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Ihm war klargeworden, dass er einen Fehler begangen hatte, und er versuchte nun, die nötige Objektivität aufzubringen, um die Konsequenzen richtig einzuschätzen. Er versuchte sich einzureden, dass er schon alles wieder in Ordnung bringen würde, wenn er sich auch durchaus der Tatsache bewusst war, dass hier die Sache anders lag als in Boston, wo eine Zeitung ihm den Rücken deckte und wo er Freunde im Morddezernat besaß, die seine Schuld zumindest bezweifeln würden.
Hier war er ein Fremder, und die Umstände sprachen gegen ihn. Nachdem er niemanden in der Stadt kannte, der Einfluss genug hatte, ein gewichtiges Wort für ihn einzulegen, würde er verhaftet und möglicherweise den ganzen Tag lang verhört werden, sobald er sich der Polizei stellte...
Der Roman Die Stimme am Telefon von George H. Coxe (* 23. April 1901 in Olean/New York; † 31. Januar 1984 in Old Lyme/Connecticut) erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1961.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
GEORGE H. COXE
Die Stimme am Telefon
Roman
Apex Crime, Band 90
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DIE STIMME AM TELEFON
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Ihm war klargeworden, dass er einen Fehler begangen hatte, und er versuchte nun, die nötige Objektivität aufzubringen, um die Konsequenzen richtig einzuschätzen. Er versuchte sich einzureden, dass er schon alles wieder in Ordnung bringen würde, wenn er sich auch durchaus der Tatsache bewusst war, dass hier die Sache anders lag als in Boston, wo eine Zeitung ihm den Rücken deckte und wo er Freunde im Morddezernat besaß, die seine Schuld zumindest bezweifeln würden.
Hier war er ein Fremder, und die Umstände sprachen gegen ihn. Nachdem er niemanden in der Stadt kannte, der Einfluss genug hatte, ein gewichtiges Wort für ihn einzulegen, würde er verhaftet und möglicherweise den ganzen Tag lang verhört werden, sobald er sich der Polizei stellte...
Der Roman Die Stimme am Telefon von George H. Coxe (* 23. April 1901 in Olean/New York; † 31. Januar 1984 in Old Lyme/Connecticut) erschien erstmals im Jahr 1950; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1961.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
Die Aufgabe, die Kent Murdock nach Uniontown führte, war teils geschäftlicher, teils privater Natur. Der geschäftliche Teil hing mit einem fotografischen Routineauftrag zusammen, der ihm am späten Vormittag trotz einiger Einwände seinerseits erteilt worden war; den privaten Teil hatte er auf Grund seiner freundschaftlichen Gefühle für ein Mädchen, das jetzt verheiratet war und das er früher sehr gern gehabt hatte, freiwillig übernommen.
Er verließ das Gebäude des Courier am Montagnachmittag um ein Uhr und schlug wegen der besseren Straßenverhältnisse eine Inlandroute ein.
Als er die Stadt hinter sich gelassen hatte, setzte er sich bequem zurück, um den hellen, sonnigen Nachmittag richtig genießen zu können, der das hügelige Land mit Frühlingszauber übergoss. Er kam gut voran, nicht etwa, weil er sich sonderlich beeilt hätte, sondern weil er von dem geringen Verkehr nicht behindert wurde. Es war zehn Minuten vor vier, als er seinen Wagen auf den Parkplatz abstellte und zu Fuß zum Hotel Greene zurückging.
In der gediegenen hohen Hotelhalle saß, wie üblich, eine ganze Anzahl von Leuten müßig herum. Einige von ihnen warteten offensichtlich darauf, zu ihrem Zimmer geführt zu werden, denn neben dem Platz des Empfangssekretärs war eine Reihe von Koffern abgestellt. Murdocks Koffer und die kleine Tasche, die sein Fotomaterial enthielt und ebenso zu seiner Reiseausrüstung gehörte wie seine Brieftasche, gesellten sich hinzu. Der Portier prüfte seine Zimmerbestellung und schob ihm mit einigen Worten der Entschuldigung die Anmeldungskarte hinüber.
»Wir haben Ihre Bestellung hier, Mr. Murdock«, sagte er, »aber es dauert unter Umständen noch eine Weile, bis wir Ihnen ein Zimmer geben können.«
Murdock unterschrieb die Anmeldung.
»Hm«, äußerte er unschlüssig und runzelte die Stirn. Zu seiner Rechten klirrte irgendetwas, und als er sich umwandte, sah er, dass das Mädchen, das die Hotelkasse verwaltete, einen Schlüssel aus ihrem Glaskäfig in eine kleine Schachtel hinter dem Pult geworfen hatte. Er blickte den Angestellten vielsagend an, und dieser verstand ihn anscheinend zur Genüge, denn er ging hinüber und betrachtete den Schlüssel. Dann kam er zurück und biss sich zweifelnd auf die Unterlippe.
»Wenn es Sie nicht stört, in ein unaufgeräumtes Zimmer zu ziehen«, sagte er zögernd, als widerspräche dies den Gepflogenheiten des Hauses, »könnten wir Sie sofort unterbringen.«
Murdock erklärte sich einverstanden. Als jedoch fünf Minuten, nachdem ihm der Hausdiener das Gepäck heraufgebracht hatte, das Telefon schrillte, fragte er sich, ob er nicht besser getan hätte, noch etwas zu warten. »Harry«, sagte eine angenehme weibliche Stimme, »werde ich dich heute Abend sehen?«
Murdock sah sich in dem unaufgeräumten Zimmer um. Das Bett war zerwühlt. Ein Tablett mit einer Flasche Soda, zwei benutzten Gläsern und einer Schale mit schmelzenden Eiswürfeln stand auf der Kommode; das Telefonbuch lag neben dem Bett auf dem Fußboden. Auf der Türschwelle zum Badezimmer sah er ein achtlos hingeworfenes Handtuch liegen, das möglicherweise zum Schuhe putzen verwandt worden war.
