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»Das Blut der Orks« ist der 7. Teil der humorvollen High-Fantasy-Saga von Bestseller-Autor Michael Peinkofer. Ein blutjunger Drachenkaiser, untote Zwerge und unfreiwillige Helden: Die Orks sind zurück! Eigentlich wollen die Ork-Könige Balbok und Rammar nach dem siegreichen Kampf um den Drachenthron nur auf ihre gute alte Insel zurückkehren. Stattdessen steht ihre Welt plötzlich Kopf, und zwar wortwörtlich: Beim Transport durch ein magisches Kristalltor geht etwas gründlich schief, und bald darauf finden sich die Brüder über einem dunklen Gewässer hängend wieder, in dem irgendetwas Unappetitliches lauert. Wie sich zeigt, haben es die Orks nicht nur mit einer alten Feindin, sondern auch mit einer Freundin aus früheren Zeiten zu tun - fragt sich nur, was schlimmer ist. Zumal, wenn auch noch untote Zwerge mitmischen und das Schicksal von ganz Erdwelt auf dem Spiel steht … Ein Fantasy-Epos voller Humor und Abenteuer Mit jeder Menge Spannung, Spaß und orkischem Humor schickt Michael Peinkofer Balbok und Rammar in ihr 7. Fantasy-Abenteuer. Die humorvolle High-Fantasy-Saga um die unfreiwilligen Welt-Retter ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Rückkehr der Orks - Der Schwur der Orks - Das Gesetz der Orks - Die Herrschaft der Orks - Die Ehre der Orks - Die Welt der Orks - Das Blut der Orks
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Seitenzahl: 518
Michael Peinkofer
Roman
Knaur eBooks
»Das Blut der Orks« ist der 7. Teil der humorvollen High-Fantasy-Saga von Bestseller-Autor Michael Peinkofer.
Ein blutjunger Drachenkaiser, untote Zwerge und unfreiwillige Helden: Die Orks sind zurück!
Eigentlich wollen die Ork-Könige Balbok und Rammar nach dem siegreichen Kampf um den Drachenthron nur auf ihre gute alte Insel zurückkehren. Stattdessen steht ihre Welt plötzlich Kopf, und zwar wortwörtlich: Beim Transport durch ein magisches Kristalltor geht etwas gründlich schief, und bald darauf finden sich die Brüder über einem dunklen Gewässer hängend wieder, in dem irgendetwas Unappetitliches lauert.
Wie sich zeigt, haben es die Orks nicht nur mit einer alten Feindin, sondern auch mit einer Freundin aus früheren Zeiten zu tun - fragt sich nur, was schlimmer ist. Zumal, wenn auch noch untote Zwerge mitmischen und das Schicksal von ganz Erdwelt auf dem Spiel steht …
Ein Fantasy-Epos voller Humor und Abenteuer
Mit jeder Menge Spannung, Spaß und orkischem Humor schickt Michael Peinkofer Balbok und Rammar in ihr7. Fantasy-Abenteuer. Die humorvolle High-Fantasy-Saga um die unfreiwilligen Welt-Retter ist in folgender Reihenfolge erschienen:
Die Rückkehr der Orks
Der Schwur der Orks
Das Gesetz der Orks
Die Herrschaft der Orks
Die Ehre der Orks
Die Welt der Orks
Das Blut der Orks
Karte
Handelnde Personen
Prolog
RURASH
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
BLAR
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
LORG
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
Epilog
Anhang
Balbok und Rammar, Ork-Brüder
Aderyn, Kriegsherrin, Oberhaupt des Rates der Ewigen
Beeka, eine junge Kriegerin
Chulain, ihr Bruder, General der kaiserlichen Armee
Drel, eine Baumkreatur
Durwain, oberster Berater des Drachenkaisers
Enok, der neue Drachenkaiser
Evan, ein Wechselbalg
Finras, einst Widerstandskämpfer, jetzt Kronrat
Glesa, einst Schankwirtin, jetzt Kronrätin
Gullwyn, ein Fischmann
Hirulon, Lady Aderyns Berater
Kelon, Lady Aderyns Chronist
Kilif Rattenzahn, kaiserlicher Leibwächter
Logras Narbengesicht, kaiserlicher Leibwächter
Mirra, Offizierin der kaiserlichen Armee
Nemion, ergebener Diener, ein Zwerg
Pyaras, Kapitän der Gorwal
Raybert, sein Erster Offizier
Riek, Zweiter Maat der Gorwal
Turpin, Erster Maat der Gorwal
Syola, eine Reisende
Die Sonne war am Horizont versunken.
Die Nacht brach herein, senkte sich über die steingemauerten Gebäude, die sich entlang der Kais und der Wasserwege erstreckten, und über die zahllosen Schiffe, die dort vor Anker lagen, von kleinen Fischerbooten über die Karavellen der Händler bis hin zu den mächtigen Galeonen. Ein Wald von Masten zeichnete sich gegen das tiefe Rot ab, das den Himmel im Westen gefärbt hatte und nun allmählich verblasste. Und mit den Sternen, die nun hier und dort im violetten Mantel der Nacht aufblitzten, loderten auch die Flammen der unzähligen Talglichter, Öllampen und Laternen auf, die allerorten entzündet wurden. Sie machten die Nacht für all jene, die entlang der Piers Vergnügen und Zerstreuung suchten, zum Tag. Tavernen und Freudenhäuser öffneten ihre Pforten, die kühle Nachtluft war erfüllt vom Geruch gesottenen Fleisches und dem lockenden Gekicher der Huren.
Dies war ganz sicher nicht mehr der Hafen, von dem aus die Söhne Sigwyns einst in See gestochen waren und ihre Reise nach den Fernen Gestaden angetreten hatten; wenn es ein solches Goldenes Zeitalter überhaupt je gegeben hatte – was Pyaras stark bezweifelte –, so lag es in ferner Vergangenheit.
Vom Elfenstolz war wenig geblieben, außer ein paar steinernen Gebäuden, die den Glanz der alten Zeit noch ein wenig erahnen ließen – jedenfalls dort, wo sie nicht als Steinbrüche missbraucht oder durch grobe Anbauten aus Holz oder Stein verändert worden waren. Die neue Zeit überlagerte die alte, kroch und wucherte darüber hinweg. Seepocken gleich, die sich am Kiel eines Schiffes festgesetzt hatten …
»Darf’s noch was sein, Fremder?«
Pyaras sah von dem Bierkrug auf, in den er gedankenverloren gestarrt hatte. Die lärmende Umgebung – das Stimmengewirr und das derbe Gelächter, der Flötenklang und der metallische Rhythmus des Tamburins, zu dem mehr oder weniger bekleidete junge Frauen auf Tischen tanzten, zur hellen Freude der geifernden Zuschauer – hatte er für einen Moment völlig vergessen. Was vermutlich daran lag, dass dies schon sein vierter Humpen Bier war.
Wenn Pyaras zu viel getrunken hatte, wurde er bisweilen grüblerisch, verlor sich in seinen Gedanken. Nun jedoch wurde er sich des Ortes jäh wieder bewusst … des von rußgeschwärzten Bogen getragenen Gewölbes, das vom Schein der Öllampen beleuchtet wurde; der Nische, in der er auf einer grob gezimmerten Holzbank hockte; der warmen Luft, die nach Bier und Schweiß und Sünde roch.
Mit bereits etwas schwerem Blick sah Pyaras an der Gestalt empor, die vor seiner Nische aufgetaucht war. Sie war eine Schönheit, mit üppigen Rundungen und wildem rotem Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte. Ihr Kleid war ein grünes Nichts aus dünner Seide, an den Hüften so gerafft, dass es die endlos langen Beine wie beiläufig enthüllte.
»Ich habe gefragt, ob es noch etwas sein darf«, wiederholte sie, wobei ihr Lächeln ziemlich genau erklärte, worin dieses Etwas bestehen sollte.
Pyaras zögerte. Er war erst zwei Tage wieder an Land und hatte sich vorgenommen, die letzte Heuer nicht gleich wieder auszugeben. Andererseits war die Fahrt von Arun herauf lang gewesen und die Nächte in der Kajüte einsam …
Statt einer Antwort grinste er nur, worauf ihr Lächeln noch breiter wurde und sie sich auf seinen Schoß setzte und die schlanken Arme um seinen Nacken legte. Ihr süßlicher Duft hüllte ihn ein und benebelte seine Sinne noch zusätzlich, und was sie ihm ins Ohr flüsterte, ließ die Hoffnung auf eine Nacht aufkommen, die sehr viel weniger einsam werden würde als jene, die hinter ihm lagen. Er war gewillt, seinen Krug mit dem schal gewordenen Bier im Stich zu lassen und ihr nach oben in ihre Kammer zu folgen – doch dazu kam es nicht.
»Leutnant Pyaras?«
Die Stimme war unangenehm und ein wenig quäkend, wahrscheinlich war sie deshalb durch den Lärm und die Musik hindurch zu hören. Aber Pyaras wollte nicht hinhören. Wollüstig vergrub er sein Gesicht zwischen den Brüsten der Dirne in der Hoffnung, dass er dort seine Ruhe finden würde.
»Leutnant Pyaras«, beharrte die Stimme, jetzt so energisch, dass diesem keine Wahl blieb, als aufzusehen.
»Ja doch, verdammt«, maulte er mit vom Alkohol schwerer Zunge. »Ich bin beschäftigt.«
»Das ist offenkundig.« Der Blick, mit dem der Störenfried zuerst Pyaras und dann die beinahe entblößte Brust des Freudenmädchens bedachte, war unverhohlen despektierlich.
