Das Blut von London - Laura Robinson - E-Book
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Das Blut von London E-Book

Laura Robinson

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Beschreibung

London, 1781: Aus dem Nebel der Hafendocks schält sich das Bild eines schrecklichen Verbrechens. Eine männliche Leiche, die Brandmale aufweist. Harry Corsham, der zur oberen Gesellschaftsschicht gehört, erfährt, dass es sich bei dem Ermordeten um seinen Jugendfreund Tad handelt. Erinnerungen kommen bei ihm auf, aus Zeiten, in denen Tad und er noch voller Ideale waren. Corsham will die Mörder seines Freundes finden, um Seelenfrieden zu erlangen. Doch damit stellt er sich gegen die Mächtigen Londons. Für seine Familie und ihn geht es jetzt um Tod oder Leben.

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Seitenzahl: 608

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Das Buch

London, 1781: Aus dem Nebel der Hafendocks schält sich das Bild eines schrecklichen Verbrechens. Eine männliche Leiche, die Brandmale aufweist. Harry Corsham, der zur oberen Gesellschaftsschicht gehört, erfährt, dass es sich bei dem Ermordeten um seinen Jugendfreund Tad handelt. Erinnerungen kommen bei ihm auf, aus Zeiten, in denen Tad und er noch voller Ideale waren. Corsham will die Mörder seines Freundes finden, um Seelenfrieden zu erlangen. Doch damit stellt er sich gegen die Mächtigen Londons. Für seine Familie und ihn geht es jetzt um Tod oder Leben.

Die Autorin

Laura Robinson studierte an der Bristol University Politikwissenschaften und politische Philosophie. 15 Jahre arbeitete sie als Politikerin, bevor sie sich entschloss, das Schreiben in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen. »Das Blut von London« ist ihr Romandebüt.

LAURA ROBINSON

DAS BLUT VON

LONDON

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN

VON ROBERT BRACK

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Blood & Sugar erschien 2019 bei Mantle, an imprint of Pan Macmillan, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 08/2019

Copyright © 2019 by Laura Shepherd-Robinson

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Lars Zwickies

Umschlagillustration: Designomicon, München,

unter Verwendung von Motiven von

© Elm Hassfurth | elmstreet.org

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-22405-9V001

www.heyne.de

Für Adrian

Im Jahr 1781 ist London ein sich ausbreitender Moloch, der Fel-der und Wälder verschlingt und ganze Dörfer und Kleinstädte vereinnahmt. Die Stadt ist das Zentrum des immer weiter wachsenden Empires und die Hauptstadt eines Landes im Kriegszustand. In eleganten Salons werden weitreichende politische und wirtschaftliche Entscheidungen gefällt und mit zahllosen Schalen gesüßten Tees heruntergespült, einer der wichtigsten Handelswaren dieser Weltmacht.

Fünf Meilen östlich der Stadt am Ufer der Themse liegt der Ort Deptford: das Tor zu entfernten Ozeanen und ungeahnten Reichtümern. Hier, wo Sklavenhändler und Zuckerimporteure ungeheure Reichtümer anhäufen und wieder verlieren, streifen des Nachts Diebe und Prostituierte durch die Straßen, hier trinken Seemänner sich um den Verstand, bei dem Versuch, all die Dinge zu vergessen, die sie auf der berüchtigten Sklavenroute mit ansehen mussten.

PROLOG

Deptford, Hafen, Juni 1781

Der Nebel hing dicht und schwer über der Themse. Er waberte vom Fluss her über die Ufermauern und breitete sich in den ärmlichen Höfen und Gassen der Hafengegend von Deptford aus. Die Bewohner des Ortes nannten diese Art Nebel den »Atem des Teufels«. Er brachte den Pesthauch des modrigen Flusses mit sich.

Hier und da hob sich der Dunst, und Nathaniel Grimshaw konnte einen kurzen Blick auf die Segelschiffe werfen, die draußen im Flussarm ankerten: eine gespenstisch wirkende Reihe von Masten und Takelagen unter dem frühmorgendlichen Himmel. Sein Übermantel war schwer von der Feuchtigkeit, und seine Perücke aus Pferdehaar roch wie ein nasses Tier. Er ging jetzt schon seit einer knappen halben Stunde an dieser Stelle auf und ab. Jedes Mal, wenn er eine neue Richtung einschlug, begann Jago zu knurren. Das schwarze Fell des Hundes sträubte sich, und seine Augen leuchteten in der Dunkelheit wie kleine gelbe Lichter.

Nathaniel hörte, wie die Fischer miteinander redeten, und roch ihren Tabakrauch, den der Wind ihm zutrug. Er hätte sich selbst gern ein Pfeifchen angezündet, fürchtete aber, ihm könnte schlecht davon werden. Er fragte sich, wie sie es so dicht beieinander aushielten. Eine Gestalt löste sich aus dem Nebel, und Jago knurrte wieder, beruhigte sich aber, als er die stämmigen, untersetzten Umrisse von Peregrine Child, dem Friedensrichter von Deptford, erkannte. Er schaute Nathaniel aus schlaftrunkenen Augen an, die von den triefenden Locken seiner Amtsperücke eingerahmt wurden. »Wo ist es denn, mein Junge?«

Nathaniel führte ihn durch den Nebel bis zu einer Mauer, die den Handelshafen von dem der Marine trennte. Die Fischer bildeten ein Spalier, um sie durchzulassen, und alle warteten gespannt auf Childs Reaktion.

Auf dem Kai stand ein zehn Fuß hoher Pfosten mit einem eisernen Haken an der Spitze, wo die Fischer immer ihre größten Fänge zur Schau stellten. Zuletzt hatte dort ein Hai gehangen, der vor einem Monat angeschwemmt worden war. Der Hai war mittlerweile verschwunden und durch einen menschlichen Körper ersetzt worden. Der Mann war nackt und pendelte an einem Seil im Wind, das unter seine Achseln hindurchgeschlungen war. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Nathaniel mochte den Anblick des Bluts nicht, und es war ziemlich viel davon zu sehen – getrocknetes Blut klebte auf der Brust und am Rücken des Toten, an seinen Oberschenkeln, in seinen Ohren, in seiner Nase, in seinem Mund. Er hatte schon andere Mordopfer gesehen, Leichen, die im Watt gelegen hatten oder in einer der Gassen am Hafen, wo er als Nachtwächter arbeitete. Aber keiner dieser Toten hatte jenem geglichen, den er hier sah. Dies war mehr als nur eine Leiche. Dies war eine Inszenierung, ähnlich dem Schlangenmenschen auf dem Jahrmarkt von Greenwich.

Er riss sich zusammen und betrachtete die Leiche genauer. Es handelte sich um einen Mann von ungefähr dreißig Jahren, sehr dünn, mit langen schwarzen Haaren. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten anklagend ins Nichts. Seine Lippen waren zu einer Grimasse verzerrt, seine bleiche Haut lag straff um die hervortretenden Wangenknochen. Unter dem Mund klaffte eine knallrote Wunde, dort, wo der Hals des Mannes aufgeschlitzt worden war.

Child trat vor und sah sich die Leiche aus nächster Nähe an. »Jesus Christus.«

Er starrte auf eine Stelle knapp über einer der Brustwarzen des Toten. Dort war die blasse, haarlose Haut versengt worden, und unscharfe gefurchte Linien zeichneten sich ab. Das Fleisch darum war runzelig und voller Blasen. Von seinem Standpunkt aus konnte Nathaniel das Muster erkennen: Es zeigte eine gekippte Mondsichel mit einer darüber liegenden Krone.

»Das ist ein Sklaven-Brandmal«, sagte er. »Jemand hat ihn gezeichnet wie einen Neger.«

»Ich weiß, was es ist.« Child trat zurück, ohne den Blick von der Leiche zu wenden.

Jagos Knurren wurde immer lauter, und Nathaniel versuchte, ihn zu besänftigen, auch wenn er den Hund nur allzu gut verstand.

»Sie erkennen ihn doch, Sir, nicht wahr? Das ist der Gentleman Thomas Valentine. Sie haben ihn schon mal getroffen, Sir, erinnern Sie sich?«

»Ja, ich kenne ihn«, erwiderte Child ruppig und unterband damit weitere Nachfragen.

Nathaniel schaute den Friedensrichter verstohlen an, um dessen Gemütslage zu ergründen und herauszufinden, ob er selbst etwas damit zu tun hatte. Aber Child schien seine Anwesenheit vergessen zu haben. Er murmelte etwas vor sich hin, das Nathaniel nicht verstand. Das Einzige, was ihn erreichte, war ein säuerlicher Brandydunst, der ihm die frische Morgenluft vergällte.

»Schneid ihn ab«, sagte Child schließlich. »Und kein Wort zu irgendjemandem. Verstanden?«

Nathaniel schleppte eine Überseekiste zu dem Pfosten und stieg darauf. Die Augen des toten Mannes starrten leer auf das ruhige bräunliche Wasser des Flusses. Drüben im Deptford Reach knarrten die Rümpfe der Kaufmannsschiffe, und die Fischer murmelten ein Seemannsgebet, während sich um sie herum der Atem des Teufels weiter ausbreitete.

TEIL EINS

21. bis 24. Juni 1781

»Dasjenige Ding wird frei heißen, das bloß vermöge der Notwendigkeit seiner eigenen Natur existiert und bloß durch sich selbst zum Handeln bestimmt wird; notwendig oder vielmehr gezwungen wird ein Ding heißen, das von einem anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu existieren und zu wirken.«

BARUCH DE SPINOZA, ETHIK, 1. ÜBER GOTT

1

Die schlimmsten Überraschungen sind die, von denen wir glauben, wir hätten sie kommen sehen.

