Das bodenlose Mädchen - Richard Hey - E-Book

Das bodenlose Mädchen E-Book

Richard Hey

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Beschreibung

Laura erfährt bereits im frühesten Kindesalter, wie es ist, den Vater zu verlieren und von der eigenen Mutter im Stich gelassen zu werden, weil diese ohne sie illegal die DDR verlässt. Daraufhin wird Laura in ein Heim gesteckt, in dem sie wenig Liebe erfährt.
Nach der Wende holt die Mutter sie zu sich zurück. Doch jetzt beginnt für Laura erst der richtige Albtraum. Ihre geldgeile Mutter verschachert sie als »Spielzeug« an »Herren« der reichen Gesellschaft, die eine Schwäche für kleine Kinder haben. Laura gelingt die Flucht. Wird aber von dem Zeitpunkt an von den verschiedensten kriminellen Gruppierungen verfolgt.
Sie schlägt sich mit viel Witz, Zähigkeit und Fantasie durch die Schattenseiten einer feindlichen Erwachsenenwelt, die wenig Verständnis für ein starkes, eigenständiges Mädchen wie sie hat. Ihr ständiger Begleiter ist ein Plüschaffe, mit dem sie innige Zwiegespräche führt. Aber nicht alle Erwachsenen sind schlechte Menschen. Das merkt auch Laura, als sie immer wieder von dieser Seite Hilfe erfährt.
Bis sie eines Tages, ohne es zu wissen, auf die ehemalige Oberkommissarin Katharina Ledermacher stößt, die mittlerweile erfolgreich eine Boutique betreibt und ihren ehemaligen Beruf nie ganz an den »Nagel gehängt« hat. Als sie von Manfred Zobel wegen eines schwierigen Falles um Rat und Hilfe gebeten wird, kann sie sich dem nicht verwehren und ist sofort wieder in ihrem Element …

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Richard Hey

 

 

Das bodenlose Mädchen

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv 

Cover: © by Steve Mayer nach Motiven, 2022

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die Handlungen dieser Geschichten sind frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Das bodenlose Mädchen 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

Von Richard Hey sind folgende Romane und Kurzgeschichten ebenfalls erhältlich oder befinden sich in Vorbereitung 

 

Das Buch

 

 

 

Laura erfährt bereits im frühesten Kindesalter, wie es ist, den Vater zu verlieren und von der eigenen Mutter im Stich gelassen zu werden, weil diese ohne sie illegal die DDR verlässt. Daraufhin wird Laura in ein Heim gesteckt, in dem sie wenig Liebe erfährt.

Nach der Wende holt die Mutter sie zu sich zurück. Doch jetzt beginnt für Laura erst der richtige Albtraum. Ihre geldgeile Mutter verschachert sie als »Spielzeug« an »Herren« der reichen Gesellschaft, die eine Schwäche für kleine Kinder haben. Laura gelingt die Flucht. Wird aber von dem Zeitpunkt an von den verschiedensten kriminellen Gruppierungen verfolgt.

Sie schlägt sich mit viel Witz, Zähigkeit und Fantasie durch die Schattenseiten einer feindlichen Erwachsenenwelt, die wenig Verständnis für ein starkes, eigenständiges Mädchen wie sie hat. Ihr ständiger Begleiter ist ein Plüschaffe, mit dem sie innige Zwiegespräche führt. Aber nicht alle Erwachsenen sind schlechte Menschen. Das merkt auch Laura, als sie immer wieder von dieser Seite Hilfe erfährt.

Bis sie eines Tages, ohne es zu wissen, auf die ehemalige Oberkommissarin Katharina Ledermacher stößt, die mittlerweile erfolgreich eine Boutique betreibt und ihren ehemaligen Beruf nie ganz an den »Nagel gehängt« hat. Als sie von Manfred Zobel wegen eines schwierigen Falles um Rat und Hilfe gebeten wird, kann sie sich dem nicht verwehren und ist sofort wieder in ihrem Element.

 

 

***

 

 

Das bodenlose Mädchen

 

 

1. Kapitel

 

 

Laura glaubte, hinter ihr riefe jemand ihren Namen. Sie griff nach dem Plüschaffen in der Tasche ihres Anoraks und beschleunigte die Schritte – aber nicht zu sehr, um sich nicht verdächtig zu machen.

Nach zwanzig Metern blieb sie hinter einem Haufen Schutt und Gerümpel stehen, blickte vorsichtig zurück, eine graue Vorstadtstraße hinunter. Die lag im ersten Morgensonnenlicht. Kein Mensch war unterwegs, keine Katze, kein Hund, keine Taube. Nur ein schmuddeliger Papierfetzen glitt über Autodächer und Pflasterlöcher, von einem kaum spürbaren Aufwind getragen.

Der Fetzen schien vom Anbeginn der Zeiten zu kommen und würde, Laura war sich sicher, bis ans Ende der Zeiten so weitertorkeln. Für die winzigen Bewohner der rotierenden Atomverbindungen dieses Papierfetzenuniversums jedenfalls konnte es nicht anders sein.

