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Kent Murdock, Bildreporter beim Bostoner Courier, fährt zum Golfspiel, bewaffnet mit seiner Kamera. Und das ist gut, denn es gibt genug interessante Bilder zu schießen. Zunächst bereitet ein Verkehrsunfall einigen Leuten derart viel Kopfzerbrechen, dass sie Murdock eine Falle stellen und ihm den Film abnehmen. Im Zimmer von Hazel Franklin überschlagen sich die Ereignisse, und Murdocks Kamera wird unbestechlicher Zeuge: Hazel liegt auf dem Boden, erwürgt mit einem Nylonstrumpf...
Der Roman Das blonde Zigarettenmädchen des US-amerikanischen Schriftstellers George H. Coxe (* 1901 in Olean, Cattaraugus County, New York; † 31. Januar 1984) erschien erstmals im Jahr 1958; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
GEORGE H. COXE
Das blonde Zigarettenmädchen
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS BLONDE ZIGARETTENMÄDCHEN
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Kent Murdock, Bildreporter beim Bostoner Courier, fährt zum Golfspiel, bewaffnet mit seiner Kamera. Und das ist gut, denn es gibt genug interessante Bilder zu schießen. Zunächst bereitet ein Verkehrsunfall einigen Leuten derart viel Kopfzerbrechen, dass sie Murdock eine Falle stellen und ihm den Film abnehmen. Im Zimmer von Hazel Franklin überschlagen sich die Ereignisse, und Murdocks Kamera wird unbestechlicher Zeuge: Hazel liegt auf dem Boden, erwürgt mit einem Nylonstrumpf...
Der Roman Das blonde Zigarettenmädchen des US-amerikanischen Schriftstellers George H. Coxe (* 1901 in Olean, Cattaraugus County, New York; † 31. Januar 1984) erschien erstmals im Jahr 1958; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1960.
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Samstagabends war gewöhnlich nicht viel los beim Courier. Später, zur mitternächtlichen Sperrstunde, wenn die Bars geschlossen und die Zecher auf die Straße gesetzt wurden, konnte man mit vereinzelten Raufereien zwischen Betrunkenen rechnen. Noch später würde man ein paar Verkehrsunfälle zu erwarten haben, doch jetzt, um halb acht, war es ruhig im Studio. So nannte sich die Abteilung, die das Bildmaterial für die Früh-, Nacht- und Sonntagsausgaben lieferte.
Klime räkelte sich im Vorzimmer in einem Sessel und war in einen zerlesenen, broschierten Roman vertieft. Bailey hatte Außendienst und fuhr mit einem Reporterfunkwagen der Firma durch die Stadt, während Chefbildreporter Rent Murdock am Schreibtisch in seinem kleinen zellenähnlichen Privatbüro stand, das man mit Hilfe zweier, aus Holz und Glas bestehender Trennwände in einer Ecke des Hauptraums errichtet hatte.
Auf dem Schreibtisch lagen eine Kamera und eine Fotomaterialtasche aus weichem Leder, deren Inhalt Murdock soeben überprüft hatte. Das tat er nicht etwa, weil er einen Reportage-Auftrag hatte, sondern weil es ihm bei seinem Beruf zur Gewohnheit geworden war, auch bei einem Wochenendausflug die Kamera für ebenso unentbehrlich zu halten wie seine Zahnbürste. Dieses Wochenende - es war Ende September - wollte er Golf spielen. Seine Schläger, ein Köfferchen und ein kleiner Beutel ruhten bereits im verschlossenen Kofferraum seines Wagens. Nun schlug er im Telefonbuch eine Nummer nach und wählte.
Das sofort einsetzende Besetzt-Zeichen entlockte ihm ein gemurmeltes: »Verflixt noch mal!« Er legte den Hörer auf und fuhr in seinem Selbstgespräch fort: »Wahrscheinlich wird er ja sowieso nicht mitspielen, aber ich hab’ ihm versprodien, ihn anzurufen.«
Er kritzelte rasch Namen und Telefonnummer auf einen Schreibblock, riss das Blatt ab und nahm es mit hinaus zu Klime.
»Sie haben Dienst bis zwei?«
»Ja«, brummte Klime. »Ich armer Teufel!«
»Tun Sie mir einen Gefallen?«
»Selbstverständlich.«
»Ich fahre nach Cape hinaus. Hab’ mich morgen früh dort zum Golf spielen verabredet...«
Klime hatte die Augen nicht von seinem Buch gehoben. Murdock streckte die Hand aus und zog es ihm aus den Fingern.
»Ich hör’ ja zu«, rief Klime protestierend, aber nicht ärgerlich. »Sie haben sich zum Golfspielen verabredet.«
Murdock gab ihm den Zettel.
»Anfang der Woche traf ich George Emerly, und er sagte, er würde vielleicht mitmachen wollen. Das ist mir eben erst wieder eingefallen, und jetzt ist seine Nummer besetzt, und ich möchte losfahren.«
»Und?«
»Und deshalb rufen Sie ihn bitte in einer Stunde oder so an - wann Sie eben Zeit haben. Sagen Sie ihm, dass ich im Pine Grove Motel übernachte. Ich nehme mir ein Doppelzimmer, und wenn er heute Abend noch herauskommen will, kann er bei mir wohnen. Und falls er mitspielen möchte, unsere Golfpartie fängt um acht Uhr dreißig in Catansett an.«
»Catansett«, wiederholte Klime. »Acht Uhr dreißig.«
Murdock gab ihm das Buch zurück und ging in sein Büro, um Kamera und Tasche zu holen.
