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Tarjei Lind vom Eisvolk hatte seinem Großvater Tengel versprochen, das Wissen um die geheimen Arzneien und Rezepte des Eisvolks in die Hände eines würdigen Nachfolgers zu übergeben. Tarjei entscheidet sich für Mattias, den jüngeren Halbbruder des verschlagenen Kolgrim. Doch kaum befinden sich die Geheimnisse des Eisvolks in dessen Händen, beginnt das Böse lichterloh in ihm zu brennen …
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Seitenzahl: 308
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Das böse Erbe
Die Saga vom Eisvolk 6 - Das böse Erbe
© Margit Sandemo 1982
© Deutsch: Jentas A/S 2020
Serie: Die Saga vom Eisvolk
Titel: Das böse Erbe
Teil: 6
Originaltitel: Det onda arvet
Übersetzer: Dagmar Lendt
© Übersetzung : Jentas A/S
ISBN: 978-87-428-2010-0
Erster teil
Kolgrim
1. Kapitel
Wer dem Gesang des Windes lauscht, kann so vieles heraushören. Doch nie zuvor hatte der Wind so bitter geklagt wie in jenem Jahr, als der Kummer Einzug hielt auf Gråstensholm. Auch auf Lindenallee hörte Are das eintönige Jammern der Linden, wenn der Wind durch ihre Kronen fegte.
Es war ein unbedachtes Wort von Tarald, das Kolgrims böse Kräfte endgültig durchschlagen ließ.
Eigentlich hatte der Junge die Absicht gehabt, die einfältige Gutmütigkeit der anderen auszunutzen und auf Gråstensholm zu bleiben, bis er halbwegs erwachsen war. Denn dort ging es ihm im Großen und Ganzen gut.
Aber nun brach in seinem Innersten eine gewaltige Lawine los.
Man schrieb das Jahr 1633, und Kolgrim war zwölf Jahre alt. Er war auf seine ganz eigene Art hübsch, aber die bernsteinfarbenen Augen, die so offen und kindlich dreinschauten, konnten sich in dem Moment verändern, in dem man ihm den Rücken zukehrte. Dann verfolgte sein Blick sein Gegenüber kalt und tückisch aus den Augenwinkeln, abschätzig, verächtlich.
Armes kleines Ding, sagten die Leute. Ich bin stark, viel stärker als ihr alle zusammen, dachte Kolgrim. Ich bin fügsam, so lange es mir nützt. Aber wartet nur, bis ich groß genug bin, um auf eigenen Füßen zu stehen!
Wie alle, die vom Fluch des Eisvolks heimgesucht waren, war er sehr einsam. Aber er empfand die Einsamkeit nicht als etwas Nachteiliges. Im Gegenteil, er suchte sie oft, denn er fand, dass sie ihm doppelte Kraft verlieh.
Außerhalb des friedlichen Norwegen war viel geschehen.
Der Religionskrieg wütete nach wie vor. Im Jahre 1631 hatte Schwedens König Gustav II. Adolf bei Breitenfeld einen glänzenden Sieg über Tilly errungen. Im Jahr darauf, 1632, fiel der Schwedenkönig in der Schlacht bei Lützen, aber sein Heer siegte ruhmreich über die vereinten Truppen der Feldherren Wallenstein und Pappenheim. Auch Pappenheim fand bei Lützen den Tod, und Tilly starb im selben Jahr in der Schlacht bei Lech; Wallenstein wurde wenige Jahre später von seinen eigenen Gefolgsleuten ermordet. Aber der Krieg ging weiter und weiter, nun mit anderen schwedischen Feldherren auf protestantischer Seite. Lennart Torstensson, Johan Banér und Hans Christofer von Königsmarck sollten in diesem ewigen Krieg mit ihren Taten in die Geschichte eingehen.
