einfach hin?»
«Es kommt mir sogar gelegen. Es gibt im Garten viel zu tun. Monika ist mit ihren Apotheken ausgelastet. Wir ackern zwar immer am Wochenende, doch das reicht nicht. Sie erweisen mir mit Ihrer Anweisung einen Gefallen.»
«Wers glaubt. Da steckt etwas anderes dahinter … Sie wollen mich vorführen. Mit Sicherheit wird es Rückfragen geben. Die ganze Welt will wissen, warum ich den berühmtesten Ermittler von Basel suspendiere.»
«Weil der Erste Staatsanwalt die Wahrheit nicht verkraften kann. Er scharrt Arschkriecher um sich herum, die ihm nicht widersprechen. Nadine und ich sollten vielleicht ins Baselbiet wechseln. Die nehmen uns mit Handkuss.»
«Wenn Sie sich für Ihre Frechheiten entschuldigen, mache ich die Suspendierung rückgängig.»
«Und sonst?»
«Bleibt es dabei. Zur Sicherheit will ich nochmals hören, was Sie von mir halten.»
«Sie sind ein Kotzbrocken und ein arroganter Giftzwerg. In Ihrer Nähe halten sich nur Typen auf, die Ihnen die Füsse küssen, aber nicht aus Respekt, sondern aus Berechnung.»
«Sehr schön. Und jetzt erwarte ich eine Entschuldigung.»
«Da können Sie lange warten.»
«Nicht weiter schlimm. Ich hebe die Suspendierung von Ihnen und Frau Kupfer trotzdem auf. Allerdings erwarte ich, dass Sie sich aus dem Fall Mangold raushalten.»
«Einverstanden, sofern Sie uns über die Ermittlungen auf dem Laufenden halten.»
«Das verspreche ich Ihnen. Ich bin ja nicht nachtragend. Wo ist eigentlich unsere Kollegin?»
Nadine stand beim Kaffeeautomaten.
«Kommissär Ferrari garantiert mir, dass weder Sie noch er unsere Kollegen belästigen. Ich verspreche meinerseits, Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten.»
«Sheila ist eine sehr gute Freundin.»
«Trotzdem. Sie wollen auch nicht, dass jemand in Ihren Fällen rumstochert. Also, wie lautet Ihre Entscheidung?»
«Einverstanden. Ausser, wenn die Kollegen in einer Sackgasse landen.»
«Dann sehen wir weiter. Somit ist die Suspendierung aufgehoben. Und nun zu Ihnen, Sie arroganter Simpel. Wagen Sie es nie mehr, mich dermassen zu provozieren.»
«Ich? Das muss ein Irrtum sein, Herr Staatsanwalt. Ich schätze Sie als kompetenten, immer loyalen Kollegen.»
«Dann ist das …» Borer hielt Ferrari sein iPhone vors Gesicht und spielte die eben gemachte Tonaufnahme ab. «… ein Stimmenimitator.»
«Hm! »
«Ich wünsche allseits noch einen schönen Tag. Und vergessen Sie unsere Abmachung nicht.»
«Er hat mich verarscht! »
«Und jetzt?»
«Gehen wir.»
«Zu Suter und Meier?»
«Nein, zu deiner Freundin Sheila.»
Nach einem kurzen Telefongespräch mit Sheila Mangold raste Nadine über das Birsigviadukt entlang des Steinenrings. Vor dem Schützenhaus bog sie rechts ab, um sofort wieder links in den Weiherweg einzuscheren.
«Was suchst du hier?», fragte Ferrari vorsichtig.
«Was wohl. Einen Parkplatz.»
«Fahr zum Schützenhaus. Sonst bist du auch nicht zimperlich, wenns ums Parkieren geht. Wo arbeitet Frau Mangold?»
«Sie besitzt eine kleine Modelagentur in der Rudolfstrasse.»
«So richtige Models?»
Nadine stieg aus und blieb stirnrunzelnd stehen.
«Wie meinst du das? Es ist eine seriöse Agentur, kein getarnter Begleitservice für Nutten.»
«Wenn du nicht augenblicklich normal wirst, kannst du ohne mich zu deiner Freundin. Ich brauche keine mürrische Kollegin, die wie eine Irre durch Basel rast, kein Wort mit mir redet und mich erst noch dumm anmacht. Und alles, weil eine achtzehnjährige Göre von ihrer aufgetakelten, hundert Kilometer gegen den Wind nach Parfüm stinkenden Mutter die Nase voll hat. Im wahrsten Sinn des Wortes.»