Bis Murdock die Vorortsbezirke hinter sich gelassen hatte, war es dämmrig geworden. Bei dem zwar verhältnismäßig dichten aber schnellfließenden Verkehr kam er gut voran. Als er noch etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten zu fahren hatte, raste ein Polizeiwagen mit Sirenengeheul an ihm vorbei, und als er um die nächste Kurve bog, wurde ihm klar, warum.
Auf der gegenüberliegenden Fahrbahn hatte es einen Zusammenstoß gegeben. Offenbar war der eine Wagen von hinten auf den anderen geprallt. Der erste Wagen lag auf die Seite gekippt am Straßenrand; eines der Vorderräder drehte sich noch in der Luft. Der andere stand mit eingedrücktem Kühler und auslaufender Batterie auf dem Asphalt. Bis Murdock auf dem Randstreifen neben der Straße angehalten hatte, waren die Insassen der beiden Unfallwagen bereits herausgeklettert, Ständen herum und tasteten sich nach eventuellen Verletzungen ab. Offenbar war aber niemand ernsthaft zu Schaden gekommen, Und als die ersten Streitworte hin und her flogen, griff Murdock nach seiner Kamera.
Das war eine völlig automatische und keineswegs von dem Gedanken beherrschte Handlung, der Unfall könnte eine Titelseitenreportage abgeben. Wenn Murdock überhaupt nachgedacht hätte, wäre ihm klargewesen, dass er hier vom journalistischen Standpunkt aus vermutlich Film und Blitzlichtbirnen verschwenden würde. Aber das Zeug kostete nicht viel, und er hatte gelernt, dass man Aufnahmen machen musste, sobald sich die Gelegenheit bot, gleichgültig ob der Film später entwickelt werden würde oder nicht. Dieses Prinzip hämmerte er unablässig seinen Mitarbeitern ein, und er setzte nun in die Praxis um, was er theoretisch zu predigen pflegte.
In sein Blitzgerät war bereits eine frische Birne eingeschraubt, und er hatte eine Doppelkassette in der Kamera, die auf einer Seite schon einen belichteten Film enthielt. Nun zog er noch zwei weitere Birnen und einen unbelichteten Film aus seiner Materialtasche und überquerte die Straße. Die erste Aufnahme machte er aus einem Winkel, von dem aus man den eingedrückten Kühler und die sich hinter der Unfallstelle anstauende Wagenschlange sah. Dann ließ er die Birne einen Moment abkühlen, während er die belichtete Kassette herauszog, in die Tasche steckte und die neue einschob, schraubte sie dann heraus und warf sie auf die Wiese. Er machte eine zweite Aufnahme von dem umgestürzten Wagen gegen einen Hintergrund von neugierigen Zuschauern, und als vier oder fünf Männer den Wagen in die Höhe wuchteten, schoss er noch eine dritte Aufnahme, unmittelbar bevor die Räder das. Pflaster berührten.
Dann ging er zu seinem Wagen zurück und öffnete zunächst die Tür auf der rechten Seite, um die Kamera auf dem Rücksitz zu verstauen. Als er sich wieder aufrichtete, bemerkte er mit halbem Auge, wie sich in einiger Entfernung, etwas bewegte. Er drehte sich um und sah einen untersetzten Mann mit dichten schwarzen Augenbrauen auf sich zukommen. Er trug eine leichte Hose und darüber ein farbenfreudiges Sporthemd. Als er stehenblieb, blieben die beiden Männer, die ihm in einigem Abstand folgten, gleichfalls stehen.
»Sie sind doch Murdock, wie? Vom Courier?«
Murdock nickte. Das dunkelhäutige Gesicht des anderen kam ihm irgendwie bekannt vor, doch konnte er den Mann nicht recht unterbringen.
»Terroni«, sagte der Mann. »Sam Terroni.«
»Ach ja«, erwiderte Murdock, dem nun wieder einfiel, dass Terroni ein paar Jahre wegen Erpressung gesessen hatte. Es hatte sich dabei um irgendeine unsaubere Geschichte mit einem Fuhrunternehmer gehandelt.
»Ich komme wegen der Aufnahme«, sagte Terroni.
»Welcher Aufnahme...?«
»Die, die Sie von dem Wagen dort gemacht haben.«
Murdock ahnte inzwischen schon, was jetzt kommen würde, ohne sich jedoch den Grund dafür erklären zu können.
»Welches Interesse haben Sie denn daran?«
»Das will ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Ich habe gesessen und bin auf Bewährung freigelassen worden.« Terroni rieb sich die Nase und kam ein Stückchen näher. »Die haben da so eine Vorschrift, die den Umgang mit Kriminellen verbietet den Umgang«, knurrte er und spuckte verächtlich aus. »Ich fahre mit ein paar Freunden zum Angeln.« Er wies mit dem Kopf auf das stumme Paar hinter ihm. »Es ist alles ganz harmlos, wir stören keinen Menschen, haben nichts Böses im Sinn. Da, was passiert! Wir fahren an einer Unfallstelle vorbei, steigen aus, um zu helfen, und da laufen uns ausgerechnet Sie mit Ihrem Apparat über den Weg.« Wieder machte er eine Pause. »Meine Freunde da stehen zufällig im Strafregister. Wenn mir jetzt wirklich jemand übel will, reicht das, uni mich für weitere zwei Jahre wegen Verletzung der Bewährungsvorschriften ins Kittchen zu bringen. Und das möchte ich nicht, verstehen Sie?«
Murdock nickte und holte tief Luft. Er wusste, was er darauf sagen musste. Wie jeder andere Pressefotograf, der einige Zeit in diesem Beruf steht, hatte er in ähnlichen Situationen schon oft dasselbe gesagt. Es war eine der prinzipiellen Arbeitsrichtlinien des Berufs, und er erklärte geduldig: »Sam, ich werde dafür bezahlt, dass ich Aufnahmen mache, und man verlangt von mir, dass ich sie auch abliefere. Ob sie dann in Druck gehen oder nicht, hängt nicht von mir ab.«
»Wer außer uns beiden weiß denn, dass Sie sie gemacht haben? Ich bitte Sie ja nur um einen Gefallen, das ist alles. Ich möchte keine Scherereien kriegen - weder mit dem Gesetz noch mit Ihnen.«
Murdock zögerte - doch nicht lange. Wenn der Unfall in der Stadt und an einem Tag passiert wäre, an dem sonst nicht viel los war, könnte man mit ziemlicher Sicherheit rechnen, dass seine Aufnahmen verwendet werden würden. Da er jedoch nicht beabsichtigte, umzudrehen und den Film zurückzubringen, war es in diesem Fall unwahrscheinlich, dass die Bilder in der Presse erscheinen würden. Trotzdem bewogen ihn prinzipielle Erwägungen, die nicht leicht zu erklären waren, den Kopf zu schütteln.
