Im Jahr 95 nach Hiroshima - Richard Hey - E-Book

Im Jahr 95 nach Hiroshima E-Book

Richard Hey

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Beschreibung

Seit dem ersten Atombombenabwurf am 06. August 1945 hat für die Menschheit eine neue Zeitrechnung begonnen: das Jahr 0 nach Hiroshima.
Durch das rücksichtslose Verhalten des Menschen hat sich die Atmosphäre erwärmt, sind die Polkappen geschmolzen, und die Ozonschicht wurde schwer beschädigt. Jetzt, 95 Jahre nach Hiroshima, steht die Welt vor einer riesigen Herausforderung: Aus ungeklärter Ursache ist die Temperatur auf der Nordhalbkugel der Erde stark gefallen, und neue Gletscher haben sich gebildet; ganze Landstriche vereisen. Eine neue Eiszeit droht.
Zwei Wissenschaftler, die Biologin Antonella Lerici und der Physiker John Federbaum, machen sich auf die Suche nach Lösungen gegen die Vereisung des Planeten. Die Zeit wird knapp, denn das Eis breitet sich immer mehr aus …

Dieser Roman des Schriftstellers und Hörspiel-Autors Richard Hey wurde im Jahr 1983 mit dem Kurt-Laßwitz-Preis (in der Kategorie BESTER ROMAN) ausgezeichnet.

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Richard Hey

 

 

Im Jahr 95 nach Hiroshima

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv 

Cover: © by Steve Mayer nach Motiven, 2022

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die Handlungen dieser Geschichten sind frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Im Jahr 95 nach Hiroshima 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

Der Autor Richard Hey 

Von Richard Hey sind folgende Romane und Kurzgeschichten ebenfalls erhältlich oder befinden sich in Vorbereitung 

 

Das Buch

 

 

 

Seit dem ersten Atombombenabwurf am 06. August 1945 hat für die Menschheit eine neue Zeitrechnung begonnen: das Jahr 0 nach Hiroshima. Durch das rücksichtslose Verhalten des Menschen hat sich die Atmosphäre erwärmt, sind die Polkappen geschmolzen, und die Ozonschicht wurde schwer beschädigt. Jetzt, 95 Jahre nach Hiroshima, steht die Welt vor einer riesigen Herausforderung: Aus ungeklärter Ursache ist die Temperatur auf der Nordhalbkugel der Erde stark gefallen, und neue Gletscher haben sich gebildet; ganze Landstriche vereisen. Eine neue Eiszeit droht. Zwei Wissenschaftler, die Biologin Antonella Lerici und der Physiker John Federbaum, machen sich auf die Suche nach Lösungen gegen die Vereisung des Planeten. Die Zeit wird knapp, denn das Eis breitet sich immer mehr aus …

 

Dieser Roman des Schriftstellers und Hörspiel-Autors Richard Hey wurde im Jahr 1983 mit dem Kurt-Laßwitz-Preis (in der Kategorie BESTER ROMAN) ausgezeichnet.

 

 

***

 

 

Im Jahr 95 nach Hiroshima

 

 

1. Kapitel

 

 

Im Jahr 95 nach Hiroshima, Anfang Mai, waren zwei nordamerikanische Wissenschaftler vom Planeten Erde aufgebrochen zum Planetoiden Toro. In den ersten Sekunden ihrer Reise hatten sie durch die Bordfenster des Raumschiffs die Stahlgerüste der Rampe zur Seite kippen sehen, in der folgenden Minute das unter wolkenlosem Himmel grauweiß schimmernde Nordeuropa, dann hingen sie neun Tage scheinbar unbeweglich im schwarzen Weltraum, während ringsumher Sternbilder aus gelblich, bläulich, rötlich glühenden fernen Sonnen und Galaxien vorbeiglitten. Sie hatten ihre Instrumente beobachtet, Aufzeichnungen und Gymnastik gemacht, ihre Ausscheidungen der Wiederaufbereitungsanlage zugeführt, alle acht Stunden mit den beiden Bodenstationen gesprochen und mit dem Bordcomputer Trezik gespielt, eine Art Schach. Zwei Spieler mussten sich jeweils gegen den dritten verbünden. Aber Bündnisse konnten auch aufgekündigt, Fronten gewechselt werden. Und Figuren, die Arbeiter symbolisierten, durften sich gegen Figuren der eigenen Partei wenden, die Militär, Kirche oder Kapital darstellten. Ebenso durfte das Militär die eigenen Politiker schlagen, das konnte dem Spieler Vorteile bringen. Schließlich war es möglich, dass die stärkste Figur, die jeder zur Verfügung hatte, die Große Bombe, nach allgemeiner Übereinkunft nicht gezogen wurde. Bis einer sie dann doch als erster zog. Es war ein Spiel aus der guten alten Zeit vor der Jahrhundertwende, und sie hatten an jedem ihrer gleichförmigen, nur durch die Borduhr eingeteilten Tage eine Partie gespielt.

Harry Danielsson, Ende Dreißig, zur Fülle neigend, mit schütteren blonden Locken, rosigem Gesicht und großen dunklen Augen hinter dicken Brillengläsern, meistens in Weste und leicht schmuddeligem Hemd mit offenem Kragen, beherrschte das Spiel meisterhaft. Aber er war von den anderen, die weit weniger elegant mit den Regeln umgingen, jedes Mal geschlagen worden, weil er darauf bestand, fair zu spielen und eine Art bürgerlicher Sozialdemokratie mit ausgewogenen Besitzverhältnissen zu verteidigen. John Federbaum hingegen hatte nie anders als mit den übelsten Tricks gearbeitet, Verträge gebrochen, von Militärdiktatur zu Arbeiterrevolution gewechselt und wieder zurück zur Militärdiktatur, bedenkenlos, wie’s ihm gerade passte, und die Tricks des Computers waren womöglich noch schmutziger gewesen. Chancen für Harry hatte es nur gegeben, solange er mit John gegen den Computer spielte. John war fünf, sechs Jahre älter als Harry, hager, mit leicht gebogener Nase und streng gescheitelter schwarz-silberner Haarmähne dicht über schmalen grüngrauen Augen. Sein Seemannsbart war fast schon weiß, und während der ganzen Reise hatte er eine altmodische Krawatte getragen, die er nie ablegte, kaum lockerte. So wirkte er ebenso korrekt wie beunruhigend auf den friedfertigen Harry. Aber sie kannten sich schon lange, und das Einzige, was Harry wirklich störte, war das seiner Ansicht nach unerträglich ordinäre Gelächter von John, wenn er wieder mal Harrys Demokratie mit der Großen Bombe zugrunde gerichtet hatte.