Amelia Bradstreet suchte mich am 21. Juni 1781 kurz nach neun Uhr abends in meinem Stadthaus in London auf. Ich spielte gerade mit Gabriel und stellte eine Reihe Bleisoldaten auf dem türkischen Teppich in meinem Studierzimmer auf, damit er sie mit einem Stock umwerfen konnte. Die Begeisterung meines Sohns für diese schlichte Tätigkeit wurde nur noch durch meine eigene übertroffen. Leider wurde unsere Freude durch lautes Klopfen an der Haustür jäh unterbrochen. Eine Woche zuvor war etwa zur gleichen Stunde ein junger Mann unangekündigt vor unserer Tür erschienen, und ich fürchtete, dieser ungebetene Gast könnte es erneut versuchen. Doch kurz darauf stand mein Butler in der Zimmertür und belehrte mich eines Besseren.

»Da ist eine Dame, die Sie sprechen möchte, Captain Corsham.« Pomfret hielt mir das Tablett mit der Visitenkarte hin.

»Mrs. Bradstreet«, las ich.

»Sie sagt, Sie hätten sie einmal als Amelia Archer gekannt.«

Nun war ich überrascht. Tads Schwester. Es musste wohl über zehn Jahre her sein, seit ich sie zuletzt gesehen hatte. Ich konnte mich nur schwach an sie als ein ins Lesen vernarrtes, zierliches Mädchen erinnern. Wie ihr Bruder hatte auch sie große graue Augen und eine auffallend blasse Haut. Zu dem Zeitpunkt, als sie England verlassen musste, hatte ich mich in Amerika aufgehalten, weshalb ich den größten Teil des Skandals, der zu ihrer Abreise führte, gar nicht mitbekommen hatte. Sie war im letzten Jahr zurückgekehrt, nachdem ihr Ehemann verstorben war, und Caro hatte darauf bestanden, dass wir sie nicht empfangen. Soweit mir bekannt war, pflegte sie auch sonst mit niemandem Umgang.

Ich zögerte und dachte über ihre möglichen Gründe nach. Hatte Tad sie geschickt? Was könnte sie von mir wollen?

»Sie kam in einer Mietkutsche, Sir. Ohne Dienerschaft. Soll ich ihr mitteilen, dass Sie unpässlich sind?«

Pomfret war, genau wie meine Frau, ein ziemlicher Pedant, was die Regeln des Anstands betraf. Nicht Tatsachen, sondern ihr Anschein waren das Wichtigste. Manche nennen das Heuchelei, andere Konvention. Was mich betrifft, so hatte ich während der amerikanischen Rebellion Männer auf dem Schlachtfeld gesehen, denen die Eingeweide aus dem Bauch quollen. Dementsprechend erschienen mir die Verbrechen, derer man sich in den Salons schuldig machen kann, vergleichsweise harmlos. Zudem war ich in diesem Augenblick ohnehin nicht geneigt, meiner Frau entgegenzukommen. Sie dürfen dies als einen Akt der Rebellion betrachten, wenn Sie mögen.

»Würden Sie sie bitte in den Salon führen, Pomfret?«

Ich übergab Gabriel der Obhut des Kindermädchens und trat vor den Wandspiegel, um mein Halstuch neu zu binden und meine Perücke zu richten. Dann begab ich mich in den Salon, wo Amelia Bradstreet mich erwartete.

Mein erster Gedanke war, dass sie wahrhaftig nicht wie eine Witwe aussah. Sie stand in der Mitte des Zimmers und schaute sich um, betrachtete die Möbel, das Silber und das Porträt von Caro über dem Kamin, das Thomas Gainsborough angefertigt hatte. Ihr Kleid fiel mir sofort auf. Es war eng geschnitten und ließ ihre Schultern frei, der Seidenstoff war von einem tiefdunklen Indigo und schimmerte bei jeder ihrer Bewegungen auf. Dazu trug sie einen Kaschmirschal, der mit goldenen Blumen bestickt war, und eine Halskette aus Amethyst.

Sie wandte sich um, und wir begrüßten uns. Ich erinnerte mich daran, dass Amelia drei Jahre jünger war als Tad und ich, und damit siebenundzwanzig Jahre alt.

»Captain Corsham«, sagte sie zaghaft und hielt mir ihre Hand hin, damit ich sie küssen konnte. »Viel Zeit ist verstrichen seit unseren gemeinsamen glücklichen Tagen in Devon. Ich hoffe, Sie vergeben mir, dass ich so unangekündigt bei Ihnen eindringe.«

Ihre Augen leuchteten silbern im Kerzenlicht, ihr Haar war von einem dunklen, üppigen Braun. Sie hatte sich Locken gedreht und trug sie hochgesteckt. Ich bewunderte die sanfte Krümmung ihres Halses und die hell schimmernden Amethyste auf ihrer Haut. Sie hatte ausgeprägte Gesichtszüge: hohe Wangenknochen, ein energisches Kinn, eine scharf geschnittene kleine Nase. Wenn sie sprach, entblößte sie ihre winzigen weißen Zähne.

Ich bemerkte auch andere Dinge. Die Erregung, die in ihren Bewegungen und ihrer Art des Sprechens zutage trat. Ihre Armut, auf die ihr billiges Parfüm – ein aufdringlicher Jasminduft – und ihre abgelaufenen Pantoffeln, die ich unter ihren Rockschößen bemerkte, hinwiesen. Aber ihr Blick war fest und ihr Auftreten beherrscht.

»Sie belästigen mich keineswegs«, sagte ich. »Möchten Sie sich nicht setzen, Mrs. Bradstreet? Darf ich Ihnen ein Glas Madeira anbieten?«

Während wir auf den Wein warteten, betrachtete sie das Porträt von Gainsborough. »Ist Caroline nicht zu Hause?«

»Sie ist im Carlisle House«, erklärte ich lächelnd, um sie nicht zu verunsichern. »Und zwingt alle dort, sich mit ihr an den Pharo-Tisch zu setzen.«

Sie war ganz offensichtlich erleichtert und sank auf das Sofa, wobei sie an den Ärmeln ihres Kleids zupfte. Der Diener klopfte, trat ein und servierte den Madeira. Ich bemerkte, wie er seine Augen prüfend über Mrs. Bradstreet gleiten ließ, als er sie bediente, lüstern und verächtlich zugleich.

»Sie tragen den roten Uniformrock«, sagte sie, nachdem der Diener die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Das tun nicht alle Männer.«

»Keineswegs aus Eitelkeit.« Ich verspürte den eigenartigen Impuls, mich zu rechtfertigen. »Das Kriegsministerium wünscht, dass wir ihn tragen.«

»Sie haben es sich verdient, nicht wahr?« Sie schaute mich sehr ernst an. »Ich habe einiges über Sie in den Zeitungen gelesen. Captain Henry Corsham, die Geißel der amerikanischen Rebellen. Es heißt, sogar der König kenne Ihren Namen.«

»Das sind Übertreibungen«, sagte ich, und es entstand eine unangenehme Pause, in der ich zu ergründen versuchte, warum sie gekommen war. Vielleicht um sich Geld zu leihen? Wollte sie Ansprüche geltend machen, weil wir uns schon so lange kannten? Oder hoffte Tad, sie könnte dabei helfen, unsere zerrüttete Freundschaft zu kitten? Der Gedanke daran ließ mir die Haare zu Berge stehen, und ich suchte bereits verzweifelt nach höflichen Formulierungen, um mich herauszuwinden.

Amelia beugte sich vor und schaute mich sorgenvoll an. »Ich hoffe, ich bringe Sie und Caroline durch mein Erscheinen nicht in Verlegenheit, aber ich fürchte, die Angelegenheit, um die es geht, ist zu dringlich, um sie einem Brief anzuvertrauen.«

Ich runzelte die Stirn. »Mrs. Bradstreet, bitte entschuldigen Sie meine Frage, aber sind Sie vielleicht in Schwierigkeiten?«

»Nein, aber ich fürchte, Tad könnte es sein.«

»Ich verstehe.« Ich bemühte mich, meine Sorge mit Irritation zu kaschieren. »Ist er etwa im Schuldturm gelandet? Ist es Geld, was Sie benötigen?«

Sie wurde blass angesichts des Tons, den ich anschlug. »Er ist verschwunden. Er hat mich zuletzt vor einer Woche in meinem kleinen Landhaus aufgesucht, als er auf dem Weg in die Stadt war, um dort Geschäfte zu erledigen. Er versprach wiederzukommen, wenn er aus London zurück wäre, aber er ist nicht erschienen. Ich habe in seiner Wohnung nachgefragt, aber dort ist er nicht. Der Portier hat ihn nicht mehr gesehen, seit er die Stadt verließ. Auch sonst weiß niemand, wo er sein könnte.«

»Wann hatten Sie ihn denn erwartet?«

»Vergangenen Donnerstag.«

»Das ist gerade mal vier Tage her. Und Tad war noch nie ein besonders zuverlässiger Zeitgenosse.«

Sie berührte ihre Halskette, und die Steine glänzten im Kerzenlicht. »Tad erzählte mir, er sei auf dem Weg nach Deptford«, sagte sie leise. »Deptford ist ein Umschlagplatz für den Sklavenhandel, nicht wahr?«

Tad und die Sklaverei. Ich erinnerte mich noch an unsere Pamphlete, an unsere Essays und unsere Reden. Die absolut unzeitgemäße Begeisterung für die Abschaffung der Sklaverei hatte uns in unserer Jugend angetrieben. Wir wären deswegen beinahe in Oxford aus dem College geworfen worden. Seit meiner Rückkehr aus dem Krieg hatte ich mich dann mit näher liegenden politischen Themen beschäftigt, aber Tad war über die Jahre hinweg nur noch wütender und fanatischer geworden.