»Ich würde mir deshalb keine Sorgen machen«, sagte er.
»Ich mache mir aber Sorgen.«
»Ich bezweifle, dass die Aufnahme jemals verwendet werden wird.«
Terroni sah sich nach seinen Begleitern um, und seine nächsten Worte hatten einen drohenden Unterton.
»Okay. Ich habe Ihnen eine Chance gegeben, sich anständig zu benehmen. Das eine sage ich Ihnen: Wenn Ihre Aufnahme mich wieder ins Kittchen bringt, können Sie sich auf ein paar gebrochene Rippen gefasst machen. Das ist mein voller Ernst, Murdock.«
»Verdammt noch mal«, bemerkte einer seiner Freunde. »Was soll das ganze Gefasel. Holen wir sie uns doch selbst.«
Die beiden kamen näher, und Murdock stellte sich mit dem Rücken gegen den Wagen. Terroni selbst blieb einen Augenblick unentschlossen stehen, und dann war es bereits zu spät. Ein Staatspolizeiwachtmeister tauchte vor dem Wagen auf und sah die kleine Gruppe scharf an.
»Sie dürfen hier nicht stehenbleiben«, sagte er. »Wenn Sie noch mehr Aufnahmen machen wollen, können Sie an der Ausfahrt etwa hundert Meter weiter parken und zu Fuß zurückkommen. Wir müssen den Verkehr in Fluss bringen.«
»Wird sofort gemacht«, erwiderte Murdock.
Terroni hatte bereits den Rückzug angetreten, noch ehe der Polizeibeamte ausgesprochen hatte. Bevor er hinter dem Wagen verschwand, sagte er: »Sie haben doch verstanden, Murdock?«
»Ich habe jedenfalls gut gehört, was Sie gesagt haben.«
Murdock machte die Wagentür auf und spürte dabei, wie die Spannung in ihm nachließ und ihn ein Gefühl der Erleichterung überkam. Es war ihm selbst noch immer nicht ganz klar, warum er sich so hartnäckig gesträubt hatte, die Platte herauszugeben, irgendwie aber war es ihm trotzdem ganz lieb, dass er es nicht getan hatte. Er rutschte hinter das Steuer und drückte auf den Starter. Als der Motor ansprang, lehnte er sich nach rechts, um die Tür zuzuziehen. In diesem Augenblick sah er das Mädchen, das davor stand und ihn anblickte.
»Guten Abend«, sagte sie mit leiser, etwas zögernder Stimme. Murdock sah näher hin und riss überrascht die Augen auf, denn das Mädchen, dem jetzt durch die offene Tür die Deckenbeleuchtung ins Gesicht schien, war blond und jung und sehr hübsch.
»Oh - guten Abend«, erwiderte er, als er die Stimme wiedergefunden hatte.
»Fahren Sie nach Bayview?«
»Ja.«
»Könnte ich... Könnten Sie mich mitnehmen?«
Ihre Bitte kam so unerwartet, dass Murdock zögerte. »Waren Sie bei dem Unfall dabei?«
»Nein. Es ist nur - na, kurz und gut, der junge Mann, mit dem ich fuhr, benahm sich nicht ganz so, wie ich es erwartet hatte. Er meinte, wenn mir das nicht passte, könnte ich ja zu Fuß gehen, und da sah ich Sie mit der Kamera und...«
Sie sprach nicht weiter, doch ihr Mund lächelte, und ihre blauen Augen hatten einen flehenden Glanz. Nach seiner glimpflich verlaufenen Auseinandersetzung mit Terroni überlegte Murdock, ob es nicht das Glück versuchen hieße, wenn er jetzt auch noch einem eifersüchtigen Galan einen Strich durch die Rechnung machte, doch irgendwie war ihm das gleichgültig.
»Steigen Sie ein«, sagte er. »Ich nehme Sie gern mit.« Augenblicklich rutschte, sie neben ihm auf den Sitz, und die Deckenbeleuchtung schaltete sich aus. Er fuhr auf die Straße und wartete auf ein Zeichen des Wachtmeisters, der den Verkehr regelte. Dann gab er Gas, lehnte sich zurück und sah sich das Mädchen genauer an. In dem schwachen Licht, das vom Armaturenbrett ausstrahlte, erkannte er, dass sie ein niedliches Profil hatte, dass ihr blondes Haar kurzgeschnitten war und dass sie unter dem bedruckten Baumwollkleid keine Strümpfe an den braungebrannten Beinen trug. Sie hielt die Augen starr geradeaus gerichtet. Nach einer Weile stellte er sich vor und nannte ihr seinen Namen.
Sie murmelte ein »Freut mich«, trug jedoch sonst nichts zu dem Gespräch bei, so dass er einen zweiten Anlauf nahm und fragte, ob sie in Bayview lebte.