Die zehnte Partie hatten sie abbrechen müssen. Sie waren in die Nähe ihres Ziels gelangt, rund siebenunddreißig Millionen Kilometer von der Erde entfernt, auf halbem Weg zur Umlaufbahn des Mars. Jetzt saßen sie angeschnallt nebeneinander im Kommandoraum, verglichen rasch wechselnde Zahlenangaben, Formeln und geometrische Figuren in leuchtenden Farben, drückten Tasten, korrigierten. Die Beschleunigung des Raumschiffs verringerte sich, der Schwerkraftsimulator schaltete sich ab. Durch die offene Tür hinter ihnen kam aus dem Wohn- und Schlafraum Harrys schlecht befestigtes Kopfkissen herangeschwebt, begleitet von zwei Fotos, einem Kugelschreiber, zwei Socken von John, einer Tablette und einem halb mit Wasser gefüllten Glas. Während John die Socken einfing, wedelte Harry Kopfkissen und Wasser von den Schirmen der Monitore. Weit vor ihnen, kaum erkennbar in der Finsternis, lag die kleine, schwach leuchtende Marssichel auf dem Rücken, wie der Mond bei den Türken, schräg unterhalb von ihnen gleißte tennisballgroß die Sonne, und über ihnen musste jeden Augenblick der winzige kosmische Felsbrocken erscheinen, auf dem sie landen sollten.

»Ich glaube, ihr könnt«, sagte der Spanier von Punta Corralejo auf dem zweiten der beiden Monitore der Bodenstationen. Der erste flirrte schwarz und gestört.

»Eure Werte sind in Ordnung.«

Er hatte eine Glatze und große Tränensäcke unter den Augen. Sein Englisch war kaum verständlich, und er blickte so melancholisch, als habe er eine unabwendbare Katastrophe angekündigt. Plötzlich löste sich sein Gesicht in Zeilen und Punkte auf, aber noch die Zeilen und Punkte schienen Kummer und Besorgnis auszudrücken, bevor sie verschwanden.

»Fernsehverbindung malade«, kam von der anderen Seite des Atlantischen Ozeans die muntere Stimme des Kollegen aus Cape Kennedy. »Wir versuchen, den Patienten zu behandeln, und gehen auf Sprechverkehr.«

»Euer Patient war schon halbtot, bevor wir gestartet sind«, schrie Harry wütend. »Ich hab’s euch gesagt. Hab’ ich’s gesagt?«

Er hämmerte auf die Sprechtaste.

»Lass sie!«, sagte John. »Die haben noch andere Sorgen.«

Das Raumschiff drehte sich um sich selbst, bis Toro genau unter ihnen auftauchte. Langsam sanken sie abwärts. Sie starrten zum Außenbildmonitor hinüber, auf dem der zerklüftete graugelbe Planetoid näher und näher kam.

»Siehst du was?«, murmelte Harry.

»Nichts.«

 

*

 

Ein kleiner rostroter Brocken schoss am Bordfenster vorbei. Harry fuhr zusammen.

»Bisher war nicht bekannt, dass Toro einen Begleiter hat«, sagte John ruhig. »Merkwürdig, nicht? Hätte uns doch seit acht Jahren bekannt sein sollen, oder?«

Harry ließ Zahlen, Winkelabstände und Parabeln, mit dicken Wurstfingern leicht wie ein Pianist über die Tasten gleitend, im Arbeitsbildschirm des Computers aufleuchten, während John auf dem Bildschirm daneben die mathematischen Angaben über das Landemanöver verfolgte.

»Schneidet unsere Lande- und Startumlaufbahn nicht«, sagte Harry aufatmend. »Verdammter Minimond.«

Und lehnte sich zurück.

Mit starken Vibrationen setzte das Raumschiff auf. Staub wirbelte am Bordfenster vorbei. Auf dem Außenbildmonitor sahen sie die kleine Wolke in den Weltraum schweben.

»Theoretisch kann man auch größere Stücke beim Landen losschlagen«, sagte Harry.

»Kann man«, sagte John.

»O. k., du hast es gleich gesagt«, meldete sich wieder die muntere Stimme von Cape Kennedy. »Wir hätten auf dich hören sollen. Gebt Nachricht, sowie ihr gelandet seid. Ende.«

Weder Harry noch John antworteten. Sie warteten die vorgeschriebenen zehn Minuten. Stumm und fast ohne sich zu bewegen saßen sie nebeneinander, ließen den Blick nicht vom Außenbildmonitor. Der zeigte jetzt, am Fuß eines gezackten hohen Felsens, zwei hell schimmernde Kuppeln. Hinter dem Felsen ging die Sonne unter. Die Kuppeln verschwanden innerhalb von Sekunden im tiefschwarzen Schatten.

John stand auf.

»Ich hatte immer gehofft …«, begann Harry.

»Ich auch.«

John ging hinüber zur Schleuse, stieg in den silberbeschichteten Schutzanzug mit dem violetten Helm, hakte das Sicherheitskabel in den Anzug.

Harry drückte die Sprechtaste

»Achtung Punta Corralejo. Achtung Cape Kennedy. Hier Toro Drei. Wir sind vor zehn Minuten gelandet. John verlässt jetzt Toro Drei. Sobald wir mehr wissen, melden wir uns. Ende.«

»Wir wissen’s ja schon«, sagte John unter dem Helm. »Scrotumzusammenziehende Gewissheit. Mein Sack täuscht sich nie. Lass mich raus!«

Harry nickte. Vor seinem Gesicht schloss sich die Schleusentür. Die Außentür öffnete sich, die automatisch ausfahrende Treppe bohrte sich in den knöcheltiefen Staub, wirbelte eine weitere Wolke auf, die in den Weltraum davonzog.

John blieb gebückt neben der Treppe stehen, suchte im grellen Licht der Scheinwerfer des Raumschiffs nach Spuren im Staub. Er fand keine. Er richtete sich auf.