Ich redete freundlich auf sie ein, um ihre Befürchtungen – und meine eigenen – zu zerstreuen. »Ich bin sicher, dass es keinen Grund für übertriebene Sorge gibt. Die Leute in Deptford mögen nicht gerade Gegner der Sklaverei sein, aber das Schlimmste, was sie tun könnten, wäre, ihn aus der Stadt zu jagen.«

Einen Moment lang schwieg sie. »Ich mache mir Sorgen um ihn. Nicht nur wegen Deptford. Tad ist da in eine gefährliche Sache hineingeraten. Er erzählte mir, er hätte sich mächtige Männer zu Widersachern gemacht.«

»Er tendierte schon immer zu Übertreibungen. Und er sieht überall um sich herum Feinde.«

»Das bedeutet ja nicht, dass sie nicht existieren. Er hatte Angst. Das konnte ich sehen.« Sie stockte. »Er sagte, man würde ihn verfolgen, und in Deptford hätte jemand versucht, ihn umzubringen. Ich sagte ihm, er solle sich an die Obrigkeit wenden, aber er meinte nur, die Obrigkeit würde mit den Sklavenhändlern unter einer Decke stecken.«

Es ist doch klar, was passiert ist, sagte ich mir. Wahrscheinlich hockt er irgendwo in Deptford in einer Zelle, nachdem er vor seinen Geldgebern in London geflohen ist. Aber meine zynischen Gedanken wurden von einer leichten Angst überschattet. Wenn nun doch jemand versucht hatte, ihn umzubringen? Und was wäre, wenn diese Person es noch einmal mit Erfolg versucht hatte?

»Hat er gesagt, um wen es sich bei diesen mächtigen Widersachern handeln könnte?«

»Er sagte, er hätte große Unruhe unter den Sklavenhändlern verbreitet. Er hätte ein Feuer entfacht, das ihre Häuser bis auf die Grundfesten niederbrennen könnte.«

»Das hat er doch sicherlich im metaphorischen Sinn gemeint?« Bei Tad wusste man das nie so genau.

»Denke ich auch. Er sagte, wenn er mit ihnen fertig sei, würde es keinen Sklavenhandel mehr geben.«

Ich lächelte nicht darüber, auch wenn ich es unter anderen Umständen womöglich getan hätte. Das waren genau die Formulierungen, die er benutzt hatte, als wir beide noch in Oxford studierten. »Wir werden die Kinderarbeit abschaffen, die Bärenhatz verbieten und die Sklaverei beenden.« Kindische Träumereien, genauso unrealistisch wie lobenswert.

Amelia wartete auf meine Antwort, und als keine kam, fuhr sie fort: »Ich sagte ihm, das sei lächerlich. Der Handel mit den Afrikanern ist Millionen von Pfund wert. Er erstreckt sich über drei Kontinente. Wie sollte ein einzelner Mann das beenden können?«

»Und was sagte er dazu?«

»Nur, dass er nach Deptford fahren würde, um dort etwas zu holen, das seine Feinde haben wollten, etwas, das er gegen die Sklavenhändler verwenden könnte. Und falls ihm dort etwas zustoßen würde, sollte ich mich an Harry Corsham wenden. Denn Sie wüssten, was dann zu tun wäre.«

Ich starrte sie an. »Das hat er gesagt? Ich habe ihn doch schon seit vier Jahren nicht mehr gesehen.«

»Ich denke, Sie sind die einzige Person, der er wirklich vertraut.« Sie schaute mich aus ihren großen grauen Augen an, die denen von Tad so ähnelten. »Ich will nicht behaupten, dass ich jemals verstanden habe, was zwischen Ihnen und meinem Bruder vorgefallen ist, aber es gab einmal eine Zeit, da war er Ihr innigster Freund. Werden Sie nach Deptford gehen und nach ihm suchen?«

Ich zögerte immer noch. Ich verspürte nicht den geringsten Drang, Tad wiederzusehen und alte Wunden aufzureißen. Aber mich davor zu drücken war unmöglich.

»Natürlich werde ich nach Deptford gehen. Gleich morgen früh breche ich auf. In der Zwischenzeit sollten Sie sich nicht allzu viele Sorgen machen.«

In ihren Augen schimmerte Dankbarkeit, aber das interessierte mich nicht. Ich wollte lediglich herausfinden, ob es Tad gut ging. Einen kurzen Moment lang, als ich mir vorstellte, er könnte tot sein, fühlte ich mich kalt wie ein Grabstein in der Gruft. Es war, als würde ein Schatten über meine Seele gleiten.

2

Ich schlief unruhig und wachte noch vor sechs Uhr auf. Über eine Stunde lag ich da und dachte über Amelias Besuch nach. Immer wieder sagte ich mir, dass die Ängste, die mich in der Nacht befallen hatten, unbegründet waren. Nachdem ich mich gewaschen und angekleidet hatte, war es mir halbwegs gelungen, mich davon zu überzeugen, dass ich Tad in Deptford finden würde. Wo er zweifellos hartnäckig daran arbeitete, die Welt zu verbessern, ohne sich um den Ärger zu scheren, den er dadurch verursachte.

Die Tür zu Caros Schlafzimmer war geschlossen. Ich hatte gehört, wie sie gegen drei Uhr morgens heimgekehrt war, und entschied, sie nicht zu wecken. Ich ging nach unten und befahl Pomfret, er solle Sam anweisen, die Kutsche bereit zu machen. In meinem Studierzimmer schrieb ich eine kurze Notiz und adressierte sie an Nicholas Cavill-Lawrence, den stellvertretenden Kriegsminister, um ihm mitzuteilen, dass ich London wegen dringender Geschäfte verlassen musste. Als ich aus Amerika als Invalide zurückgekommen war, hatte ich eine Stellung im Ministerium bekommen, und inzwischen stand ich kurz davor, Mitglied des Parlaments zu werden. Davon erhoffte ich mir einiges, auch wenn mir die vielen Fraktionen und Komitees wie auch das gesamte Labyrinth der Staatsverwaltung recht ermüdend erschienen. Und so redete ich mir ein, es könnte mir nur guttun, den Intrigen an der Whitehall für einen Tag zu entfliehen.

Ich übergab den Brief einem der Diener, damit er ihn zustellte, und ging ins Kinderzimmer, um dort mit Gabriel zu frühstücken. Wir bauten Burgen aus Kedgeree und stürmten sie mit aus Brot gebastelten Soldaten. Das fröhliche Lachen meines Sohns vertrieb alle meine Befürchtungen, und ich verließ das Haus voller Zuversicht.

Sam nahm die Straße über die London Bridge, die in südlicher Richtung aus der Stadt führte. Überall drängten sich Wagen, Kutschen und Karren, deren Fahrer fluchten und die Peitschen knallen ließen, um die Pferde der anderen Fahrzeuge zu erschrecken. Wir kamen nur langsam voran, denn zahlreiche Lastenträger sowie Bauern mit ihren Schafherden oder Kühen strömten zum Smithfield Market. In den Außenbezirken von Southwark standen Gerüste vor Neubauten, auf denen Männer emsig wie Ameisen herumkletterten. London verschlang das umliegende Land in allen Richtungen, aber immerhin ließen wir nun den dichten Verkehr und das Gedränge hinter uns. Die Räder ächzten protestierend, als wir den Schlagbaum passierten, um unser Chausseegeld zu entrichten, aber dann ging es rasch voran. Ich lehnte mich zurück und wiegte mich im Rhythmus der Kutsche.

Ich hatte Deptford noch nie zuvor besucht, auch wenn ich Greenwich ganz gut kannte, das nur ein kleines Stück entfernt ebenfalls am Fluss lag. Gleichwohl war mir durch meine Arbeit im Kriegsministerium bekannt, dass die Stadt sich in zwei Siedlungen aufteilte, welche von einer Straße getrennt wurden, die über freies Gelände verlief. Die hier ansässigen Kaufleute residierten in Deptford Broadway in der Nähe der Zollbrücke, wo die Old Kent Road den Deptford Creek überquerte. Deptford Strand lag eine Meile weiter nördlich am Ufer der Themse, wo sich der Handelshafen und die Docks der Kriegsmarine sowie die Arbeitersiedlung befanden.

Ungefähr eine Stunde nach unserer Abfahrt in Mayfair erreichte unsere Kutsche rumpelnd Deptford Broadway, und ich sah die ersten Steinhäuser. Die Straße wurde von eleganten Geschäften mit Schaufensterauslagen gesäumt. Herren und Damen mit Schirmen promenierten im Sonnenschein, gefolgt von jungen schwarzen Pagen oder groß gewachsenen afrikanischen Dienern. Ich hatte die Absicht, den hiesigen Friedensrichter aufzusuchen, der am ehesten darüber informiert sein dürfte, wenn einem Gentleman von außerhalb etwas zugestoßen war. Ich befahl Sam, vor der Kutscher-Herberge anzuhalten. Dort erfuhr ich, dass der Mann, den ich suchte, sich Peregrine Child nannte. Zu dieser Stunde, so hörte ich, begab er sich üblicherweise nach Deptford Strand, um Erkundigungen über die Verbrechen einzuziehen, die sich während der vergangenen Nacht ereignet hatten.