»In diesem Sommer ja«, erwiderte sie.
»Lebt Ihre Familie hier?«
»Oh, nein. Ich arbeite.«
»Und was arbeiten Sie?«
Sie zögerte so lange, dass er sich schon überlegte, ob sie seine Frage überhaupt gehört haben mochte.
»Ich bin so eine Art Kindermädchen«, sagte sie dann. »Ich betreue die Kinder einer Familie, die hier ein Sommerhaus haben.«
»Und dann? Gehen Sie danach wieder in die Schule zurück?«
»In die Schule?« Sie lachte auf. »Ich, gehe nicht in die Schule. Schon seit langer Zeit nicht mehr.«
Murdock erkannte, dass das Mädchen kein Gespräch wünschte. Ohne direkt unfreundlich zu sein, blieb sie zurückhaltend und gehemmt. In seltsam steifer Körperhaltung saß sie kerzengerade aufgerichtet ohne sich anzulehnen, und er hatte der. Eindruck, dass sie das Ende der Fahrt herbeisehnte. Nun, bitte, sagte er sich achselzuckend, sie brauchte ja nicht durch ein Gespräch dafür zu bezahlen, dass er sie mitgenommen hatte, und er hüllte sich in Schweigen, bis die Lichter von Bayview vor ihnen auftauchten. Bayview war eine Kleinstadt, die eigentlich nur aus einer Hauptstraße bestand und deren Einwohnerzahl im Sommer auf etwa fünftausend kletterte, während sie im Winter auf die Hälfte fiel.
Als Murdock nun etwas Gas wegnahm, bewegte sich das Mädchen an seiner Seite und deutete auf die Lichter einer Imbissstätte vor ihnen.
»Würden Sie bitte einen Moment anhalten? Ich möchte mir rasch ein paar Zigaretten kaufen.«
»Ich habe welche«, meinte Murdock.
»Ich muss mir aber sowieso welche besorgen.«
Murdock fuhr auf den Parkplatz und hielt an.
»Welche Sorte?«
Sie sagte es ihm und kramte in ihrer Tasche nach Kleingeld. Als er sagte, er wolle sie ihr holen, meinte sie: »Vielen Dank, aber ich möchte sie bezahlen.«
Als er ausstieg, drückte sie ihm einen Vierteldollar und ein Fünfcentstück in die Hand, und er war inzwischen schon so mürbe, dass er die Münzen widerspruchslos annahm. Eigentlich war er enttäuscht. Nicht dass er sich bezüglich des Mädchens irgendwelchen Illusionen hingegeben hätte - sie schien ihm dafür noch ein bisschen jung -, aber seine Art, mit Frauen zu sprechen, rief gewöhnlich ein freundlicheres Echo hervor. Er war von unaufdringlicher Höflichkeit und nahm sich einer Frau gegenüber niemals etwas heraus, wenn er nicht wenigstens eine leise Aufforderung spürte, und als er jetzt in das Imbisslokal trat und sich nach einem Zigarettenautomaten umsah, dachte er: Du verlierst deinen Charme, mein Junge. Du scheinst allmählich alt zu werden.
Der Gedanke amüsierte ihn, und er lächelte zerstreut, während er die Münzen einwarf und die entsprechende Klappe öffnete. Er nahm die Zigaretten, holte sich ein Päckchen Zündhölzer vom Tablett und ging zum Ausgang, ohne sich um das halbe Dutzend Gäste am Büfett zu kümmern. Er öffnete die Tür, setzte den Fuß auf die Treppe und blieb dann wie angewurzelt stehen, während er mit offenem Mund auf den Platz starrte, wo er den Wagen geparkt hatte.
Der Platz war leer. Und wenn Murdock auch bereits wusste, dass das Mädchen davongefahren war, warf er doch einen Blick auf die anderen parkenden Wagen, um sich zu vergewissern, dass er keinen Irrtum begangen hatte. Leise vor sich hin fluchend, stieg er dann die Treppe hinunter und trat hinaus auf die Straße, die hundert Meter weiter in die Hauptstraße von Bayview mündete. Er setzte sich in Marsch, während ein leiser Groll sein zunächst nur ungläubiges Erstaunen zu trüben begann.
Die nächsten paar Minuten ging er mit gesenktem Kopf, die eben gekauften Zigaretten noch in der Hand, und versuchte, sich einen Reim auf das Ganze zu machen. Doch die einzige Erklärung, die er fand, war, dass das Mädchen sich diesen Trick mit den Zigaretten ausgedacht hatte, um ihn loszuwerden, und dass sie die Absicht gehabt hatte, den Wagen zu stehlen, sobald sich ihr die Gelegenheit dazu bot. War das von vornherein ihr Plan gewesen? War die Geschichte von dem zudringlichen jungen Mann nur als Teil der Komödie anzusehen?
Plötzlich hörte er auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, und beschleunigte seine Schritte. Er wusste jetzt, was er tun musste. Denn während ihn schon der Verlust des Wagens beunruhigt hatte, machte er sich nun auch, um seine Kamera und die Fotoausrüstung auf dem Rücksitz Sorgen.
Seine Unruhe wurde immer stärker, während er den Bürgersteig entlangeilte und dem samstäglichen Käuferstrom auswich, der sich vor den Geschäften staute. Drei Häuserblocks weiter war die Polizeistation, und der Polizeichef war ein guter alter Bekannter von ihm. Es würde zwar ein wenig peinlich sein, ihm die ganze Geschichte erzählen zu müssen, aber das ließ sich im Augenblick nicht vermeiden. So redete er sich wenigstens ein, sah sich aber trotzdem jeden geparkten Wagen an, an dem er vorbeikam. Als er den Parkplatz erreichte, der neben dem Bahnhof lag, blieb er stehen und ging ein paar Schritte hinein.