»Verdammt, wer … wer bist du?« Pyaras musste die Augen mehrmals zusammenkneifen, bis sie sich auf die kleine Gestalt fokussierten, die vor seinem Tisch stand.
Es war ein Zwerg – oder jedenfalls hatte der Kerl Zwergenblut in seinen Adern –, doch unterschied er sich grundlegend von allen anderen Söhnen und Töchtern Winmars, denen Pyaras je begegnet war. Das Alter des Fremden war unmöglich zu schätzen, denn zwar hatte sein Haar die Farbe von Gischt, doch trug er keinen Bart. Im Gegenteil, sein Kinn war so glatt wie ein frisch geteerter Schiffsrumpf, was ihm trotz seines in Wahrheit wohl fortgeschrittenen Alters einen recht jugendlichen Anschein gab. Seine Kleidung, die aus einem nach der neuesten Mode geschnittenen Mantel und gestreiften Pluderhosen bestand, ließ ihn aussehen wie einen Gecken. Das Symbol, das in Höhe des Herzens auf den Mantel gestickt war – eine blaue Blume –, verstärkte diesen Eindruck noch.
»Mein Name ist Nemion«, stellte sich der Zwerg vor. »Ich bin hier im Auftrag meiner Herrin.«
»Tut mir leid, Kleiner.« Pyaras setzte ein unverschämtes Grinsen auf. »Für heute Nacht bin ich schon beschäftigt. Deine Herrin wird sich gedulden müssen.«
Die Dirne kicherte, und Pyaras hielt die Sache damit für erledigt, wollte den Halbhohen einfach stehen lassen und endlich mit der Dame seiner Wahl nach oben gehen – doch der Zwerg hielt ihn zurück. Wortlos legte er ein Geldstück auf den Tisch.
»Was ist das?«, fragte Pyaras dümmlich.
»Gold«, erklärte Nemion. »Sie können es gerne überprüfen.«
Pyaras griff nach dem gelben Stück Metall, biss flüchtig hinein und betrachtete den Abdruck seiner Zähne. Der lästige Zwerg schien tatsächlich die Wahrheit zu sagen.
»Das schickt Euch meine Herrin«, erklärte er dazu. »Es ist eine Anzahlung.«
»Soso. Und wofür?«
»Sie bedarf Eurer Dienste … als Seemann«, fügte der Zwerg der Korrektheit halber hinzu, wobei er Pyaras’ Begleiterin abermals einen geringschätzigen Blick schenkte. »Aus diesem Grund wünscht sie Euch zu sprechen – und zwar auf der Stelle.«
»Jetzt?« Pyaras starrte ihn an. »Aber ich bin gerade erst wieder an Land gekommen!«
»Das ist uns bekannt«, bestätigte der Zwerg mit einer Bestimmtheit, die Pyaras unangenehm berührte. Das Gefühl überkam ihn, dass der kleine Kerl mit der großen Klappe noch sehr viel mehr wusste, als er sagte. »Wo dies herkommt«, fügte Nemion hinzu, auf das Goldstück deutend, »gibt es noch sehr viel mehr für Euch zu verdienen.«
Pyaras stieß eine Verwünschung aus. »Und was soll ich dafür tun?«
»Nicht hier. Meine Herrin wird Euch alles sagen, was Ihr wissen müsst. Aber dazu müsst Ihr mich begleiten.«
Pyaras’ Schädel brummte und seine Zunge war schwer, er fühlte sich weder in der Lage noch hatte er Lust, Verhandlungen zu führen. So wie er auch kein Verlangen danach verspürte, gleich wieder in See zu stechen. Andererseits – ein Auftraggeber, der mit purem Gold bezahlte, war einfach zu selten geworden in diesen Tagen …
»Süßer, was ist jetzt mit uns?« Die Schöne auf seinem Schoß zog einen Schmollmund. »Ich habe schließlich nicht die ganze Nacht Zeit, wenn du verstehst …«
Pyaras überlegte, dann fällte er eine Entscheidung. »Doch, Schätzchen, hast du«, widersprach er, schob sie von seinen Oberschenkeln und erhob sich schwerfällig. Und noch ehe Nemion etwas dagegen unternehmen konnte, hatte Pyaras der Dirne schon das Goldstück in die Hand gedrückt. »Ist deine Glücksnacht heute«, knurrte er dabei.
»Wie könnt Ihr?«, fragte der Zwerg entsetzt, während das Mädchen in hysterische Begeisterung ausbrach.
»Du hast gesagt, dass Deine Herrin noch mehr davon hat, oder nicht?«
»Aber das Geld war doch noch nicht Euers!«
»Und wenn schon.« Pyaras zuckte mit den Schultern und deutete grinsend nach der verblüfften Dirne. »Jetzt gehört es jedenfalls ihr. Geh schon mal nach oben und halte das Bett für uns warm, Schätzchen. Ich komme nach, sobald ich kann«, fügte er mit einem letzten bedauernden Blick auf ihre wohlgeformten Brüste hinzu. Dann griff er zu dem großen Hut mit dem Federbusch, der am Wandhaken über dem Tisch hing, und setzte ihn auf. Den Gurt mit dem Entermesser legte er ohnehin nur bei wenigen Gelegenheiten ab. »Nach dir, Zwerg«, meinte er und gab mit einer galanten Geste den Weg frei.
Das Mienenspiel, das über Nemions kahle, von grauem Haar umrahmte Züge huschte, verriet nicht gerade Begeisterung. Dennoch leistete er der Aufforderung Folge und ging voraus. Mit für seine Körpergröße beachtlicher Durchsetzungskraft bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Pyaras folgte ihm in seinen ledernen Stulpenstiefeln, vorbei an tanzenden Dirnen, grölenden Matrosen und raufenden Orks, die sich im Hafen als Tagelöhner verdingten und hier ihr Geld versoffen.
Die Nachtluft, die sie draußen empfing, war mild und klar und vertrieb ein wenig die Benommenheit des Alkohols. »Und nun?«, fragte Pyaras seinen eigentümlichen Führer. »Wohin soll es gehen?«
»Dort entlang«, erwiderte der Zwerg und bog in eine der angrenzenden Gassen ein. Auch nach den vier Krügen Bier, die er intus hatte, entging Pyaras nicht, dass es die schmalste und dunkelste von allen war.
»Bist du sicher?«, fragte er. »Ich warne dich, Zwerg. Wenn das ein Trick ist und du mich in einen Hinterhalt zu locken versuchst, damit deine Kumpane mich überfallen und ausrauben können, kriegst du blanken Stahl zu schlucken.«
»Ihr, Leutnant«, rief der andere ungerührt über die Schulter zurück, »habt nichts, das ich begehre, und in meiner rechten Rocktasche befindet sich mehr Geld, als Ihr je besessen habt. Warum meine Herrin sich ausgerechnet für Euch entschieden hat, ist mir ein Rätsel. Wie sie auch immer …«
Er unterbrach sich, als er das plätschernde Geräusch hinter sich vernahm. Pyaras hatte ein dringendes Bedürfnis verspürt und erleichterte sich gegen die Wand der Gasse.
»Ein absolutes Rätsel«, betonte der Zwerg, ehe sie weitergingen, ein gutes Stück die Gasse hinab, in der es beinahe stockdunkel war. Nur ein schmaler Streifen Sternenhimmel hoch über ihren Köpfen wies ihnen den Weg. Sie erreichten eine steile, steingemauerte Treppe, die Nemion eilig emporstieg. Pyaras folgte ihm, wenn auch mit langsameren Schritten und infolge des Alkohols heiser keuchend, eine Hand am Griff der Klinge.
An die hölzerne, eisenbeschlagene Tür, die sie schließlich erreichten, klopfte sein kleinwüchsiger Führer mehrmals und nach einem eigenartigen Rhythmus. Einige Augenblicke verstrichen, dann wurde der Riegel auf der anderen Seite zurückgezogen. Die Tür schwang auf, und Nemion forderte Pyaras auf, ihm ins Innere zu folgen.
Pyaras nahm den Hut ab und tauchte unter dem tiefen Sturz hindurch. Anders als er erwartet hatte, stand kein Diener hinter der Tür – wer also hatte sie geöffnet?
Es blieb ihm keine Zeit, darüber nachzudenken, er hatte Mühe, dem Zwerg auf den Fersen zu bleiben, der wieselflink einen kurzen Gang durchschritt. Der Raum am anderen Ende hatte eine niedrige, von Holzbalken getragene Decke. Ein Feuer in einem gemauerten Kamin war die einzige Lichtquelle, sein Schein beleuchtete die Einrichtung, die aus einer großen Seemannskiste und einem langen Tisch mit dazugehörigen Stühlen bestand. Die hintere Hälfte des Tisches lag jenseits des Lichtscheins in unergründlicher Schwärze. Denoch glaubte Pyaras, in der Dunkelheit eine schemenhafte, kapuzenverhüllte Gestalt zu gewahren, die dort zu warten schien …
»Leutnant Pyaras.«
»Wer will das wissen?«
»Mein Name ist Syola«, erwiderte die Gestalt. Ihre Stimme war die einer alten Frau, sanft und voller Weisheit. Doch ließ sie auch erkennen, dass die Dame, die jenseits des Feuerscheins im geheimnisvollen Dunkel saß, Widerspruch nicht gewohnt war – und ihn wohl auch nicht gelten ließ. Nemion trat vor den Kamin und legte einige Holzscheite nach, so als wollte er demonstrieren, dass ihn das Gespräch von nun an nichts mehr anging …
»Syola«, echote Pyaras, »und wie weiter? Kein Haus? Kein Titel? Woher kommt Ihr?«
»Das alles braucht Ihr nicht zu wissen«, lautete die ebenso schlichte wie endgültige Antwort. »Wenn Ihr nicht bleiben wollt, so steht es Euch jederzeit frei zu gehen. Falls Ihr Euch jedoch anhören wollt, was ich vorzuschlagen habe, so lasst die umständliche Fragerei und setzt Euch.«
Trotz des Alkohols, den er noch immer spürte und der ihn für gewöhnlich mutiger werden ließ, zögerte Pyaras. Natürlich, da war der Gedanke an das Gold, das der Diener der Alten auf den Tisch gelegt hatte. Aber es war auch etwas an dieser schemenhaften Gestalt, das ihn verunsicherte, mehr noch, das ihm Angst einjagte. Eine abergläubische Art von Furcht, die ihm tief unter die Haut ging …
Wer war dieses alte Weib? Wieso zeigte sie nicht ihr Gesicht? Und wer, verdammt noch mal, hatte ihnen vorhin die Tür geöffnet?