«Hier, fang auf.»
«Was soll ich mit dem Autoschlüssel?»
«Im Auto warten. Ich erledige das allein.»
«Gut, wie du willst», der Kommissär machte kehrt.
Er setzte sich wieder in den Porsche. Wer nicht will, der …
«Sorry, es war nicht so gemeint. Sheila ist eine sehr gute Freundin, und Maya haut nicht einfach ab. Ich bin sicher, da steckt mehr dahinter. Mit grösster Wahrscheinlichkeit wurde sie entführt.»
«Dann hören wir uns deine Freundin mal an.»
«Was suchst du?»
«Eine Klammer für meine Nase. Sonst verfolgt mich der Geruch ihres Parfüms den ganzen Tag … Autsch! Spinnst du?»
Immerhin war die Normalität wieder eingekehrt. Nadine traf mit ihrem Handkantenschlag punktgenau Ferraris Leber. Wie heisst es so schön: Wer sich liebt, der neckt sich. Oder so ähnlich.
Sheilas Partnerin Laura Simonius, die Nadine ebenfalls zu kennen schien, führte sie in ein grosses, helles Büro. An den Wänden hingen Fotos von Modeshows. Sheila sass mit verweinten Augen an ihrem Bürotisch. Als sie Nadine sah, stand sie schwankend auf und umarmte ihre Freundin. Ferrari setzte sich auf einen der Besucherstühle. Sie wäre eigentlich eine attraktive Frau, wenn sie sich nicht so übermässig schminken und parfümieren würde.
«Das ist mein Chef Francesco Ferrari.»
«Freut mich sehr, dich endlich einmal kennen zu lernen. Nadine hat mir schon so viel von dir erzählt, vor allem von deinen Erfolgen.»
«Es sind unsere Erfolge. Nadine und ich sind ein unschlagbares Team. Ich würde sagen, das Beste, das es gibt.»
«Haben sich die Entführer gemeldet?», erkundigte sich Nadine.
«Nein. Ich werde noch wahnsinnig. Ich stehe das nicht mehr lange durch.»
«Hast du einen Verdacht?»
«Mein Ex-Mann könnte dahinterstecken. Das sagte ich auch euren Kollegen.»
«Wer ist dein Ex?»
«Robert Kundert.»
«Der Inhaber des Sternerestaurants?»
«Ja, genau. Du kennst ihn?»
«Francesco kennt jeden.»
«Nicht persönlich, aber seine Storys sind stadtbekannt.»
«Wegen diesen trennte ich mich von ihm.»
«Kann mich jemand aufklären, was das für Geschichten sind?»
«Er trinkt gern viel und oft, am liebsten harte Sachen. Und wenn er einen gewissen Pegel intus hat, wird er unberechenbar.»
«Du musst nur Stephan fragen. Er musste ihn schon mehrmals mit seinen Leuten ruhigstellen.»
«Schlug er dich während eurer Ehe?»
«Nie. Weder mich noch Maya. Als unsere Tochter in die Schule kam, eskalierte es: Am allerersten Elternabend legte sich Robert, betrunken, versteht sich, mit einem anderen Vater an. Es ging um den Scheissfussball. Robert ist militanter FCB-Fan und dieser andere Vater liess sich beim Apéro über die katastrophalen Leistungen der Spieler aus. Ein Wort führte zum anderen, bis sie aufeinander losgingen. Ich schäme mich noch heute, wenn ich an Roberts Auftritt denke.»
«Der müsste dir doch gefallen.»
«Also bitte. Ich bin ein vollkommen besonnener Fan. Keiner dieser FCB-Hooligans. Seid ihr geschieden?»
«Ja. Es ging einfach nicht mehr. Dieser Schritt war richtig, ich bereue es keine Sekunde. Ich weiss nicht, wie oft ich ihn bei der Polizei abholen musste.»
«Und so einer führt ein Sternelokal?»
«Naja, eigentlich schmeisst sein Koch den Laden. Sollte der irgendwann ein eigenes Restaurant eröffnen oder ein Haus weiterziehen, gehen bei Robert die Lichter aus. Das weiss er. Deshalb lässt er ihn einfach gewähren. Das Gebäude gehört Roberts Eltern, was einiges erleichtert. Robert baute es zum Gourmettempel um. Das kann er. Er ist ein genialer Kopf mit einem Auge für Stil.»
«Wie heisst das Lokal?»
«Sheila.»
«Was?! Da war ich letzte Woche mit Yvo. Ich ass selten so gut.»