»Ich bin draußen«, sagte er. »Siehst du mich?«

Nah an seinen Ohren antwortete Harrys vertraute Stimme unter dem Helm:

»Hab’ dich klar auf dem Außenmonitor. Ortungsgerät eingeschaltet.«

John prüfte Handscheinwerfer und Handkamera, zerrte am Sicherheitskabel.

»Klemmt.«

»Seh’ ich nicht.«

»Schleusenautomatik oder Landegestell.«

»Warte! Und jetzt?«

John zog am Sicherheitskabel. Leicht gab es dem Druck nach.

»In Ordnung.«

John machte ein paar Schritte.

»Harry?«

»Alles okay Deine Positionsveränderung wird optisch und akustisch angezeigt. Bleib im Bereich der Scheinwerfer!«

Langsam ging John auf die gezackte Felswand zu, drehte sich um, sah zum Raumschiff zurück. Seine Oberfläche glitzerte. Wo John stand, war außerhalb der Scheinwerfer Nacht.

»Die Sonne geht auf«, sagte er und wandte sich wieder der Felswand zu. »Versuch, das russische Labor reinzukriegen!«

»Hab’ ich. Und dahinter unseres. Sieht aber alles unbeschädigt aus.«

»Scheint so, ja.«

»Du bewegst dich immer noch zu schnell. Ohne Sicherungskabel wärst du jetzt 50 Meter hochgesegelt. Ich geb’ mal durch, dass du auf dem Weg zu den Labors bist. Dass die beiden Stationen noch vorhanden sind.«

»Harry?«

»Ja?«

»Warte noch mit dem Bericht! Ich finde, wir sollten uns erst mal allein umsehen. Ohne Beteiligung von denen.«

»Aber die Kalifornische Universität.«

»Fick die Präsidentin!«

»Moskau wartet auch auf uns. Und wir haben einen Vertrag mit dem Hamburger Fernsehen.«

»Hamburg wird in zwei Jahren nicht mehr existieren.«

»Noch zahlen sie. In fünf Jahren wird’s auch die Hälfte der Sowjetunion nicht mehr geben, und trotzdem zahlen sie. Die haben alle ein Anrecht darauf, dass wir ihnen sofort sagen …«

»Noch nicht, Harry. Bitte!«

»O. k., John. John?«, rief Harry plötzlich. »Ich seh’ dich nicht mehr.«

John war um die erste Kuppel herumgegangen. Er näherte sich der Rückseite der Kuppel. Sie war kaum noch vorhanden. Trümmerstücke lagen verstreut im Staub. Ein riesiges zerfranstes Loch klaffte im Dach der Kuppel.

»Was ist mit deiner Handkamera?«, sagte Harry.

»Längst eingeschaltet.«

»Ich bekomme kein Bild.«

John hielt die Handkamera höher.

»Kannst du sie höher halten?«

John ließ die Handkamera sinken.

»Hab’ ich schon.«

John betrachtete Metallteile vor seinen Schuhen, stieg über sie hinweg, ging näher heran an das Dach.

»Kein Bild«, schimpfte Harry. »Ich hab’s gewusst. Auch das hab’ ich gewusst. Euro-Kameras funktionieren einfach nicht. Du wirst kein britisches Zahnrad erleben, das freiwillig in ein italienisches greift. Von der deutsch-deutschen Elektronik ganz zu schweigen.« 

Nicht nur das Dach war eingerissen. Auch die rückwärtige Kuppelwand war zerplatzt und eingeknickt. Und zwischen Maschinenteilen und Kunststoffbehälterresten lag in Höhe von Johns Augen auf einem zersplitterten Kunststoffschrank, dekorativ, unwirklich, ein etwa zwei Meter langer Metallkörper, der aussah wie eine missgestaltete Boje. An ihm vorbei konnte John querdurch die ganze Kuppel in den Wohnraum sehen. Die Schleusentüren hingen, geöffnet, schief in den Fassungen.

»Ich werd’ dir sagen, was ich seh’«, murmelte John. »Die Kuppel ist zertrümmert.«

»Also doch ein Meteorit. Chance eins zu vier Milliarden, hat Donovan behauptet. Geh nicht rein!«

»Ich bleib’ draußen.«

»Dieser Minimond vorhin könnte ein Bruchstück des Meteoriten gewesen sein, der sich beim Aufschlag …«

»Eine Raumsonde«, sagte John.

»Ich versteh’ dich nicht.«

»Eine verbeulte Raumsonde.«

»Was?«

»Sie ist in die Sauerstoffaufbereitungsanlage der Russen eingeschlagen.«

»Eine Raumsonde?«

»Aus den sechziger oder siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Pioneer-Serie. Ich hab’ mal Abbildungen gesehen.« 

»Du willst sagen, eine von diesen alten amerikanischen Blechbüchsen, die seit achtzig Jahren um die Sonne kurven oder auf dem Mars verrosten, ist in das russische Laboratorium auf Toro gekracht?«

Hinter John stieg die Sonne schnell höher. Der gleißende Tennisball schien kalt durch das zertrümmerte Dach in den Wohnraum. Der Schatten der Raumsonde fiel auf ein Stück Teppich. Und aus dem Schatten ragten zwei schwarze pergamentene Füße.

John kletterte vorsichtig über die Kunststoffwandreste neben der Sonde ins Innere der Kuppel. Der Schatten wanderte. Seine rasche Bewegung täuschte Leben vor, eine Art Veränderung, irgendetwas wie ein Ziel, Anlass zu Hoffnung. John kannte den Effekt. Halb im Licht, halb im Schatten sah er auf dem Teppich die beiden Leichen.

 

*

 

»Hör mal, John …«

»Valentina und Michail liegen da als ob sie schliefen«, sagte er. »Beide sind nackt.«

»Nackt?«

»Verbrannt durch ultraviolette Strahlung, aber durch Weltraumkälte konserviert. Jemand hat ihnen die Hände über der Brust gefaltet.«

»Jemand hat ihnen die Hände gefaltet?«

»Und eine Geranienblüte auf die Hände gelegt.«

»Eine Geranienblüte? Eine Geranienblüte?«

John bemühte sich, die schwarz-violetten Blumenreste genauer zu erkennen.