Es schien ihm, dass Harry wohl ein sehr unordentlicher Mensch sein musste, doch gleich darauf fühlte er Sympathie für seinen Vormieter in sich aufsteigen, den Frauen mit so netten Stimmen anriefen und um Verabredungen baten. Ohne zu wissen, wie er das Gespräch fortführen sollte, aber von einer plötzlichen Neugier gepackt, den Namen der Unbekannten mit der schönen Stimme zu erfahren, gehorchte er einem Impuls und fragte: »Hallo, bist du es, Anne?«
»Anne? Hier spricht Leona!« Dann, etwas misstrauisch: »Wer ist Anne?«
Murdock lachte vergnügt. »Tut mir leid«, sagte er, »ich habe nur Spaß gemacht. Ich fürchte, Harry ist gar nicht mehr hier.«
»Ist das nicht Zimmer 617?«
»Doch.«
»Aber ich dachte... ich meine, er sagte doch...« Sie brach ab. »Verzeihen Sie bitte«, sagte sie mit hörbarer Enttäuschung in der Stimme.
Murdock grinste und entschuldigte sich ebenfalls. Als sie daraufhin nicht einhängte, war er versucht, die Unterhaltung fortzusetzen, da ihm der Gedanke kam, Leonas Zögern könnte vielleicht bedeuten, dass ihr dies nicht unangenehm wäre. Vielleicht entwickelte sich daraus...
Etwas widerstrebend verwarf er den Gedanken, als ihm einfiel, was er alles zu tun hatte. »Ich bin gerade erst eingezogen«, erklärte er. »Das Zimmer ist noch gar nicht aufgeräumt; deshalb nehme ich an, dass Harry erst vor kurzem gegangen ist.«
Diesmal erfolgte keine Antwort, und einen Augenblick später hörte er, wie die Verbindung unterbrochen wurde. Belustigt legte er den Hörer auf. Er schlüpfte aus seiner Jacke, hängte sie über eine Stuhllehne und schüttelte dabei immer noch den Kopf über Leona und Harry. Dann wuchtete er seinen Koffer auf den Kofferbock, öffnete ihn, holte sein Waschzeug heraus und begab sich ins Badezimmer. Er trocknete sich eben die Hände ab, als jemand an die Tür klopfte.
Als er aufmachte, spazierte ein junges Mädchen herein.
»Tag«, sagte sie mit einem Blick ins Zimmer und drehte sich dann überrascht um. »Oh, ist Harry denn nicht hier?«
Murdock musterte sie eingehend. Vor ihm stand ein junges, grünäugiges Mädchen mit einem glatten, runden Gesicht und aschblondem, nachlässig frisiertem Haar. Sie hatte einen Kamelhaarmantel um die Schultern gehängt. Ihre Kleidung bestand aus Pullover, langer Hose und Tennisschuhen, und abgesehen von dem starken und etwas zu gekonnten Make-up hätte man sie auf den ersten Blick für eine Oberschülerin der höheren Klassen halten können.
»Nein«, erklärte er. Während er die Tür schloss, musste er lachen. »Harry ist anscheinend gerade ausgezogen.«
»Na, so ein Schuft!«, schimpfte sie lachend. »Er hat mir kein Wort davon gesagt.«
Sie bemerkte nun Murdocks unverblümte Musterung, schien sich aber dabei nicht zu genieren. Sie setzte sich auf die Lehne des einzigen Armsessels, wippte mit dem Fuß und schaute ihm direkt ins Gesicht. Sie sah sehr hübsch, aber nicht sonderlich apart aus; in ihrem Auftreten lag eine gewisse Treuherzigkeit. Als jetzt ihr Mantel auseinanderschlug, revidierte Murdock seine vorherige Meinung. Er sah, dass sie das Schulmädchenalter vielleicht um zwei oder drei Jahre überschritten hatte. Der erfreulich enganliegende Pullover enthüllte ganz unerwartete Rundungen.
»Sie sind nicht die einzige«, sagte er.
»Ach?«
»Er wurde schon einmal verlangt.«
Sie überlegte kurz und fragte: »Von einer Frau?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich kenne Harry«, lächelte sie.
»Sie hieß Leona.«
»Ach«, wiederholte sie in einem Ton, der vermuten ließ, dass ihr der Name nicht unbekannt war. Sie zuckte leicht die Achseln und stand auf.
»Ist sie nett?«
Murdock lehnte an der Kommode. Sie machte Anstalten, an ihm vorbeizugehen, sah den Spiegel hinter ihm und blieb stehen, um sich eingehend zu betrachten.
»Harry findet sie nett.« Sie hielt den Kopf schräg, während sie ihr Spiegelbild einer genauen Musterung unterzog, und holte einen Kamm aus der Tasche. Ohne sich um Murdocks Anwesenheit zu kümmern, bearbeitete sie ihr schulterlanges Haar mit schnellen, kräftigen Strichen. »Doch, sie ist schon ganz nett... wenn man Rothaarige mag.«
»Wie alt?«
»Ach, so um die Dreißig. Vielleicht etwas jünger.«
Murdock musste abermals lächeln, als er ihr zusah. »So, das wäre also Leona«, meinte er. »Und wer ist Harry?«
Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Er ist mein Agent.«
»Sie sind also im Theaterfach tätig?«
»Ich spiele Klavier.« Sie steckte den Kamm ein und drehte sich mit einem Augenaufschlag zu Murdock um. »Drüben im Ebony-Club, bis zehn Uhr, wenn das Programm anfängt.«
»Schön, schön«, meinte Murdock. »Chopin?«
Sie schnitt ihm eine Grimasse und lächelte dann. »Nur Modernes«, gab sie zurück und zog den Mantel zusammen. »Tut mir leid, dass ich hier so hereingeplatzt bin.«
»Sie haben mich absolut nicht gestört«, meinte Murdock. »Spielen Sie gut Klavier?«
»Warum kommen Sie nicht einmal hinüber und hören es sich selbst an?« Sie öffnete die Tür und schenkte ihm dabei einen vielversprechenden Blick. »Sie sind jederzeit willkommen.«
Das würde er vielleicht tun, meinte er und fügte hinzu, dass er hoffe, sie wiederzusehen. Ihre offene, ungezwungene Selbstsicherheit zog Ihn an.
Als sie gegangen war, versuchte Murdock an etwas anderes zu denken. Er stand vor der Kommode und schnitt seinem Spiegelbild ein finsteres Gesicht, als er plötzlich bemerkte, dass sein Haar ganz zerzaust war. Er ging ins Badezimmer und fuhr sich mit der nassen Hand darüber. Darauf holte er seinen Kamm und trat wieder vor den Spiegel, bemerkte jedoch, dass dieser für eine größere Person eingestellt war, und streckte die Hand aus, um ihm einen anderen Neigungswinkel zu geben. In diesem Augenblick hörte er etwas fallen.