«Warum glaubst du, dass dein Ex hinter der Entführung steckt?»
«Um dies zu erklären, muss ich ein wenig ausholen. Bei der Scheidung wurde mir Maya zugesprochen. Robert durfte sie jederzeit sehen und jedes zweite Wochenende zu sich nehmen.»
«War das nicht riskant?»
«Robert trank nie einen Tropfen, wenn sich Maya bei ihm aufhielt. Es erstaunt mich selbst, aber es ist so. Bis vor einem halben Jahr. Da kam sie weinend nach Hause, das Wochenende war eine einzige Katastrophe gewesen. Ihr Vater lag nur betrunken auf der Couch herum.»
«Hast du ihn danach zur Rede gestellt?»
«Mehr als das. Ich drohte ihm, dass er seine Tochter nie mehr sehen würde, sollte sich dieser Vorfall wiederholen. Doch Maya hatte bereits ihre eigene Entscheidung getroffen: Sie weigerte sich, ihren Vater nochmals zu besuchen. Robert glaubt natürlich, dass ich sie beeinflusse, was absolut nicht stimmt. Du kennst sie, Nadine.»
«Maya ist für ihr Alter sehr reif und selbstständig. Sie weiss genau, was sie will und was nicht. Wissen das unsere Kollegen?»
«Selbstverständlich. Kommissärin Meier wollte Robert sofort verhören.»
«Wenn dein Ex hinter der Entführung steckt, trifft er dich an der empfindlichsten Stelle. Doch das hält er nicht lange durch, er liebt seine Tochter. Er kann sie nicht einfach wegsperren. Es ist zwar schlimm und Entführung bleibt Entführung, aber bei ihm ist sie nicht in Gefahr. Wer kommt noch infrage?»
«Niemand, Francesco.»
«Hast du im Geschäft Feinde?»
«In der Agentur? Jede Menge. All die Möchtegernweltstars, die niemand will. In unserer Kartei findest du ungefähr hundert Models, männliche und weibliche, die überzeugt sind, sie seien die nächste Gigi Hadid.»
Der Kommissär schaute Nadine fragend an.
«Ein US-amerikanisches Model. Bekannt wurde sie durch ihre Auftritte in Music Clips von Calvin Harris und Taylor Swift.»
«Ich kenne nur Heidi Klum und Kim Kardashian.»
«Wundert mich nicht. Traust du einem deiner Models die Entführung zu?»
«Darüber dachte ich auch schon nach … Ich glaube nicht.»
«Aber ausschliessen kannst du es nicht.»
«Nein … Vor einigen Wochen kam es zu einer unangenehmen Auseinandersetzung. Laura, hast du einen Augenblick Zeit?»
Sheilas Partnerin nickte und setzte sich neben Ferrari.
«Am besten, du erzählst ihnen die Geschichte von diesem Alberts.»
«Der Knallfrosch! Er stürmte herein und ging geradewegs auf mich los.»
«Weshalb?»
«Er verwechselte mich mit Sheila. Alberts, ein alleinerziehender Vater, glaubt, seine Tochter sei die schönste Frau der Welt. Eine Zicke. Sie hält sich für etwas Besonderes. Nach zehn Jobs hatten wir zwei Kunden weniger. Da war Schluss. Einen schlechten Ruf können wir uns nicht leisten.»
«Dabei fuhren die Kunden wirklich auf sie ab. Sie ist mit Abstand die bestaussehende Frau, die wir unter Vertrag haben.»
«Hatten, Sheila. Ich warf sie hochkant raus. Aber ich muss zugeben, Loretta besitzt eine Traumfigur und ist ein Naturtalent. Man nimmt ihr alles ab, von den Jeans bis zur elektrischen Zahnbürste.»
«Wir wollten sie pushen.»
«Aber es war hoffnungslos. Sie stiess mit ihrer Arroganz jeden vor den Kopf.»
«Zurück zum Übergriff ihres Vaters, wurde er gewalttätig?»
«Allerdings. Alberts packte mich, drückte mich gegen die Wand und drohte mir: Entweder nehme ich seine Tochter wieder auf oder es setze was ab. Zum Glück kam mir ein DPD-Fahrer zu Hilfe: Er riss ihn von mir weg und schleuderte ihn buchstäblich durchs Zimmer. Diese Sprache schien er zu verstehen. Doch bevor dieser Verrückte endlich verschwand, raunte er, ich würde eines Tages auch noch erleben, was es bedeutet, wenn die eigene Tochter nur noch rumsitzt und weint.»