Wir ließen die noble Eleganz von Deptford Broadway hinter uns und rumpelten über unbefestigte Wege Richtung Flussufer. Ungesunde Dünste drangen durchs Fenster, es roch nach Pech und Schwefel, Ziegeleien und Gerbereien, es stank nach Schlachthof und Kloake. Meine Sorgen wegen des bevorstehenden Zusammentreffens mit Tad wurden mit jeder Meile, die wir zurücklegten, nur noch größer. Inzwischen lastete eine düstere Vorahnung auf meinem Herzen wie ein Stein. Warum zum Teufel hatte er Amelia bloß aufgefordert, mich aufzusuchen? Seit meiner Rückkehr aus Amerika hatte ich ihn nur ein einziges Mal getroffen, vor vier Jahren, und die Erinnerung an diese Zusammenkunft machte mir noch immer zu schaffen. Ich bereute, dass ich ihm damals Schmerz zugefügt hatte, aber ich hatte nie den Wunsch gehabt, meine Entscheidung zu revidieren. Unsere gemeinsame Vergangenheit hatte durchaus düstere und abschreckende Aspekte.

Einige Minuten später erreichten wir Deptford Strand, wo wir an schmutzigen Backsteinhäusern und einer großen, abweisend wirkenden Kirche vorbeirollten. Mein schlimmes Bein war von der langen Fahrt ganz steif geworden, und ich sehnte mich danach auszuschreiten. Ich klopfte gegen das Dach, und wir hielten neben einem matschigen Grundstück an, das offenbar den hiesigen Marktplatz darstellte. Der armselige Ort wurde von mickrigen Häusern und Geschäften gesäumt, Fischverkäufer boten ihre Ware feil. Sam kletterte vom Kutschbock und klappte die Stufen herunter, damit ich aussteigen konnte.

»Geh in einem der Gasthäuser etwas trinken«, forderte ich ihn auf. »Aber sei gegen Mittag wieder zurück.«

Es gab zahlreiche Schankhäuser, unter denen er sich eins aussuchen konnte. Obwohl es noch nicht mal elf Uhr war, torkelten schon einige Männer über die Straße. Viele trugen Seemannskleidung und gingen breitbeinig, wie es für Männer typisch war, die jahrelang auf Schiffen gearbeitet hatten. Kreischende Huren suchten nach Kundschaft, und ich schien ihre Aufmerksamkeit zu erregen, als ich Richtung Fluss lief.

»Wie zart seine Haut ist.« Eine gealterte Delilah berührte mein Gesicht. »Sanfte braune Augen wie die meiner Tochter. Oh, ich werde dich ins Paradies führen, mein hübscher Soldat.«

Ich schaute mich um, sah nur billige Läden, Leihhäuser und magere Prostituierte und wünschte, ich könnte einen anderen Weg einschlagen. Ich befreite mich aus ihrer Umarmung, gab ihr einen Penny und fragte sie nach dem Weg zum Wachhaus.

»Sind Sie auf der Suche nach Perry Child?«, fragte sie und entblößte dabei ihre schwarzen Zähne. »Der wird wohl gerade frühstücken. Versuchen Sie’s mal in der Noah’s Ark Tavern.«

Dieses Lokal entpuppte sich als altes Fachwerkhaus in der nordwestlichen Ecke des Marktplatzes, dessen obere Stockwerke sich so weit über das Pflaster neigten, dass man befürchten musste, das Gebäude könnte jeden Moment umkippen. Eine Straße führte daran vorbei zum Fluss hinunter, und ich hielt kurz inne, um die braunen Fluten des Deptford Reach zu betrachten. Am Ufer lagen zahllose Schiffe aller Größen, und ein Wald aus Masten erhob sich in den wolkenlosen Himmel.

Ungefähr ein Dutzend Männer saßen trinkend in der Schankstube und drehten sich zu mir um, als ich eintrat. Es roch nach Bratfisch. Die Unterhaltungen wurden vom gelegentlichen Klappern der Würfel begleitet. Ein junger Mann mit einer Perücke aus Pferdehaar wusch Bierseidel hinter dem Tresen, und ich bat ihn, mir Peregrine Child zu zeigen. Er deutete auf eine der hölzernen Nischen im Esszimmer der Kneipe, wo ein Mann mittleren Alters allein speiste.

»Mr. Child?« Der Mann blickte von seiner Fischpastete auf. »Captain Henry Corsham.« Ich verbeugte mich, und er nickte knapp. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihr Frühstück störe, aber ich möchte Sie um einige Minuten Ihrer Zeit bitten.«

Child musterte meine Uniform mit skeptischem Blick, angefangen bei meinem Zweispitz über meinen roten Rock, die hellbraunen Kniebundhosen und Seidenstrümpfe bis hinunter zu den Lederstiefeln. »Um was geht es denn?«, fragte er kauend. Er sprach mit hiesigem Akzent, recht ungehobelt, aber er versuchte nicht, es zu kaschieren.

»Ein Freund von mir ist verschwunden. Er soll sich zuletzt in Deptford aufgehalten haben. Ich möchte Sie bitten, mir bei der Suche nach ihm zu helfen.«

Child trug eine schäbige blaue Jacke, und sein Halstuch war voller Fettflecken. Er musste ungefähr fünfundvierzig Jahre alt sein, vermutete ich, auch wenn sein Doppelkinn und die mächtige Perücke es nicht leicht machten, ihn genau einzuschätzen. Er hatte wache schwarze Augen, sein Mund war schmal und wirkte zynisch, seine Knollennase war von einem Netz aus geplatzten Adern durchzogen. Neben ihm stand eine Flasche Rotwein, die fast leer war. Er unterdrückte ein Seufzen und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber. »Wie heißt er denn, Ihr Freund?«

»Thaddeus Archer, auch wenn die meisten Menschen ihn Tad nennen. Er ist dreißig Jahre alt und kam aus London hierher.«

»Ein Mann von Rang?«

»Ein Advokat. Von der Anwaltskammer Lincoln’s Inn.«

»Anwälte. Mein Vater sagte immer, die seien nur dazu da, um den Steuereintreibern den Weg zu ebnen. Ich habe nie von Ihrem Freund gehört, Captain. Tut mir leid.«

»Mr. Archer wurde schon vor fünf Tagen zu Hause erwartet«, erklärte ich beharrlich. »Aber niemand hat ihn gesehen, seit er London verlassen hat. Seine Schwester macht sich große Sorgen …« Ich brach ab, als er fortfuhr, die Pastete in sich hineinzuschaufeln. »Vielleicht könnte ich warten, bis Sie Ihr Frühstück beendet haben, Sir, und Sie dann zur Stadtwache begleiten? Dann könnten Sie sich ein paar Notizen machen.«

Child tippte sich mit der Gabel gegen die Stirn. »Alles hier notiert, Sir, das kann ich Ihnen versichern. Anwalt, Archer, Schwester. Sprechen Sie weiter.«

Ich fand Childs Manieren genauso grobschlächtig wie seine Kleidung, aber ich versuchte, meine Abneigung zu unterdrücken. »Wie ich schon sagte, ist Mr. Archers Schwester um sein Wohlergehen besorgt.«

Child trank einen großen Schluck Wein. »Hören Sie, Sir. Ich würde Ihnen gern helfen, aber wir haben viele Besucher in Deptford. Sie kommen und gehen, und manchmal passieren Unfälle. Männer betrinken sich und fallen in den Fluss, oder jemand hilft ein bisschen nach. Manchmal gibt der Fluss sie wieder her, auch wenn dann meistens nicht mehr viel von ihnen übrig ist. Falls Ihr Freund auf diese Weise verschwunden ist, kann es Wochen dauern, bis wir ihn finden.«

Es war offensichtlich, dass Mr. Child eine gewisse Abneigung gegen mich hegte, wahrscheinlich aufgrund meiner Erscheinung und Standeszugehörigkeit. Vielleicht gefiel ihm nicht, dass ich zum Militär gehörte. Ich wusste, dass es Spannungen zwischen dem Marinehafen und der örtlichen Bevölkerung gab. Es wurde Zeit, die höflichen Umgangsformen abzulegen.

»Ein Gentleman ist in Ihrer Stadt und unter Ihrer Aufsicht verschwunden, Sir. Ich habe kein Bedürfnis, Ihnen an der Whitehall Ärger zu verschaffen, glauben Sie mir, aber genau das werde ich tun, falls Sie sich weigern, mir zu helfen.«

Endlich schaute Child von seinem Essen auf. »An der Whitehall, Sir?«

»Ich gehöre zum Kriegsministerium.« Ich reichte ihm meine Karte. »Also, was sind Sie nun, Freund oder Feind?«

Child leckte sich mit seiner vom Rotwein verfärbten Zunge die Lippen und starrte, Schlimmes ahnend, auf meine Karte. »Hielt Ihr Freund sich hier geschäftlich auf, wissen Sie das? Viele Anwälte aus London haben mit Kaufleuten oder Händlern in Deptford Strand zu tun.«

»Ich glaube nicht, dass sein Aufenthalt irgendwas mit rechtlichen Angelegenheiten zu tun hatte. Mr. Archer hatte auch politische Interessen, und die waren eher radikaler Natur. Seine Leidenschaft galt der Abschaffung der Sklaverei.«

Ich erwartete noch mehr Ablehnung von seiner Seite, denn ich konnte mir seine Meinung über die Abolitionisten nur allzu gut ausmalen. Aber als er erneut das Wort ergriff, klang es eher dringlich als bösartig.

»Wären Sie so freundlich, ihn zu beschreiben, Captain?«

Sein Benehmen war mit einem Mal förmlicher, und seine stechenden Augen flammten auf wie glühende Kohlen. Dieser Wandel erschreckte mich, und mich überkam eine böse Ahnung.