Christian IV. hatte sich endlich von Kirsten Munk getrennt, nachdem sich herausgestellt hatte, dass das jüngste Kind, Dorotea, äußerst zweifelhaften Ursprungs war. Auch hatte Frau Kirsten heimtückisch versucht, gewisse Arzneien unter die Speisen des Königs zu mischen, und sie hatte Karikaturen anfertigen lassen, die den König als Hahnrei verhöhnten. Da wurde es Christian zu viel. Er jagte sie »in tausend Teufels Namen« davon und verbot ihr, die Kinder jemals wiederzusehen, ein Verbot, das sie nicht besonders ernst nahm. Welche Standpauke Ellen Marsvin ihrer unbedachten Tochter hielt, nachdem die wertvolle Verbindung zum König abgebrochen war, ist nicht überliefert, aber nach außen hin ließ sie sich nichts anmerken.
Es war den beiden Damen gewiss kein Trost, dass Christian IV. sich eine neue Mätresse zulegte, nämlich Kirstens eigene Hofdame Vibeke Kruse, ein Musterexemplar an Vulgarität. Aber sie gebar ihm einen prächtigen Sohn, Ulrik Christian Gyldenløve, der später ein besserer Feldherr wurde, als sein Vater es jemals gewesen war.
Leonora Christine war im Alter von neun Jahren mit einem jungen, aufstrebenden Adligen verlobt worden, Corfitz Ulfeldt. Da geschah es eines Tages, dass die Haushofmeisterin, die die Kinder immer noch unter ihrer Fuchtel hatte, ihr eine solche Tracht Prügel verabreichte, dass sie viele Wochen lang nicht sitzen konnte und für alle Zeit einen Schaden zurückbehielt. Leonora Christine ging zu ihrem Verlobten und beklagte sich. Von Stund an war Schluss mit dem brutalen Regiment der Haushofmeisterin. Sie wurde hinausgeworfen und kam niemals wieder in königliche Dienste.
Der ältesten Tochter des Königs mit Kirsten Munk, der armen Anna Catherine, war kein langes Leben beschieden. Und dabei war sie so stolz gewesen auf ihrenVerlobten, Frans von Rantzau. Doch 1632 war der junge Adlige bei seinem künftigen Schwiegervater zu Gast, um seine Ernennung zum Reichshofmeister zu feiern. Nun muss man wissen, dass einiges dazugehörte, dem Trinkvermögen des Königs standzuhalten. Der junge Rantzau berauschte sich dermaßen, dass er kopfüber in den Wallgraben fiel und ertrank.
Die kleine Anna Catherine wurde ernstlich krank. Manche sagten, es sei aus Kummer, andere meinten, es seien die Pocken. Sie verlangte, die Markgräfin Paladin solle bei ihr sein, und Cecilie ließ ihre fünf Jahre alten Zwillinge bei Alexander auf Gabrielshus und eilte zu ihr.
Mittlerweile braute sich ein Unwetter über Gråstensholm zusammen.
Eines Sommertages im Jahre 1633 geschah es, dass Tarald, der noch nie besonders aufgeweckt gewesen war, am Mittagstisch inmitten einer Reihe anscheinend harmloser Bemerkungen die verhängnisvollen Worte fallenließ.
»Übrigens habe ich heute einen Brief von Tarjei bekommen.«
»Du!«, sagte Liv zu ihrem Sohn. »Das ist ja wirklich ungewöhnlich! Er hat sich nach Erfurt beworben, nicht wahr? Und er ist dort von einem gelehrten Mann als Assistent angestellt worden. Was schreibt er?«
»Er ist mit einer ernsten Krankheit befasst. Pocken. Und er fürchtet, selbst angesteckt zu werden.«
»Ja, eine Ansteckung mit Pocken soll ungeheuer gefährlich sein, habe ich gehört«, sagte Yrja.
»Tarjei ist viel zu vorsichtig, um ein Opfer der Pocken zu werden«, sagte Dag. »Aber warum schreibt er dir davon?«
»Er hat mich gebeten, auf den geheimen Zaubermittelschatz des Eisvolks aufzupassen — für den Fall, dass ihm etwas zustößt. Dann will er uns im letzten Moment schreiben, wo die Sachen verborgen sind. Er möchte nämlich, dass Mattias sie erhält, wenn es so weit ist.«
Liv täuschte einen schrecklichen Hustenanfall vor, und auf einmal begriff ihr Sohn, was er gesagt hatte. Kolgrims Augen huschten blitzschnell von einem zum andern.