Der Spiegel hing zwischen zwei senkrecht stehenden Pfosten und drehte sich um eine Achse. Bevor ihn Murdock berührte, hatte er mit dem unteren Rand die Wand berührt. Der eben zu Boden gefallene Gegenstand musste also zwischen dem Spiegel und der Wand verborgen gewesen sein. Er kniete nieder und konnte mit seinem ausgestreckten Arm den Briefumschlag erreichen, der nun zwischen Kommode und Fußbodenleiste lag.
Er richtete sich auf, klopfte den Staub von den Knien und begann den Umschlag zwischen den Fingern herumzudrehen. Das Kuvert enthielt einen harten Gegenstand, und Murdock sah, dass es nicht zugeklebt, sondern nur mit einer Büroklammer verschlossen war.
Nachdenklich kniff der junge Mann die Augen zusammen und befühlte den Umschlag mit den Fingern. Schließlich zog er die Klammer ab und schaute neugierig hinein. Was er dort sah, jagte ihm einen gehörigen Schreck ein, und lange Zeit konnte er seinen Blick nicht von dem blitzenden Glanz des mit Brillanten und Saphiren besetzten Armbands lösen. Er war in diesem Augenblick nicht imstande, über die bloße Tatsache seiner Entdeckung hinauszudenken, und zog unter leisem Fluchen das Armband heraus. Es war flexibel und fast zwei Zentimeter breit. Etwa fünf Sekunden lang blieb er ganz ruhig stehen und wog das Schmuckstück in der Hand. Dann ließ er es wieder in den Umschlag gleiten. Während er die Klammer wieder daraufschob, waren seine Gedanken mit der Abschätzung des Fundes beschäftigt. In dieser Haltung stand er da, als er hörte, dass ein Schlüssel ins Türschloss gesteckt wurde.
Daraufhin machte er eine instinktive Bewegung, doch sogar sein Instinkt wurde von einem ganz unerklärlichen Schuldbewusstsein regiert. Sein Verstand sagte ihm, dass sich das Zimmermädchen an der Tür zu schaffen machte; er konnte jedoch das Gefühl nicht loswerden, dass er etwas in Besitz genommen hatte, was ihm nicht gehörte. Daher kam es, dass er, anstatt den Umschlag in die Tasche zu stecken, sich vorbeugte, ihn hastig hinter den Spiegel klemmte und die Kommode geradeschob.
Er hatte eben noch Zeit zurückzutreten, als sich die Tür öffnete und an Stelle des vermuteten Zimmermädchens ein Mann eintrat. Er tat einige Schritte, bevor er plötzlich Murdock entdeckte und stehenblieb. »Oh!«, rief er und zwinkerte überrascht mit den Augen. »Entschuldigen Sie!«
Irgendwie wusste Murdock schon jetzt, dass dies Harry sein musste. Es war ihm selbst nicht klar, woher er das wusste, abgesehen davon, dass dieser Mann wie ein Theateragent wirkte, wenn auch etwas jünger, als er angenommen hatte. Er war mittelgroß und sah sehr nett aus in seinem kurzen Sommermantel, dem weißgestreiften Hemd und der geblümten Krawatte. Er trug keinen Hut, und sein welliges, braunes Haar war dicht und lang und überaus ordentlich gebürstet. Die Augen waren hell, das Gesicht faltenlos, und er machte den Eindruck, mehr Zähne zu besitzen als andere Leute. Dies war natürlich eine Illusion, die von der Größe und Ebenmäßigkeit dieser Zähne und von einer Gesichtsbildung hervorgerufen wurde, die das Gebiss freilegte, sobald er sprach.
»Ich bin erst vor zwanzig Minuten ausgezogen«, sagte er und tat wieder einige Schritte vorwärts. »Ich glaubte nicht, dass das Zimmer schon wieder besetzt sein würde... Ich hatte etwas vergessen.« Mit diesen Worten drängte er sich an Murdock vorbei und holte das Briefkuvert aus seinem Versteck.
Murdock sah ihm gespannt und gedankenvoll zu. »Sie müssen Harry sein.«
»Ja«, meinte Harry, der sich immer noch mit seinem Briefumschlag befasste. Prüfend betastete er das Papier. Dann glitt ein Ausdruck der Erleichterung über seine Züge und verwandelte sich zu einem Lächeln. »Woher wissen Sie das?«, erkundigte er sich und stieß einen wahrscheinlich unbewussten, aber hörbaren Seufzer aus.
»Sie hatten Besuch.« Murdock beobachtete, wie das Kuvert in der Manteltasche des anderen verschwand. »Blond und grünäugig. Spielt Klavier.«
»Oh, das war Claire Emerson.« Harry zeigte die Zähne und ging rückwärts zur Tür. »Nettes Ding. Auch sehr begabt. Sie kam also hierher.«
»Ich nehme an, sie wusste nicht, dass Sie die Absicht hatten, auszuziehen.«
»Ich werde sie anrufen. Hoffentlich verzeihen Sie mir, dass ich so hereingeplatzt bin, aber ich dachte...«
»Ich weiß«, gab Murdock trocken zurück. »Sie dachten, das Zimmer sei leer; außerdem«, fügte er hinzu, etwas pikiert über die beiläufige Art des anderen, »glaube ich, dass Sie vergessen haben, Ihren Schlüssel abzugeben, als Sie die Rechnung bezahlten.«
Harry sah auf den Schlüssel in seiner Hand. »Stimmt, das tat ich«, erwiderte er und stieß Laute aus, die wohl ein kurzes Lachen darstellen sollten. »Diesmal denke ich daran, ihn am Empfang abzugeben.«
Eine gewisse Verstimmung stieg in Murdock auf. Er erinnerte sich an Leonas Anruf und freute sich ganz widersinnigerweise darüber, dass er vergessen hatte, Harry davon zu erzählen. Er fühlte sich getäuscht und missachtet von diesen Eindringlingen in sein Privatleben, die ihm den Mund wässrig gemacht, aber schließlich doch nichts erzählt hatten, und war tief beunruhigt bei dem Gedanken an das Brillantarmband.