»Er ist fünf Fuß und sieben Zoll groß. Sehr dünn und ziemlich blass. Langes schwarzes Haar. Wer ihn einmal gesehen hat, erinnert sich an ihn, das ist immer so gewesen. Er kleidet sich wie ein Advokat, aber er redet wie ein Priester.«

»Eine sehr angemessene Beschreibung«, sagte Child bedeutungsvoll.

»Angemessen?«, fragte ich erstaunt. »Sagten Sie nicht, Sie hätten ihn nie gesehen?«

»Mutato nomine de te fabula narratur. Ändere den Namen, und die Geschichte handelt von dir.« Child schob seinen Teller beiseite und wischte sich den Mund mit einem Tuch ab. »Captain Corsham, Sie kommen besser mit mir.«

3

Es hatte Größe und Umrisse eines Menschen und war mit einem Tuch bedeckt. Tads Größe. Tads Umrisse. Ich musste schlucken. Peregrine Child redete, aber ich verstand kaum, was er sagte.

»Unser Toter hier hat sich uns zu seinen Lebzeiten als Thomas Valentine vorgestellt, und er hielt sich nicht zum ersten Mal in der Stadt auf. Wir fanden ihn vor vier Tagen unten am Hafen. Ich habe beim Friedensrichter in London angefragt, um seine Verwandten ausfindig zu machen. Falls Valentine ein falscher Name war, dann erklärt das, warum ich keinen Erfolg damit hatte.«

Wir befanden uns in der Wohnung eines Arztes namens James Brabazon in Deptford Broadway. Die Praxis lag im ersten Stock über einer Apotheke. An den Wänden des Zimmers standen Schränke mit zahllosen Glasflaschen und Behältern aus Porzellan, auf hölzernen Regalen lagen Sägen, Messer und Scheren. Ein grauenhafter Geruch hing in der Luft, nicht direkt nach Fäulnis, aber nach zu lange abgehangenem Wild, und mischte sich mit dem Eau de Cologne des Arztes. All das bemerkte ich nur am Rande, denn ich musste die ganze Zeit dieses Ding auf dem Tisch anstarren.

»Wie ich schon sagte«, fuhr Child fort, »passt Ihre Beschreibung sehr gut, aber vielleicht möchten Sie lieber jemand anderen kommen lassen? Einen Diener zum Beispiel, der ihn gut kannte? Die Leiche sieht nicht gerade aus wie ein Strauß frischer Rosen.«

Ich hob den Kopf. »Und ich bin kein Blumenmädchen. Fahren Sie bitte fort.«

Child machte Brabazon ein Zeichen, der nun das Tuch zur Seite zog.

Meine Welt geriet aus den Fugen. Ich stand regungslos da und versuchte, den Schock zu verkraften. Ich hatte ihn erwartet, aber es fühlte sich trotzdem an, als würde ich von einer Herde Ochsen überrannt. Tads feine Gesichtszüge waren angeschwollen, ähnelten ihm aber zu meiner großen Pein immer noch sehr. Meine Augen wanderten über die klaffende Wunde an seinem Hals sowie die zahllosen Schnitte und Schürfwunden, die seinen Körper überzogen. Alle diese Verletzungen kamen mir vollkommen unrealistisch vor, wie bei einem Gemälde, das einen gefolterten Heiligen zeigte.

Ich starrte ihn dumpf an, hätte ihn am liebsten geschüttelt, um seinen Körper wieder zum Leben zu erwecken. Ich wollte auf die Knie fallen und zu Gott beten, obwohl ich dessen Existenz schon seit geraumer Zeit anzweifelte. Meine Ohren klingelten, wie dies manchmal der Fall war, wenn ich mich sehr anstrengte, nachdem ich der Artilleriekanonade in Bunker Hill zu nahe gekommen war.

»Er ist es«, murmelte ich vor mich hin. »Das ist Thaddeus Archer.«

Brabazon warf mir einen mitfühlenden Blick zu. Er hatte ein schmales, ausgemergeltes Gesicht und lange braune Haare, die er mit einem Band zusammenhielt. Seine Augen waren merkwürdig, das eine blau, das andere braun. Beide starrten mich sorgenvoll an.

»Kannten Sie ihn schon lange, Captain Corsham?«, fragte er mit sanftem schottischem Tonfall.

»Über zehn Jahre. Wir waren zusammen in Oxford.« Die Worte schienen aus der Ferne zu kommen, als wären es gar nicht meine eigenen.

»Er starb, als seine Kehle durchgeschnitten wurde«, sagte Brabazon. »Es ging gnädigerweise schnell.«

»Brabazon glaubt, dass wir ihn kurz nach der Ermordung gefunden haben«, sagte Child. »Also geschah es irgendwann in den frühen Morgenstunden des 18. Juni.«

»Das lässt sich anhand der eingetretenen Leichenstarre erkennen.« Brabazon warf mir einen besorgten Blick zu. »Captain, möchten Sie sich setzen?«

In der letzten Nacht hatte ich mir in schlimmsten Fantasien seinen Tod ausgemalt – ein derart brutales Abschlachten aber hatte ich mir nicht im Entferntesten vorstellen können. »Um Himmels willen, er wurde ja sogar gefoltert.« Ich starrte auf einen grotesken dunklen Fleck auf seiner Brust. Dort war das Fleisch verkohlt, und man hatte ein Zeichen in die Haut eingebrannt: einen Halbmond, dessen spitze Enden nach unten zeigten. Darüber war eine Reihe von Punkten zu sehen, die wie eine Krone aussahen. »Was ist denn das für ein Teufelswerk?«

»Der Mörder legte Wert darauf, ihm das Brandmal eines Negers aufzudrücken«, sagte Brabazon. »Das ist wirklich außergewöhnlich. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Drehen Sie ihn um«, sagte Child.

Ich hielt die Luft an, als ich das zerfetzte rohe Fleisch auf Tads Rücken ansah. »Das wurde ihm mit einer Peitsche beigebracht«, sagte Brabazon. »Fünfzig Hiebe, würde ich sagen. Wahrscheinlich hat man ihn dafür an einen Pfahl gebunden. Man sieht hier an den Hand- und Fußgelenken Abschürfungen, die von Fesseln herrühren.«

»Zeigen Sie ihm die Hände«, sagte Child.

Sie waren mir schon aufgefallen. Wie hätte man es auch übersehen können? Seine Glieder waren grotesk angeschwollen, die Knöchel violett verfärbt und aufgedunsen. Einige Finger standen in eigenartigem Winkel ab.

»Ich fürchte, man hat ihm Daumenschrauben angelegt«, sagte Brabazon.

»Daumenschrauben?« Ich starrte ihn entsetzt an. »Wer besitzt denn heutzutage noch so etwas?«

»Oh, sie kommen regelmäßig auf den Sklavenschiffen zum Einsatz. Das ist einer der weniger angenehmen Aspekte dieses Geschäfts, das kann ich Ihnen versichern, aber manchmal ist ihre Anwendung einfach notwendig. Wenn eine Fracht Neger zum Beispiel im Verdacht steht, eine Revolte anzuzetteln, dann kann man sie mithilfe von Daumenschrauben von ihren Plänen abbringen. Ich fahre ab und zu als Arzt auf einem Sklavenschiff mit und habe dieses Instrument selbst schon zum Einsatz gebracht. Die Verletzungen von Mr. Archer sind absolut identisch mit denen, die ich kenne.«

Lieber Gott, was für Menschen. Was für eine Stadt.

»Wie ich schon sagte, war es nicht das erste Mal, dass dieser Mann, den wir als Valentine kannten, nach Deptford kam«, erklärte Child. »Ich selbst hatte schon mit ihm zu tun. Er hat einen der Sklavenhändler hier in Broadway belästigt und die hiesigen Neger aufgehetzt. Ich habe ihn aus der Stadt verbannt.« Er trat vor die Leiche und deutete auf Tads Verletzungen, während er weitersprach: »Die Peitsche. Das Brandmal. Die Daumenschraube. Das sind Strafen, die man Sklaven zukommen lässt. Ihr Freund ist hergekommen und hat Streit gesucht. Den hat er gefunden.«

Brabazon drehte Tad wieder auf den Rücken und trat beiseite. Ich wusste, dass diese Szene sich für immer in mein Gedächtnis einbrennen würde. »Haben Sie den Täter gefunden und verhaftet?«

»Bis jetzt noch nicht«, sagte Child.

»Was haben Sie bislang unternommen, um ihn zu finden?«

»Das, was ich immer unternehme, wenn ich eine Leiche und keine Zeugen habe. Ich setze eine Belohnung aus und hoffe, jemand kommt, um sie einzufordern.«

»In London stellen die Friedensrichter eigene Ermittlungen an.«

Child warf mir einen gleichgültigen Blick zu. »Wir sind hier nicht in London.«

Das Brandmal auf Tads Brust zog unbarmherzig meinen Blick auf sich. Ich stellte mir vor, wie jemand das glühende Eisen auf seine Haut drückte, seine Schmerzensschreie. »Wenn der Mörder sich mit der Bestrafung von Sklaven so gut auskennt, könnte es dann nicht ein Sklavenhändler sein?«

»Ohne Zweifel. Aber die Hälfte der Männer hier in der Stadt hat schon mal auf einem Sklavenschiff gearbeitet. Damit hätten wir an die dreitausend Verdächtige. Ich habe in den Schenken der Sklavenhändler herumgefragt, aber keine Antworten bekommen. Ich hatte auch keine erwartet. Die Sklavenhändler kümmern sich selbst um ihre Angelegenheiten.«

»Was ist mit dem Brandzeichen? Es ist doch sehr eindeutig, finden Sie nicht?«

Brabazon hatte uns den Rücken zugewandt und damit begonnen, seine Gerätschaften zu ordnen. Jetzt drehte er sich wieder um. »Oh, es gibt zahllose alte Brandeisen für Sklaven hier in Deptford, Sir. Ich würde nicht allzu viel darauf geben.«

»Meiner Ansicht nach«, sagte Child, »hat Ihr Freund einen Streit über den Sklavenhandel vom Zaun gebrochen und leider den Falschen erwischt. Der Mörder ist ihm in eine abgelegene Ecke der Stadt gefolgt und hat ihn überwältigt. Anschließend hat er sich an ihm abgearbeitet.« Child umfasste seinen Zeigefinger und deutete eine brutale Drehbewegung an. »Als es ihm zu langweilig wurde, hat er Mr. Archer kurzerhand die Kehle durchgeschnitten.«

»Sie glauben doch nicht, dass er nur wegen einer politischen Meinungsverschiedenheit umgebracht wurde?«

»Aus welchem Grund denn sonst?«

Eine merkwürdige Stille breitete sich aus. Die beiden Männer schauten mich erwartungsvoll an.