«Vor gut einer Woche stand er plötzlich wieder da. Ich bat ihn zu gehen, sonst würde ich die Polizei rufen. Wider Erwarten war Alberts ganz friedlich. Er wollte nur wissen, ob wir etwas von Loretta gehört hätten. Anscheinend war sie verschwunden.»
«Vermutlich gibt er uns die Schuld daran. Diesem Psycho traue ich durchaus die Entführung von Maya zu. Der gehört in die geschlossene Abteilung.»
«Und das wissen unsere Kollegen?»
«Ja, sie sind informiert und verlangten auch die Adressen von Robert und von Alberts … Nadine, ich bin vollkommen verzweifelt. Bitte, hilf mir. Maya ist mein Ein und Alles. Ich weiss nicht, was ich tue, sollte ihr etwas passieren.»
«Wir unterstützen unsere Kollegen bei der Aufklärung.»
«Ist es richtig, dass bisher niemand eine Forderung an dich gestellt hat?»
«Ja. Glaub mir, ich hätte sie erfüllt. Und wenn mein ganzes Vermögen dabei draufgegangen wäre», versicherte Sheila.
«Gut. Sobald sich jemand bei dir meldet, informierst du unsere Kollegen und bitte auch Nadine. Unternimm bloss keinen Alleingang, das geht meistens schief. Suter und Meier sind auf Entführungsfälle spezialisiert. Sie werden alles unternehmen, um dir Maya unversehrt zurückzubringen. Gibst du uns noch die Adressen von Alberts und deinem Ex?»
«Ich drucke sie rasch aus», bot sich Laura an.
«Und bitte auch die von Mayas Freundin.»
«Du meinst Doro Graf … Kommt sofort.»
«Noch eine etwas heikle Frage …», druckste der Kommissär herum.
«Du willst wissen, weshalb ich sie mit einer Freundin allein in den Club liess? Weil sie volljährig ist und tun und lassen kann, was sie will. Und weil die Brüder Klaus und Heinz Thaler, die Besitzer des Clubs, sehr gute Freunde von Laura und mir sind. Wir kennen sie schon lange. Sie passen auf die Mädchen auf, damit sie nicht dumm angemacht werden.»
«Verstehe.»
«Als wir die Brüder kennenlernten, waren wir zunächst skeptisch. Klaus erzählte von einem Projekt in Rumänien und versuchte, uns dafür zu begeistern. Die Thalers engagieren sich für Schulabgänger, in erster Linie sind es Mädchen.»
Der Kommissär sah Laura neugierig an.
«Nicht so, wie du vermutlich gerade denkst. Sie helfen ihnen finanziell bei der Ausbildung. Das heisst konkret, sie unterstützen rumänische Lehrmeister, die sich ansonsten keine Lehrlinge leisten können. So finden einige junge Frauen eine Lehrstelle.»
«Aus welchem Grund setzen sie sich für diese jungen Rumäninnen ein?»
«Heinz ist mit einer Rumänin verheiratet. Für die Brüder ist es eine Herzensangelegenheit. Zufrieden?»
«Ja, ja. Ich entschuldige mich für meine bösen Gedanken. Aber Club und junge Rumäninnen, da klingeln bei einem Polizisten die Alarmglocken. Déformation professionnelle.»
«Wir helfen finanziell auch mit, es ist eine wirklich gute Sache, ohne dass wir die Rumäninnen nach Basel holen und sie an den Meistbietenden verschachern oder sie als Callgirls missbrauchen.»
«Wir gehen jetzt wohl besser, bevor du von Laura gekillt wirst.»
«Hm! »
Ferrari schlenderte nachdenklich zum Porsche.
«Dachtest du nicht auch an so etwas?»
«Doch.»
«Na prima. Und ich Trottel kriege die volle Breitseite von Laura ab.»
«Tja, Pech gehabt.»
«Wieso wundert es dich nicht?»
«Was?»
«Dass ich nur Heidi Klum und Kim Kardashian kenne?»
«Du bist halt ein TV-Junkie. Bestimmt schaust du GNTM. Und bei Kim gefallen dir die Kurven, vor allem der Po.»
«Also bitte. Jetzt sag nur noch, dass ich jeder Frau auf den Hintern schaue.»
«Klar tust du das. Ihr Männer seid sowas von einfach gestrickt. Bei einer Frau schaut ihr zuerst auf den Busen oder auf die Beine. Wenn ihr sie von hinten anglotzt, starrt ihr geifernd auf ihren Arsch.»