»Das ist mir ja ein feines Zimmer«, sagte er laut und brütete noch eine geraume Zeit vor sich hin, ehe er endlich seine Gedanken auf die Angelegenheit konzentrieren konnte, die ihn in die Stadt geführt hatte. Schließlich setzte er sich neben das Telefon aufs Bett und zog eine Visitenkarte aus der Tasche. Simon Rigby - Privatdetektiv, stand darauf, und in der linken und rechten unteren Ecke waren jeweils eine Adresse und eine Telefonnummer aufgeführt. Unschlüssig drehte er die Karte zwischen den Fingern, holte dann tief Luft und nannte der Hotelzentrale die gewünschte Nummer. Er wurde sofort verbunden und nannte seinen Namen, nach dem eine raue, monotone Stimme gefragt hatte.
»Oh, ja«, sagte Rigby. »Mr. Dorrance schrieb mir, dass Sie herkommen würden.«
»Mrs. Farnsley arbeitet drüben beim Evening Ledger, nicht wahr?«
»In der Anzeigenabteilung... halbtags, glaube ich. Sie finden sie im zweiten Stock.«
»Ich gehe jetzt gleich hinüber zu ihr«, erwiderte Murdock. »Wo kann ich Sie später erreichen?«
»Hier in meinem Büro, wenn Ihnen das recht ist. Zwischen sechs Uhr und sechs Uhr dreißig. Wir könnten vielleicht etwas trinken gehen.«
Murdock hielt das für eine gute Idee und erhob sich. Er war groß, hatte dichtes, dunkles Haar, sehr breite Schultern und ein sehniges, eckiges Gesicht. Seine Augen waren ebenso dunkel wie die Haare und hatten wieder einen nachdenklichen Ausdruck, als sein Blick jetzt zerstreut über den noch nicht ausgepackten Koffer, die Tasche mit seiner Fotoausrüstung und den Spiegel glitt, hinter dem das Kuvert verborgen gewesen war.
Widerstrebend ließ er sich eine doppelte Aufgabe durch den Kopf gehen und sagte sich dabei, dass, abgesehen von seinem persönlichen Interesse an der Sache, der erste Teil seiner Mission besser einem Eheberater angestanden hätte als einem Pressefotografen. Allerdings, er hatte Helen Farnsley immer so gern gehabt, wie er ihren Mann verabscheute. Und abgesehen von dem Gefallen, den er ihrem Onkel, Walter Dorrance, damit tun mochte, war es vor allem sein aufrichtiger Wunsch, ihr zu helfen, so gut er konnte.
Er fuhr in seine Jacke, warf einen raschen Blick in den Spiegel, zog seinen Schlips zurecht und nahm Mantel und Hut vom Haken. Als er fertig war, knipste er das Deckenlicht aus und verließ den Raum.
In der Hotelhalle ließ sich Murdock vom Portier die Richtung zeigen, die er einzuschlagen hatte, und trat auf die belebte Straße hinaus. Einen Augenblick lang blieb er stehen und sah sich um. In ununterbrochener Folge flutete der Verkehr an ihm vorbei. Auf dem Bürgersteig drängten sich die Passanten. Ein Stadtbus stoppte an der Straßenecke und entließ aus der hinteren Tür ein halbes Dutzend Fahrgäste, während sich andere schon drängelten, um vorne einzusteigen. Oben an der Ecke schrillte die Trillerpfeife eines Verkehrspolizisten ihre scharfen Kommandos.
Einige der Vorbeigehenden blieben gelegentlich vor einem Schaufenster stehen; der größte Teil der Passanten jedoch ging eilig und zielbewusst seines Weges; denn die Sonnenstrahlen wärmten nicht mehr, und die Brise, die vom Meer hereinwehte, biss kräftig in die Ohren. Murdock spürte das auch, als er die Straße hinaufschritt; er klappte den Mantelkragen hoch und neigte den Kopf etwas nach vorne, damit ihm nicht ein plötzlicher Windstoß den Hut entführen konnte.
Bei der übernächsten Querstraße bog er nach rechts ab und erreichte bald das graue Gebäude, in dem der Uniontown Evening Ledger zu Hause war. Hier fuhr er in dem altertümlichen Aufzug bis zum zweiten Stock und konnte dabei das ratternde Vibrieren der Druckerpressen im Keller spüren. Jener unverwechselbare Geruch von Druckerschwärze, Papier und heißem Metall, der allen Zeitungsdruckereien eigen ist, stieg ihm in die Nase.
Ein Teil der Anzeigenabteilung befand sich im zweiten Stock in einem großen Raum, dessen Hintergrund einige von Glaswänden abgeteilte Privatbüros einnahmen. Obwohl er Helen Farnsley beinahe sofort erblickte, sah sie ihn erst, als er schon zwei Drittel des Zimmers durchquert hatte. Sie riss Mund und Augen auf, als sie ihn auf sich zukommen sah, und verharrte in dieser Stellung, bis er direkt neben ihr stand. Dann endlich fand sie ihre Sprache wieder, sprang auf und streckte ihm beide Hände entgegen.
»Kent Murdock«, rief sie aus. »Wo kommst du denn her? Das ist ja zu schön, um wahr zu sein.«
»Tag, Helen.« Er nahm ihre Hände und lächelte ihr zärtlich zu. Sie war fast so groß wie er, schlank und grazil, hatte haselnussbraune Augen und kurzgeschnittenes, kastanienbraunes Haar, das sich an den Enden kräuselte. »Liebst du mich noch?«
»Du weißt doch, ich bete dich an«, erwiderte sie mit einem lustigen Funkeln in den Augen. »Aber woher kommt es, dass du hier bist? Gibt es eine Neuigkeit, die der Ledger übersehen hat?«
»Hoffentlich. Könntest du dich für eine Tasse Kaffee oder einen raschen Drink frei machen?«
»Eine Tasse Kaffee wäre herrlich.« Sie rief zu einem Mädchen hinüber, das am übernächsten Pult saß, dass sie in ein paar Minuten zurückkäme, hängte sich einen Tweedmantel um und schob ihren Arm unter seinen. »Gleich um die Ecke ist ein Café.«
»Das ist immer so, nicht wahr?«
»Was?«
»Dass gleich um die Ecke von einem Zeitungsverlag auch ein Café ist.«
»Gewöhnlich eine Bar«, meinte Helen. »Die gibt’s hier auch.«
Als beide in einer Ecke vor ihrem Kaffee saßen, unterzog Murdock sein Gegenüber freimütig einer kleinen Musterung. Er suchte nach Veränderungen, die zwei Ehejahre an ihr bewirkt haben mussten, und fand sie auch. Der Ausdruck der braunen Augen hatte sich vertieft, winzige Fältchen, die er vorher nie gesehen hatte» zeichneten sich in den Augenwinkeln ab. Sie strahlte eine geistige Kraft und Reife aus, die sie in jenem Sommer, als sie im Courier arbeitete, nicht besessen hatte.