»Mr. Archer hat seiner Schwester angedeutet, dass er verfolgt wurde. Er sagte, jemand in Deptford hätte versucht, ihn umzubringen. Vielleicht hat er deshalb einen falschen Namen benutzt – weil er um sein Leben fürchtete?«

»Sagte er irgendwas über diese Person, die versucht hat, ihn zu töten?«

»Nur, dass er mächtige Feinde hätte. Sklavenhändler, vermute ich. Archer hatte sich in die Idee verstiegen, er könnte den Sklavenhandel beenden.« Das klang wirklich lächerlich, aber die Zusammenhänge lagen klar auf der Hand. Tad hatte gesagt, es gäbe Leute, die ihn umbringen wollten, und jetzt war er tot.

Child schaute mich erstaunt an. »Die Sklaverei beenden, Sir? Wie wollte er das denn zuwege bringen?«

Ich dachte angestrengt über das nach, was Amelia mir erzählt hatte. Ich musste unbedingt noch einmal mit ihr sprechen. »Er sagte, er würde hierherkommen, um etwas in Empfang zu nehmen, das seine Feinde unbedingt haben wollten.«

Wieder spürte ich, wie sie aufhorchten. »Was könnte das gewesen sein?«, fragte Child.

»Das weiß ich nicht.«

»In seinem Zimmer in der Noah’s Ark Tavern habe ich nichts Ungewöhnliches gefunden.«

»Wo sind seine Habseligkeiten? Ich würde mir sie selbst gerne mal ansehen.«

Child zögerte kurz. »Die Sachen sind jetzt im Haus des Bürgermeisters.«

»Wieso interessiert sich der Bürgermeister denn dafür?«

»Wenn ein Gentleman in seiner Stadt ermordet wird, findet dieser Umstand selbstverständlich Mr. Stokes’ Interesse.«

»Dann muss ich mit Mr. Stokes sprechen.«

»Wenn Sie es für notwendig erachten. Ich befasse mich nicht mit Verschwörungen. Ockhams Rasiermesser lautet meine Parole. Lex Parsimoniae. Wenn Sie mir zwei Erklärungen liefern, eine einfache und eine komplizierte, dann bevorzuge ich grundsätzlich die geradlinigste Lösung.« Child deutete auf die Leiche. »Decken Sie ihn wieder zu, Brabazon. Wir sind fertig.«

Meine Augen tränten, als ich ins Sonnenlicht starrte, das in einem breiten hellen Strahl durch das offene Fenster hereinfiel. Ich stand nun nicht mehr in diesem Zimmer vor dem misshandelten Körper, der dort auf dem Tisch lag. Ich ging jetzt am Ufer des Cherwell entlang, an einem sonnigen Tag im September, zwölf Jahre zuvor. Ich passierte eine Flusskrümmung und sah ihn vor mir.

Wir hatten noch nie miteinander gesprochen, auch wenn ich ihn schon oft am Wadham College in Oxford gesehen hatte, wo er sich bereits seinen Ruf als Exzentriker erworben hatte. Ein zierlicher junger Mann, der, wie ich vermutete, weniger wog als der große Sack, an dem er sich gerade zu schaffen machte. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug weder Hut noch Perücke. Später erfuhr ich, dass er seinen Hut in einem Gin-Shop verloren hatte und niemals Perücken trug, weil er sie für undemokratisch hielt. Sein Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden, und eine schwarze Locke fiel ihm über ein Auge. Er hatte hohe Wangenknochen, blasse Haut, einen großen Mund und graue Augen. Damit ähnelte er eher einem romantischen Dichter auf dem Weg zum Duell als einem Studenten der Rechtswissenschaften.

Er kramte mit den Händen in dem Sack und schöpfte ein weißes Pulver heraus, das er ins Wasser warf wie ein Bauer, der etwas aussät. Diese Geste wiederholte er mehrere Male, und ich vermutete, dass er den Sack erleichtern wollte, damit er ihn anheben konnte. Ich blieb stehen und schaute zu, während ich meine Augen gegen das Sonnenlicht abschirmte, das vom Fluss reflektiert wurde und mich blendete. Schließlich schaute er auf und bemerkte mich.

»Zucker aus Westindien«, rief er zur Erklärung. »Ich habe ihn aus der Küche des College gestohlen, weil er mit dem Blut afrikanischer Sklaven verunreinigt wurde.«

»Dann ist der Fluss ja der beste Ort dafür«, sagte ich lächelnd, und er grinste zurück.

»Ich war auf der Suche nach Ihnen«, sagte ich, während er weiter den Zucker in den Fluss schleuderte. »Wegen der Dinge, die Sie gestern Abend in der Mensa über die Sklaverei gesagt haben. Ich stimme Ihnen in allen Einzelheiten zu. Der Handel mit den Afrikanern ist eine abscheuliche Sache und lastet als schlimmer Makel auf unserem Staatswesen.«

Sein Gesicht verdüsterte sich. »Der Sklavenhändler, der am Tisch des Dekans saß, ging wieder, ohne eine Spende zu hinterlassen. Ich fürchte, der Direktor wird mir einen Verweis erteilen.«

Ich fasste Mut und erklärte mit lauter Stimme: »Falls Sie sich dem Direktor und dem Dekan gegenüber verteidigen müssen, wäre es mir eine Freude, Ihnen beizustehen, wenn Sie erlauben. Die können uns doch nicht fortschicken, nur weil wir unsere Meinung geäußert haben.«

Er hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, musterte mich von oben bis unten, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Mir scheint, der liebe Gott hat mir einen Herakles geschickt, um mir bei diesem Sack beizustehen. Nur keine falsche Scheu, Sir. Kommen Sie her, und helfen Sie mir.«

Das war der Anfang. Und es war auch das Ende.

4

Brabazon führte uns die Treppe hinunter. Meine Brust schmerzte, wie ich es seit dem Tag, an dem meine Mutter starb, nicht mehr gespürt hatte. Ich wollte die Jahre zurück. All die Zeit in Amerika, als ein ganzer Ozean uns voneinander getrennt hatte. Oder in London, während wir in nächster Nachbarschaft und doch voneinander entfremdet gelebt hatten.

Brabazon schob die Riegel zurück und zog die Tür auf, um uns hinauszulassen, schreckte aber mit einem empörten Ausruf wieder zurück.

»Entschuldigen Sie bitte, vor meiner Tür liegt ein toter Vogel. Seien Sie bitte vorsichtig, und steigen Sie über ihn hinweg.«

Wir taten es und sahen, dass es sich bei dem Vogel um eine weiße Taube handelte, die ihre Flügel ausgebreitet hatte, als wolle sie im Tod noch fliegen. Ihr Bauch war aufgeschlitzt, und die Innereien lagen kreisförmig um den Kadaver herum. Sogar meinen getrübten Augen entging nicht, dass der Vogel nicht so aussah, als hätte ein Raubtier ihn dort abgelegt.

Child und Brabazon tauschten kurze Blicke aus und suchten die Straße ab. Ein Junge mit einem Stock in der Hand trieb eine Gänseschar vorbei. Drei junge Damen unterhielten sich kichernd über eine Haube, die im Schaufenster eines Ladens zu sehen war. Zwei schwarze Diener gingen vorbei und sprachen miteinander. Brabazon schob den Vogel mit dem Fuß aus dem Weg und rief nach einem Diener, der ihn beseitigen sollte. Er entschuldigte sich nochmals, wir verbeugten uns und gingen auseinander.

Meine Kutsche stand vor der Herberge, in der Sam seinen Durst zweifellos ausgiebig gelöscht hatte. Child erklärte ihm den Weg zum Haus des Bürgermeisters, und wir stiegen ein. Ich schaute aus dem Fenster. Draußen zog die Welt vorbei, in der es keinen Tad mehr gab.

* * *

Der Bürgermeister wohnte am Ende von Deptford Broadway in einer weißen Villa im italienischen Stil inmitten eines üppigen Gartens. Ein weißhaariger afrikanischer Pförtner öffnete uns das Tor, und die Kutsche rollte knirschend über eine geschwungene Zufahrt, die um einen Brunnen mit Fontäne führte.

Ein schwarzer Diener in Livree empfing uns vor dem Eingang. Er war sehr groß und schwer, hatte hervortretende Augen und eine platte Nase. Er schien Child gut zu kennen. Nach einer kurzen Wartezeit im Vorraum führte er uns in einen großzügigen Salon mit hohen Türen, die zum Garten hin geöffnet waren. Gläserne Vitrinen zeigten Kunstwerke aus Elfenbein und Jade, aber meine Aufmerksamkeit galt vor allem den kunstvollen Ornamenten unter der Decke. Anstelle der üblichen Stuckverzierungen mit griechischen Mäandern oder verschlungenem Laubwerk waren dort zahlreiche Köpfe unterwürfig dreinblickender Afrikaner zu sehen.