«Auf so ein Niveau lasse ich mich nicht herunter.»
«Oh, der Herr ist beleidigt. Nun sag bloss, du schaust einer Frau zuerst in die Augen.»
«Ins Gesicht und damit natürlich auch in die Augen. Wie es sich gehört.»
«Welche Farbe haben die Augen von Laura und Sheila?»
«Ähm …»
«Und die Haarfarbe?»
«Laura ist blond. Sheila ist braun … nein, schwarz.»
«Was jetzt?»
«Schwarz.»
«Weder noch. Sheila hat ihre Haare grau gefärbt, aber du kannst mir bestimmt sagen, wer von beiden den grösseren Busen hat.»
«Nein, das kann ich nicht.»
«Dann ist ja gut. Was schnupperst du eigentlich die ganze Zeit an dir rum?»
«Ich stinke nach Parfüm.»
«Blödsinn.»
«Da, riech an meinem Hemd.»
«Das ist von deinem billigen Deo.»
«Quatsch. Ich verwende Denim, das riecht nicht so süss.»
«Mehr männlich. Für den harten Mann.»
«Die spinnt doch. Verteilt ihr Parfüm den ganzen Tag auf andere. Dass Laura das aushält, ist bewundernswert. Jetzt kriege ich von dem Gestank auch noch Kopfschmerzen.»
«Steig ein, du Hypochonder. Und hör endlich damit auf, dich wie ein Hund zu beschnuppern.» Nadine fuhr rasant vom Parkplatz beim Schützenhaus. «Sheila ist vollkommen am Ende. Darf ich mich mit unseren Kollegen unterhalten?»
«Sonst fragst du auch nicht um Erlaubnis.»
«Dieses Mal ist es anders. Borer suspendiert uns, wenn wir uns nicht an die Regeln halten. Das will ich unter keinen Umständen.»
«Wie wichtig ist dir Sheila?»
«Sehr wichtig.»
«Vielleicht ist Maya gar nicht entführt worden, sondern bei einer Freundin oder einem Freund untergetaucht, um Abstand zu gewinnen. Gut möglich, dass sie einfach ein Time-out braucht.»
«Dann könnte sie sich bei Sheila melden.»
«Das wird sie hoffentlich bald tun.»
«Zurück ins Büro?»
«Wo wohnt Doro Graf?»
«In der Furkastrasse.»
«Das ist im Neubad. Worauf wartest du?»
«Bist du sicher?»
«Wenn uns Borer loswerden will, müssen wir ihm doch die Gründe dafür liefern.»
«Schöne Aussichten.»
Die Familie Graf wohnte in einem kleinen, blau gestrichenen Einfamilienhaus, dessen Fensterläden knallgelb leuchteten. Doros Vater öffnete und bat sie hinein, nachdem Nadine den Grund ihres Besuchs erklärt hatte.
«Gibt es denn noch offene Fragen?», erkundigte sich Matthias Graf.
«Ich bin eine sehr gute Freundin von Sheila und Maya. Wir sind inoffiziell hier …»
«Ich weiss nicht, ob ich das zulassen soll. Doro wurde bereits von zwei Beamten befragt. Wir möchten ihr nicht zu viel zumuten, sie leidet sehr unter dem Geschehenen.»
Ferrari warf einen Blick ins Arbeitszimmer.
«Sind Sie Architekt?»
«Bauzeichner. Zurzeit leider arbeitslos. Unsere Firma ging vor acht Monaten pleite. Ich bewerbe mich, wo immer sich eine Gelegenheit ergibt, aber es ist eine schwierige Zeit.»
«Es wird doch wie wild gebaut.»
«Das schon. Trotzdem ist es sehr schwierig, das Passende zu finden. In der Zwischenzeit halte ich mich auf dem neusten Stand. Ich will keinesfalls den Anschluss verpassen. Interessieren Sie sich für Architektur?»
«Die Architektur fasziniert mich, obwohl ich nicht viel davon verstehe. Aber einer meiner besten Freunde ist Yvo Liechti. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.»
«Ihm schickte ich ebenfalls eine Blindbewerbung, erhielt jedoch eine Absage. Immerhin. Andere Architekten reagierten nicht einmal auf mein Dossier.»
«Ich hoffe, dass Sie bald einen befriedigenden Job finden.»
«Schön wärs. Ich darf nur nicht aufgeben. Jeden Morgen stehe ich um sieben auf und setze mich an den Computer oder an den Zeichentisch. Ich simuliere sozusagen meinen Job. Einerseits frustrierend, andererseits behalte ich so den normalen Rhythmus bei.»