Trotz seiner Bedenken ertappte er sich dabei, dass er am Ende des Tisches Platz nahm. Vielleicht war es Neugier, die ihn dazu veranlasste, vielleicht auch die Aussicht auf das Gold. Möglicherweise hatte er auch nur weiche Knie.
»Ich kenne Euch, Leutnant«, drang es ihm aus der Dunkelheit entgegen.
»Wie kann das sein? Woher?«
»Ihr fragt schon wieder«, spottete die Alte. »Ich beobachte Euch schon eine ganze Weile. Seit Eurem dreizehnten Lebensjahr fahrt Ihr zur See. Zunächst auf kleineren Schiffen, später auf den Handelsrouten, habt Euch vom Schiffsjungen zum Offizier der Merkatorenflotte emporgedient.«
»Aye«, bestätigte Pyaras murmelnd und wusste nicht, ob er geschmeichelt oder bestürzt sein sollte, dass sein Gegenüber das alles wusste.
»Wie würde es Euch gefallen, ein eigenes Kommando zu führen?«, fragte sie unvermittelt.
»E-ein Kapitän? Ich?«
»Wie ich gehört habe, ist der Kommandant Eurer letzten Fahrt dem Arunfieber zum Opfer gefallen, sodass es an Euch lag, das Schiff sicher nach Hause zu bringen.«
Pyaras schnaubte. Er hatte die Sache nicht an die große Glocke gehängt und das Kontor, für das der Kahn gefahren war, ganz sicher auch nicht. Wie also …?
»Wie ich schon sagte, ich beobachte Euch. Und deshalb glaube ich, dass ich in Euch den passenden Kommandanten für das Unternehmen gefunden habe, das ich plane.«
»Was für ein Unternehmen? Ich weiß, es ist eine Frage.«
»Eine Expedition.«
Pyaras schnaubte abermals. »Ich bin kein verdammter Forscher.«
»Offen gestanden glaube ich, dass Ihr noch zu jung seid, um beurteilen zu können, was Ihr tatsächlich seid und was nicht«, lautete die rätselhafte Antwort. »Was wisst Ihr über den Rand der Welt, Leutnant? Über die letzte Grenze?«
»Über die letzte …?« Pyaras verstummte, schickte einen misstrauischen Blick in die Dunkelheit jenseits des Feuerscheins. »Ihr habt mich mitten in der Nacht zu Euch gerufen, um Euch über mich lustig zu machen.«
»Durchaus nicht. Was also habt Ihr darüber gehört?«
»Nun, was jeder Seemann weiß … dass die Große See tief im Süden begrenzt ist, von einer undurchdringlichen Barriere aus Nebel und Dunkelheit. Wir Seefahrer nennen sie den ›Grauen Wall‹ …«
»So ist es«, bestätigte Syola leise. »Habt Ihr Euch je gefragt, was jenseits dieses Walls liegt?«
»Das brauche ich nicht, denn das ist allgemein bekannt«, versicherte Pyaras im Brustton. »Gar nichts. Der Wall verbirgt das Ende der Welt. Wer ihn zu überwinden sucht, der stürzt mit Mann und Maus über den Rand in unendliche Tiefen.«
»Wusstet Ihr, dass sich jedes Volk und jede Kultur Erdwelts ihre eigene Geschichte darüber erzählt, was sich jenseits des Grauen Walls befindet? Die Orks in ihrer Schlichtheit zum Beispiel glauben, dass die dunkle Grube ihrer Gottheit Kurul jenseits des Nebels lauert. Für die Zwerge hingegen«, fuhr die Alte fort, wobei sie einen Blick in Nemions Richtung zu werfen schien, »ist der Weltenrand nur ein weiterer dunkler Abgrund, den zu überschreiten sie jedoch nie den Mut hatten. Und auch die Menschen, trotz all ihrer Neugier und dem Wissensdurst, die ihnen innewohnen, haben es nie gewagt, sich dieser letzten Grenze zu nähern.«
»Das stimmt nicht ganz«, fühlte sich Pyaras genötigt, zu widersprechen. »Im Lauf der Jahrhunderte gab es immer wieder Verrückte, die es versucht haben. Aber keiner von ihnen ist je zurückgekehrt …«
„… was im Umkehrschluss bedeutet, dass niemand etwas mit Bestimmtheit darüber sagen kann, nicht wahr?«, folgerte Syola. »Die Letzten, die die Wahrheit kannten, waren wohl die Elfen.«
»Möglich. Wenn es so war, so haben sie ihr Wissen mit sich genommen, als sie Erdwelt verließen. Und vielleicht hatten sie ja auch einen guten Grund dafür.«
»Was wollt Ihr andeuten?«
Pyaras überlegte. »Dieser Nebel«, sagte er dann, »befindet sich dort sicher nicht ohne Grund. Wie es heißt, ist der Blick in jenen Abgrund so schrecklich, dass jedes sterbliche Wesen dabei augenblicklich den Verstand verliert.«
»Oder«, hielt die Alte dagegen, »es handelt sich nur um eine Geschichte, einen Mythos, seit Jahrhunderten verbreitet, um die Sterblichen von dem fernzuhalten, was sich hinter der Barriere befindet.«
»Da ist nichts.«
»Seid Ihr davon wirklich überzeugt? Oder ist es nur die Furcht, die aus Euch spricht, Leutnant? Bereits Euer ganzes Leben lang sucht Ihr nach Antworten, fragt nach Eurer Herkunft und Eurer Bestimmung, nach dem Sinn Eures Daseins. Doch wie alle Menschen, die sich diese Fragen stellen, begleitet Euch stets auch die furchtsame Ahnung, dass Ihr die Antwort darauf womöglich nicht ertragen könntet …«
»I-ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht«, bekannte Pyaras, dem bereits der Kopf schwirrte von all den bedeutungsschwangeren Worten.
»Dann lasst es mich anders ausdrücken: Wie würde es Euch gefallen, trotz Eurer jungen Jahre Kapitän zu werden und ein eigenes Kommando zu führen? Nicht nur über ein eigenes Schiff, sondern über drei: eine Expeditionsflotte, die zum Ziel hat, jenes letzte Geheimnis zu ergründen.«
»Ich soll für Euch zum Rand der Welt segeln.«
»Und darüber hinaus.«
»Ist das Euer Ernst? Das ist das Kommando, das Ihr mir anbieten wollt?«
»Bislang machtet Ihr nicht den Eindruck, als hörtet Ihr schlecht.«
Pyaras schnitt eine Grimasse und pfiff dabei spöttisch durch die Zähne. »Kein Wunder, dass Euer Diener gewartet hat, bis ich besoffen war.«
»Die späte Stunde ist den Vorsichtsmaßnahmen geschuldet, die ich treffen muss«, entgegnete die alte Syola rätselhaft. »Und natürlich werdet Ihr für Eure Dienste zur See mehr als reich entlohnt werden. Welche Antwort habt Ihr also für mich?«
Einigermaßen fassungslos starrte Pyaras in das Halbdunkel. Dann erhob er sich. »Die Antwort, dass Ihr verrückt seid«, knurrte er dabei. »Behaltet Euer Geld – ich habe nichts davon, wenn ich tot und zerschmettert auf dem Weltengrund liege.«
»Ich habe geahnt, dass Ihr so etwas sagen würdet.« Erneut schien sie sich ihrem Diener zuzuwenden, der daraufhin an die große Seemannskiste trat, sie quietschend öffnete und etwas herausnahm. Es war ein lederner Köcher, wie man ihn zur Aufbewahrung von Seekarten benutzte. Nemion entnahm ihm eine Pergamentrolle, die er vor Pyaras auf den Tisch legte.
»Was soll das sein?« Längst schalt er sich einen Narren dafür, dass er die Dirne allein gelassen hatte. Verdammte Zeitverschwendung. Und vermutlich würde ihr nicht im Traum einfallen, das bereits bezahlte Goldstück nachträglich mit ihren Diensten aufzuwiegen.
»Seht selbst, fragender Pyaras«, verlangte die Alte, worauf er fluchend nach dem Pergament griff und es entrollte.
Es war eine Karte der Großen See.
Am oberen Rand war die vertraute Südküste des Kontinents mit den vorgelagerten Inseln zu erkennen, im Osten die Landmasse Aruns.
Doch etwas war anders.
Während alle anderen Karten, die Pyaras je gesehen hatte, am unteren Rand den Vermerk penambar getragen hatten – das alte elfische Wort für den Rand der Welt –, oftmals mit Totenköpfen oder anderen warnenden Symbolen versehen, reichte diese Karte weiter nach Süden als alle anderen. Und als wäre das noch nicht seltsam genug, war am unteren Rand eine weitere Küstenlinie verzeichnet …
»Was soll das darstellen?«, entfuhr es ihm verblüfft.