Einen Augenblick später sah er einen Wagen, der ihm bekannt schien, sich schattenhaft gegen die Backsteinmauer des Bahnhofsgebäudes abheben. Er lief darauf zu, und bei jedem Schritt verstärkte sich die Gewissheit in ihm, dass es sich um seinen Wagen handelte. Ein Blick auf das Nummernschild bestätigte seine Vermutung. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, der Wagen selbst war leer. Als Murdock die Tür öffnete, sah er, dass der Zündschlüssel steckte. Mit einem zweiten Blick vergewisserte er sich, dass Kamera und Materialtasche noch auf dem Rücksitz lagen.
»Also, da hört sich doch alles auf«, brummte er und stieg ein.
Als Kent Murdock auf die Straße hinausfuhr und die Richtung zu dem Motel einschlug, hatte er seine ursprüngliche Theorie, das blonde Mädchen habe die Absicht gehabt, seinen Wagen zu stehlen, bereits aufgegeben. Er erklärte sich nun den ganzen Vorfall so, dass die Kleine tatsächlich hatte mitgenommen werden wollen und dass sie den Zigarettentrick nur angewandt hatte, um ihn loszuwerden, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte. Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung, dass sie sich vor ihm geflüchtet hatte, war ja nicht gerade schmeichelhaft, aber damit musste man sich eben abfinden, dachte Murdock und versuchte, sich den ganzen Vorfall und das Mädchen aus dem Kopf zu schlagen.
Es waren etwa drei Meilen bis zum Pine Grove Motel, und als er in die Auffahrt einbog, glitten seine Scheinwerfer kurz über einen Wagen, der eben herauskam. Es war ein kleines graues Kabriolett, und durch die heruntergelassene Scheibe konnte er einen flüchtigen Blick auf den Mann hinter dem Steuer werfen. Das Gesicht kam ihm bekannt vor, und als er vor dem Motel anhielt, fiel ihm ein, dass es Paul Herrick, ein Musiker, gewesen war, der in einem Nachtlokal am anderen Ende von Bayview die Band leitete.
Das Hauptgebäude, ein weißes Haus in ländlichem Stil, enthielt neben der Rezeption einen Aufenthaltsraum, ein Restaurant und im ersten Stock die Wohnung des Besitzers. Dahinter, am Rand eines kleinen Fichtenwäldchens, standen acht Bungalows, von denen jeder zwei Appartements enthielt. Er trat in die Halle und hörte aus dem halbdunklen Aufenthaltsraum vor sich das laute Dröhnen des Fernsehapparats in einem Dialog, der nur aus einem Western stammen konnte. Der Mann, der neben der offenen Tür auf einem Hecker saß und auf den Bildschirm starrte, stand auf, als er Murdock erblickte, und trat in die Portiersloge. Auf der Wanduhr dahinter war es 9.28 Uhr.
»Guten Abend, Mr. Murdock.«
»Abend, Charlie. Sie haben ein Zimmer für mich reserviert, nicht wahr?«
»Selbstverständlich. Nummer fünfzehn, wie Sie gewünscht haben.«
Murdock trug sich im Fremdenbuch ein, fügte seine Wagennummer hinzu und zählte zehn Dollar auf die Theke.
»Es könnte unter Umständen sein, dass ein Mr. Emerly vorbeikommt«, sagte er. »Wenn er kommt, soll er bei mir wohnen... Wie steht’s denn nun mit morgen? Wollen Sie mitkommen?«
Charlie Lane dachte nach. Er war ein untersetzter Mann mit einem runden, tiefgebräunten Gesicht, das von vielen Runzeln durchzogen war, die aber nicht von Sorgen, sondern von einem nahezu ununterbrochenen Aufenthalt in Wind und Wetter herrührten. Er war siebenundvierzig Jahre alt und, seit ihn Murdock kannte, Witwer. Abgesehen von einem gelegentlichen zu tiefen Blick ins Glas, war sein einziges Laster das Spiel. Ganz besonders war er ein großer Freund von Rennwetten. Viel wichtiger schien es Murdock jedoch, dass Charlie sozusagen berufsmäßiger und erstklassiger Caddy war.
»Haben Sie ein Spiel?«, fragte er endlich.
»Mit Dr. Markey. Um halb neun in Catansett. Wenn ich mit ihm fertig werden soll, brauche ich Sie, Charlie.«
Charlie Lane grinste. »Sie brauchen mich nicht, wenn Sie sich ein bisschen konzentrieren würden... Aber sicher«, fügte er hinzu. »Ich komme gerne mit, Mr. Murdock.«
»Ich hole Sie um Viertel nach acht hier ab... Ach, übrigens, kennen Sie Paul Herrick?«
»Drüben vom Blue Heron? Selbstverständlich.«
»Ist er nicht gerade von hier fortgefahren?«
»Ich hab’ ihn nicht gesehen.«
»Ich glaubte ihn hier aus der Ausfahrt kommen zu sehen.«
»Kann schon sein, Mr. Murdock, aber wenn er hier war, hat er jedenfalls nicht bei mir vorbeigeschaut.«
Murdock nickte, nahm seinen Schlüssel und ging hinaus zu seinem Wagen. Als er in die Garage auf der linken Seite des letzten Bungalows fuhr, bemerkte er Licht im zweiten Appartement, und als er den Motor ausschaltete, hörte er Radiomusik, obwohl in der anderen Garage kein Auto stand.