«Und Ihre Frau?»
«Sie ist Primarschullehrerin, zum Glück. Ich weiss nicht, ob wir das Haus und unseren Lebensstandard ohne ihr Einkommen halten könnten. Ein sicheres Einkommen notabene. Wie bei Ihnen … Ich ringe mit mir, ob ich Sie mit Doro sprechen lassen soll.»
«Sie ist bestimmt siebzehn oder achtzehn.»
«Achtzehn.»
«Und damit volljährig. Lassen Sie sie entscheiden. Wenn sie uns nicht sehen will, sind Sie uns in einer Sekunde los.»
«Gut. Warten Sie einen Augenblick.»
«Glück gehabt.»
«Noch ist nicht sicher, dass sie einwilligt.»
«Das mein ich nicht. Wenn du erwähnt hättest, dass ich Yvos Freundin bin, würdest du jetzt mit einem Zirkel in der Brust auf dem Zeichentisch liegen.»
«Ein schöner Tod …»
Doro kam die Treppe hinuntergerannt.
«Sie sind Nadine. Maya schwärmt von Ihnen. Sie seien die beste Kommissärin der Welt.»
«Das ist ein wenig übertrieben. Ich bin nicht einmal Kommissärin, sondern die Assistentin von Kommissär Francesco Ferrari.»
«Sie habe ich mir anders vorgestellt», die Enttäuschung war nicht zu überhören.
«Und wie?»
«Wie Til Schweiger oder Keanu Reeves.»
«Es tut mir leid, dass ich nicht Ihren Vorstellungen entspreche.»
«Vielleicht sahen Sie früher ja besser aus. Paps war auch ein schöner Mann.»
«Können wir dir einige Fragen stellen?»
«Fragen Sie, Frau Kupfer.»
«Du darfst mich gern duzen. Erzähl uns bitte genau, was in der Samstagnacht passiert ist.»
«Wir sind oft im City Light Club, der ist total angesagt und für uns Frauen einfach der beste. Heinz und Klaus Thaler, ihnen gehört der Club, achten darauf, dass wir nicht blöd angemacht werden.»
«Wo ist der Club?»
«Bei der Rosentalanlage. Die Leute stehen Schlange, um reinzukommen.»
«Ihr auch?»
«Nein, zum Glück nicht. Wir besitzen eine Memberkarte. Sheila kennt die Thalers sehr gut. Zweimal im Jahr gibts dort eine Modeshow mit ihren Models.»
«Wart ihr allein dort oder in Begleitung?»
«Allein, obwohl jede Menge Typen sich an uns ranhängen wollten.»
«Wie lange seid ihr geblieben?»
«Bis kurz vor halb zwölf. Ich bat Heinz, uns ein Uber-Taxi zu besorgen. Als wir den Club verliessen, wartete das Taxi bereits.»
«Kannst du den Fahrer beschreiben?»
«Um die sechzig. Er trug ein schwarzes Ledergilet und ein Béret. Ich dachte noch, das passt zu seinem schwarzen Peugeot.»
«Und das Gesicht?»
«Das konnte ich nicht so gut erkennen. Mir ist nur der Bart aufgefallen. So einer, wie ihn Hugh Jackman trägt. Er sprach Basler Dialekt. Maya wollte unbedingt, dass er mich zuerst nach Hause fährt.»
«Das verlangte sie ausdrücklich?»
«Ja … Ich weiss auch, weshalb. Sie kennt unsere momentane finanzielle Situation. Sie bezahlt auch meistens die Drinks oder sogar das Essen. Zuerst störte es mich total. Inzwischen bin ich froh, dass sie mir hilft. Ich … ich suche mir einen Job.»
«Neben dem Studium?»
«Nach dem Gymnasium ist Schluss. Ein Studium kommt nicht infrage. Bitte sagen Sie nichts zu meinen Eltern. Ich werde mir einen Job als Korrektorin oder Lektorin suchen. Wenn ich eines perfekt beherrsche, dann ist es Deutsch. Da bin ich ein richtiges Genie und es macht mir auch Spass. Seit zwei Jahren verdiene ich mir als Aushilfe in einem Verlag etwas dazu. Die nehmen mich bestimmt.»
«Überleg dir das genau.»
«Die Entscheidung ist gefallen.»
«Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?»
«Nein … Das heisst, ich frage mich die ganze Zeit, wie es möglich war, dass das Taxi schon dastand? Heinz rief bei Uber an und wir gingen zeitgleich nach draussen.»