»Das, was sich jenseits des Nebels befindet.«
Er zuckte zusammen, denn die Stimme war jetzt plötzlich neben ihm. Die dunkle Gestalt hatte ihren Platz am anderen Ende des Tisches verlassen und war unbemerkt neben Pyaras getreten.
Und in diesem Moment, als sie sich ihm zuwandte und der Schein des Kaminfeuers sie erfasste, sah er ihr Antlitz.
Buch I:
(Die Suche)
»Rammar!«
Mit einem Aufschrei erwachte Balbok. Keuchend schnappte er nach Luft. Sein Herzschlag raste, sein grüner Schädel schmerzte, als wollte er platzen.
»Ja doch, was ist los?«
Mit Erleichterung vernahm der hagere Ork die Stimme seines Bruders. Wirklich sehen konnte er ihn im Halbdunkel nicht, aber er schien sich ganz in der Nähe zu befinden. Balbok konnte die marlige Mischung aus kaltem Schweiß, speckigem Leder und ranzigem Fett riechen, die seinen Bruder stets umgab.
»Da … da war dieses Gesicht«, stammelte Balbok. »Es gehörte einer Frau, sie war alt, uralt … und doch jung.«
»Was du nicht sagst. Alt und jung also.«
»Korr, und da waren ihre Augen … sie hat mich damit angestarrt!«
»Das war ein Albtraum, du Trollgeburt!«
»Ein Albtraum?«
Balbok war ehrlich verblüfft – dieser Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen. Aber natürlich hatte sein Bruder recht, schließlich hatte er geschlafen, und gerade, wenn man am Abend zuvor zu viel bru-mill gefressen hatte, konnte es durchaus vorkommen, dass man …
Die Sache war nur – Balbok hatte keinen bru-mill verspeist. Überhaupt war es schon ziemlich lange her, dass man ihnen einen herzhaften orkischen Magenverstimmer zubereitet hatte. Und noch etwas war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte …
Eben noch hatte Balbok Erleichterung darüber verspürt, dass die von Falten zerfurchte Schreckgestalt nur einem Traum entsprungen sein sollte. Doch jetzt, da sich seine Augen allmählich an das spärliche Licht gewöhnten, dämmerte ihm, dass die Wirklichkeit nicht viel rosiger aussah.
Alles war verkehrt herum:
Das Felsgestein, das sie umgab und an dem glänzende Rinnsale nach oben krochen statt nach unten. Rammars faltash, der nicht wie sonst senkrecht herunterhing, sondern spitz wie ein Dolch auf Rammars fettem, ansonsten kahlem Schädel stand. Und schließlich die spiegelnde Fläche schwarzen Wassers, die die Decke über ihren Köpfen bildete …
»Da stimmt was nicht, Rammar.«
»Ich bin beeindruckt, umbal! Wenn du damit meinst, dass wir an eisernen Ketten kopfüber in einem Schacht hängen, der sich langsam mit dieser dunklen Brühe füllt, dann könntest du zum allerersten Mal in deinem nutzlosen Leben etwas Sinnvolles gesagt haben!«
Er hatte so laut gebrüllt, dass es von den Schachtwänden widerhallte. Jedes einzelne Wort dröhnte wie ein Hammerschlag in Balboks Schädel, der elend schmerzte … was vermutlich auch der Tatsache geschuldet war, dass sie verkehrt herum hingen.
»Wie lange geht das schon so?«, wollte er wissen.
»Wie lange das schon so …?« Rammar, der nur eine Armlänge von ihm entfernt baumelte, sah ihn entnervt an. »Was ist los mit dir? Haben sie dich am Kopf getroffen, dass du dich nicht erinnerst?«
»Na ja, ich …« Noch während Balbok sprach, kehrten seine Erinnerungen zurück. Besonders angenehm war allerdings keine davon.
Die Bucht.
Das Schlachtfeld.
Der Flug.
Das Elfenweib.
Kein Wunder, dass er schlecht geträumt hatte …
»Und vor allem ist es mal wieder ganz allein deine Schuld, dass ich das hier erdulden muss«, warf sein Bruder ihm vor.
»Aber Rammar, ich wollte doch nur …«
»Wie oft schon hast du uns einen bru-mill eingebrockt, den ich dann wieder auslöffeln durfte?«, fuhr der dicke Ork in seinem Lamento fort. »Aber das eine sage ich dir, du langes Elend: Diesmal ist endgültig Schluss! Das war das allerletzte Mal, dass du Halbhirn mich in Schwierigkeiten gebracht hast, das ist so sicher wie die Nacht nach dem Tag!«
»A-aber wieso denn?«, fragte Balbok kleinlaut. »Du wirst mich doch nicht allein lassen wollen? Ich bin immerhin dein Bruder …«
»Erinnere mich bloß nicht daran«, grunzte Rammar. »Aber darum geht es nicht – sondern eher darum, dass wir beide schon bald nicht mehr am Leben sein werden. Und sosehr ich es bedaure, in Kuruls dunkle Grube springen zu müssen, habe ich dort wenigstens meine Ruhe vor dir. Zumal es dich langes Elend noch vor mir erwischen wird.«
Balbok wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, zumal Rammar nur zu recht hatte: Die Decke aus Wasser, die sich über – beziehungsweise unter – ihnen erstreckte, hatte sich allein im Lauf ihres Wortwechsels merklich genähert. Allzu lange würde es nicht mehr dauern, dann würden ihre Köpfe eintauchen, und sie würden in diesem dunklen Pfuhl elendig ersaufen. Und da Balbok der Größere der beiden war und sein Kopf tiefer hing, würde ihm diese Ehre zuerst zuteilwerden …
»Aber Rammar«, wandte er ein. »Ich will nicht sterben. Und so schon gar nicht.«
»Das glaube ich dir sofort, Feigling. Ist aber kein Wunschkonzert hier. Die haben beschlossen, uns elend verrecken zu lassen, und daran kann weder ich noch du etwas …«
»So muss es nicht enden«, drang eine Stimme zu ihnen herüber. Das Echo im Schacht verstärkte sie noch, sodass sie vielfach in den Ohren der Orkbrüder dröhnte.
»Wer hat da gesprochen?« Rammar versuchte hinaufzusehen, aber sowohl sein praktisch nicht vorhandener Hals als auch sein feister Körper hinderten ihn daran. »Kannst du was sehen?«, fragte er deshalb seinen hageren Bruder.
»Douk.« Balbok schüttelte den Kopf, was bei all dem Blut, das sich darin angesammelt hatte, höllisch wehtat. Tatsächlich konnte er über sich nichts erkennen als die rostigen Ketten, die in ungeahnte Höhe reichten. Und irgendwo über ihnen blakender Fackelschein.
»Wer ist da?«, rief Rammar deshalb hinauf. Seine Stimme hörte sich an, als würde sie aus einem tiefen Brunnen gurgeln … was im Grunde ja auch der Fall war.
»Mein Name ist für euch nicht von Belang. Ich bin der Archivar«, kam es erneut mit Donnerstimme zurück. »Und ich habe viele Fragen an euch.«
»Dann nur heraus damit«, verlangte Rammar, jähe Hoffnung schöpfend. Es war ihm ziemlich gleich, wer dort oben stand und mit ihnen sprach. Viele Fragen bedeuteten, dass es mit dem Ertrinken so schnell nichts werden würde, denn viele Fragen verlangten nach vielen Antworten. Und Rammar war gewillt, in aller Ausführlichkeit zu antworten …
»Aber Rammar, das gehört sich doch nicht«, wandte Balbok ein.
»Wovon redest du?«
»Ich weiß jetzt wieder, wie wir hierher geraten sind«, erklärte Balbok. Er wollte belehrend einen Zeigenfinger heben, aber da seine Arme eng an seinen hageren Körper gefesselt waren, blieb es beim Versuch. »Wir befinden uns in der Gewalt unserer Feinde.«
»Na und?«
»Das bedeutet aber doch, dass wir nichts verraten dürfen. Kein Sterbenswort.«
»Sondern lieber elend ersaufen?«
Balboks Zögern währte nur einen Augenblick. »Korr«, bestätigte er dann.
Rammar knirschte mit den fauligen Zähnen. Ohne Zweifel hatte sein dämlicher Bruder da einen Funken Wahrheit ausgesprochen. Natürlich stand ihr unbekannter Kerkermeister im Dienst ihrer Feindin, die ihnen so übel mitgespielt hatte – sollten sie also lieber heldenhaft schweigen und elend, aber ehrenvoll untergehen!
Rammar sah auf das dunkle Wasser des Pfuhls, das nur noch eine Orklänge von ihm entfernt war – und merkte, wie sich die Oberfläche kräuselte, weil irgendetwas unmittelbar darunter dahinglitt. Etwas, das ziemlich gewaltig sein musste …
»Stell deine Fragen, Archivierer«, rief Rammar mit lauter Stimme hinauf. »Wir werden jede einzelne davon umfassend beantworten …«
Es hatte sich nichts geändert.
Noch immer waren sie in Anwar, im kaiserlichen Burgpalast der Hauptstadt Taras Caron, der Stadt des Drachenkaisers, die jetzt wieder ihren alten Namen »Dragana« trug. Auf seinem gewaltigen roten Felsen thronend, überragte der Palast das Häusergewirr der Stadt, seine Türme und Kuppeln reckten sich in den sternklaren Himmel.