Laura stellte sich’s eine Sekunde lang genau vor. Solche bescheuerten Ideen, wie die anderen Kinder das nannten, hatte sie schon im Heim gehabt. Bälle oder Steine, die nach ihr geworfen wurden, flogen manchmal Jahrhunderte lang auf sie zu, und sie hatte jahrhundertelang damit zu tun, ihnen auszuweichen. Ungeheure Zeiträume mussten demnach im Papierfetzenuniversum vergehen während der Sekunde, in der Laura dem Fetzen hinterher sah und die Angst vergaß, entdeckt zu werden.

Weit entfernt hinter den Häuserblöcken hörte sie das Dröhnen und Quietschen einer alten Straßenbahn in der Kurve. Und zugleich wieder ihren Namen. Dass Wasserhähne, Klospülungen, ächzende Türen, Zweitaktmotoren dauernd quasselten, war sie gewohnt. Sie achtete nicht mehr darauf. Neu war, dass eine Straßenbahn Laura schrie. Nein, sie schrie nicht Laura, sie schrie Betty. Betty aus immer größerer Entfernung, bevor sie verstummte.

Als Laura sich hastig umdrehte und weitergehn wollte, glitt ihr Blick über eine halboffene, morsche Haustür neben dem Schutthaufen. Sofort sah sie genau hin. Im dunklen Flur, direkt hinter der Tür, stand ein Mann. Er musste sie beobachtet haben. Laura war so überrascht, dass sie nicht auf die Idee kam, wegzulaufen.

Der Mann war nicht sehr groß und ziemlich dünn; dichte braune Locken hingen ihm ums unrasierte Gesicht. Nach Lauras Schätzung gehörte er zu den alten Männern, das waren die zwischen Anfang Zwanzig und Dreißig, aber noch nicht zu den sehr alten Männern über Dreißig.

Der Mann grinste.

»Sie sind hinter dir her, was«, sagte er und langte durch die Tür nach ihrem Arm, zog sie einfach in den Flur, drehte sich dabei so, dass er jetzt zwischen Haustür und Laura stand. Laura ließ es geschehen, wartete, bis er ihren Arm freigab und kniete sich dann plötzlich hin.

Während er, leicht verwundert, sich ein wenig über sie beugte, schossen ihre Hände auf ihn zu, umklammerten seinen rechten Arm, seine linke Wade. Zugleich schnellte sie in die Höhe und schleuderte ihn über ihre Schulter nach hinten. Hart kam er mit dem Rücken zwischen Brettern auf, die an der Wand lehnten. Diese splitterten. Er hockte auf dem fleckigen, feuchten Steinboden, umgeben von Kachelresten, Mörtelbrocken, Zementklumpen, und sah sie an.

»Damit das mal klar ist«, sagte sie ernst und war schon dabei, den Flur zu verlassen. Aber sie hatte den abgebrochenen Spazierstock neben dem Mann nicht gesehen. Der Mann brauchte bloß mit der Krücke nach einem ihrer Füße zu angeln, als sie ihm den Rücken zuwendete. Sie stürzte gegen die Tür, dann, sich drehend, zu Boden. Da blieb sie hocken, ihm gegenüber. An der Tür hatte sie sich das Kinn aufgerissen. Sie blutete.

»Damit auch das mal klar ist«, sagte er ebenso ernst wie sie. So hockten sie im verkommenen Flur eines verlassenen Hauses und starrten sich an. Plötzlich begannen beide zu lachen, erst der Mann, dann auch Laura.

»Wie heißt du?«, fragte der Mann.

Laura tastete nach dem Kinn, betrachtete das Blut an der Hand.

»Betty«, sagte sie. »Und du?«

»Rainer«, sagte er, »Rainer mit ai.«

»Bringt das was?«

»Was?«

»Ai.«

»Hab noch nicht drüber nachgedacht. Wo hast du den Hebelgriff her?«

»Hebelgriff?«

»Einen so durch die Luft zu schmeißen.«

»Hat meine Freundin mir beigebracht. Die schmeißt dich noch viel weitet«

Er nickte und stand auf. »Die würd ich gern kennenlernen«, sagte er und grinste wieder.

Auch Laura stand auf. »Marie ist jetzt in Malmö«, erwiderte sie mürrisch. »Oder in Berlin.«

»Und da willst du hin, ja?«, fragte er plötzlich. »Nach Malmö.«

Sie antwortete nicht, fasste nach dem Kinn.

»Oder nach Berlin.«

Sie schwieg, sah ihre Finger an.

Er sah ihr zu, wie sie ihre Finger ansah.

»Hab dein Foto in der Zeitung gesehn«, sagte er dann. »Vorige Woche. Du hast deine Mama umgebracht.«

Sie betrachtete weiter ihre Finger. Die Finger zitterten jetzt. Aber ihre Stimme zitterte nicht, als sie kühl feststellte: »Meine Mutter hat ihre Tochter umgebracht.« Jäh fuhr sie mit der Hand in den Anorak, zerrte den Plüschaffen heraus und presste ihn aufs Kinn.