«Eine gute Frage. Gab es im Club einen Vorfall?»
«Ein Typ machte uns blöd an. Echt, das war das erste Mal, dass so etwas passierte. Der Idiot glaubt, er sei etwas Besseres, weil seine Mutter ein grosses Tier in irgendeiner Firma ist.»
«Kennst du seinen Namen?»
«Nein, da musst du Heinz fragen. Er versuchte sogar, uns zu begrapschen. Das bekam ihm schlecht. Klaus warf ihn hochkant raus und erteilte ihm ein lebenslanges Clubverbot.»
«Hat Maya einen Freund?»
«Sie fährt total auf Niko Huber ab. Er ist in der Parallelklasse.»
«Und er auf sie?»
«Ich glaube schon, aber er ist zu schüchtern. Wenn Maya nicht den ersten Schritt macht, wird das nichts …»
«Hat sie irgendwelche Probleme?»
«Nein, das wüsste ich. Wir reden über alles miteinander. Nadine, ich verstehe das alles nicht. Wo ist Maya? Was ist passiert? Wieso meldet sie sich nicht?»
«Das wissen wir leider nicht. Ich verspreche dir, wir finden Maya.»
Vor dem Haus atmete der Kommissär tief durch.
«Hoffentlich kannst du dein Versprechen einhalten, im positiven Sinn.»
«Wie meinst du das?»
«Finden werden wir sie, fragt sich nur, in welchem Zustand.»
«Lebend.»
«Und wenn nicht?»
«Bringen wir ihren Mörder zur Strecke.»
«Will heissen, den stellt niemand vor Gericht.»
«Darauf kannst du jede Wette eingehen.»
«Das war kein Uber-Fahrer. Maya wurde vorsätzlich entführt. Jemand hat es auf sie abgesehen.»
«Was wäre passiert, wenn Maya zuerst ausgestiegen wäre?»
«Dann würden wir jetzt nach zwei jungen Frauen suchen. Wer ausser Thaler wusste, dass sie um diese Zeit das Lokal verlassen?»
«Niemand.»
«Dann ist er unser Mann. Heinz Thaler rief bei Uber an, was unsere Kollegen bestimmt überprüft haben, und gab dem Entführer, der draussen auf der Lauer lag, einen Tipp.»
«Fragen wir ihn, was er von deiner Theorie hält», Nadine musterte den Kommissär schmunzelnd.
«Was ist denn jetzt schon wieder?»
«Wie Keanu Reeves oder Til Schweiger siehst du echt nicht aus. Eher wie der Bulle von Tölz oder das Michelin-Männchen.»
«Ha, ha, sehr lustig.»
«Und?»
«Was und?»
«Willst du mich nicht fragen, wer Hugh Jackman ist?»
«Nein. Das ist der Wolverine aus X-Men und P.T. Barnum aus The Greatest Showman. Jetzt bist du baff.»
«In der Tat. Sollten wir nicht langsam zurück ins Kommissariat, damit Borer nicht misstrauisch wird?»
«Heinz Thaler nehmen wir uns noch vor. Danach unterhalten wir uns mit unseren Kollegen.»
Ferraris Erwartungen wurden enttäuscht. Der Club war weder heruntergekommen, noch glitzerte er wie die Discos, die er aus den TV-News kannte. Sie betraten eher eine umgebaute Halle mit einer grossen Bar und einer riesigen Tanzfläche. Von der Decke baumelten Metallstangen, an denen Scheinwerfer montiert waren, und in den Ecken standen gigantische Boxen. Immerhin war der gesamte Laden sauber. Heinz und Klaus Thaler, unverkennbar Brüder, sassen an der Bar.
«Ich bin Kommissär Francesco Ferrari und das ist meine Kollegin Nadine Kupfer», stellte sich Ferrari vor.
«Ein Drink?»
«Nein, danke. Nicht um diese Zeit, aber einen Kaffee würde ich nehmen.»
«Und für Sie?», wandte sich Klaus an Nadine.
«Ich schliesse mich an.»
«Eine Scheisssituation. Ich weiss genau, was jetzt kommt. Sie glauben, ich sei in die Entführung verwickelt.»
«Sind Sie es?»
«Nein. Wir wären die dümmsten Idioten, wenn wir etwas damit zu tun hätten.»
«Das müssen Sie uns genauer erklären.»
«Sheila ist mit einer ziemlich hohen Summe bei uns beteiligt. Ohne sie gäbe es uns nicht, Frau Kupfer.»