»Doch«, sagte er, »müssen Geranien sein.«

»John, ich glaube, ich hol’ dich zurück.«

John spürte den Ruck am Sicherungskabel.

»Lass den Quatsch!«, murmelte er. »Ich bin in Ordnung. Ich berichte nur, was ich sehe.«

Er sah die erstarrten, ausgeglühten, mumifizierten Körper, die überlangen Fingernägel, die geschrumpften Köpfe mit den langen gebrochenen Haaren. Sie ruhten auf zwei Kissen. Jemand musste ihnen die Kissen liebevoll untergeschoben haben.

Neben den beiden lagen vergilbte Betttücher. Jemand musste sich etwas dabei gedacht haben, die Leichen nicht zu bedecken.

»Du siehst also tote nackte Sowjetbürger mit gefalteten Händen und Geranien auf der Brust.«

»Ja.«

»Und wie erklärst du dir das?«

»Vorerst gar nicht. Ich geh’ jetzt rüber zu unserm Labor.«

»John …«

Er kletterte aus der zerborstenen Kuppel hinaus und hüpfte mit Zehnmetersätzen zur zweiten Kuppel. In seinen Ohren zirpte es aus großer Ferne:

»Toro Drei … Toro Drei. Hört ihr uns? Cape Kennedy an Toro Drei. Toro Drei, wir warten auf weitere Nachricht. Harry, John, bitte kommen. Ende.«

»Er soll seinem Senator die Arschhaare kämmen und uns in Ruhe lassen«, sagte John während des letzten Zehnmeterflugs.

»Toro Drei an Cape Kennedy und Punta Corralejo«, antwortete Harry. »Verstanden. Wir sind o. k., melden uns in fünf Minuten. Ende.«

John stand vor der Schleuse von Toro Zwei.

»Sieht unbeschädigt aus.«

»Ich kann nur deinen Helm erkennen. Da ist dieser Felsen dazwischen. Und gleich geht die Sonne unter. Mit dem Scheinwerfer komm’ ich nicht bis Toro Zwei. Besser, du kehrst um, John? Ich seh’ dich nicht mehr.«

Die Schleuse hatte sich leicht öffnen lassen. John bewegte sich vorsichtig ins Finstere hinein. Im gleichen Augenblick erhellte sich der Raum.

»Generator arbeitet noch.«

»Wo bist du?«

»Hier hängen zwei Sicherungskabel. Nur ein Schutzanzug.«

»Das würde bedeuten …«

John hakte das eigene Sicherungskabel vom Schutzanzug, ließ es vor die Schleuse gleiten. Dann schloss er die Außentür. Er beobachtete die Messinstrumente an der Unterseite seines linken Ärmels.

»Druckverhältnisse normal. Toro Zwei hat irdische Atmosphäre. Ich geh’ weiter rein. Den Schutzanzug behalte ich an. Lass mein Sicherungskabel da liegen, wo’s liegt.«

»Das würde bedeuten«, Harrys Stimme war heiser vor Aufregung, »einer von den beiden, Dorothy McGovern oder Arthur Krönlein, ist ohne Sicherungskabel nach draußen.«

Wieder das ferne Gezirpe:

»O. k., wir haben dich verstanden und warten, bis ihr euch meldet. Ende.«

»Arthur nicht«, sagte John.

Er stand im Arbeitsraum, im warmen gleichmäßigen Licht, das sich bei seinem Eintritt eingeschaltet hatte. Über dem Computertisch lag der stark verweste Leichnam eines Mannes, Knochen, Fauliges, Haariges, Auseinandergelaufenes, zu Boden Getropftes; der Unterkiefer zähnebleckend weit aufgerissen wie zu einem Schrei. Vertrocknete Geranien lagen um ihn herum, auf ihm, unter ihm, bedeckten den Computer und fast den ganzen Boden des Arbeitsraums.

»Was?«, schrie Harry. »Was ist mit Arthur?«

»Geranien hat er gezüchtet«, sagte John.

»Geranien? John, die Sonne ist jetzt weg, und ich hab’ den kleinen rostroten Mond wieder auf dem Bild. John, hör doch.«

John beugte sich über den Toten. Ratlos sah er die Elektroden an seinem Schädel, die mit dem Computer verbunden waren und mit den meisten der Geranien. Die Geranien waren wieder untereinander verbunden und an den Computer angeschlossen.

»Scheint unbeschädigt«, murmelte er und schaltete den Computer ein. Nichts rührte sich.

»Nein, funktioniert nicht. Aber wieso arbeitet dann der Generator?«

»John, welche Farbe hat der Schutzanzug in der Schleuse von Toro Zwei?«

»Geranien, die mit einem Computer und mit einem Gehirn verbunden sind, stell dir das vor!«, sagte John. »Mit Drähten, die er offenbar aus dem Museum geklaut hat. Solche gibt’s gar nicht mehr. Mindestens hundert Jahre alt.«

»Rostrot, nicht wahr? Arthurs Schutzanzug, nicht wahr? John!«

John sah zurück durch die vorschriftswidrig offengebliebene Schleusentür auf den rostroten Schutzanzug und die zwei Sicherungskabel an der Schleusenwand.

»Du meinst …«

»Und von Dorothy keine Spur, da bei dir, da drinnen zwischen den Geranien, nicht wahr?«

»Verstehe«, murmelte John.

»Komm her und sieh sie dir an. Ich hab’ sie jetzt in siebenhundertfacher Vergrößerung.«

Als John wenige Minuten später vor dem Außenbildmonitor saß, hatte Harry schon die Umlaufbahn berechnet. Der Körper im rostroten Schutzanzug umkreiste Toro in fünfundsechzig Kilometern Abstand, in der Hocke wie ein Embryo, das Gesicht zwischen den Knien, die Arme und Beine unterhalb der Knie verschränkt, langsam rotierend.

 

 

 

2. Kapitel

 

 

Die Vietnamesin hatte den Fernsehrahmen an die Innenwand des Wintergartens gehängt. Sie saß im Liegestuhl davor, umgeben von Codierbändern, Programmierkarten, Protokollen und Akten, die auf kleinen Tischen zwischen Lianen, Efeu und blühenden Bougainvilleasträuchern aufgeschichtet lagen. Die Pflanzen wanden sich an verrosteten gusseisernen Säulen empor und leere Fensteröffnungen entlang. Alle Scheiben waren herausgenommen oder zerbrochen; umwucherte Reste steckten noch in einigen der eisernen Fassungen.