»Schon gut, schon gut«, sagte er rasch, mit einigem Unbehagen. »Freundschaft.«

Da schrie sie ihn an: »Hör auf! Diese Ostwörter! Krank sind die doch! Wissen wir doch! Krank, versifft, vernullt wie die Westwörter!« Und klopfte rhythmisch mit dem Plüschaffen auf die Wunde am Kinn. »Ohne Wörter müsste man reden, ohne, ohne, ohne!«

Die Heftigkeit ihres Ausbruchs machte ihn ratlos. Misstrauisch und unentschlossen blickte er auf den Plüschaffen. Sie hielt ihn weiter ans Kinn gepresst. Aber sie hatte sich schon wieder gefasst.

»Gibt’s hier irgendwo noch Wasser?«, fragte sie.

»Auch so ’n Ostwort, nicht?«, murmelte er. »Oder meinst du Westwasser?«

Wieder antwortete sie nicht, sah nur zu ihm hin. Sah die verbrauchten Schuhe, die ausgebeulten Hosen, das verschlissene Hemd und darüber die schicke neue Weste in der Farbe seiner Augen, grünblau wie das Meer.

Sie hatte noch nie irgendein Meer gesehn. Aber sie fand, das müsse seine Farbe sein. Sie hörte die Stimme ihres Vaters, der ihr vom Meer erzählt hatte, als sie ganz klein war, vom Meer und von Oliven, von jungen Frauen mit langen schwarzen Haaren und großen schwarzen Augen, wie Laura sie hatte.

Aber ihre Mutter hatte blonde Strubbelhaare gehabt und kleine graue Augen.

Laura ging in Sandalen am Meer entlang, über einen Strand mit angespülten Algen und Plastiktütenresten, ging durch welkes Gras unter verwahrlosten Olivenbäumen und sprach eine Sprache, in der es keine Ostwörter und keine Westwörter gab, eine Sprache, die sie nicht kannte, die aber; das wusste sie, ihre Sprache war.

Monatelang ging sie so, jahrelang, fühlte, dass sie größer wurde, ihr Haar noch dichter. Und hatte in der ganzen Zeit keine Angst, dass der Mann mit der meerfarbenen Weste sie reinlegen und ausliefern könnte.

»Im Hof ist Wasser«, sagte Rainer. »Und in der Küche hab ich auch noch Pflaster, glaub ich.«

Sie sah hinter ihm her; wie er aus dem Flur durch die schiefe Haustür zum Schutthaufen auf der Straße ging. Sie folgte ihm, blieb in der Tür stehen.

Er wühlte im Gerümpel auf dem Schutthaufen, schob schmuddelige Bücher beiseite, einen zerbrochenen Stuhl, einen zerfetzten Sofarest, und zog schließlich unter einer Tischplatte mit abgeknickten Beinen einen verbeulten kleinen Plastikhängeschrank hervor.

Es machte ihm Mühe, ihn zu öffnen. Er fummelte darin herum, hielt dann einen vergilbten Umschlag in der Hand. »Wird dir nicht gefallen«, sagte er. »Schkopauplaste Elaste.« Und warf ihr den Umschlag zu. Der viel auf ihre schwarzen Leinenschuhe.

Sie blickte über das Gerümpel.

»Meine Küche«, sagte er, »Ja. Plaste fantaste, was?«

Sie hob den Umschlag hoch, öffnete ihn, ging dann mit dem Umschlag in der Hand durch den Flur zurück in einen scherbenbedeckten Hof.

An der geborstenen Mauer gegenüber tropfte ein Wasserhahn. Als sie ihn aufdrehte, kam ein überraschend starker Strahl. Sie hielt ihr Gesicht darunter, schwamm im Meer, tauchte und tauchte wieder auf. Rainer stand neben ihr.

»Wenn du willst, Handtuch hätt ich oben.«

Sie riss ein Pflaster aus dem Umschlag, tastete mit zwei Fingern nach der Verletzung.

»Spiegel auch.«

Sie drückte das Pflaster aufs Kinn.

»Oben?«, murmelte sie.

Er zeigte auf schwarze gesprungene Fenster im dritten Stock.

»Wo meine Wohnung war.«

»Hält nicht«, sagte sie und hatte das Pflaster wieder in der Hand und warf es weg. Dann stapfte sie hinter ihm eine halb zerstörte Treppe hoch, über Schutt, an zerbrochenen Geländern und ausgehängten Wohnungstüren vorbei. Eine noch nicht ausgehängte, nur angelehnte Tür stieß er auf.

»Hier.«

Sie ging hinein, stand in einem engen Flur, blickte in den leeren kleinen Küchenraum mit zerbrochenem Spülbecken und in den größeren Raum daneben, der ebenfalls leer war, bis auf einen neuen komfortablen Schlafsack in der Ecke vor zerfetzter Tapete, auf ihm ausgebreitet ein Hemd, ein Pullover, eine Mineralwasserflasche und ein Kanten Brot samt Wurststück in Zeitungspapier.

Im Duschraum daneben war die Brause abgerissen und die Kloschüssel zerschlagen und mit Scherben und Mörtelbrocken gefüllt. Immerhin, der Spiegel, wenn auch fleckig, schien noch heil. Und ein Handtuch hing da.

»Ich muss mal«, sagte Laura.

Rainer grinste sein, wie sie fand, behämmertes Grinsen, das sie, warum wusste sie nicht, wütend machte. Sie ging zum Spiegel, wischte sich das Gesicht, klebte ein neues Pflaster aufs Kinn.