Child stellte uns einander vor. Bürgermeister Lucius Stokes gehörte der Generation meines Vaters an und ähnelte ihm sogar in vielerlei Hinsicht. Er war groß, hatte ein ausgeprägtes Kinn und das Auftreten eines Patriziers. Sein schwarzer Samtrock war mit silbernen Stickereien besetzt und sein indigofarbenes Halstuch lässig geknotet. Er trug sein eigenes Haupthaar kurz und gepudert und ließ es seitlich über die Ohren fallen – wie es Mode bei den jungen Männern war. Im Gegensatz zu meinem Vater, dessen zittriger Handschlag seine Hinfälligkeit verriet, hatte Stokes einen festen Händedruck und stellte das typische Lächeln eines Politikers zur Schau. Neben ihm auf dem Sofa saß eine wunderschöne Mulattin.

»Darf es Tee für die Herren sein? Sorge bitte dafür, Abraham.«

Ich verbeugte mich vor der jungen Frau, auch wenn ich unsicher war, welche Position sie in diesem Haus innehatte. Ihr schimmerndes schwarzes Haar war hochgesteckt wie das einer englischen Dame. Sie war auch wie eine Dame gekleidet, trug ein eng sitzendes kanariengelbes Seidenkleid mit tief sitzendem Ausschnitt. Meine Verbeugung entlockte dem Bürgermeister die Andeutung eines Lächelns.

»Captain Corsham ist wegen des Mordes an Valentine gekommen«, sagte Child.

Etwas bewegte sich, und ich bemerkte einen weiteren Afrikaner, der an einem Schreibpult in der Ecke des Salons saß. Er war wie ein Gentleman gekleidet und trug eine Perücke. Er musste ungefähr in meinem Alter sein. Sein Federkiel verharrte an einer Stelle auf dem Blatt, und er schaute mich mit einer eigenartigen Intensität an.

Child erklärte Stokes, dass der Mann, der nach Deptford gekommen war und sich Valentine genannt hatte, nun als Londoner Advokat namens Thaddeus Archer identifiziert worden sei. »Captain Corsham war mit ihm befreundet.« Er übergab Stokes meine Karte.

»Ein bedauerlicher Vorfall.« Stokes bemühte sich um ein mitfühlendes Lächeln. Ein leichter Geruch von Moschus und Virginiatabak umgab ihn. »Als Valentine zum ersten Mal hier erschien, forderten einige, ich solle ihn sofort aus der Stadt jagen. Vielleicht wäre das im Nachhinein betrachtet das Beste gewesen. Aber ich bin stolz darauf, dass Deptford eine liberale und tolerante Gemeinde ist. Jeder hier hat das Recht, seine Meinung zu äußern, sogar ein Abolitionist.«

»Ganz offensichtlich waren nicht alle dieser Ansicht«, sagte ich.

»Wohl wahr, und ich bedaure das zutiefst. Aber Ihr Freund – Mr. Archer, richtig? – ist durchaus mitverantwortlich für das, was geschehen ist. Ein weiser Mann begibt sich nicht in die Höhle des Löwen und reizt die Bestie mit einem Spieß. Genauso wenig geht er in eine Stadt, die vom Sklavenhandel lebt, und plädiert dort für dessen Abschaffung. Mr. Child hat versucht, ihn zu warnen, gleich beim ersten Mal, als er hier in Schwierigkeiten geriet. Hätte er darauf gehört, wäre er wohl noch am Leben.«

»In welche Schwierigkeiten ist er denn geraten?«

Ich spürte, dass Child zögerte, mir von dem Vorfall zu berichten. »Das war vor etwa einem Monat. Archer geriet am Hafen in ein Handgemenge mit einem Seemann von einem Sklavenschiff.«

»Das könnte der versuchte Mordanschlag gewesen sein, von dem er erzählte.«

Child machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Das war nichts weiter als eine Prügelei.«

»Wurde dieser Seemann als Verdächtiger in Betracht gezogen?«

»Er hat ein Alibi. Ein gutes. Ich habe es überprüft.«

Die junge Frau stand vom Sofa auf, durchquerte das Zimmer und schaute in den Garten. Jeder der anwesenden Männer, sogar der schwarze Gentleman am Schreibpult, folgte ihr mit den Augen. Sie war wesentlich jünger, als ich zunächst angenommen hatte, vielleicht sechzehn Jahre alt. Ihre Haut hatte die Farbe von Honig, ihre Gesichtszüge vereinten die großartige Schönheit der Europäerin mit der einer Schwarzen. Wenn sie sich bewegte, war es, als würde man zusehen, wie das Sonnenlicht über den Parkettboden glitt.

Abraham, der stämmige Diener, kam mit dem Tee-Tablett zurück, und ich dankte ihm lächelnd, als er mir eine Schale einschenkte. Seine Augen trafen meinen Blick, ausdruckslos und feindselig. Ich brachte es nicht über mich, nach dem Zucker zu greifen – das Bild von Tad, wie er am Fluss in eine tätliche Auseinandersetzung geriet, war mir noch allzu präsent –, und die Bitterkeit der Teeblätter passte gut zu meiner Trauer und meinen Schuldgefühlen.

»Mr. Stokes, vielleicht können wir jetzt über die Nachforschung sprechen, die Mr. Child angestellt hat«, sagte ich. Oder eher nicht angestellt hat, dachte ich grimmig. »Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass eine etwas intensivere Ermittlungsarbeit, die sich nicht nur auf das Aussetzen einer Belohnung beschränkt, geeigneter wäre, den Mörder zu finden.«

»Mr. Child hat nicht die Möglichkeiten, die einem Friedensrichter in London zur Verfügung stehen«, sagte Stokes kategorisch. »Ich bin sicher, dass er unter den gegebenen Umständen sein Bestes tut.«

»Er muss aber mehr unternehmen. Dies ist kein simpler Mord, Sir. Da ist Folter im Spiel. Ein Brandzeichen. Archer erzählte seiner Schwester, dass er sich mächtige Feinde in Ihrer Stadt gemacht hat. Ich denke, damit meinte er die Sklavenhändler. Er fürchtete um seine Sicherheit, und ich könnte mir vorstellen, dass er deshalb einen anderen Namen angenommen hatte. Hier geht es nicht bloß um eine Meinungsverschiedenheit über den Sklavenhandel, die aus dem Ruder gelaufen ist.«

»Captain Corsham hat eine Theorie über den Mord«, sagte Child. »Er glaubt, Archer wurde getötet, weil er Mittel gefunden hatte, die Sklaverei zu beenden.«

»Hat er das, beim Jupiter?«

»Mir ist durchaus bewusst, dass es albern klingt«, sagte ich, »aber so hat er es seiner Schwester erzählt. Abseitig oder nicht, wenn dieses Vorhaben ihn in die Stadt geführt hat, dann ist das zweifellos ein wichtiger Hinweis. Archer sagte, er habe die Absicht, etwas zu holen, das seine Feinde ebenfalls haben wollten. Sollten wir herausfinden, um was es sich handelt, könnte dies Licht auf die Umstände seiner Ermordung werfen.«

»Die Sklaverei beenden.« Stokes geriet ins Grübeln. »Wie sollte das vonstattengehen? Mithilfe eines Flaschengeists? Eines Zauberstabs? Verzeihen Sie meine Offenheit, Sir, aber Sie müssten schon so etwas wie Magie bemühen, um dem englischen Volk das Ende der Sklaverei schmackhaft zu machen. Sie lieben den billigen Zucker in ihrem Tee und den preiswerten Tabak in ihren Pfeifen. Keine noch so großen Bemühungen werden das jemals ändern.«

»Ich habe Captain Corsham mitgeteilt, dass wir nichts Ungewöhnliches in Archers Zimmer in der Herberge gefunden haben. Dennoch drängt es ihn danach, die Habseligkeiten seines Freundes selbst in Augenschein zu nehmen.« Child warf Stokes einen vielsagenden Blick zu.

»Ich möchte die Sachen gern mitnehmen.« Vor allem wollte ich sie nicht unter der Aufsicht von Childs untersuchen. »Mr. Archers Schwester wird sie zurückhaben wollen. Ich muss mich möglichst bald auf den Weg machen, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen.«

»Ich wüsste nicht, was dagegenspricht. Rechtlich betrachtet, gehören die Sachen seinen Verwandten, oder, Mr. Child?«

Der Friedensrichter zuckte mit den Schultern.

Stokes wandte sich an den Afrikaner am Schreibpult. »Scipio, im Schrank in meinem Schlafzimmer steht eine schwarze Reisetasche. Gehen Sie bitte, und holen Sie sie.«

Wieso befanden sich Tads Habseligkeiten ausgerechnet hier? Ich erinnerte mich daran, dass er Amelia erklärt hatte, die hiesigen Behörden würden mit den Sklavenhändlern unter einer Decke stecken. Sehr wahrscheinlich war Bürgermeister Stokes selbst einer von ihnen. Und was Mr. Child betraf, so hatte ich in Covent Garden Falschspieler getroffen, denen ich mehr Vertrauen schenken würde. Es gab bestimmt mehr zu dem Mord an Tad zu sagen, als diese Männer zugeben wollten.

»Gibt es viele Sklavenhändler hier in Deptford?«, fragte ich, während wir auf Scipios Rückkehr warteten.