«Das wusste ich nicht.»
«Sie ist stille Teilhaberin, das verlangte sie ausdrücklich so. Auch Maya darf davon nichts erfahren.»
«Hier, bitte», Klaus Thaler stellte zwei Kaffees auf die Theke. «Wir verdanken Sheila viel, wenn nicht alles. Keine Bank wollte uns unterstützen, wir sind überall mit unserem Konzept abgeblitzt. Heinz’ damalige Freundin modelte für Sheila, so lernten wir uns kennen. Das war vor vier Jahren. Sheila suchte einen Ort, wo sie mit ihren Models arbeiten konnte, und so präsentierten wir ihr unser Konzept. Sie war begeistert und stellte uns eine Million Startkapital zur Verfügung. Sie ist mit fünfunddreissig Prozent beteiligt. Die Million war eine gute Investition, ein Drittel konnten wir bereits über Dividenden zurückzahlen.»
«Der Laden läuft anscheinend gut.»
«Besser, als wir es uns in den kühnsten Träumen vorgestellt hatten.»
«Wieso kennt man den Club nicht?»
«Die, die ihn kennen sollen, kennen ihn. Unser Club ist sozusagen der Insidertipp.»
«Was hebt Sie von anderen Clubs ab?»
«Wie überall sollen sich die Menschen amüsieren, tanzen und sich austauschen. Dabei verfolgen wir konsequent unsere Linie: Flirten ja, billig anmachen nein. Und sich sinnlos besaufen tolerieren wir auch nicht. Besonders hart greifen wir bei Drogen und Streitereien durch. Am Anfang kamen auch Edelnutten zu uns, die versuchten, ihren Kundenstamm aufzupeppen. Ohne Erfolg, die sind alle weg.»
«Klingt gut, wenn es auch wirklich funktioniert.»
«Das tut es. Klar, Ärger gibt es immer wieder mal. Am Samstag wurde Maya von einem jungen Mann billig angemacht. Den habe ich persönlich entsorgt.»
«Verraten Sie mir seinen Namen?»
«Daniel Mertens.»
«Der Sohn von Eva und Hans?»
«Wer ist das, Francesco?»
«Sie sind Inhaber einer Privatbank, spezialisiert auf Vermögensverwaltung. Unter zwanzig Millionen geht nichts. Ich lernte sie einmal bei Ines kennen und nein, sie gehören nicht zum Daig. Ihre Wurzeln liegen in Graubünden. Ihren Sohn Daniel kenne ich nicht. Ich wusste nicht einmal, dass sie Kinder haben.»
«Als er Maya begrapschte, warf ich ihn raus. Er drohte mir, wie alle, denen wir Hausverbot geben.»
«Sie spielen selbst den Rausschmeisser?»
«Nur für besondere Gäste, Herr Kommissär. Normalerweise sind dafür zwei Personen zuständig.»
«Sie bestellten das Uber-Taxi?», wandte sich Nadine an Heinz Thaler.
«Ja, Doro bat mich darum. Doro passt immer auf, dass Maya nicht überbordet.»
«Mit Alkohol?»
«Eher mit Flirten. Sie kommt nach ihrer Mutter.»
Ferrari rollte mit den Augen.
«Mögen Sie Sheila nicht?»
«Doch. Nur schminkt sie sich für meine Begriffe etwas zu stark und ihr Parfüm ist gewöhnungsbedürftig.»
«Oh ja. Seit wir Sheila kennen, halten wir unsere Besprechungen immer bei geöffneten Fenstern ab», lachte Klaus.
«Riefen Sie öfters ein Taxi für die beiden?»
«Ja. Wenn die zwei hier im Club sind, lässt Doro immer zwischen elf und halb zwölf anrufen.»
«Das wissen vermutlich auch die anderen Gäste.»
«Klar, wir haben viele Stammgäste. Spätestens um elf ruft einer von ihnen: ‹Doro, es ist Uber-Zeit.› Das ist ein Running Gag.»
«Kam das Uber-Taxi dann auch?»
«Ja. Der Fahrer wartete vergebens und kam irgendwann wütend an die Bar. Ich dachte mir nichts weiter dabei. Kann ja mal vorkommen, dass Uber aus Versehen zwei Chauffeuren den Auftrag gibt.»
«Wer von Ihren Gästen könnte hinter der Entführung stecken?»
«Niemand. Ausser vielleicht Daniel Mertens, aber das müsste eine extrem spontane Tat gewesen sein.»
«Kennen Sie den Vater von Maya?»