Es war eine ruhige Nacht.
Mondlicht fiel blass auf die Dächer der Stadt, in den Gassen und auf den Plätzen waren Laternen entzündet worden, und von den Kaminen stieg der helle Rauch der Holzfeuer auf. Es war ein Bild des Friedens.
Rammar hasste es.
Zwar war es ihm auch nicht recht gewesen, als noch Todesangst in den Straßen Draganas geherrscht hatte und man nach Einbruch der Dunkelheit stets hatte fürchten müssen, von den Schergen des Rates der Ewigen geschnappt, verschleppt und seiner Lebenssäfte beraubt zu werden. Doch immer nur herumzusitzen – und Rammar konnte kaum glauben, dass ausgerechnet er so empfand, wo sein breiter asar doch geradezu ideal dafür geeignet war –, bereitete ihm langsam Unbehagen.
Der bru-mill, den man eigens für seinen Bruder und ihn zuzubereiten versuchte, war grässlich, und das Bier schmeckte schal; tagsüber wusste er nicht, wie er die Zeit totschlagen sollte, und nachts fand er keinen Schlaf. Ruhelos wälzte er sich dann in seinem Lager hin und her, das viel zu weich und zu bequem für einen Ork aus echtem Tod und Horn war. Bis er sich dann irgendwann auf die kurzen Beine raffte und quer durch die Turmkammer zum Fenster watschelte, um blöde hinauszustieren und dabei Balboks Schnarchen zuzuhören.
So wie jetzt …
Der Lulatsch, dachte Rammar verdrießlich, hatte natürlich kein Problem damit, zu schlafen. Eingerollt in seine Decke lag er da wie ein grünes Riesenbaby und hörte sich dabei an, als würde er den ganzen Dämmerwald bis auf den letzten Baum absägen. Was wusste dieser umbal von den Gedanken, die sich Rammar machte? Von den Sorgen und Befürchtungen, die ihn in diesen Nächten verfolgten?
Knapp drei Monde waren vergangen, seit sie den Rat der Ewigen aus Dragana vertrieben hatten, im Zuge eines Aufstands, an dem die beiden Orkbrüder wesentlich mitgewirkt hatten – und das, obwohl sie in dieser Stadt, in diesem fremden Land und sogar in dieser neuen Welt eigentlich gar nichts verloren hatten. Schließlich waren sie Könige auf ihrer eigenen Insel!
Doch auf dieser Insel war eines Tages ein rätselhaftes Ding niedergegangen, das sich als Wrack eines elfischen Kristallschiffs herausgestellt hatte. Und wie immer, wenn die Schmalaugen ihre dürren, bleichen Hände im Spiel hatten, bedeutete das Verdruss. Hatten sie sochgal nicht schon vor langer Zeit verlassen? Was mussten sie sich immer noch einmischen? Hatten Sie der Welt nicht schon genug Ärger gemacht? Waren nicht schon genug Überraschungen geschehen?
In diesem Fall hatte die Überraschung aus einem kleinen Orkling bestanden, Enok, der sich in dem Wrack befand. Balbok und Rammar hatten ihn bei sich aufgenommen, mit dem erklärten Ziel, ihn zu ihrem Nachfolger auf dem Königsthron zu machen – und wie hatte der elende Racker es ihnen gedankt? Indem er sich durch faulen Elfenzauber aus dem Staub gemacht hatte. Obwohl sie es hätten besser wissen müssen, waren die Orks ihm gefolgt … leider.
Denn in Anwar, dem Reich, in dem sie gelandet waren, herrschte der Rat der Ewigen, ein Zusammenschluss übler Gestalten, die ihr elfisches Erbe mit dem von Drachen gekreuzt hatten und sich die Unsterblichkeit mit dem Blut ihres Volkes erkauften.
Dieses Volk, das war die nächste Überraschung gewesen, setzte sich aus Orks zusammen, die diesen Namen eigentlich nicht verdienten, weil ihre Haut die Farbe hellen Schimmels aufwies (nicht von ungefähr hatte Rammar ihnen den Namen oltorr’hai gegeben) und sie in ihrer ganzen Erscheinung mehr an Schmalaugen denn an Unholde erinnerten. Doch wie Balbok und Rammar erfuhren, waren all diese traurigen Figuren die Nachfahren von Kreaturen, die der Dunkelelf Margok einst ins Leben gerufen hatte, als er sich ein Volk von Dienern, von erbarmungslosen Kriegern hatte schaffen wollen.
Die ersten Versuche waren schmählich misslungen, sodass sie Margok schließlich hierhergeschickt hatte, an den asar der Welt, zusammen mit anderen Ungestalten, deren Nachkommen man hier schlicht als »Wildwüchse« bezeichnete. Doch der Dunkelelf hatte aus seinen Fehlern gelernt, und was er danach in seinen Pfuhlen gezüchtet hatte, bevölkerte bis zum heutigen Tag die Schluchten und Höhlen der Modermark.
Die Orks.
Es war seltsam für Balbok und Rammar gewesen, an diesem entlegenen Ort auf die Ursprünge ihrer Rasse zu stoßen, wobei sie ganz nebenbei auch noch lernten, woher all die illustren Gestalten kamen, die die Mythen der Orks bevölkerten, von Koruk dem Giftpisser bis hin zu Borsh dem Stinkfisch. Sogar ihrem Urahnen Curran waren sie begegnet, wenn auch in anderer Form als gedacht … Rammars Nackenborsten sträubten sich noch jetzt, wenn er an den Moment dachte, da sie dem Drachen gegenübergestanden hatten …
Doch sie waren siegreich geblieben. Zusammen mit den Schimmelingen hatten sie eine Revolte angezettelt und den Rat der Ewigen gehörig in seinen selbstgefälligen Hintern getreten. Am Ende hatte Balboks und Rammars Schützling Enok, der sich als legtimer Erbe Currans herausstellte, den Drachenthron bestiegen. Und auch wenn die beiden Brüder ihn lieber als Herrscher ihrer eigenen Insel gesehen hätten, war es doch ein gewisser Trost, dass er den Schimmelingen in Zukunft beibringen würde, was echtes Orktum bedeutete.
Alles hätte also bestens sein können – aber warum fühlte sich Rammar dann so elend wie lange nicht?
Warum fand er keine Ruhe?
Lag es an den Blähungen, die der bru-mill ihm bereitete? Nein, daran war er gewöhnt.
Vielleicht ja die Tatsache, dass ein paar der Ewigen entkommen waren, etwa Aderyn, die Garstigste von ihnen, die nun fraglos auf Rache sannen. Oder dass es dem weisen Durwain trotz aller Bemühungen noch immer nicht gelungen war, durch Elfenmagie ein Portal zu öffnen, das die Orks wieder zurück auf ihre Insel brachte. Womöglich lag es auch daran, dass Rammars Gefühl, nicht hierherzugehören, immer stärker wurde und sein Heimweh nach seinem Thron immer größer.
Douk, sagte er sich einmal mehr.
Es steckte mehr als das dahinter … ein mieses Gefühl, das seinen breiten Rücken emporkroch und ihn bis ins Mark erschaudern ließ. Irgendwelche Idioten, die, anders als er, an die Macht der Vorsehung glaubten, hätten so etwas wohl als unheilvolle Ahnung bezeichnet. Damit konnte ein Ork zwar nichts anfangen, aber der Eindruck, dass etwas an diesem Ort, an dieser neuen Welt ganz und gar nicht stimmte, hatte Rammar nicht losgelassen, seit er sie mit seinen breiten, ungewaschenen Klauenfüßen betreten hatte.
Mit einem Schnauben wandte er den Blick nach Süden. Die Roten Berge erhoben sich dort in der Ferne, jene gewaltige Gebirgswand, die jetzt im Mondlicht violett schimmerte und deren Gipfel eine so gerade Kante bildeten, als hätte Gulz der Schlächter sie persönlich mit dem saparak abgeschnitten.
Dorthin war Curran verschwunden … ihr Ahne, der mit einer Drachin zu etwas verschmolzen war, für das es keinen Namen gab, jedenfalls nicht in der orkischen Sprache. Sosehr Rammar seinen Ahnen für dessen Stärke bewunderte, so sehr fürchtete er ihn auch. Wie er überhaupt so ziemlich alles fürchtete, was Schuppen hatte, am Boden kroch oder sich schlängelte, von anderen garstigen Eigenschaften, wie Feuer zu speien oder sich durch die Lüfte bewegen zu können, ganz zu schweigen. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie Curran nicht zum letzten Mal begegnet waren.
Alles in ihm sehnte sich danach, diesen seltsamen Ort endlich zu verlassen und wieder auf ihre Insel zurückzukehren, wo seit ihrer Abreise dank einer anderen Art Zauber sicher nur ein paar Stunden, bestenfalls Tage vergangen sein würden. Sie würden also nichts weiter tun müssen, als sich auf ihre Throne zu fläzen, bru-mill zu löffeln und Blutbier zu saufen und das Leben endlich wieder zu genießen.
Doch jenes nagende Gefühl in seinem Inneren flüsterte Rammar zu, dass daraus nichts werden würde, und schaudernd erinnerte er sich daran, dass er sein Königreich mit dem hässlichen Gefühl verlassen hatte, es niemals wiederzusehen …
Douk, etwas stimmte ganz und gar nicht, das sagte ihm nicht nur seine Verdauung. König Rammar der Schrecklich Rasende hatte Angst.
Aber er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als seinem munter weiterschnarchenden Bruder auch nur ein Sterbenswort davon zu verraten.
Der Name des Schiffes war Gorwal.