Er sperrte den Kofferraum auf und holte Koffer und Beutel heraus. Dann warf er sich die Kameratasche über die Schulter und nahm die Kamera in die freie Hand. Er hatte einige Mühe, die Appartementtür aufzusperren, und ging, als er das Licht im Zimmer eingeschaltet hatte, als erstes zu der Kommode, um sein Gepäck abzuladen. Dann holte er Waschzeug, Pyjama, Schlafrock und seine frischen Hemden aus dem Koffer. Golfschuhe, Socken und Pullover ließ er im Beutel, während er ein Polohemd herauszog und es in eine Schublade legte. Dabei fiel ihm die Kassette ein, die er noch in der Tasche hatte. Er ließ sie in den Beutel gleiten und schlüpfte aus dem Jackett.
Er war gerade im Begriff, ins Badezimmer zu gehen, um sich die Hände zu waschen und sich zu kämmen, als sein Blick die Kamera streifte. Plötzlich blieb er stehen. Er drehte sich halb um und blickte genauer hin. Erst dann wurde es ihm endgültig klar, dass es mit dem blonden Mädchen doch noch eine andere Bewandtnis gehabt haben musste.
Denn die Kassette, die er für die beiden letzten Unfallaufnahmen verwendet und in der Kamera gelassen hatte, war verschwunden.
Er war seiner Sache völlig sicher, konnte sich aber den Grund dafür nicht erklären. Er blieb unbeweglich stehen; seine dunklen Augen unter den geraden schwarzen Brauen waren ernst und blickten starr geradeaus, ohne etwas in sich aufzunehmen. Geistesabwesend strich er sich mit der Hand über das glatte schwarze, an den Schläfen schon leicht ergraute Haar, und sein kantiges, gutgeschnittenes Gesicht war ausdruckslos. Seine Kinnladen spannten sich leicht, während er überlegte, was er tun sollte. Dann zog er sich ohne Eile wieder sein Jackett an und knipste das Licht aus.
Neben einer Tankstelle an der Hauptstraße, auf etwa zwei Drittel der Strecke nach Bayview, stand ein winziger, würfelförmiger Betonbunker mit dem Wort Taxi in Leuchtbuchstaben auf dem Dach. Zwei Taxis parkten neben der Tür, als Murdock in das Büro trat und mit dem Angestellten, einem kräftigen, schlecht rasierten Burschen in einem Khakihemd, sprach.
»Eine blonde Puppe?«, fragte der Mann zurück, und sein Blich wanderte zu einem mageren Jüngling, der sich mit seinem Stuhl gegen die Wand lehnte. »Auf der Hauptstraße vor zwanzig Minuten? Warst das du, Eddie?«
»Schon möglich«, meinte Eddie. »Was interessiert Sie das?«
»Ich bin vom Bostoner Courier.« Murdock zeigte seinen Presseausweis und dachte sich währenddessen eine plausible Geschichte aus. »Sie ist mir vom Bürgersteig direkt vor den Wagen gelaufen. Bis ich einen Platz finden konnte, um zu parken, war sie verschwunden. Ich glaube nicht, dass ihr etwas passiert ist, aber ich möchte keinen Prozess an den Hals kriegen. Ich würde mich gern mit ihr unterhalten, aber es schien mir besser, mich erst an Sie zu wenden, bevor ich hinüberfahre und mit Polizeichef Nickerson spreche.«
Der Mann überlegte, zuckte dann leicht die Achseln und warf Eddie einen Blick zu. »Sag’s ihm schon«, meinte er. »Es kann dir ja egal sein.«
»Sie fuhr zum Blue Heron.«
»Ging sie ins Lokal hinein?«
»Sie ging hintenherum«, antwortete Eddie. »Dort stehen ein paar Bungalows für einige der Angestellten. Der letzte ist’s, der mit dem flachen Dach.«
Der Nachtclub Blue Heron stand auf einer leichten Anhöbe, von der man an klaren Tagen bis hinüber zur Bucht sehen konnte. Es war ein flaches Gebäude mit einem grauen Schindeldach, blauen Fensterläden, einem kleinen Vordach und einem livrierten Pagen, der, falls gewünscht, für die Gäste die Wagen parkte. Murdock war schon einige Male hier gewesen, doch nie bei Tag, und er wusste nicht, ob man um das Haus herumfahren konnte. Nun ließ er den Wagen im Schritttempo am Rand des Parkplatzes entlangrollen, bis er einen Kiesweg erblickte, der nach links abbog.
Der Duft von auf Holzkohlen gebratenen Steaks kitzelte ihn in der Nase, während er langsam am Küchen- und Lieferanteneingang vorbeifuhr. Dann sah er in fünfzehn Meter Entfernung den Bungalow vor sich, der wie das Hauptgebäude mit grauen Schindeln gedeckt war. Gegenüber stand ein Gebäude mit flachem Dach, das aussah wie ein kleines Motel. Auf einer Seite des Bungalows waren zwei Wagen geparkt. Hinter dem Gebäude mit dem flachen Dach hielt Murdock an, wendete und fuhr zur ersten Tür zurück.
Das blonde Mädchen war äußerst überrascht, ihn zu sehen. Sie trug einen langen baumwollenen Morgenrock, den sie vorne mit der Hand zuhielt. In der ersten Bestürzung trat sie zurück und riss die Augen auf, dann machte sie ein böses Gesicht. Doch inzwischen stand Murdock bereits in dem länglichen Zimmer, dessen Einrichtung aus dem Doppelbett, einem Doppelschrank, einem blaulackierten Toilettentisch, einigen Korbsesseln und einem abgetretenen Kokosläufer bestand. Eine offene Tür gestattete einen Blick in das erleuchtete Badezimmer, eine andere schien in eine kleine Küche zu führen.
»Oh - Sie.« Das war alles, was sie in den ersten paar Sekunden herausbrachte.