»Pissen geht in Regenrinne.« Er zeigte auf eins der halb geöffneten, dreckigen Fenster. »Aber häng den Hintern nicht zu weit raus. Zum Kacken musst du zurück in den Hof, hinter die Mauer. Beeil dich. Bald kommen Leute.

Dauernd stochern hier welche rum, suchen nach Sachen, klauen, was sie in die Finger kriegen. Sicher auch sonntags. Auch wenn’s so früh ist. Alles haben die mir schon weggeschleppt, Schuhe, Socken, Sonntagsanzug, Bratpfanne, Fernseher, alles. Na?«, sagte er noch, weil sie sich nicht rührte und nicht so aussah, als hätte sie zugehört.

»Ich verheb’s lieber«, sagte sie.

Er sah sie an, grinste wieder. »Du verhebst es?«

»Sagt man so in Stuttgart«, murmelte sie. Plötzlich schien sie verwirrt. Als hätte sie preisgegeben, was sie für sich behalten wollte.

»Stuttgart? Warst du da mal?«

Laura schüttelte den Kopf. Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Sie ging rasch zum Schlafsack, hob die Mineralwasserflasche hoch. »Darf man?« Und trank schon, stellte die Flasche nach zwei, drei tiefen Schlucken wieder hin.

»Hör mal«, sagte er ruhig, »was ist eigentlich los mit dir?«

»Hast du doch in der Zeitung gelesen.«

»Stimmt also.«

»Nein. Stimmt eben nicht. Und jetzt muss ich weiter.«

Sie schob sich an ihm vorbei zur Tür.

»Hör mal«, fing er wieder an, weiterhin ruhig, ohne sich zu rühren, »wenn du nach Berlin willst, also da hätten wir dieselbe Richtung. Ich will nach Greifswald.«

Sie sah ihn ernst an. »Ich weiß nichts von dir.«

»Und ich nichts von dir.«

»Das ist was anderes.«

»So?«

Wie auf Verabredung fingen sie wieder an zu lachen, völlig albern. Sie waren vertraut miteinander, und Laura, während sie lachte, fragte sich, wieso eigentlich. Es gab nicht den geringsten Grund dafür. Sofort hörte sie auf zu lachen.

»Will mich ja nicht aufdrängen«, sagte er, »aber ich denk, zu zweit ist immer besser.«

»Denkste, dann hängste.«

»Besonders wenn die hinter jemand her sind.«

»Die sind nicht besonders hinter jemand her. Nur so, dass sie ein Gör was ausgerissen ist, wenn sie’s zufällig erwischen, na ja, dass sie’s einsammeln.«

»Und warum ist das Gör ausgerissen?«

»Geht’s dich was an? Frag ich, warum musst du raus aus deiner Wohnung? Warum brechen die hier die Tür auf? Klauen alle deine Sachen?«

Er grinste.

Sie blieb ernst. »Ich hab elf Mark. Und du, hast du Geld?«

Er ließ sich die Frage gefallen, nickte. »Langt für Fahrkarte.«

»Dann fahr.«

»Langt auch für zwei Fahrkarten.«

»Damit die mich aus dem Zug holen? Und dich gleich mit?«

»Unsinn. Tausend zu eins.«

»Ich fahr lieber anders.«

»Wie denn?«

»Wie ich hergekommen bin. Das war mit einer Frau in alter Karre. Per Anhalter. Hab gesagt, ich muss zu meinem kranken Opa.«

»Kranker Opa zieht nicht immer.«

»Weiß ich.«

»Du könntest an so einen Kerl geraten.«

»An einen mit zwei Fahrkarten, was.«

»Ja«, sagte er, plötzlich ebenso ernst wie sie, und stand immer noch vor ihm; ohne sich zu rühren, an einen, der bis vorgestern paar Monate im Bau war. Auto gepfändet wegen Prozesskosten. Der mal Elektriker war. Der zu seinem Freund nach Greifswald will, weil der Arbeit für ihn hat. An so einen, ja.«

»Kleine Runde Mitleid, huuuh«, machte sie.

»Geh schon«, sagte er leise, »fahr zu deinem Opa.« Und wendete sich ab, um Hemd, Pullover, Brot, Wurst und Wasser in den Schlafsack zu rollen. Sie sah ihm zu.

»Morgen früh kommen sie mit der Abrissbirne«, sagte er. »Vorhin, als du aufgekreuzt bist, wollte ich nur noch Zigaretten ziehn. Und dann zum Bahnhof.«

»Brauchst du mir nicht zu sagen. Geht mich nichts an«, murmelte sie. Aber sie blieb stehn, wo sie stand, sah ihm weiter zu. Und sagte plötzlich: »Doch. Wär vielleicht nicht schlecht.«

Er rollte und schnürte weiter. »Was denn.«

»Zusammen. Und eine Karre knacken.«

Jetzt blickte er auf. »Du tickst wohl nicht richtig.«

»Erzähl mir bloß, du weißt nicht, wie das geht. Knast! Elektriker! Bei der Fahne warst du sicher auch. Da lernt man das doch.«