In der alten Sprache bedeutete dieses Wort »Horizont«, und im Grunde fasste das die Mission der Galeone und der beiden Karavellen, die sie begleiteten, sehr treffend zusammen: Zu neuen Horizonten aufzubrechen und kühn dorthin vorzustoßen, wo weder Mensch noch Ork noch Zwerg zuvor gewesen war.
Breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen stand Pyaras auf dem Poopdeck, das achtern aufragte und sich im Gang der Wellen gleichmäßig hob und senkte.
Kapitän Pyaras …
Zu Beginn hatte es sich noch seltsam angefühlt, wenn die Mannschaft ihn so angesprochen hatte, doch inzwischen, nach fast sechs Wochen auf See, hatte er sich daran gewöhnt. So wie an so manches andere, das ihm zu Beginn der Fahrt noch eigentümlich erschienen war. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, warum er all dies auf sich nahm.
Zugegeben, das Geld hatte eine Rolle gespielt. Der Reiz, sich eine Heuer zu verdienen, die nicht mit ein paar durchzechten Nächten schon wieder ausgegeben sein würde. Doch das allein war es nicht gewesen. Ebenso wenig wie die Aussicht, sich selbst in den Büchern der Geschichte wiederzufinden, den Annalen der Seefahrt – Pyaras war schlicht nicht eitel genug, um dafür sein Leben zu riskieren.
Nein, es war die Karte gewesen.
Jenes uralte, brüchige Pergament, das der Zwerg und seine geheimnisvolle Herrin ihm gezeigt hatten und von dem er instinktiv gewusst hatte, dass es echt war … und das deutlich zeigte, dass die angeblich letzte Grenze, vor der die Seefahrer Erdwelts sich fürchteten, nicht mehr war als bloße Einbildung, eine Barriere der Angst, die es zu durchdringen galt – und auf deren anderer Seite eine neue Welt darauf wartete, erkundet und entdeckt zu werden.
Pyaras legte den Kopf in den Nacken, blickte hinauf zu den Segeln, die sich im Wind blähten und das Schiff vorwärtstrieben, auf südlichem Kurs.
Sie waren weit gekommen, seit sie in See gestochen waren, wohlgemerkt nicht in Tirgaslan oder einem anderen der geschäftigen Häfen der Südküste, sondern von einer der vorgelagerten Inseln aus, wo Lady Syola und ihr Diener die Expedition im Geheimen vorbereitet hatten. Die Schiffe, die sie dafür erstanden und ausgerüstet hatten, waren gut und zuverlässig und in den Werften der Südlande gebaut worden. Anfangs hatte Pyaras sich noch gefragt, warum sie das Kommando über diese kleine Flotte ausgerechnet ihm angeboten hatte und nicht jemandem, der sehr viel erfahrener war als er. Die Antwort war wohl, dass kein anderer so tollkühn – oder töricht? – gewesen war, sich auf das Wagnis einzulassen. Schließlich war niemand erpicht darauf, über den Rand der Welt zu stürzen und dem ewigen Verderben anheimzufallen.
Das ganze Unternehmen war ebenso tollkühn wie vermessen, und Pyaras hatte sich darüber gewundert, dass es Syola scheinbar mühelos gelungen war, die drei Schiffe zu bemannen. Bis ihm irgendwann aufgegangen war, dass abgesehen von seinem Ersten Offizier Raybert, den er selbst mit an Bord gebracht hatte, keiner der Männer über das Ziel der Reise in Kenntnis gesetzt worden war. Nicht, dass man sie belogen hätte – man hatte ihnen gesagt, dass es nach Süden ging, dass die Fahrt der Erschließung neuer Handelswege diente und man Ausschau halten wollte nach bislang noch unentdeckten Gestaden; den Rest hatte die großzügige Heuer besorgt, die die Männer derart lockte, dass sie keine weiteren Fragen stellten.
Gewiss, es war ihre eigene Entscheidung gewesen, dennoch fühlte sich Pyaras den Leuten gegenüber schuldig, die dort in den Wanten und an den Trossen ihren Dienst versahen. Brave, aufrechte Seeleute, die darauf vertrauten, dass ihr Kapitän sie sicher ans Ziel und wieder nach Hause bringen würde …
»In Gedanken?«
Über die knarrenden Planken trat Raybert zu ihm. Die Schärpe des Ersten Offiziers stand ihm gut, auf ihrer letzten gemeinsamen Reise war er noch als Fähnrich gefahren. Dass der Freund ihn begleitete, war Pyaras’ Bedingung gewesen. Oder vielleicht, gestand er sich insgeheim ein, war er auch nur nicht mutig genug gewesen, um dieses Wagnis allein einzugehen.
Er antwortete nicht auf Rayberts Frage, worauf sich sein Erster Offizier schweigend neben ihn an die Reling begab. Nach beinahe sechs Wochen auf See trugen sie wie alle Männer an Bord Bärte, die sie älter aussehen ließen, als sie in Wirklichkeit waren. Nur der zwergenhafte Diener Lady Syolas schabte sich nach wie vor täglich sein Gesicht, als befände er sich irgendwo bei Hofe. Während Pyaras’ Haar so schwarz war wie die Nacht, war Rayberts feuerrot – selbst bei heftigstem Sturm, so pflegte er zu behaupten, brauchte er nur den Ausguck zu erklimmen, und sie würden weithin gesehen.
»Einundvierzig Tage sind wir nun auf See«, brach Raybert endlich das Schweigen. »Die Männer fangen langsam an, sich Fragen zu stellen …«
»So? Und was genau fragen sie sich?«
»Was der Bestimmungsort dieses Schiffes ist.«
Pyaras sah den Freund prüfend von der Seite an. »Ahnen sie es nicht bereits?«
»Ein paar, die Älteren … vielleicht. Bislang hat keiner etwas ausgesprochen, aber je weiter wir nach Süden gelangen …«
Pyaras nickte. »Behalte die Augen offen, Raybert. Und teile mir umgehend mit, wenn du etwas bemerkst. Wir müssen auf der Hut sein.«
»Ich weiß.« Raybert biss die von Wind und Sonne spröden Lippen zusammen und fuhr sich durch den roten Bart. »Wie lange noch, glaubst du?«
Pyaras zuckte mit den Schultern. »Die Karte hat keinen einheitlichen Maßstab.«
»Aber du bist sicher, dass sie uns zuverlässig leiten wird?«
Pyaras nickte. Es stimmte ja, er war durchaus sicher gewesen … dass seine Zuversicht mit jedem Tag abnahm, den sie weiter nach Süden fuhren, behielt er für sich. Es war Aufgabe des Kapitäns, das Ziel im Auge zu behalten und die Ordnung an Bord zu bewahren. So hatte man es ihn gelehrt, und so wollte er es halten. Auch wenn diese Reise anders war als alle vorherigen, an denen er teilgenommen hatte.
»Bist du schon mal so weit im Süden gewesen?«
»Einmal.« Pyaras nickte. »Ist lange her.«
»Das Blau des Himmels scheint anders zu leuchten«, stellte Raybert fest, den Kopf in den Nacken legend. »Und in der Nacht sind es andere Sterne als die, die uns in nördlichen Gefilden führen. Wir sind wirklich weit weg von zu Hause.«
»Bereust du es bereits, mitgekommen zu sein?«
»Nein«, entgegnete Raybert ein wenig zu schnell. »Aber es gibt einen Teil in mir, der sich vor dem Unbekannten fürchtet«, fügte er ein wenig leiser hinzu.
»Ich weiß.« Eine solche Stimme der Furcht hatte es auch in seinem Inneren gegeben. Doch wann immer sie sich meldete, dachte er an die Karte und an das, was sie verhieß, und der Entdecker in ihm gewann die Oberhand.
Syola hatte recht gehabt.
Sie kannte ihn wohl besser als er sich selbst …
Er wandte sich um und sah zu der Ducht, die unter Deck führte, zur Kajüte des geheimnisvollen Gastes, den sie an Bord beherbergten.
»Etwas Neues von unserer … Passagierin?«, erkundigte sich Raybert.
Pyaras schnitte eine Grimasse. Als Lady Syola ihm enthüllt hatte, dass sie diese Expedition nicht nur auf den Weg zu bringen, sondern auch selbst daran teilzunehmen gedachte, hatte er es für einen schlechten Scherz gehalten. Doch er hatte schnell herausgefunden, dass die Alte generell nicht scherzte, weder in solchen Dingen noch in anderen. In Begleitung ihres Dieners war sie am Tag der Abreise an Bord gekommen und hatte ihre Kajüte aufgesucht, die sich achtern neben der des Kapitäns befand – und sie seither nicht mehr verlassen. Wann immer es nötig war, schickte sie den Zwerg, der nicht nur für ihr leibliches Wohl verantwortlich zu sein schien, sondern auch als ihr Sprachrohr diente. Anfangs hatte Pyaras noch darauf gedrängt, der alten Dame, die immerhin die Schirmherrin dieser Unternehmung war, wenigstens ab und zu persönlich zu begegnen, doch Nemion hatte dies in ihrem Namen stets kategorisch abgelehnt.
Irgendwann war Pyaras der ein wenig unheimliche Gedanke gekommen, Syola könnte womöglich nicht mehr am Leben sein und der Zwerg erhalte das Theater nur aufrecht, damit er an Bord etwas zu sagen hatte. Doch dann hörte er in der Nacht wieder jemanden unruhig in der Passagierkajüte auf und ab schreiten, und ihm war klar, dass es die Alte sein musste, die keine Ruhe fand.