»Allerdings«, bemerkte Murdock gelassen. »Ich.«
Sie war bis in die Mitte des Raumes zurückgewichen und wandte ihm nun ihr entschlossenes Gesicht zu. Sie wirkte nicht mehr so jung, aber noch immer hübsch. Ein gespannter Zug lag um ihren Mund, und nachdem ihre anfängliche Unsicherheit verflogen war, hatte ihr Blick einen feindseligen Ausdruck angenommen.
»Schön«, sagte sie mit leiser, aber harter Stimme. »Was wollen Sie?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Murdock. »Vielleicht eine Entschuldigung.«
»Wofür?«
»Für den Diebstahl meines Autos.«
»Okay. Ich bitte um Entschuldigung. Ich haue es eilig... So, und nun verschwinden Sie.«
»Gern. Sobald Sie mir die Kassette zurückgeben, die Sie mir geklaut haben.«
»Welche Kassette?«
Murdock zögerte und hob leicht die linke Augenbraue, eine Angewohnheit, die, je nach dem Blick der dunklen Augen, seinem Gesicht einen höhnischen, verdutzten, zweifelnden oder misstrauischen Ausdruck verleihen konnte. Ihre Haltung verblüffte ihn eigentlich mehr, als dass sie ihn ärgerte, und er überlegte, ob ihr trotziger Widerstand wohl auf eine innere Angst zurückzuführen sein mochte.
»Kennen Sie Sam Terroni?«
»Sam, wie?«
Er wiederholte den Namen, und sie schüttelte den Kopf.
»Nie von ihm gehört.«
Allmählich begann eine leise Verstimmung in ihm hochzusteigen. Er versuchte es noch einmal mit einem Anflug von Ungeduld in der Stimme.
»Es war doch nicht Ihre Idee, wie? Für wen haben Sie sie denn gestohlen?«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie sprechen.«
Murdock sah sich im Zimmer um. Als er erkannte, dass eine Durchsuchung wenig Aussicht auf Erfolg haben würde, beschloss er, es mit einem Bluff zu versuchen.
»Na gut«, sagte er. »Wenn Sie mir nicht gutwillig helfen wollen, dann gehen wir eben zur Polizei. Ziehen Sie sich etwas an und...«
»Polizei?«
Ihre Stimme klang schrill, und für den Bruchteil einer Sekunde lag ein unentschlossener Ausdruck in ihren blauen Augen. Dann reagierte sie in einer ebenso kühnen wie unerwarteten Weise. Sie ließ ihren Morgenrock vorn los, so dass er offen herunterhing. Darunter trug sie nichts als ein kurzes Höschen und einen Büstenhalter. Ihre Beine, Schenkel und Schultern waren sonnengebräunt wie ihr Gesicht; oberhalb des winzigen Höschens war die Haut um eine Nuance heller. Sie hatte eine hübsche, verführerisch gerundete Figur - höchstens Taillenweite 58, dachte Murdock verwirrt, während er sie anstarrte. Dann schob sie die Finger von oben in ihren Büstenhalter und ballte die Faust.
»Polizei!«, rief sie wütend. »Wenn Sie mich nicht sofort in Ruhe lassen und verschwinden, reiße ich mir dieses Ding vom Leib und schreie, dass das ganze Haus zusammenläuft. Vielleicht fällt Ihnen eine glaubwürdige Geschichte ein, die Sie der Polizei erzählen können, aber das bezweifle ich sehr... So, jetzt machen Sie, dass Sie rauskommen!«
Sekundenlang war Murdock versucht, sie beim Wort zu nehmen. Er wollte schon sagen: »Los, reißen Sie ihn herunter; ich kaufe Ihnen einen neuen«, aber als er ihr in die Augen sah, blieben ihm die Worte in der Kehle stecken. Er wusste plötzlich, dass sie es ernst meinte, und bekam es ebenso plötzlich mit der Angst.
Er fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als er sich die peinliche Situation vorstellte, in die er geraten würde, wenn die Leute auf ihr Geschrei hereingestürzt kämen. Er hörte sich hilflos protestieren und fühlte schon förmlich die Tracht Prügel, die man ihm verabreichen würde. Sie hatte seine Drohung richtig als Bluff erkannt, und er rief hastig: »Schon gut. Ich hab’s nicht so gemeint.«
Doch ehe er das beweisen konnte, wurde die Tür aufgerissen, und zwei Männer kamen herein.
»Haben Sie geschrien, Lucille?«, fragte der Große.
»Hat der Kerl Sie belästigt?« schloss sich der andere an.
Das Mädchen sah Murdock an und warf trotzig den Kopf zurück, während sie hastig den Morgenrock um sich schlug.
»Ja.«
Die zwei kamen auf Murdock zu. Beide trugen sie einen eleganten Smoking. Der erste war ungefähr so groß wie Murdock und ähnlich gebaut - er mochte etwa hundertsechzig Pfund wiegen -, der zweite dagegen überragte ihn um fast zehn Zentimeter und schien ein Gewicht von nahezu zwei Zentnern zu haben.
»Sollen wir ihn rauswerfen, Lucille?«, erkundigte sich der Große.
»Ja...«
»Na, dann los, Kamerad«, sagten sie, nahmen Murdock in die Mitte und fassten ihn an den Armen.
Murdock schluckte und ließ sich widerstandslos führen. Gegen diese Übermacht waren seine Chancen gleich Null, und da er begriff, dass jeder Versuch, sich zu wehren, ihm wahrscheinlich nur ein reichliches Maß von blauen Flecken und Beulen eintragen würde, beschloss er, diese erste Niederlage in seinem Kampf mit dem blonden Mädchen vorläufig ruhig einzustecken.