»Mehrere Dutzend«, erwiderte Stokes. »Diese Stadt lebt vom Handel mit Afrika. Das ganze Land tut das, in vielerlei Hinsicht. Ich habe versucht, Mr. Archer diesen Aspekt zu verdeutlichen, aber er sah die Welt mit den Augen eines Kindes. Er weigerte sich, unseren Beitrag zum Reichtum des Landes anzuerkennen, genauso wie die Geschichte der Sklaverei in Afrika selbst. Auch wollte er nicht zugestehen, dass die europäische Sklaverei einen zivilisierenden Effekt auf die Schwarzen hat. Er redete viel über den Profit, der aus menschlichem Leid geschlagen würde. Aber wenn er sich die Mühe gemacht hätte, sich in unserer Stadt genauer umzuschauen, hätte er festgestellt, welchen Nutzen die Sklaverei für die Allgemeinheit bringt. Wohltätige Einrichtungen, Schulen für die Armen, Spenden für die Kirche.«

Also hatte auch Stokes mit Tad gesprochen. »Wie heißt denn der Sklavenhändler, den Archer angeblich belästigt hat?«

Child runzelte die Stirn. »Ich wüsste nicht, warum das von Belang sein sollte, Sir.«

»Wäre es nicht möglich, dass er einer der Feinde war, die Archer erwähnte?«

»Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass dieser Kaufmann sich etwas zuschulden kommen ließ. Im Gegenteil, Archer hat ihn mehrmals unaufgefordert in seinem Haus aufgesucht und seine Frau und seine Diener auf der Straße in Verlegenheit gebracht. Der Kaufmann war das Opfer in diesem Zusammenhang, nicht Mr. Archer.«

»Aber nicht der Kaufmann liegt jetzt auf dem Tisch von Brabazon. Warum hat Archer ausgerechnet diesem einen Mann besondere Aufmerksamkeit geschenkt? Wir müssen uns mit den Gründen befassen, die ihn nach Deptford geführt haben.«

Die junge Frau war durch den Salon gegangen, um ihren Platz auf dem Sofa neben Stokes wieder einzunehmen. Dieses Mal waren wir zu beschäftigt gewesen, um ihr dabei zuzusehen. Jetzt beugte sie sich vor und verströmte eine Wolke von Rosenduft.

»Er kam hierher, um seinen dunklen Engel zu besuchen«, sagte sie.

Sie hatte nur einen leichten Akzent, ihr Englisch war sehr gut. Stokes schaute sie überrascht an und schlug ihr mit der Hand ins Gesicht. Sie stieß einen leisen Schrei aus und fiel seitlich auf das Sofa.

Ich war schon halb aufgesprungen, bereit, mich einzuschalten, aber das Mädchen schaute mich an und schüttelte knapp den Kopf. Um die Angelegenheit für sie nicht zu verschlimmern, blieb ich sitzen.

Scipio kam zurück und brachte die Tasche. Mit einem Blick schien er die Situation zu erfassen. Er warf seinem Herrn einen finsteren Blick zu.

Child schaute aus dem Fenster. Abraham griff nach der Teekanne und schenkte seinem Herrn nach. Ich starrte auf den roten Fleck, den Stokes Hand auf der Haut der jungen Frau hinterlassen hatte und unterdrückte das Bedürfnis, ihn am Kragen zu packen und durch die gläserne Verandatür zu schleudern.

»Na, na.« Stokes rieb sich die Handfläche. »Die ganzen Verbeugungen und Schmeicheleien haben meine hübsche Niggerin vergessen lassen, wo ihr Platz ist.« Er lächelte, um seine beleidigenden Worte zu entkräften.

Ich hatte nicht das Bedürfnis, diesen geschmacklosen Scherz mit ihm zu teilen. »Ein Gentleman schlägt eine Dame nicht, Sir.«

»Miss Cinnamon ist mein Eigentum«, sagte Stokes zurückhaltend. »Ich nehme an, dass Sie keine Afrikaner besitzen. Sie benötigen eine starke Hand, vor allem wenn sie sich so kleiden wie diese hier. Gibt es noch etwas, bei dem Sie unsere Hilfe in Anspruch nehmen möchten, Captain Corsham?«

Mir war klar, dass ich hier nichts mehr in Erfahrung bringen würde. Trotz seiner städtischen Manieren war Stokes genauso unbelehrbar wie Friedensrichter Child. Die junge Frau hielt sich die Wange und starrte ausdruckslos zu Boden. Ich warf ihr einen letzten besorgten Blick zu. Er kam hierher, um seinen dunklen Engel zu besuchen. Wenn ich sie doch nur fragen könnte, was sie damit gemeint hatte.

5

Amelia Bradstreet wohnte nur fünf Meilen von Deptford entfernt, aber nördlich des Flusses. Daher brauchten wir über zwei Stunden, um dorthin zu gelangen, zumal wir die Themse bei Rotherhithe auf einer Pferdefähre überqueren mussten. Das Dörfchen Bethnal Green war nichts weiter als ein schäbiges Durcheinander baufälliger Häuser und Höfe von Schweinezüchtern, umgeben von Mooren und Bohnenfeldern. Ein Irrenhaus ragte grau und abstoßend am Rand des Dorfplatzes auf. Unter Caros Freunden in den Salons von Mayfair gab es viele unfreundliche Stimmen, die sagten, dies sei genau die passende Umgebung für Amelia Bradstreet.

Ich folgte der Wegbeschreibung, die sie mir gegeben hatte, und stellte fest, dass ihr Cottage einige Straßen weit vom Dorfplatz entfernt lag. Es hatte ein eingedelltes Reetdach, das von Vogelexkrementen übersät war, und schien in den Garten eines viel größeren Hauses gebaut worden zu sein. Eine Sau säugte ihre Ferkel im Gemüsegarten nebenan, und die Luft war von den nach Hefe riechenden Ausdünstungen einer nahe gelegenen Brauerei geschwängert.

Eine ältliche indische Dienerin öffnete auf mein Klopfen hin die Tür. Sie starrte mich ausdruckslos an, während ich ihr mein Anliegen erläuterte. Aber Amelia, die sich irgendwo hinten im Haus befand, rief etwas, und die Dienerin trat beiseite, um mich einzulassen. Sie führte mich in ein kleines Wohnzimmer, wo Amelia mir mit blassem, nachdenklichem Gesicht entgegentrat, um mich zu begrüßen.

Sie bemerkte, dass ich allein war, und ihre Gesichtszüge entgleisten. »Ich habe so sehr gehofft, dass Sie ihn finden würden.«

Ich suchte verzweifelt nach den passenden Worten. Aber konnte es die überhaupt geben? »Bitte, Mrs. Bradstreet, möchten Sie sich nicht setzen?«

Sie las es von meinem Gesicht ab. »Er ist tot, nicht wahr?«

Ich machte eine verzweifelte Geste. »Es tut mir sehr leid.«

Ich war darauf gefasst, sie aufzufangen, falls sie ohnmächtig würde, aber sie setzte sich auf das Sofa und legte eine Hand an die Stirn. Ich bewunderte ihre Gefasstheit. Sie hatte drei Kinder während der Choleraepidemie verloren, der auch ihr Ehemann zum Opfer gefallen war. Nun hatte sie niemanden mehr.

Ich rückte einen der abgenutzten Lehnstühle heran. Das Zimmer war beengt und kalt, die Wände weiß gekalkt. Die Möbel waren alt und wurmzerfressen. Ein verblichener indischer Teppich bedeckte die nackten Holzplanken, und als Dekoration dienten einige wenige orientalische Fayencen.

Amelia hörte mir zu, ohne mich zu unterbrechen, als ich von meinem Besuch in Deptford erzählte. Ich bemühte mich, ihr einige unschöne Details zu ersparen. Die Daumenschrauben, die Spuren der Peitschenhiebe, das Brandzeichen. Wie gern hätte ich das alles aus meinem Gedächtnis verbannt. Ich sah Tad vor mir, wie er auf Brabazons Tisch lag. Ab und zu wurde ich von meinen Gefühlen überwältigt.

»Seine Feinde haben ihn also getötet«, stellte sie fest. »So wie er es befürchtet hatte.«

»Ich denke, davon müssen wir wohl ausgehen. Erinnern Sie sich noch an irgendetwas, das Tad über sie sagte? Oder an etwas im Zusammenhang mit dem ersten Mordanschlag auf ihn?«

»Ich habe versucht, mich zu erinnern. Er sprach sehr schnell, wie er es immer tat, wenn er aufgeregt war, und einiges davon kam mir sehr suspekt vor. Er erwähnte seine Feinde in Deptford, aber er sprach auch von einer Intrige unter den wohlhabenden Sklavenhändlern. Er behauptete, sie würden das Parlament kontrollieren, und dass ihre Macht viel weiter ginge, als die meisten Menschen auch nur ahnten.«

»Die Westindienlobby.« Während unserer Zeit in Oxford hatten wir sie oftmals so bezeichnet.

»Sie haben schon davon gehört? Ich war mir nicht sicher, ob sie wirklich existiert.«

»Es handelt sich um eine Gruppe der wohlhabendsten Plantagenbesitzer und Sklavenhändler, die sich zusammengetan haben, um ihre geschäftlichen Interessen durchzusetzen. So wie die Ostindien-Kompanie. Oder die Baumwollhändler. Ihre Geschäfte mögen anstößig sein, aber sie sind keineswegs bösartig.«

»Sind Sie sicher? Falls Tad wirklich geglaubt hat, er könnte die Sklaverei abschaffen, hätten sie dann nicht allen Grund, ihm den Tod zu wünschen?«