»Nichts«, beantwortete er Rayberts Frage kopfschüttelnd. »Es ist, als hätten wir einen Geist an Bord.«
»Über derlei Dinge solltest du nicht scherzen. Die Männer erzählen sich auch so allerhand Gerüchte über den Gast, den sie nie gesehen haben.«
»Was für Gerüchte?«
»Das Übliche. Die einen behaupten, dass sie in Wahrheit gar nicht existiere und der Zwerg unser einziger Passagier sei. Die andere halten sie für einen Dämon, der das Schiff ins Verderben reißen könnte. Normalerweise würde ich nichts darauf geben, wir Seeleute sind nun mal ein abergläubisches Völkchen. Aber in Anbetracht des Ziels unserer Reise …«
»Schon gut.« Pyaras nickte abermals, während er den Blick wieder gen Süden schweifen ließ. Noch mochten die Männer damit zufrieden sein, in regelmäßigem Wechsel ihre Befehle und ihre Mahlzeiten zu bekommen und dazwischen mit Halbwahrheiten abgespeist zu werden. Aber der Tag würde kommen, da sie energischer nach Antworten verlangten.
Und der junge Kapitän hoffte, dass er sie ihnen dann auch geben konnte.
Als Balbok die Augen aufschlug, hatte er das Gefühl, mit einem Drachen gekämpft zu haben. Im Grunde war es auch so, allerdings nur im Traum. Generell hatte er in letzter Zeit lebhafte Träume, in denen alles wild durcheinanderging und in denen sich all das vermischte, was Rammar und er seit ihrer Ankunft in der neuen Welt erlebt hatten. Denn längst nicht alles davon war angenehm gewesen …
»So, ist der Herr umbal auch endlich aufgewacht«, plärrte es quer durch die Kammer, die sich im mächtigen Hauptturm des Palasts von Dragana befand – dort, wo auch der Herrscher selbst residierte. Die Kuppel, die den Turm krönte, war während des Kampfes um die Stadt zu Bruch gegangen, das Bauwerk selbst war weitgehend unversehrt geblieben.
Im deutlichen Gegensatz zu Rammars Laune …
»Hast du wieder nicht geschlafen?«, fragte Balbok, während er die ebenso dürren wie langen Beine aus dem Bett schwang.
»Keine Spur! Nicht ein einziges Auge habe ich zugetan«, führte Rammar aus, während er wie ein waidwunder Keiler in der Kammer auf und ab schlurfte und dabei die hölzerne Klaue schwenkte, die er am linken Arm trug. Die echte hatte er bei einem früheren Abenteuer eingebüßt, und man tat gut daran, ihn nicht an diese Episode zu erinnern.
»Weißt du«, meinte Balbok, während er sich das dünne Haar an seinem Hinterkopf zunächst raufte, um es dann mit etwas Spucke glatt zu streichen, »ich glaube, ich weiß, woran das liegt, Rammar.«
Sein feister Bruder blieb abrupt stehen und schickte ihm einen kritischen Blick. »Woher will so ein Halbhirn wie du das denn wissen?«
»Es sind die schlechten Schwingungen hier«, erklärte Balbok im Brustton der Überzeugung und nickte dazu bekräftigend.
Rammar sah ihn entgeistert an.
»Beeka hat mir davon erzählt. Sie sagt, dass jede Kreatur, jedes Tier und jedes Ding in Anwar eine gewisse Schwingung in sich trägt.«
Rammars Blick blieb auf ihm haften. »Schwingung?«
»Korr.« Balbok war erfreut, dass sein Bruder so rasch begriff. »Und wenn diese Schwingungen nicht gut sind oder nicht zusammenpassen, dann …«
»Was dann?«, verlangte Rammar zu wissen.
»Dann gibt es Ärger«, eröffnete Balbok rundheraus. »Man hat dann das Gefühl, dass etwas nicht stimmt oder dass Unheil bevorsteht. Man hat keinen Appetit und kann nachts nicht schlafen, weil man pausenlos …«
»So ein Schmarren!«, fiel Rammar ihm ins Wort. »Als ob ich irgendwelche Befürchtungen hätte! Ausgerechnet ich, Rammar der Schrecklich Rasende! Das ist lächerlich! Lächerlich ist das!«
»Sagtest du schon.« Balbok nickte. »Aber du isst in letzter Zeit nicht viel und kannst nachts nicht schlafen.«
»Na und? Natürlich kann ich das nicht, weil der Fraß hier zweitens lausig ist und weil mich erstens dein Geschnarche davon abhält, auch nur den kleinsten Helm voll Schlaf zu bekommen! Ich habe das Gefühl, der Donnerer persönlich liegt in deinem Bett und schnarcht vor sich hin, als ob das Ende aller Tage gekommen wäre!«
»Tut er nicht«, versicherte Balbok, nachdem er vorsichtshalber kurz nachgesehen hatte. »Aber hast du nicht auch manchmal dieses seltsame Gefühl?«
»Was denn für ein Gefühl?«
Aus seinen großen gelben Kuhaugen sah Balbok seinen Bruder fragend an. »Na ja, dass irgendetwas hier … nicht stimmt«, rückte er dann zögernd heraus.
»So ein vershnorshter Unsinn!«, blaffte Rammar und begann wieder, die Turmkammer zu durchschreiten. Sein ganzer ungeheurer Körper war dabei in heftiger Bewegung. »Schon deshalb nicht, weil ein Ork aus echtem Tod und Horn gar keine Gefühle hat, geht das nicht in deinen Schädel? Außerdem kann uns das alles ziemlich egal sein, denn sobald der Möchtegernzauberer herausgefunden hat, wie er uns auf unsere Insel zurückschicken kann, werden wir alldem hier für immer Lebewohl sagen, und dann können uns alle hier gern am …«
»Balbok! Rammar!«
Die eisenbeschlagene Tür der Kammer flog auf, und Enok trat ein.
Ihr Ziehsohn. Und zugleich der neue, frisch gekrönte Kaiser von Dragana.
Das lange Haar im Nacken gebunden, das kaiserliche Flammensymbol auf der Brust, den roten Umhang um die Schultern und mit dem Drachenschwert an seiner Seite machte er tatsächlich eine ziemlich gute Figur als Herrscher. Aber das hätte Rammar im Leben nicht zugegeben.
»Schimmeling!«, rief Balbok erfreut und sprang auf, worauf der Junge ihm entgegeneilte und ihn mit freudiger Umarmung begrüßte. Davon, dass der hagere Ork ihn noch vor nicht allzu langer Zeit als Säugling aus dem Wrack des Elfenschiffs geborgen hatte, war nicht mehr viel zu merken – dank eines Zaubers, dessen Wirkung bislang niemand so recht durchschaute, war Enok innerhalb kürzester Zeit zu einem stattlichen jungen Mann gereift. Was er über die Dinge des Lebens, über den Umgang mit dem saparak und das Wesen eines wahren Orks wissen musste, hatten ihm seine orkischen Ziehväter beigebracht – all das überflüssige Zeug dagegen, das sich auf die Regierungsgeschäfte und die Pflichten eines Herrschers bezog, hatten sie dem alten Durwain überlassen. Er war Enoks Berater, schien so ziemlich alles zu wissen, viel darüber zu reden, aber in Wahrheit nur die Hälfte preiszugeben, und ging Rammar damit regelmäßig auf die ohnehin strapazierten Nerven.
»Wie geht es euch?«, fragte Enok, wobei er zuerst Balbok und dann Rammar mit einem fragenden Blick bedachte. »Tut mir leid, dass ich die letzten Wochen so wenig Zeit für euch hatte. Regierungsgeschäfte, ihr wisst schon.«
»Korr«, versicherte Balbok mit wissendem Grinsen und schlug sich vor die schmale Brust. »Wir sind schließlich Könige!«
»So ist es, und deshalb wollen wir endlich auf unsere Insel zurück!«, bekräftigte Rammar unwirsch.
»Rammar hat Heimweh«, erklärte Balbok.
»Schmarren«, widersprach der dicke Ork. »Wenn du das noch mal sagst, ramme ich dir den saparak dahin, wo die Sonne nie scheint.«
»Hört mal, es tut mir wirklich leid, dass es mit der Rückreise zur Insel bislang noch nicht geklappt hat«, beschwichtigte Enok. »Meister Durwain hat mir immer wieder versichert, dass alles unternommen wird, um …«
»Der Echsenkopf sagt viel, wenn der Tag lang ist«, konterte Rammar.
»Ihr mögt Rat Durwain noch immer nicht.« Enoks Blick ging von einem Ork zum anderen.
»Wir haben wenig Grund dazu«, maulte Rammar. »Schließlich hat er nicht nur dich, sondern auch uns die ganze Zeit über getäuscht und uns verheimlicht, dass auch er einmal zum Rat der Ewigen gehörte.«
»Von dem er sich allerdings losgesagt hat«, wandte Enok ein. »Seitdem hat er uns sehr geholfen.«
»Dir vielleicht, uns eher nicht. Und wie heißt es so schön? Troll bleibt Troll, auch wenn er mal keinen Ork frisst«, gab Rammar verdrießlich zur Antwort.
Dass seine Abneigung gegen Durwain auch damit zusammenhing, dass der alte Gelehrte ihnen Enok abspenstig gemacht, ihm mit kruden Lehren den Kopf verdreht und ihn schließlich dazu gebracht hatte, die Kaiserkrone anzunehmen, ließ er unerwähnt. Wer wollte schließlich ein Kaiserreich regieren, wenn er auch ein Inselchen voller Orks haben konnte?
»Andererseits könntet ihr auch einfach hierbleiben«, schlug Enok vor.