Er verzog angewidert das Gesicht. »Was hör ich da. Ekelhaftes – Ostwort: Fahne!«

Sie biss sich in den Handrücken, nickte. Und murmelte: »Tür krieg ich auf. Das mit den Drähten, mit dem Kurzschluss, das musst du machen.«

Wieder sein Grinsen. »Du bist ganz schön ausgekocht, was.«

»Überhaupt nicht!«, schrie sie ihn an. Und stampfte auf, schlug mit den Fäusten an die Wand, riss Tapetenfetzen ab. »Eben nicht! Eben nicht!« Dann, ruhig: »Wie alt, glaubst du, bin ich?«

Er taxierte sie, sachlich, ohne Grinsen. »Fünfzehn, ja?«

»Das kommt, wenn du mir auf die Titten schielst. Dreizehnkommasieben.« Weil er sie fragend ansah, erklärte sie: »Dreizehn Jahre, sieben Monate.«

Er pfiff anerkennend.

»Und das will ich bleiben«, setzte sie mit erhobener Stimme hinzu. »Noch lange.«

»Damit das mal klar ist, ja«, sagte er.

»Ja«, wiederholte sie. »Damit das klar ist.«

»An Dreizehnkommasieben wird nicht gefummelt.«

»Nein«, sagte sie. »Ist das ein Pakt?«

»Ein was?«

»Pakt.«

»Wo man mit Blut unterschreibt?«

»Ach was. Vertrag, Abmachung.«

»Gut, ja, ein Pakt.« Er nickte. »Ist es.« Und, sie hatte schon darauf gewartet, grinste sein Grinsen, blöder als alles Gegrinse davor.

Das hielt an, während sie wieder am Meer entlanglief, unter Olivenbäumen. In Wirklichkeit, aber sie wusste nicht genau, ob es denn wirklich in Wirklichkeit war, lief sie die Treppe hinunter und durch diese graue Straße, entfernte sich von der zerstörten Wohnung, vom Schutthaufen vor der Haustür, von der Straßenbahn, die ganz weit weg wieder Betty rief, vom längst in einem apokalyptischen Gully untergegangenen Papierfetzenuniversum und erklärte Rainer wo man frühmorgens am Sonntag ein geeignetes Auto finden kann.

»Wo die Leute nachts noch lange sitzen und saufen«, sagte sie. »Nicht hinten auf dem Parkplatz von so was. Da kommst du schlecht weg, wenn’s schiefgeht. Vorn auf der Straße. Wo die Leute die Karre stehn lassen, wenn sie besoffen sind. Und sie am nächsten Vormittag noch lange nicht holen.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte er, mehr belustigt als neugierig.

»Weiß ich eben.«

»Als würd’st du jeden Tag ein Auto knacken.«

»Hab ich doch noch nie«, sagte sie sanft.

»Hör mal, Dreizehnkommasieben«, fuhr er sie an, nicht mehr belustigt, eher verärgert, und er riss an den Riemen des eng gerollten Schlafsacks, den er auf dem Rücken trug, »was wir eventuell Vorhaben, könnte ein paar Nummern zu groß für’n Baby sein. Auch wenn’s so kompakt ist wie du.«

»Klar«, sagte sie.

»Was ist klar?«

»Dass du so redest.«

Wortlos bog er in einen breiten Schotterweg ab. Sie war nicht sicher ob er nicht doch zum Bahnhof wollte. Aber sie folgte ihm.

Die Plattenbauhäuser links und rechts kamen ihr weniger düster und verbraucht vor als die Häuser der Straße, in der Rainer gewohnt hatte. Vielleicht, weil Bäume und Sträucher vor ihnen standen. Wenn die auch alle staubbedeckt waren.

Ein Motorradfahrer ratterte ihnen entgegen, wirbelte weiteren Staub auf. Sie überholten eine alte staubbedeckte Frau, die einen alten staubbedeckten Hund an der Leine führte und erbittert vor sich hin murmelte, als der Hund anhielt, um gegen den Vorderreifen eines staubbedeckten Autos zu pissen. Auch die Pisse schien Laura staubbedeckt.

Rainer zeigte über ferne Dächer und Bäume auf zwei Schornsteine.

»Da hab ich gearbeitet«, erklärte er. »Maschinenbau. Stillgelegt, was sonst. Maschinen von treuer Hand rausgerissen und verkloppt. Zweihundertsiebzig Arbeitsplätze abgewickelt.« Und zischte plötzlich: »Sag bloß nicht, kleine Runde Mitleid.«

Aber Laura hörte nicht zu. Sie sah den Schotterweg hinab. Dort, wo die Plattenbauten aufhörten, zwischen Feldern mit umgehackten Obstbäumen und nahem Wald, stand ein altes Haus, frisch getüncht, große Buchstaben über den Fensterbögen: Zur kleinen Fischerin. Davor ein nachlässig geparktes Auto.

»War denn hier mal Wasser?«, fragte Laura und betrachtete das Auto.