Draußen wogte ein Weizenfeld. Auf den ersten Blick schien es sich auszudehnen bis zum Horizont, in Wirklichkeit war es sehr begrenzt, wurde nur vielfältig gespiegelt von einer zeltähnlichen hellblauen Kunststoffhülle, die es an den Seiten und oben lückenlos umgab und den Wintergarten noch einschloss. An den baumähnlichen stählernen Verstrebungen, die das Zelt trugen, waren Apparaturen zur Erzeugung von Sonnenlicht, Wind und Regen befestigt. Auf einem Holzgerüst mitten im Weizen stand ein Bienenkorb. Insekten schwirrten übers Feld, ebenso einige Vögel. Alle paar Meter steckten im beetähnlich unterteilten Weizen Ableseinstrumente. Einige Beete trugen höheren Weizen, andere niedrigen, dafür dichteren. Sämtliche Sorten hatten etwa dreißig Zentimeter lange und sehr dicke Ähren, die oft den Halm bis zum Boden krümmten. Durch die Beete ging vorsichtig, um keine Pflanze zu beschädigen, eine junge Frau in altertümlich lang wallendem grünseidenem Rock mit pinkfarbener Bluse. Dicht geringelte kurze blonde Locken fielen ihr ins braungebrannte Gesicht. Trotz etwas zu üppigem Mund und flacher Nase wirkte es vollkommen ebenmäßig. Sie schrieb in ein Notizbuch, was die Instrumente der einzelnen Beete anzeigten, und ihre leuchtend violetten Fingernägel flimmerten über dem Weizen.

Die Vietnamesin schrieb auf einer altmodischen Kugelkopfmaschine. Ihre Nägel waren abgebrochen. Sie war eine mittelgroße, sehr magere Frau von Ende Dreißig, in Jeans und Pullover. Manchmal fühlte sie nach den Lymphdrüsen unter ihren Achseln oder goss aus einer Flasche, die neben dem Liegestuhl stand, ein kleines Glas voll. Daran nippte sie und sah dann hinüber zu der jungen Frau im Weizenfeld. Oder sie blickte ins Haus, in den großen Raum, der ihr Wohn-, Schlaf- und privates Arbeitszimmer war. An den Wänden häuften sich antiquarische Bücher aus dem 20. Jahrhundert, Mikrofilmkassetten, Textplattenstapel für Computer, die den Inhalt ganzer Bibliotheken abrufbar machten, und Kunststoff-Folianten. Die Einrichtung bestand aus zerfledderten Teppichen, Trödelkram, einem hundertzwanzig Jahre alten Neue-Sachlichkeit-Schreibtisch mit Artdeco-Lampe und einem breiten Eisenbett voller weicher Matratzen und Decken, mit je zwei Messingkugeln an den kunstgeschmiedeten Gittern von Kopf- und Fußende. Durch die gardinenlosen grauen Fenster der Vorderfront konnte sie zugeschneite Wiesen sehen und vor dem Haus die raureifbedeckten, vom Westwind gekrümmten kahlen Bäume, die trotz der Kälte an einigen Zweigen Knospen trugen und auf keinen Fall gefällt werden durften, bevor sie nicht ganz und gar abgestorben waren. Sie hatte jedem einzelnen Baum einen Namen gegeben. Von Jahr zu Jahr wurden die Lücken zwischen ihnen größer.

Manchmal hörte sie von der Elbe her das Knacken der Eisschollen. Tauwetter war angesagt.

Irgendwo in den bücherbepackten Regalen des Wohnzimmers bimmelte eine kleine Uhr, und zugleich schaltete sich der Fernseher an der Wintergartenwand an. Eine graugetigerte Katze, die unter dem Liegestuhl schlief, hob den Kopf, ohne die Augen zu öffnen, und senkte den Kopf wieder auf die Pfoten. Aber die Uhr ging nach, die Sendung hatte schon begonnen.

Auf der Wintergartenwand breiteten sich abwechselnd der Kontrollraum des Raumfahrtzentrums von Cape Kennedy aus und der ähnliche, nur viel kleinere von Punta Corralejo, der auf einem Monitor in Cape Kennedy erschien. Vor dem Monitor saß eine zarte Frau mit sehr kurzen roten Haaren und bis unter den Hals zugeknöpfter uniformähnlicher Jacke. Die Vietnamesin betrachtete sie flüchtig und blätterte in der nächsten Akte.

»… wie von der Sowjetunion eben angekündigt«, sagte die Frau.

Ihre Stimme war überraschend hoch, von kindlicher Energie.

»Dr. John Federbaum und Dr. Harry Danielsson, die vor vier Wochen mit Toro Drei im Tal der Anmut auf Toro gelandet sind, haben vor etwa sechs Stunden zum ersten Mal ausführlich über ihre bisherigen Untersuchungen berichtet. Und zwar für uns, das heißt auf Deutsch. Wir haben gerade unser deutsches Vierteljahr, erklärte mir Harry. Die beiden wechseln, aus Trainingsgründen, wie sie sagen, alle drei Monate ihre Umgangssprache. Nur fürs unerlässliche Amtliche bleiben sie bei Amerikanisch. In zwei Monaten ist Italienisch dran. Manchmal habe ich in den Bericht hineingeredet. Sie werden das vielleicht gleich hören. Ich sage: vielleicht. Denn leider ist eine technische Panne schuld daran, dass wir unseren sensationellen Bericht noch nicht senden können. Sensationell warum? Ich will nichts verraten. Hundertvierzehn internationale Fernsehstationen sind angeschlossen. Man versichert uns sowohl hier als auch in Punta Corralejo …«

Der düstere Spanier erschien im Monitor. Seine Tränensäcke zuckten. Ohne jede Hoffnung hob er beide Arme.

»… dass die Panne bald behoben sein wird. Die paar Minuten könnte ich Sie unterhalten, indem ich meine Jacke aufknöpfe. Öfter werde ich von Zuschauern, männlichen wie weiblichen, darum gebeten.«

Sie lächelte und knöpfte den obersten Knopf der Jacke auf.