»Hä?«, machte Rammar.
»Ihr könntet eure Pläne, nach Hause zurückzukehren, noch ein wenig aufschieben«, erklärte Enok und wirkte für einen Moment wieder wie der kleine Junge, den die Orkbrüder großgezogen hatten. »Ihr könntet bei mir bleiben und mir dabei helfen, Lady Aderyn und die Überreste der Schwarzen Garden endgültig zu besiegen. Wir drei zusammen, wie in alten Zeiten – wäre das nichts?«
»Korr«, versicherte Balbok. Spontane Begeisterung blitzte in seinen Kuhaugen, während er sich die prankengroßen Hände rieb. »Das wollen wir doch, Rammar, oder?«
»Und unser Königreich im Stich lassen? Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«
»Bitte überlegt es euch noch mal«, bat Enok, eines Kaisers unwürdig – wie gut, dass der alte Durwain nicht dabei war. »Aderyn und ihre Gefolgsleute halten immer noch einige Garnisonen im Nordwesten. Meister Durwain ist der Ansicht, dass wir einen Feldzug beginnen müssen, um sie zu stellen und endgültig zu vernichten. Wäre das nichts für euch?«
»Douk«, lehnte Rammar rundheraus ab und schüttelte dabei das klobige Haupt. »Ich habe meinen asar oft genug für andere riskiert, also lass mich bloß in Ruhe.«
»Aber Rammar …«, wollte Balbok einwenden, doch ein einziger Blick seines Bruders genügte, um ihm klarzumachen, dass es besser war zu schweigen.
»Mit dem Drachenweib wirst du auch ohne uns fertig«, fügte Rammar in Enoks Richtung hinzu, »schließlich haben wir dir gezeigt, wie man mit dem saparak umgeht, korr?«
»Korr«, stimmte Enok seufzend zu. »Dann sollte ich euch wohl verkünden, dass ich gute Nachrichten für euch habe«, gab er leise und ziemlich zerknirscht bekannt.
»Was ist es?«, fragte Balbok und rieb sich begeistert die Klauen. »Gnomensülze zum Frühstück?«
»Oder haben die umbal’hai in der Palastküche endlich rausgefunden, wie man ordentlichen bru-mill macht?«, fügte Rammar mit einem Anflug Hoffnung hinzu.
»Weder noch.« Enok rang sich ein Lächeln ab. »Ich kann euch mitteilen, dass Meister Durwain vergangene Nacht den entscheidenden Durchbruch erzielt hat. Es ist ihm gelungen, eine Kristallpforte zu öffnen und die Verbindung aufrechtzuerhalten.«
»Eine Kristallpforte?«, echote Balbok mit großen Augen. »Du meinst …?«
»Genau das«, bestätigte Enok. »Euer sehnlichster Wunsch geht in Erfüllung – ihr könnt endlich auf eure Insel zurückehren und …«
Der Rest ging im Triumphgeschrei unter. In Rückenlage, die verbliebene Pranke zur Faust geballt, rannte Rammar wie von Sinnen im Kreis und brüllte dabei die Decke an, dass die schweren Holzbalken erzitterten und Staub hinabrieseln ließen. Auch Balbok freute sich, wenn auch ein wenig leiser und mit einem Hauch von Wehmut. Seine gelben Augen schimmerten.
»Ich war mir sicher, dass euch das freuen würde«, sagte Enok ein wenig steif, nachdem sich Rammar wieder halbwegs beruhigt hatte.
»Korr, das ist in der Tat eine gute Nachricht«, versicherte Rammar. »Endlich weg von diesem garstigen Flecken Erde, von Drachenbrut und Elfenzauber und von Orks, die keine sind.«
»Bis auf dich natürlich«, fügte Balbok hinzu, als er merkte, wie die schmalen Schultern unter Enoks Umhang herabfielen.
»Keine Sorge, ich verstehe schon.« Enok nickte. »Ich habe angeordnet, dass es heute Abend zu euren Ehren ein großes Bankett geben soll.«
»Ein großes Fressen?«, blaffte Rammar.
»Ein großes Fressen«, bestätigte Enok. »Wir werden ausgiebig feiern, im Anschluss könnt ihr Dragana verlassen.«
»Sieh an«, feixte Rammar. »Du kannst es wohl kaum erwarten, uns endlich loszuwerden?«
»Korr.« Enok nickte und grinste verwegen, auch wenn ihm anzusehen war, dass ihn etwas belastete.
»Alles in Ordnung?«, fragte Balbok.
Enok wich dem Blick des großen Orks aus und sah zu Boden, schien einen Augenblick lang innerlich mit sich zu ringen. »Natürlich«, versicherte er, »es ist nur …«
»Was?«, hakte Rammar nach, als ihr Schützling verstummte.
Enok schüttelte den Kopf. »Nichts. Es ist schon gut. Ich freue mich für euch, dass ihr beide endlich nach Hause kommt. Ihr habt es wirklich verdient.«
»Tu nicht so wehmütig«, meinte Rammar mit listigem Blitzen in den Augen. »In Wahrheit kannst du froh sein, uns aus dem Weg zu haben, denn dann bist du endlich das einzige gekrönte Haupt in diesem Palast.«
Enoks Zögern währte nur einen kurzen Augenblick. »Korr«, stimmte er dann zu und lächelte matt. Dann machte der junge Kaiser auf dem Absatz kehrt und verließ die Kammer so unvermittelt, wie er sie betreten hatte. Mehr noch, er beschleunigte seine Schritte und rannte Hals über Kopf hinaus.
»Was ist denn in den gefahren?«, fragte Rammar, dessen Schweinsäuglein noch immer vor Begeisterung leuchteten. »Diese jungen Orks von heute versteht doch wirklich keiner mehr.«
»Ich schon«, versicherte Balbok und hob belehrend einen Klauenfinger. »Glaub mir, Rammar – das liegt alles an den Schwingungen.«
»Den Himmel beobachten?«
Auf dem Vordeck der Gorwal stehend, die Arme in die Hüften gestemmt und das Haupt zweifelnd geneigt, sah Kapitän Pyaras auf die kleinwüchsige Gestalt herab, die vor ihm stand.
Er hatte sich stets für einen guten Menschenkenner gehalten; seine Fähigkeit, zu lesen, was hinter glänzenden Augenpaaren und verwilderten Bärten vor sich ging, war ihm schon in mancher Lage von Nutzen gewesen. Doch schien sich seine Fähigkeit tatsächlich nur auf Menschen zu beziehen, denn wann immer er in Nemions Miene blickte, hatte er den Eindruck, gegen eine massive Wand zu starren, so unbewegt und ausdruckslos blieben die Gesichtszüge des Zwergs, während seine kleinen Augen ihn herausfordernd ansahen.
»Das sagte ich gerade, oder nicht?«, schnarrte er. »Lady Syola erwartet, dass ihre Anweisungen umgehend ausgeführt werden.«
»Wie immer«, seufzte Pyaras und betrachtete die glatt geschabten Wangen des Zwergs. Womöglich, dachte Pyaras bei sich, ging ja auch das auf eine Anweisung seiner geheimnisvollen Herrin zurück … »Ist es erlaubt zu fragen, wonach wir Ausschau halten sollen?«
»Das hat meine Herrin nicht gesagt. Nur so viel: Wenn Ihr es seht, so würdet Ihr es erkennen. Und sie fügte auch an, dass Ihr dies nicht auf die leichte Schulter nehmen solltet. Das Wohl oder Wehe der gesamten Unternehmung könnte davon abhängen.«
»Großartig.« Pyaras sammelte Speichel und spuckte über die Reling. »Richte deiner Herrin aus, dass ich ihre Anweisung wie immer sorgfältig ausführen werde.« Mit einem flüchtigen Blick vergewisserte er sich, dass kein Matrose in der Nähe war, dennoch senkte er seine Stimme, ehe er fortfuhr. »Aber erinnere sie auch daran, dass ich meine Leute nicht mehr ewig hinhalten kann. Seeleute sind eine abergläubische Zunft. Wenn sie erst anfangen, Verdacht zu schöpfen …«
»Meine Herrin ist sich des Risikos bewusst.«
»Das bezweifle ich. Denn wäre es so, hätte sie sich irgendwann auf Deck gezeigt – so jedoch machen bereits Gerüchte die Runde, dass sie ein Geist sei … oder noch Schlimmeres.«
»Das ist lächerlich.«
»Es gibt auch Stimmen, die behaupten, dass die Lady längst nicht mehr an Bord weile, weil nämlich ihr vertrauter Diener ihr des Nachts die Kehle durchgeschnitten und ihren Leichnam durch die Luke der Achtergalerie ins Meer geworfen habe.«
»So … lauten die Gerüchte?« Über Nemions breiter Nase erschienen Falten der Empörung. »Aber das ist grober Unfug!«
»Ich weiß das«, versicherte Pyaras gelassen, »aber meine Leute nicht. Sie können nur Vermutungen anstellen, und Furcht ist dabei ein schlechter Ratgeber.«
»Ich verstehe.« Der Zwerg nickte und beugte das graue Haupt, schien tatsächlich einen Moment nachzudenken. »Was schlagt Ihr vor?«
»Dass deine Herrin sich auf Deck zeigt. Dass sie beweist, dass sie nicht nur ein Geist ist oder bloße Einbildung. Und dass sie den Männern Mut zuspricht.«
»Ich bedaure, aber das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil es ihre Kräfte überfordern würde. Meine Herrin ist alt … sehr alt.«
»Das verstehe ich«, versicherte Pyaras, »ich habe sie gesehen, aber …«