»Nun?«, sagte sie.
»Erinnerst du dich an Tom Larsen?«, fragte er und meinte damit eine der berühmtesten Sportkanonen Bostons.
»Gewiss; er spielte früher in der Rugbymannschaft von Harvard.«
»Seit ein paar Jahren ist er Trainer, und uns ist zu Ohren gekommen, dass er mit den Universitätsbehörden hier verhandelt hat. Angeblich soll er drauf und dran sein, sich als Cheftrainer hierher zu verpflichten. Und ich bin herübergekommen, um ein paar Aufnahmen zu machen.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn misstrauisch an.
»Du bist doch Chefbildreporter da oben. Du hast sechs Fotografen, die für dich arbeiten.«
»Sieben.«
»Warum konnte denn nicht einer von denen kommen?«
»Genau das sagte ich auch zu Wyman.« T. A. Wyman war der Chefredakteur, von dem Murdock am Vormittag seinen Auftrag erhalten hatte. »Er sagte, ich würde die Sache besser machen, was ich wiederum bezweifelt habe und auch jetzt noch bezweifle. Er meinte aber, die Serienfotos, die er von den Fotoagenturen bekäme, seien nicht ausreichend; er brauche ein paar persönlichere Aufnahmen, die man zu einer Bildreportage verarbeiten könnte.«
Murdock machte eine lässige Handbewegung. »In der vergangenen Woche aß ich mit Wyman und deinem Onkel Walter zu Mittag. Wir sprachen über dich. Heute Morgen fragte ich Wyman deshalb, ob mein Auftrag vielleicht den Sinn hätte, mich hierherzuschicken, damit ich nachsehen könnte, wie es dir geht. Er verneinte das... Und wenn Wyman einmal nein sagt, bleibt es dabei, so sehr man auch in ihn dringt. Er war ja ein guter Freund deines Vaters und macht sich eben Sorgen um dich. Er hat dich sehr gern und...«
»Ich weiß«, sagte sie. »Mr. Wyman verschaffte mir die Stellung bei der Zeitung.«
»Vielleicht hat er die Wichtigkeit meines Auftrages tatsächlich ein bisschen übertrieben; aber ich weiß genau, Wyman ist der Meinung, es sei höchste Zeit, dass du dich mit deinem Onkel wieder verträgst, und er bat mich, ausfindig zu machen, wie die Dinge zwischen dir und deinem Mann stehen. In letzter Zeit ist ihm einiges zu Ohren gekommen... deinem Onkel Walter, meine ich. Er ist sich darüber im Klaren, dass er einen Fehler gemacht hat, und ist bereit, einzulenken.« Er brachte ein Lächeln zustande und fuhr in unverändertem Ton fort: »Ich bin sozusagen der Überbringer des Ölzweigs.«
»Ich verstehe.« Sie setzte ihre Kaffeetasse ab, und ein Ausdruck der Entschlossenheit veränderte ihre Züge. »Komm zurück, alles ist vergessen, ja?« Sie schüttelte den Kopf und sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Nun, mir geht’s doch sehr gut.«
»Ich habe aber etwas anderes gehört. Ich habe erfahren, dass Lee einem anderen Mädchen nachgestellt hat und dass du seit kurzem mit einem anderen Mann gesehen wirst... angeblich ziemlich regelmäßig. Er heißt Leonard, nicht wahr?«
Sie nickte mit abwesendem Blick: »Murray Leonard. Er arbeitet hier im Haus.«
»Magst du ihn?«
»Sehr.«
»Warum lässt du dich dann nicht von Lee scheiden? Das könntest du doch, nicht wahr?«
»Ich glaube schon. Vielleicht werde ich es auch tun... jetzt.« Sie nippte an ihrem Kaffee, und ihre Augen gingen durch ihn hindurch und spiegelten die Vergangenheit. »Weißt -du noch, wie alle Welt mich über Lee aufklären wollte? Man sagte, er sehe gut aus, und war einstimmig der Meinung, er habe eine Menge Charme. Man bemühte sich außerdem, mir klarzumachen, dass er weder ein solider noch ein besonders angenehmer Mitbürger sei. Er habe weder den Mut und die moralischen Skrupel noch die seelische Integrität, die ein Mädchen wie ich brauche, dessen Erfahrungen mit Männern sich hauptsächlich auf gleichaltrige Studenten beschränkten. Du hast mir auch ins Gewissen geredet, nicht wahr?« Sie seufzte und fuhr in bitterem Ton fort. »Aber damals hatte ich eben nur Augen für die charmante Oberfläche.«
Es folgten weitere Kommentare zu diesem Thema, und Murdocks Gedanken wanderten zurück, bis er vor seinem geistigen Auge das Bild des Mädchens erstehen sah, das er als Helen Dorrance gekannt hatte. In jenen Monaten, die sie beim Courier angestellt war, hatte sie ein gewisses Etwas in das Zeitungsbüro gebracht, das man nicht oft an solchen Orten fand, denn sie gehörte zu jenen Frauen, die auf Grund ihrer Herkunft und ihrer Erziehung selten in Geschäftsbüros arbeiten.
Es waren nicht nur ihr frischer Charme und ihre angenehmen Umgangsformen, die den übrigen auffielen, sondern auch die Art ihrer Körperhaltung, die Neigung von Nacken und Schultern, ihr unbewusst graziöser Gang. Eine gute Kinderstube und eine Erziehung in erstklassigen Schulen hatten ihr jene Vornehmheit verliehen, die von vielen, denen ebenso glückliche Lebensumstände versagt blieben, oft imitiert, aber nur selten erreicht wird. Trotz aller dieser Eigenschaften besaß sie jedoch eine vertrauensvolle Einstellung zum Leben und eine angeborene Unschuld, die zugleich bejahend und selbstsicher war. Ehrlich und ohne Umschweife ging sie an ein Problem heran, und da sie Eigenschaften wie List und Schläue selbst nie bedurft hatte, war sie auch nicht imstande, solche Charakterzüge in anderen zu erkennen.