»Spreearm, ja«, sagte Rainer und betrachtete ebenfalls das Auto. »Bisschen See war auch. Aber dann hat die Spree ihren Arm zurückgezogen, haha, und der See ist abgestürzt. Vierzig Jahre her. Wegen Braunkohle.«

»Gibt’s hier doch gar nicht.«

»Oder Kali.«

»Kali? Hier?«

»Irgendwas mit Kaputtmachen von Natur jedenfalls, was weiß ich, wo das herkommt und zuschlägt, unterirdisch. Bloß der Name ist geblieben, seit über hundert Jahren, sagen die Leute, hat den Kaiser, Weimar, Hitler und VEB überstanden.«

»Aber der See ist weg«, murmelte Laura und blickte über ein Tal voller Gestrüpp und Strünke. Vögel flogen niedrig darüber hin. Entfernt läuteten Kirchenglocken.

Das Meer schlug in langen Wellen gegen Klippen und Strand. Sie horchte auf das Geräusch, schüttelte sich, wollte nicht am Meer sein.

Sie stand vor der Gasthaustür. An der hing ein Schild: Sonntags geschlossen. Sie sah hinauf zu den Fenstern im ersten Stock, zu den Dachluken, näherte sich dann dem alten schwarzen Escort, der schief auf die Bordsteinkante gesetzt war. Zögernd folgte ihr Rainer, blickte sich um, hielt schon ein dickes Taschenmesser in der Hand.

»Jetzt schnell!«, stieß sie leise hervor und zerrte aus der Tiefe ihrer Anoraktasche den blutverschmierten Plüschaffen, ein Lineal und ein Stück groben Draht mit Schlinge. Den Plüschaffen legte sie aufs Autoverdeck. Das Lineal schob sie zwischen Scheibe und Karosserierahmen der Fahrertür, drückte die Scheibe nach innen. In den Spalt führte sie den Draht ein, Schlinge nach unten, angelte behutsam, bis die Schlinge innen den Verschlussriegel der Tür erfasst hatte.

Es klickte. Leicht ließ sich die Tür öffnen.

»Geht nur bei alten Karren«, erklärte Laura, »aber da fast immer.«

Sie griff sich den Affen und rutschte auf den Beifahrersitz, ohne das karierte Stoffding zu beachten, das da lag, nahm Rainer den Schlafsack ab, verstaute ihn auf den hinteren Sitzen, während Rainer sich hinter das Steuer klemmte und unter der Armaturenverschalung nach Drähten suchte. Er zog und zurrte, klappte Federmesser samt Schraubenziehern aus dem Taschenmesser, schabte.

Da kam der Motorradfahrer zurück.

Laura presste die Lippen zusammen. Wieder begannen ihre Finger zu zittern.

Knistern und Funkensprühen, der Escortmotor sprang an. Rainer wendete und fuhr los, bremste schotteraufschürfend, zerrte unter Lauras Hintern die Schirmmütze hervor, zog sie sich über die Ohren, gab Gas, bremste, gab Gas und erwiderte, nun in eine dichte Staubwolke gehüllt, mit zwei an den Mützenschirm gelegten Fingern den Gruß, winkender Arm, des in seine eigene Staubwolke gehüllten Motorradfahrers.

So, im Wirbel zweier einander durchdringender Staubwolken, Galaxien, die sich in Milliarden Jahren vermischten, raste er an ihm vorbei und über Seitenstraßen aus der Stadt hinaus, stumm, bis er auf einem einsamen Waldweg hielt, damit Laura sich endlich hinter einen Baum hocken konnte.

Als sie zurückkam, schleifte sie den Anorak lässig hinter sich her. Ihre bulgarische Bluse mit der blauen Stickerei war achtlos in die Jeans gestopft, aber am Hals eng zugebunden. Er saß bei geöffneter Tür vor dem Steuer, die Schirmmütze ins Genick geschoben, und rauchte seine vorletzte Zigarette.

»Kennst du den?«, fragte Laura.

»Wen?«

»Den Motorradheini.«

»Nie gesehn. Aber ich dachte, wenn der so runtergeprescht kommt zur kleinen Fischerin, kann sein, er kennt den Escort-Heini.« Grinsen. Ausdrücken der Zigarette auf der Armaturenverschalung. »War wohl auch so.«

Sie riss plötzlich seine Hand zurück.

»Die Karre gehört dir nicht. Haben wir uns bloß ausgeliehn. Außerdem, rauchen im Wald ist verboten.«

Er blickte nachdenklich den Brandfleck auf der Verschalung an, dann Laura, wieder voller Unbehagen und lange, während er die Zigarette im Aschenbecher zerquetschte, grinste nicht, stöhnte nicht, murmelte nur: »Auto klaun ist auch verboten.«

Sie zuckte die Schultern.

»Du bist vielleicht eine«, sagte er.

»Bin nicht eine«, erwiderte sie sehr bestimmt. »Bin zwei, mindestens. Oder vier. Wahrscheinlich sieben.«

»Wieso sieben?«

»Weiß nicht.«

»Eine der sieben hat jedenfalls gelernt, wie man Autos knackt. Wenn’s wahr ist, dass du’s noch nie gemacht hast – gut gelernt. Von deiner Freundin, ja? Von dieser Marie? Lineal und Draht auch von der, oder?«

Laura antwortete nicht. Sie horchte auf Vogelrufe aus dem Wald.