»Man will wissen, ob ich unter der Jacke etwas anhabe. Besonders, wenn Katastrophen sich häufen. Da muss ein Zusammenhang bestehen. Trotzdem, ich denke, wir verschieben die Beantwortung der Frage auf später. Es gibt noch Steigerungsmöglichkeiten für unsere Katastrophen. Der richtige Moment kommt bestimmt.«

Sie lächelte nicht mehr.

»Wenn Sie mich bis dahin mit Briefen und Anrufen verschonen wollten.«

Sie knöpfte die Jacke wieder zu.

»Ich gebe zurück nach Hamburg.«

»Dauert noch«, rief die Vietnamesin zum Weizenfeld hinunter.

»Wollte die sich wieder ausziehen?«, fragte die junge Frau.

»Hab’ nicht hingesehen.«

»Tut sie doch nie«, sagte die junge Frau und schrieb weiter in ihr Notizbuch.

Inzwischen blickte von der Wintergartenwand ein alter zerfurchter Mann aus dem Studio auf die Vietnamesin und begann:

»Vielleicht sollten wir hier in Hamburg die Zeit nutzen und Ihnen kurz die wichtigsten Daten über Toro in Erinnerung rufen. Mancher von Ihnen könnte allerdings sagen, dass wir in der Situation, in der sich die Erde befindet, wahrhaftig andere Sorgen haben. Die in den gestrigen Abendnachrichten gemeldete Weigerung der Union Nordafrikanischer Länder, für ihre Industrie und Landwirtschaft weitere Gastarbeiter aus Skandinavien, Norddeutschland und der Schweiz aufzunehmen, wird die Europäer zum Beispiel vor neue, sehr ernste Probleme stellen. Aber ich denke, es ist doch auch ein Beweis für den Überlebenswillen der Bewohner dieses Planeten, wenn wir nach wie vor Anteil nehmen am Schicksal von vier im Weltraum gestrandeten Wissenschaftlern und dass wir ihnen, wenn auch vergeblich, Hilfe zu bringen suchten. Der zweite Mond der Erde, also Toro, wurde 1972 oder, folgen wir der neuen Zählung, im Jahr 27 von Dr. Danielssons Großvater entdeckt, dem schwedischen Astronomen Lars Danielsson.«

Aus dem Fernsehrahmen schwebte ein Stück zernarbter Schlacke in den Wintergarten, drehte sich dabei um sich selbst

»Sie sehen, Toro ist sehr klein, ein Felsen von der äußeren Form und Ausdehnung etwa der Insel Amrum. Seine kosmische Winzigkeit war der Grund dafür, dass er uns so lange verborgen geblieben ist. Das Eigentümliche an Toro ist nun, dass er nicht nur mit einer fünffachen herzförmigen Schleife das Erde-Mond-System umkreist, sondern auf einer, wie Sie nun sehen, geradezu ornamentalen Bahn auch die Sonne.«

Die Schlacke verwandelte sich in ein Modell des Planetensystems, dessen farbig dargestellte Umlaufbahn wie bunte schwebende Reifen ruhig zwischen Bougainvillea und Efeu verliefen, während Toros feurigrote Schleife sie umschlängelte.

»Dabei gerät er bis weit außerhalb der Marsbahn. Er ist also zugleich unser zweiter Mond sowie ein kleiner Planet auf exzentrischer Bahn, der sich lediglich alle acht Jahre in relativer Erdnähe bewegt. Das hat ihn für die Wissenschaft interessant gemacht. Und, zum Glück, unwichtig für die Militärs, die erstaunlicherweise Anfang des Jahrhunderts noch dafür bezahlt wurden, dass sie außerstande waren, aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts eine Lehre zu ziehen. So gelang es, nach jahrzehntelanger Vorbereitung, vor acht Jahren, als gemeinsames Forschungsunternehmen der Sowjetunion und der USA, die während des Fluges aneinandergekoppelten Raumlaboratorien Toro Eins und Toro Zwei auf Toro abzusetzen, voneinander zu trennen und zu verankern.«

Jetzt flogen die beiden Raumschiffe durch den Wintergarten; im nächsten Augenblick waren sie zu kleinen hellen Erhebungen auf der Schlacke geworden.

»Ein enormer Erfolg, wenn man bedenkt, dass als einziger Lande- und Ankerplatz nur eine felsige Fläche von wenigen hundert Metern zur Verfügung stand. Hier sehen Sie die beiden Laboratorien. Vorgesehen war ihre Rückkehr acht Jahre später, also für einen Zeitpunkt in den kommenden drei Wochen. In diesen Jahren wollten sich die amerikanischen Wissenschaftler Arthur Krönlein und Dorothy McGovern, ungestört von der irdischen Atmosphäre, mit der Erforschung der Strahlung im Universum beschäftigen, während die russischen Wissenschaftler den interplanetarischen Raum zwischen Venus und Jupiter erforschten. Wir wissen nicht, was sich Anfang dieses Jahres ereignet hat. Jeder Funkkontakt war ja abgebrochen. Und erst heute werden wir Näheres über die Ereignisse erfahren, die zum Tod der vier Wissenschaftler geführt haben. Aber was in knapp acht Jahren diese vier einsamsten aller Menschen während ihrer Reise durch unser Sonnensystem an Erkenntnissen über die Natur des Universums für uns gesammelt haben, könnte durchaus dazu beitragen, aber ich sehe, ich muss zurückgeben an Cape Kennedy.«

Jetzt redete wieder die rothaarige Frau. Sie bewegte ihren in der Farbe der Haare geschminkten Mund. Zu hören war nichts. Sie saß mit nacktem Oberkörper vor der Kamera. Sie hatte fast keine Brüste, nur den Schatten einer leichten Wölbung. Ihre Haut war weich wie die eines zehnjährigen Mädchens, und die kleinen Brustspitzen hatten die Farbe von Mund und Haaren.

»… nur was auf Toro aufgezeichnet wurde«, sagte die Frau plötzlich.