All diese Umstände hatten es Lee Farnsley leicht gemacht, und Murdock wusste, dass sie die Wahrheit sprach, als sie sagte, ihre Erfahrungen seien auf Studenten ihres Alters beschränkt gewesen. In Farnsley war sie einem ränkevollen Mann begegnet, der ihre gute Klasse auf den ersten Blick erkannte und genau wusste, wo für ihn etwas zu holen war. Er war gerade um so vieles älter als sie, dass er sie mit oberflächlicher Lebensklugheit beeindrucken konnte, und er umgab sich mit einem Nimbus, der sie faszinierte.
Murdock bemerkte, dass sie immer noch zu ihm sprach, und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf ihre Worte. »Onkel Walter explodierte damals, als ich ihm alles erzählte. Es war melodramatisch und widerlich, sogar für mich, die ich in jener Zeit noch so unerfahren war. Es war eine von diesen berühmten Szenen: Nie mehr sollst du meine Schwelle betreten und heirate ihn, und du wirst keinen roten Heller von deinem Geld bekommen, bis du fünfundzwanzig Jahre alt bist.« Sie zuckte die Achseln und sah ihn an.
»Nun, ihr hattet alle recht. Das erfuhr ich in den ersten drei Monaten. Wenn mein Onkel vorher auch nur das leiseste Mitgefühl oder Verständnis gezeigt hätte, wäre ich wahrscheinlich artig zurückgekommen, bereit, meine Fehler einzugestehen und um Verzeihung zu bitten. Nach einiger Zeit hätte ich mich scheiden lassen und wieder von vorne anfangen können. Aber so - nenne es Stolz oder Dickköpfigkeit, oder was du willst -, so brachte ich es einfach nicht über mich, öffentlich meinen Irrtum zuzugeben. Vielleicht nur deshalb, weil alle anderen so recht gehabt hatten und ich so völlig unrecht.«
Murdock verstand sie gut. Da er Walter Dorrance kannte, fiel es ihm nicht schwer, sich seine Handlungsweise zu erklären. Er war ein äußerst erfolgreicher Anwalt beim Schwurgericht gewesen, bis er sich vor kurzem, in Erwartung eines Richterpostens, auf den er bald berufen werden sollte, fast gänzlich davon zurückgezogen hatte. Ein harter, aggressiver Mann, war er zugleich starrköpfig und unnachgiebig gegenüber allen, die sich ihm widersetzten. Er war weder taktvoll noch, diplomatisch - außer, wenn dies einer seiner Schachzüge vor Gericht verlangte, und dann geschah es in schlauer Berechnung - und besaß somit fast alle Eigenschaften, die materiellen Erfolg verbürgen. Unglücklicherweise war er jedoch weder mit sonderlich ausgeprägtem Mitgefühl für andere noch mit viel Verständnis für Frauen begabt, was vielleicht erklärte, warum er nie geheiratet hatte. Als Murdock nun die zartgeformten Umrisse von Helens Mund- und Kinnpartie betrachtete, sah er die innere Kraft, die sich dahinter verbarg, und erkannte, dass sie von den typischen Charakterzügen ihres Onkels genug geerbt hatte, dass ihre Handlungsweise daraus zu erklären war. »Verzeih«, sagte er, als er bemerkte, dass sie mit ihm gesprochen hatte. »Ich sagte, ich sehe immer noch nicht ganz ein, warum du zum Unterhändler auserwählt worden bist.«
»Dein Onkel hat viel nachgedacht in letzter Zeit«, erwiderte er. »Er sagte, du würdest ihm keine Antwort auf seine Briefe oder Telegramme geben!«
»Warum sollte ich auch?«
»Unterbrich mich nicht.«
»Verzeih.«
Murdock grinste, um seinen Tadel ins rechte Licht zu rücken. »Er weiß, dass es keinen Zweck hätte, selbst herüberzukommen, solange du nicht etwas aufgeschlossener bist.«
»Das verstehe ich«, meinte sie. »Ich wusste allerdings nicht, dass du mit Walter so eng befreundet bist.«
»Bin ich nicht - schau«, sagte Murdock geduldig, »dein Onkel Walter und Wyman gingen zusammen zur Schule. Sie waren auf der Hochschule im gleichen Semester, gehörten den gleichen Clubs an, spielen einmal in der Woche zusammen Bridge. Sie sind eng befreundet. Ich habe den Eindruck, Dorrance wusste, dass er allein nicht weiterkam, und wandte sich hilfesuchend an Wyman, der, wie ihm bekannt ist, große Stücke auf dich hält. Und beide waren offenbar so vernünftig, einzusehen, dass sie von niemandem verlangen konnten, die Nase in ein Eheproblem zu stecken, wenn der Betreffende nicht zufällig die Frau sehr gern mochte.« Er holte Luft und fuhr dann fort: »Und so fiel ihnen ein Mann namens Murdock ein. Die beiden Schlaumeier erinnerten sich - und damit hatten sie ganz recht -, dass Murdock alles tun würde, was in seinen Kräften stand, um zu helfen; nicht etwa, weil er sich auch nur einen Deut um deinen Onkel scherte, sondern weil er immer nur das. Beste für dich wünschte. Vermutlich setzten sie sich in den Kopf, du hättest mich einmal ganz gern gehabt. Gern genug jedenfalls, um dir diese meine Rede anzuhören und mir deine Sorgen anzuvertrauen.« Ein amüsiertes Lächeln erhellte kurz seinen Blick. »Du musst mich damals ab und zu mal zitiert haben.«
»Das tat ich auch. Ich habe dich sehr bewundert.«
Überlegend hielt sie abermals den Kopf schräg, als sie sich erinnerte, wie stark sie früher beeindruckt gewesen war von Murdocks Ruf und seinem guten Aussehen. Sie mochte seine gepflegten Hände, sein bedächtiges Lächeln, seine Art, verständnisvoll zuzuhören, die ihren Gesprächen immer eine persönliche und vertrauliche Note zu geben schien. Sie wusste jetzt, dass es eine kurze Zeit gegeben hatte, in der sie Murdock geliebt hatte, wenn sie dies auch nie zuvor und nicht einmal sich selbst eingestanden hatte.