»Amseln«, sagte sie und rutschte auf den Beifahrersitz.

Er versuchte zu starten; es misslang. Nach einem Dutzend weiterer Versuche gab er auf. »Kein Saft. Hab gedacht, wir Schaffens noch bis zur nächsten Autobahnraststätte.«

»Wie weit ist die?«, fragte Laura ruhig.

»Vier, fünf Kilometer.«

Sie stieg schon aus. »Hier lang? Oder da lang?«

Er zeigte und zerrte den Schlafsack aus dem Auto.

Sie gingen den Weg am Waldrand weiter, zwischen Bäumen und vergilbten Gräsern, und Laura hütete sich, am Meer entlangzugehn, mit bloßen Füßen, die von kleinen Wellen überspült wurden. Sie wäre dem graubärtigen Manarola begegnet, der Fische mit der Hand fangen konnte, vom Boot aus, nackt auf dem Bauch liegend, oder indem er geräuschlos ins Wasser glitt.

Der Weg wurde breiter. Nach einer Kurve stand ein silbergrauer Caravan vor ihnen, plötzlich aus dem Wald aufgetaucht. Er war unverschlossen. Auf der Ladefläche fanden sie Wolldecken, zwei Fahrräder und ein Stofftier weich, kuschelig, eine Art Pandabär, außerdem Badesachen, Bikini, Handtücher und zwischen den Vordersitzen einen Korb mit Wurstbroten, Bananen, hartgekochten Eiern, Schokoladenriegeln, Zigaretten und einer Thermosflasche voller Zitronentee. Laura glaubte Kinderrufe zu hören, fern im Wald, Geschrei, Lachen. Bevor sie losfuhren, setzte sie rasch den Pandabär auf einen Baumstumpf.

Sie hockten stumm nebeneinander, aßen, tranken, während Rainer den Caravan über den Feldweg steuerte. Als er in eine schmale, von hohen Laubbäumen gesäumte Straße einbog, war der Korb fast leer. Nur wenige Autos kamen ihnen entgegen. Durchs zurückgerollte Verdeck schien die Sonne. Ein leichter Wind wehte über Felder und Weiden. Die vorüberziehenden Bäume neben ihnen rauschten Frieden, Geborgenheit.

»Schwein gehabt, wie?«, sagte Rainer schließlich. Da sie wieder nicht antwortete, blickte er kurz zu ihr hin. Sie kauerte verkrampft auf ihrem Sitz, zitterte, knirschte mit den Zähnen. Ihr Gesicht war tränennass.

»Was ist?«, fragte er voller Unbehagen. »Was hast du?«

»Angst«, murmelte sie, »Angst, so viel Angst … geht aber vorbei.« Mit einer Papierserviette aus dem Esskorb wischte sie sich übers Gesicht, verlor dabei das Pflaster, betupfte die Wunde am Kinn, die wieder blutete, und fing einen Singsang an, halb leises getragenes Sprechen, halb geflüsterte Melodie: »Honjohada.«

»Wie?«

»Ist gegen Angst«, erklärte sie. Und fuhr mit dem Singsang fort:

»Honjohada eskan beltri

fessanborum majadar

muton fer azpurra tscheltri

zi kur ejun emaz feltri –

ra esketo schusemar!«

»Komische Sprache«, sagte er.

»Italienisch«, erklärte sie.

»Nie im Leben.«

»Ah, du kennst dich aus, was.«

Während sie über verrostete Eisenbahngeleise schaukelten, musste Rainer zugeben, dass er sich nicht auskannte.

»Also«, sagte sie bloß.

»Und du? Kennst du dich vielleicht aus?«

»Mein Babbo war Italiener.«

»Babbo?«

»Vater.«

»Wieso war?«

»Die haben ihn umgelegt.«

»Wer?«

»Abgeknallt. Einfach so.«

»Wer denn?«, wiederholte er. »Die Mafia, was? Oder?«

»Die da.« Mit großer Geste wies sie auf Kühe, Pferde, Radfahrer, Häuser, Autos. So eindringlich er sich auch bemühte, mehr war von ihr nicht zu erfahren.

»Weiß nicht, welche von den sieben bescheuert ist«, sagte er nach einer Weile, »aber mindestens eine ganz klar, das steht mal fest.«

»Kann schon sein«, meinte sie friedlich. Dann saßen sie wieder lange stumm nebeneinander. Bis er von Neuem anfing zu fragen: »Dein Vater, ist der schon lange tot?«

Sie nickte.

»Aber deine Mami, die ist noch nicht lange tot, was?«

»Hör schon auf!«, schrie sie ihn an, mitten in das Grinsen hinein, das sich auf seinem Gesicht wieder ausbreitete. Sie nahm noch Schilder am Straßenrand wahr, auch, dass Rainer einem Pfeil folgte, sich in dichten zweispurigen Verkehr einfädelte, beschleunigte und beim Überholen zufrieden grunzte. Als er plötzlich bremste, war sie schon tief eingeschlafen, traumlos nicht mehr vorhanden, trotz Stau und Hitze.