Anschließend bewegte sie wieder stumm den Mund. Dann:

»… über den zweiten Satelliten zur Erde gesendet … Bildausfall zu entschul… Ausfall der Magnetbänder von Cape Ken …«

»Die üblichen Defekte«, sagte die Vietnamesin. »Bis auf ihre Haut. Die ist vollkommen. Sieh sie dir an!«

Die Frau im Weizenfeld winkte ab.

»Ich mach’ hier weiter. Sag mir dann, was die beiden gesagt haben!«

Aus dem Fernsehrahmen kamen Archivbilder aller beteiligten Wissenschaftler, der lebenden wie der toten, Aufnahmen des Planetoiden, der Labors auf Toro, der Raumsonde, der Frau mit den roten Haaren in bis zum Hals zugeknöpfter Jacke, abwechselnd, je nachdem, wer gerade sprach oder wovon die Rede war. Aber die Vietnamesin sah kaum noch auf. Sie arbeitete, trank ab und zu einen Schluck oder kraulte mit herabhängender linker Hand die Katze, hörte, wenn Danielsson zwischen den Blumen in einer Fensteröffnung schwebte, einer hellen männlichen Stimme zu; wenn Federbaum da unbeweglich saß, einer dunklen; und einer hohen metallischen, wenn die Frau mit den roten Haaren erschien.

Die helle männliche Stimme:

»… geben euch jetzt eine Zusammenfassung von all dem, was wir hier auf Toro in den letzten vier Wochen …«

Die weibliche Stimme, unter Frequenzgeräuschen, sehr fern, aber durchdringend:

»Könnt ihr jetzt nicht die Ergebnisse des vergangenen Monats insgesamt für uns zusammenfassen? Ende.«

Die helle männliche Stimme:

»Ihr braucht ja nur zuzuhören und Geduld zu haben. Ihr vergesst das immer: anderthalb Minuten, bis unsere Worte bei euch ankommen und eure bei …«

Die ferne weibliche Stimme, mit Knattern und Prasseln:

»Toro, Achtung Toro. Eben kommt noch eine wichtige Meldung. Die Vorsitzenden der drei größten amerikanischen Frauenverbände und die Präsidentin der Vereinigten Staaten sind übereingekommen, zu Ehren von Dorothy McGovern, der, ich zitiere, Heldin der westlichen Welt, der vorbildlichen typisch amerikanischen Frau, Zitatende, das amerikanische Weltraumlabor Toro Zwei künftig Dorothy-McGovern-Labor zu nennen. Wir wüssten vorab gern eure Meinung dazu. Ende.« 

Männliche Stimme, dunkel:

»Von mir aus. Wenn’s die Frauenverbände glücklich macht.«

Männliche Stimme, hell: »Vergesst nicht, alle Strophen der Nationalhymne zu singen. Ich beginne mit …«

Die weibliche Stimme:

»Ich höre gerade, die Sowjetunion will Toro Eins künftig Valentina-Tschirilowa-und-Michail-Samjatin-Labor nennen. Ende.«

Männliche Stimme, dunkel:

»bisschen lang für eine Telegramm-Adresse.« 

Weibliche Stimme:

»Abgekürzt Vasam. Ende.«

Männliche Stimme, dunkel:

»Ob sie jetzt wohl die Klappe hält.«

Männliche Stimme, hell:

»Ich beginne mit meinem Bericht. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts haben die Amerikaner eine Sonde hochgeschossen, die sollte an Saturn vorbei in die Tiefen des Universums fliegen und außerirdischen Zivilisationen, falls es sie irgendwo und irgendwann mal gäbe, Kunde von der Erde bringen. Da waren Zeichen für die Anordnung von Wasserstoff und Heliumatomen, Bilder von Menschen, Sprachbeispiele und der Schlusschor von Beethovens Neunter Sinfonie gespeichert. Ein rührendes Unternehmen. Es wurde damals mit einem beschrifteten Ping-Pong-Ball verglichen, den wir aufs Geratewohl in den Weltraum geschlagen hätten. Nach Johns Meinung hat nun jemand kräftig zurückgeschlagen.« 

Männliche Stimme, dunkel:

»Sieht wenigstens so aus.«

Männliche Stimme, hell:

»Für mich nicht, John. Aber ich muss zugeben, ich weiß noch nicht, wie das verdammte Ding zurückfliegen konnte. Auf der Erde hatte es ja keiner mehr auf der Rechnung. Als ich die Bahn, die es genommen haben muss, nachprüfte, ergab sich, dass es entgegen den damaligen Berechnungen nicht aus dem Sonnensystem herausgeflogen, sondern mehrere Jahrzehnte um den Saturn gekreist ist. Dann hat es aufgrund von bisher unbekannten Einflüssen die Saturnbahn wieder verlassen und ist auf Toro gestoßen. Ich weiß, das hört sich unbefriedigend an. John, sag auch mal was!«

Männliche Stimme, dunkel:

»Bahnberechnungen sind ja eigentlich Harrys Sache. Und wenn er sich nicht geirrt hat …«

Weibliche Stimme:

»Gut, wir hören also zu und unterbrechen nicht mehr. Ende.«

Männliche Stimme, dunkel, mit Seufzer:

»Und wenn Harry sich nicht geirrt hat, wäre diese alberne illustrierte Keksdose zufälligerweise genau in eine Umlaufbahn um die Erde eingeschwenkt, falls sich nicht zufälligerweise Toro in der Flugbahn befunden hätte. Ich sage zwei Mal: zufälligerweise. Aber mir fällt es schwer, hier an Zufälle zu glauben. Ich habe eher den Eindruck, jemand wollte uns die Keksdose vor die Haustür schmeißen. Entweder hat der nun von der Existenz Toros nichts gewusst, und es war wirklich ein Zufall, dass Toro getroffen wurde. Diesen Zufall, so unwahrscheinlich er auch ist, würde ich noch akzeptieren. Oder er hat tatsächlich Toro treffen wollen. Aber dann hat er die Fähigkeit von Menschen, mit so einem Geschoss fertig zu werden, unterschätzt. Denn ich glaube nicht, dass die zurückgeschmissene Keksdose uns schaden sollte. Vielmehr glaube ich, dass sie uns eine Botschaft übermitteln soll. Bloß ist schwer herauszufinden, welche.«

Männliche Stimme, hell:

»Bleiben wir zunächst noch bei den Tatsachen, soweit sie uns bekannt sind. Die Raumsonde schlug im russischen Weltraumlabor ein, zerstörte die Sauerstoff- und Schwerefeldanlage und bewirkte den augenblicklichen Tod der beiden Personen, die sich in Toro Eins, also im heutigen Vasam, aufhielten. Im Moment des Einschlags nun …«

Weibliche Stimme:

»Eure Bemerkungen zur Umbenennung des amerikanischen Weltraumlabors, ich zitiere:

Wenn es die Frauenverbände glücklich macht, und: Vergesst nicht, alle Strophen der Hymne zu singen, Zitatende, sind hier nicht gut aufgenommen worden. Ich finde diese Reaktion ja reichlich zickig. Aber vielleicht fällt euch doch noch was anderes ein. Ende.«

Männliche Stimme, dunkel:

»Baby, sag denen mal Folgendes: Hier bei uns ist der ganze Horrorrummel, den ihr da unten seit vier Wochen mit dem, ich zitiere, Mond von Toro, Zitatende, gemacht habt, nicht gut aufgenommen worden. Und deshalb, Harry, schlage ich vor, dass wir entgegen unserer Absicht mal ein bisschen deutlicher werden. Die Frauenvereine können sich das vaterländische Gebibber sparen. Die sollen sich was anderes suchen, wenn sie nasse Höschen haben wollen. Denn die als Mond von Toro qualvoll krepierte Frau war nicht, wie wir zunächst angenommen hatten, Dorothy McGovern, sondern der Mond von Toro war Valentina Tschirilowa. Während sich Dorothy im Moment der Katastrophe im russischen Labor bei Michail Samjatin befand. Woraus hervorgeht, dass die menschlichen Beziehungen zwischen den vier Wissenschaftlern sich erfreulicherweise anders entwickelt hatten als von den Behörden in Washington und Moskau vorgesehen.«

Männliche Stimme, hell:

»Ich setze meinen Bericht fort. Im Moment des Einschlags der Sonde ins russische Labor waren Arthur Krönlein und Valentina Tschirilowa im amerikanischen Labor mit den Vorbereitungen zu einem gemeinsamen wissenschaftlichen Experiment beschäftigt. John wird sich gleich dazu äußern. Zweifellos hat der Aufprall der Sonde eine Erschütterung des gesamten Planetoiden bewirkt. Außerdem fiel die Verbindung zum russischen Labor aus. Es muss nun so gewesen sein, dass Valentina als erste hinauseilte. Sie ergriff Dorothys Schutzanzug, befestigte aber nicht das Sicherheitskabel, wie es Vorschrift gewesen wäre. Wir haben den Eindruck, dass sich die vier während des jahrelangen Aufenthalts auf Toro die Benutzung von Sicherungskabeln abgewöhnt hatten und ihre Schutzanzüge bei den gegenseitigen Besuchen einfach austauschten, wie es sich gerade so traf. In der Aufregung machte Valentina zwei weitere Fehler. Sie schloss den Schutzanzug von Dorothy nicht sorgfältig, und sie wollte zu schnell hinüber zu Toro Eins. Ich vermute, sie ist gestolpert und bekam dadurch die Beschleunigung, die sie in die Umlaufbahn um Toro brachte. Sekunden später, als auch Arthur Krönlein das amerikanische Labor verließ, war Valentina Tschirilowa schon tot. Natürlich haben wir uns gefragt, warum der einzige Überlebende der Katastrophe nun nicht sofort die Erde benachrichtigt hat. John meint, es hängt mit diesem Experiment zusammen.«

Männliche Stimme, dunkel:

»Ich denke, Krönlein wollte zusammen mit der Katastrophe auch einen großen wissenschaftlichen Erfolg melden. Er war einer von diesen Rasenden, Verrückten aus dem verrückten, zerrissenen 20. Jahrhundert, 1972 geboren, soviel ich weiß. Einer von den einsamen Sheriffs der Wissenschaft. Selbst im 20. Jahrhundert waren solche Figuren schon unmöglich. Das Genie, das allein im Unterholz wütet, alle vorhandenen Steine der Weisen verschmeißt, alles umgräbt und neue, nie begangene Wege freitrampelt, freischaufelt, freikratzt mit blutenden Fingernägeln, pathetisches Gebrodel, unmöglich. Aber genauso machte er’s. Zum Beispiel, vor zwölf Jahren, ich war gerade Assistent bei ihm geworden, Harvard, da bekam er mitten in den Vorbereitungen zu einer Versuchsreihe die Nachricht, dass ein Hotelbrand seine junge Frau und seinen kleinen Sohn buchstäblich zu Asche gemacht hatte. Krönlein rief die Versicherung an und schrieb einen Scheck für Blumen. Das war alles. Geweint hat er drei Wochen später, nach Abschluss der Versuche, und er blieb noch monatelang verstört und fast arbeitsunfähig. Ich bin sicher, hier auf Toro hat er gehandelt wie damals. Der Versuch war vorbereitet und hatte stattzufinden, auch wenn drei Freunde inzwischen als Leichen herumlagen oder -flogen. Ich hoffe, ich schockiere niemanden. Aber kein Zweifel, so dachte er. Und war ein paar Minuten später ebenfalls tot. Dies Experiment nämlich… ja, wie erklär’ ich euch das. Die offiziellen Forschungsaufträge beider Gruppen sind ja bekannt. Auch einige Ergebnisse. Andere haben wir erst vorgefunden. Zum Beispiel Arthur Krönleins neue Erkenntnisse über die sogenannte Hintergrundstrahlung des Universums, die unsere Vorstellungen von der Struktur des Weltalls erheblich verändern dürften. Ich werde in ein paar Wochen beim Physiker-Kongress auf Helvetia ausführlich darüber berichten.«

Männliche Stimme, hell:

»Oder Valentina Tschirilowas und Michail Samjatins Nachweis von Leben, wahrscheinlich von hochentwickeltem Leben, auf dem Saturnmond Titan. Näheres möchte ich erst mitteilen, wenn ich der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen habe.«

Männliche Stimme, dunkel:

»Nun haben die vier Wissenschaftler aber zusammen und in gemischten Doppeln noch an einer anderen Sache gearbeitet, außerhalb der offiziellen Programme.

---ENDE DER LESEPROBE---