Bei diesem Gedanken lächelte sie ihn an und sagte einfach und mit absoluter Aufrichtigkeit: »Und ich bewundere dich immer noch.«
Ihr Eingeständnis brachte Murdock jedoch nicht in Verlegenheit, da er sich in Gedanken noch mit seiner Beweisführung beschäftigte und nicht ahnte, wie ehrlich das Kompliment gemeint war.
»Nun, das war’s«, meinte er. »Seit einem halben Jahr ließ er dich und Lee von einem Privatdetektiv beobachten. Oh, nicht dauernd, aber von Zeit zu Zeit. Er glaubt zu wissen, wie die Dinge stehen, und ist gewillt, herüberzukommen und zuzugeben, dass er unrecht hat... wenn das noch etwas nutzen kann.«
Er beugte sich über den Tisch. »Wir wollen doch fair sein in der Sache. Er erzog dich von deinem dreizehnten Lebensjahr an, als dein Vater starb. Er gab dir immer nur das beste: die besten Schulen, die besten...«
»Vom Geld meines Vaters!«
»Na, schön. Vielleicht war er zu streng, aber das sind auch viele Eltern, die ihre Kinder lieben. Vielleicht hatte er kein Verständnis für die Frauen. Der springende Punkt ist doch, dass dir dein Vater etwa eine halbe Million Dollar hinterließ und deinen Onkel bis zu deinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr als Treuhänder einsetzte. Inzwischen ist das Vermögen auf etwa siebenhunderttausend Dollar angewachsen, nicht etwa, weil er so geschäftstüchtig gewesen wäre, sondern weil die Wirtschaftslage seit dem Tod deines Vaters einen Aufschwung genommen Hat. In weniger als einem Jahr bekommst du das alles - er braucht es ganz gewiss nicht -, und er macht sich eben Sorgen, dass du bei Lee bleiben könntest und Lee, sowie du das Geld in der Hand hast, so viel davon zusammenrafft, wie er nur kann.«
»Das glaube ich beinahe auch«, erwiderte sie zaghaft.
»Du weißt doch, was dein Onkel von Lee hält. Er kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass Lee bei dir Erfolg haben sollte, und ich muss sagen, das kann ich ihm auch nicht übelnehmen.«
Er schöpfte Atem. »Sieh mal, alles was dein Onkel von dir will, ist, dass du Lee abschiebst und dir einen netten Mann suchst, damit du dir ein Heim und eine Familie aufbauen kannst und glücklich wirst. Wenn Leonard dieser Mann ist, umso besser.« Er hielt inne und grinste, als ihm plötzlich klarwurde, wie beharrlich er sich der Sache annahm.
»Man könnte glauben, ich würde dafür bezahlt.«
Sie sah ihm geradewegs in die Augen; ihr Blick war sanft und ein wenig verschleiert, als sie die Hand ausstreckte und sie auf die seine legte. Sekundenlang schlossen sich ihre Finger warm und fest um seine Hand, dann ließ sie ihn los, schüttelte lächelnd den Kopf und zerdrückte ein paar unerwünschte Tränen.
»Nein«, meinte sie, »und ich möchte dir sagen, wie sehr ich zu schätzen weiß, dass du herübergekommen bist.«
Die ruhige Aufrichtigkeit ihrer Worte machte Murdock einen Augenblick lang verlegen. Er wollte ihr sagen, dass die Entscheidung bei ihr läge und sie sich nicht von seinen Worten, sondern nur von ihrem eigenen Urteil beeinflussen lassen dürfe.
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn, »und ganz abgesehen von allem, was du mir sagtest, hatte ich selbst eigentlich schon den gleichen Entschluss gefasst. Ich muss dir nämlich eingestehen, dass mein bewusster Stolz allmählich zu schrumpfen beginnt. Im Moment ist etwas viel zu tun im Büro, aber ich hatte vor, in etwa einem Monat nach Reno zu fahren.«
»Braves Mädchen; hast du es Lee schon gesagt?«
»Nein, aber ich werde es tun. Heute Abend rufe ich ihn an.«
Murdock nickte. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Wer ist denn die andere Frau?«
»Ich weiß nicht genau, wer es jetzt ist. Wie ich höre, hat er mit der vorherigen gebrochen. Die ist ein niedliches junges Ding. Spielt im Ebony-Club Klavier.« Murdock, der eben im Begriff war, die Rechnungen zu sich zu nehmen, hielt inne und starrte sie an. »Blond? Blauäugig? Eine etwas auffällige und kurvenreiche Dame?« Er sah, wie sie bejahend mit dem Kopf nickte, und staunte über das merkwürdige Spiel des Zufalls, während er der Szene in seinem Hotelzimmer gedachte.
»Wo kann ich Lee finden?«, erkundigte er sich. »Er arbeitet nicht mehr am Ledger, nicht wahr?«
»Seit einem Jahr nicht mehr. Er ist Reklameagent.« Sie zählte zwei oder drei Orte auf, an denen ihr Mann eventuell sein könnte, und Murdock notierte sich die Adressen. Danach gingen sie. zum Verlag zurück. In der Eingangshalle meinte Murdock, er wolle hinauffahren und Murray Leonard aufsuchen und bemerkte dabei, dass sich ihr Verhalten ihm gegenüber schlagartig änderte.
»Warum?«, fragte sie etwas misstrauisch.
Er tat, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. »Ich möchte ihn kennenlernen.«
»Ich möchte auch, dass du ihn kennenlernst. Aber... ich meine, warum essen wir heute nicht zusammen zu Abend, und ich stelle ihn dir dabei vor?«
Murdock erinnerte sich an seinen Termin bei Simon Rigby und sagte, er habe eine Verabredung. »Nun reg dich mal nicht so auf«, fuhr er fort, »Ich werde ja nichts verderben. Ich möchte ganz einfach bei ihm vorbeischauen und ihn begrüßen, so wie sich eben zwei Zeitungskollegen untereinander begrüßen. Morgen können wir dann alle zusammen ausgehen.« Er schüttelte sie ein wenig am Ellenbogen. »Wirst du wohl aufhören, dir Sorgen zu machen! Du kennst doch deinen alten Murdock, was?«
Kent Murdock hatte früher mit einem gewissen Eddie Sampson zusammengearbeitet, der jetzt am Ledger beschäftigt war, und dieser Eddie begrüßte ihn nun mit lärmender Bekundung seiner Zuneigung. Sie sprachen über alles Mögliche, bis Eddie über die gegenwärtigen Verhältnisse der Bostoner Presse wieder ganz im Bilde war. Schließlich sagte Murdock, seines Wissens arbeite ein Mann namens Murray Leonard bei ihnen, den er gern kennenlernen wolle.