Soweit Rainer über die Autobahn blicken konnte, er sah nur unbeweglich unter der Sonne flirrendes lackiertes Metall, glitzerndes Glas. Aus dem Wagen neben ihm kam Musik und Kindergeplärr. Vor ihm war ein alter Mann ausgestiegen, schüttelte Arme und Beine. Seine Bewegungen passten rhythmisch zu Musik und Geplärr.

Rainer betrachtete Laura, die kindlich-hingebungsvoll weiterschlief, mit Schweißperlen auf der Oberlippe. Er sah das halbgetrocknete Blut an ihrer Kinnwunde. Und spürte seinen Rücken, dort, wo er gegen die Bretter gestürzt war. »Sauberes Paar sind wir«, murmelte er und zündete sich eine Zigarette an, zählte dann die sich häufenden Kippen im Aschenbecher.

Nach der siebzehnten konnte er den Caravan langsam bewegen. An der nächsten Ausfahrt verließ er die Autobahn, suchte leere Nebenstraßen.

Da war Laura längst aufgewacht, saß aber nun so teilnahmslos, so abweisend neben ihm, als säße sie woanders.

Sie näherten sich einem Dorf. Auf der rechten Seite der Straße, im grauen Sand, unter mächtigen Kiefern, waren ein paar niedrige Häuser und Katen aneinandergereiht. Hinter den Fenstern im verbrauchten Putz leuchteten frisch gestärkte Gardinen. Links lag ein dunkler Teich mit morschem Bootssteg über Schilf und Schlick.

»Schöne Moorlake, was«, sagte Rainer. »Mal schwimmen zum Munterwerden?« Und stubste sie leicht, weil sie nicht antwortete. Da sah er, sekundenlang war sie wieder eingeschlafen, öffnete gerade ihre Augen. »Und anrufen, ja«, murmelte sie. Denn gegenüber hatte sie eine neu hingestellte Telefonzelle entdeckt.

Er hielt am Teichufer, im Gras, hinter einer alten Holzbank. Beim Aussteigen streifte er alles ab, was er anhatte, auch den grellgemusterten Slip, warf die Sachen auf die Bank und sprang vom Bootssteg ins Wasser und winkte ihr zu.

Sie zog sich neben dem Auto aus, in eine der Wolldecken gehüllt, probierte den Bikini. Flüchtig kam ihr der Gedanke, man könnte sie von der anderen Straßenseite sehn, aus einem der Fenster etwa, Gardine beiseitegeschoben. Aber nichts rührte sich dort. Der Ort schien verlassen.

Sie behielt den Bikini an, obwohl er zu groß für sie war, hielt das Unterteil fest, während sie ins Wasser lief. Das kam ihr kühl vor, trug sie nicht so leicht wie es offenbar Rainer trug, der sich ihr mit seinem Dauergrinsen näherte, auf dem Rücken liegend, bei gleichmäßigem Armgepaddel.

»Stell dir vor«, meinte er, wasserspuckend, »wir hier in der Brühe, und da kommt einer und klaut die Karre, wie wir sie geklaut haben, mit all unsern Sachen – was dann?«

»Wär nur gerecht«, sagte sie gleichmütig und schwamm zurück zum Ufer. »Passiert aber nicht. Ich wär vorher da.«

Schräg unter ihr bemerkte sie zwei Schatten. Sie erschrak. Dann sah sie: es waren Karpfen. Fett und furchtlos schwammen die ein Stück mit ihr, betrachteten sie, drehten dann ab, verschwanden in einer unergründlichen Tiefe von drei, vier Metern.

Und das Mittelmeer, am Horizont schon ausgebreitet mit Manarola, Delphinen und Katzenhaien, verflüchtigte sich.

Erst als sie in der Telefonzelle stand, angezogen, Haare trockengerieben und gestriegelt, Bluse zugeschnürt, Affe im Karpfenwasser gewaschen, kam das Meer wieder.

Sie hörte Brecher gegen den Strand schlagen, hörte Steine rollen und klirren, die von harten Wellen über den Sand gejagt und zurück ins Meer gesogen wurden. Ihr Vater hatte das Geräusch oft beschrieben. Jetzt kam es aus dem Telefonhörer, füllte die Telefonzelle und, als sie die Tür öffnete, sekundenlang die Straße.

»Niemand da«, murmelte sie und ging langsam zurück zum Caravan.

»Also Malmö«, sagte er, schon am Steuer, bereit zur Weiterfahrt.

Laura holte tief Luft. »Erst mal Wasserturm«, sagte sie.

»Wasserturm?«

»Da wohnen die. Marie mit Kerstin und Beate. Am Premberger Tor, soll irgendwo in Friedrichshain oder Mitte sein. Du musst nicht mit. Ich kann da allein hin.«

»Wissen die überhaupt, dass du kommst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Die denken, ich bin in Italien.«

»Wieso Italien?«

»Aber«, sagte sie, »ich kann jederzeit zu Marie. Absolut sicher. Versprochen.«

»Wenn sie da ist, die Marie, in ihrem Wasserturm.«

»Wenn sie da ist, ja«, murmelte Laura. »Oder jemand von den andern, ja.«

»Noch mal: Wieso denken die, du bist in Italien?«

»Hatten wir doch schon, oder?

---ENDE DER LESEPROBE---