Mit Murdock in der Mitte, gingen die beiden an dem Mädchen vorbei zur offenen Tür. Dort zögerten sie, und der Große fragte: »Sagten Sie rauswerfen, Lucille?«
»Ja«, erwiderte das Mädchen im gleichen unbewegten Tonfall.
Offenbar war das buchstäblich gemeint, denn genauso geschah es. Ehe Murdock wusste, was man mit ihm vorhatte, fühlte er, wie sich der Druck an seinen Armen verstärkte. Zwei Hände packten ihn von links und rechts in den Kniekehlen, er wurde hochgehoben, leicht nach rückwärts geschwenkt, dann sauste er mit den Füßen zuerst nach vorn, die beiden ließen los, und er segelte mit rudernden Armen durch die offene Tür.
Er war zu sehr damit beschäftigt, seinen Hinterkopf vor einer unsanften Berührung mit dem Erdboden zu bewahren, um sich gedemütigt oder beleidigt zu fühlen. Er landete hart auf dem Gesäß und rutschte fast einen Meter weiter, glücklicherweise auf der Wiese, sonst hätte er sich dabei bestimmt den Hosenboden zerrissen. Als er wieder Luft bekam und sich umdrehte, sah er, dass ihm die beiden gefolgt waren und hinter ihm standen. Sie hatten die Hände in die Hüften gestemmt und blickten abwartend auf ihn herab. »Das war hübsch, Felix«, bemerkte der Schlanke.
»Sehr sauber«, meinte der Große. »Haben Sie sich weh getan, Freundchen?«, fügte er zu Murdock gewandt hinzu.
Zu seiner großen Überraschung war Murdock eigentlich kaum wütend. Sein Hinauswurf war nicht bösartig gewesen, und die angewandte Methode zeugte unbestreitbar von Phantasie. Die ganze Situation war so lächerlich, so überraschend und hatte sich so blitzartig entwickelt, dass er einen Augenblick brauchte, bis er verstand, dass es ihm in gewissem Sinne recht geschehen war. Er hatte versucht, ein Mädchen zu bluffen, das einfallsreicher war, als er erwartet hatte, und wenn er auch nicht beabsichtigte, so leicht aufzugeben, fing er doch an, leise vor sich hin zu lachen, als er aufstand und sich abklopfte.
»Nein.«
»Gut.«
»Ist das Ihr Wagen?«, fragte Felix.
»Steigen Sie ein«, sagte sein Begleiter.
»Und kommen Sie nicht zurück.«
Murdock machte die Wagentür auf und schaute sich um.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich reingehe und einen Drink nehme?«
»Absolut nicht«, meinte Felix. »Dort drinnen sind Sie Kunde«, vervollständigte der andere.
»Hier draußen haben Sie nichts zu suchen.«
Sie blieben stehen und beobachteten ihn, während er einstieg und den Motor anließ. Als er losfuhr, sah er im Rückspiegel, dass sie ihm folgten.
Der Blue Heron machte an diesem Samstagabend ein gutes Geschäft. Als Murdock eintrat, erfuhr er, dass dies der letzte Abend war, bevor das Lokal für diese Saison schloss. An der Bar drängten sich diejenigen, die den festen Mindestbetrag, der an den Tischen verlangt wurde, umgehen wollten, die Tische waren zum größten Teil besetzt, und auf der Tanzfläche tanzten die Paare dicht gedrängt zu Paul Herricks Musik.
Drüben in einer Ecke stand ein kleiner Tisch, der zwar nicht gerade günstig gelegen war, von dem aus man aber sowohl die Bar und den Haupteingang als auch die Tür, die zu den Wirtschaftsräumen führte, beobachten konnte. Zudem stand er ziemlich dicht am Klavier. Murdock ließ ihn sich vom Kellner reservieren und begab sich dann in den Waschraum, um sein Äußeres etwas zu restaurieren. Soweit er sehen konnte, wies seine graue Flanellhose keine Grasflecke auf. Auch sein Tweedjackett war sauber geblieben, und er ging beruhigt zu seinem Tisch zurück und bestellte sich einen Drink.
Herricks Kapelle - bestehend aus Klavier, Bass, Schlagzeug, Gitarre, Trompete und Klarinette - spielte gerade eine der zurzeit beliebtesten Schlagermelodien.
Murdock trat neben Herrick, der ihn sofort erkannte, ihm grüßend zulächelte und sagte: »Wenn Sie können, setzen Sie sich doch einen Moment zu mir, sobald Sie hier fertig sind.«
Als Herrick zustimmend nickte, ging er an seinen Tisch zurück, nahm einen Schluck von seinem Drink und hörte der Kapelle zu. Als diese aber nach einem brillant gespielten Jazzstück wieder eine banale Schlagermelodie brachte, verschloss er seine Ohren vor dem Geräusch und begann nachzudenken.
Murdock war nicht ein Mann, der leicht aufgab, und seine ergebnislose Zusammenkunft mit Lucille und ihren beiden Rausschmeißern hatte den Wunsch in ihm noch bestärkt, herauszubekommen, warum sie die Kassette, gestohlen und für wen sie es getan hatte. Eigentlich konnte hierfür nur Sam Terroni in Frage kommen. Doch was hatte das Mädchen denn überhaupt draußen auf der Landstraße zu suchen gehabt? Wie war sie dorthin gekommen, und wer hatte sich den Trick mit dem zudringlichen jungen Mann ausgedacht?
Als er zu keinem Ergebnis kommen konnte, blickte er sich um und sah Felix und seinen Kameraden am anderen Ende der Bar stehen, wo sie die Gäste beobachteten und nach Unruhestiftern Ausschau hielten. Murdock war ihnen nicht mehr böse. Er winkte dem Kellner und erkundigte sich nach Felix’ Begleiter.