»Selbstverständlich«, erwiderte Eddie. »Früher saß er hier draußen bei der Korrektur. Jetzt erscheinen seine Artikel noch in drei anderen Zeitungen im Staat. Er hat jetzt sogar ein kleines Privatbüro. Kommen Sie mit.«
Murray Leonard hatte sich in seinem Drehstuhl zurückgelehnt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Irgendwie suchte er seine Gliedmaßen zusammen - bei deren Länge eine ziemliche Arbeit - und stand auf, als Eddie die beiden einander vorstellte. Danach entfernte er einen Stoß von Korrekturabzügen von dem zweiten vorhandenen Stuhl und lud seinen Gast mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen.
Nachdem Eddie gegangen war, sprach Murdock über Leonards Artikel und hielt die Unterhaltung im Gang, während er den anderen prüfend betrachtete. Er wusste nicht genau, warum er eigentlich gekommen war, hielt aber an dem Gedanken fest, dass er nur dann zu einer objektiven Meinung über Leonard gelangen könnte, wenn er nicht von Helen Farnsleys Gegenwart beeinflusst wurde. Ohne sich mit der Frage aufzuhalten, ob er den Mann mochte oder nicht, musterte er ihn genau, Leonard war groß, nicht dick, aber starkknochig, und sah kräftig aus. Er hatte breite Handgelenke und große Hände, die leicht mit Sommersprossen bedeckt waren. Sein rötliches Haar wurde schon etwas dünn. Er sprach ruhig und bedächtig. Mit seiner recht teilnahmslosen Miene und den von einer dunkelrandigen Brille beschatteten Augen machte er den Eindruck eines Mannes, der sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen lässt. Irgendwie spürte Murdock jedoch, dass er auch recht hartnäckig und heftig werden konnte, wenn er einmal in Wut geriet.
Äußerlich jedenfalls war er genau das Gegenteil von Lee Farnsley. Man hätte ihn schwerlich einen gutaussehenden Mann und ebenso wenig einen Stutzer nennen können. Sein Anzug war von konservativer brauner Farbe und an den Ellenbogen und Knien etwas ausgebeult. Er trug einen unauffälligen Schlips und gutgearbeitete, aber nur nachlässig geputzte Schuhe. Trotzdem wirkte er solide und verlässlich, und obwohl er sich anscheinend keine Mühe gab, Eindruck zu machen, hatten seine Worte Hand und Fuß.
»Sie sind ein Freund von Helen Farnsley, nicht wahr?«, fragte er.
Murdock nickte. Und da er dem Mann gegenübersaß, den Helen vielleicht eines Tages heiraten würde, sprach er offen über seine Unterredung mit ihr. Er merkte jedoch, dass Leonard nicht mit allem, was er sagte, einverstanden war.«
»Ich kenne Walter Dorrance nicht«, erwiderte dieser grimmig. »Nur dem Namen nach. Und nach allem, was ich von Helen über ihn erfahren habe, glaube ich nicht, dass er mir gefallen wird, wenn ich ihn kennenlerne. Meiner Auffassung nach gehört er zu den Menschen, die es nicht vertragen können, wenn man ihre Pläne durchkreuzt. Er dachte, wenn er Helen kein Geld geben würde, käme sie winselnd zu ihm zurückgekrochen. Sie aber hat durchgehalten. Seit einem Jahr lebt sie getrennt von ihrem Mann und hat genug Stolz, zu arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Und in ungefähr sechs Monaten kriegt sie nun doch das Geld ihres Vaters, wenn sich Dorrance auch auf den Kopf stellt.« Er setzte sich im Stuhl zurecht und fuhr fort: »Ich kann mich ja täuschen, aber ich glaube nicht, dass er eine Versöhnung mit Helen wünscht, weil er sein weiches Herz für sie entdeckt hat. Ich glaube, er hat nur ein Ziel im Auge, und das ist seine Berufung an den Obersten Gerichtshof. Ich glaube, er wünscht Helens Rückkehr nur darum, weil er dann eine saubere Weste hat und niemand mehr mit dem Finger auf ihn zeigen kann, weil er sich die ganze Zeit über weigerte, ihr auch nur einen roten Heller von ihrem eigenen Geld auszuzahlen.«
Murdock widersprach ihm nicht, denn er sah ein, dass angesichts dieser festgefassten Meinung jedes weitere Wort sinnlos wäre. Leonard grollte Walter Dorrance, ohne ihn je gesehen zu haben, und es war nicht wahrscheinlich, dass er seinen Groll so bald wieder vergessen würde. Murdock fand hier seinen ersten Eindruck bestätigt, dass Leonard recht hartnäckig sein konnte, wenn es ihm einfiel.
Bemüht, das Thema zu wechseln, stand er auf und sagte, er habe noch einen kleinen. Auftrag zu erledigen. »Haben Sie etwas davon gehört, dass Tom Larson als Rugbytrainer hierherkommen soll?«
»Natürlich«, erwiderte Leonard. »Er hat heute Morgen den Vertrag unterschrieben. Wir brachten die Nachricht in der Frühausgabe.« Murdock blieb einen Augenblick lang stocksteif stehen, während nun in ihm der Groll hochstieg. Jetzt verstand er, dass der Auftrag, den ihm Wyman vormittags so ernsthaft erteilt hatte, nur ein Vorwand war, um ihn nach Uniontown zu schicken, damit er Helen Farnsley ins Gewissen redete. Er knöpfte seinen Mantel zu und bemühte sich, keine Erregung durchklingen zu lassen, als er sagte: »Na, mir scheint, hier hat man Murdock ausgestochen.« Und in Gedanken setzte er hinzu: Dieser verflixte Wyman!