»Aber er hat sie jetzt natürlich bei sich in Deutschland«, sagte Tarald, um die Situation zu retten.
»Was sind das für Sachen?«, fragte der achtjährige Mattias mit den sanften Augen.
»Das erzähle ich dir, wenn du größer bist«, murmelte Tarald schnell.
Mattias gab sich damit zufrieden. Er war nicht neugierig. Was Vater sagte, war gut und richtig.
Aber in Kolgrim hatten die Worte ein Feuer entzündet.
Sie verheimlichten ihm etwas! Die geheimen Zaubermittel des Eisvolks? Und die sollte Mattias kriegen?
War Kolgrim etwa nicht der ältere der beiden Halbbrüder?
Die Wut brannte sich an diesem Tag immer tiefer in sein Herz. Es gab etwas, von dem er nichts wusste!
Bei Tarjei?
O nein, Großmutter Liv hatte den Vater gewarnt, das hatte er genau gemerkt. Also hatte Tarjei die Sachen wohl doch nicht bei sich. Die mussten hier sein!
Irgendwo auf Lindenallee ...
Ach, all die Mühe, die Tarjei sich gemacht hatte, um die Existenz der Zaubermittel geheim zu halten, war jetzt umsonst. Einst hatte Tengel an der Wiege des neugeborenen Kolgrim warnend zu ihm gesagt: »Lass dieses Kind niemals, hörst du, niemals auch nur in die Nähe dieser Mittel kommen! Lehre ihn nichts! Absolut gar nichts!«
Nun hatte Tarjei sich in der Stunde der Not an den Vater des Jungen gewandt, seinen Cousin Tarald. Es war das Schlimmste, was er hatte tun können. Denn obwohl Tarald inzwischen ein verantwortungsvoller Familienvater geworden war, dachte er ungefähr so weit voraus wie ein frisch geschlüpftes Küken.
Und Kolgrim hatte die Worte gehört, die er unter gar keinen Umständen hätte hören dürfen!
Kolgrim war im Gegensatz zu seinem Vater ungeheuer scharfsinnig — auf die bösartigste Weise.
Er musste mehr über all das herausfinden.
Wen konnte er fragen?
Großvater und Großmutter nicht, die ließen sich nicht hinters Licht führen. Der Vater war zu weich, er würde nie wagen, seinen Eltern zu trotzen. Und die dumme Yrja wusste von nichts, darauf würde er jeden Eid schwören.
Mit intuitiver Sicherheit wusste Kolgrim, an wen er sich wenden konnte. An einen der wenigen Hochbegabten in der Familie ...
Am nächsten Tag schlenderte er wie zufällig hinüber nach Lindenallee.
»Na?«, sagte Are freundlich. »Besuchst du uns auch mal wieder?«
»Ja, ich wollte Brand bitten, etwas für mich zu reparieren. Er ist so stark.«
»Bin ich das denn nicht?«
»Nicht so wie Brand.«
Are lachte gutmütig. »Da siehst du es, Meta, ich habe ausgedient.«
Meta schüttelte den Kopf. Sie war mager und knochig geworden, das Alter bekam ihr nicht gut. Ständig hatte sie Bauchschmerzen, und die Trauer um Trond hatte sie nie überwunden. Er war schließlich ihr Lieblingssohn gewesen.
Sie blickte Kolgrim nach. »Ich weiß nicht, Are, aber der Junge jagt mir jedes Mal einen kälten Schauer über den Rücken.«
»Unsinn! Er hat sich doch prima herausgemacht!«
»Meinst du?«, murmelte Meta.
Kolgrim fand Brand draußen auf dem Erbsenfeld. Nach ein paar einleitenden Sätzen fragte er mit entwaffnender Direktheit:
»Hast du jemals den heimlichen Schatz des Eisvolks gesehen?«
Brand setzte sich gemächlich an die Grabenkante. Er war jetzt vierundzwanzig Jahre alt und groß und schwer wie ein Bär. Außer ihrem Sohn Andreas hatten er und Matilda noch keine weiteren Kinder, aber Andreas war ein Sohn, auf den man stolz sein konnte, war er doch aus demselben Holz geschnitzt wie sein Vater und sein Großvater.
»Nein, den Schatz habe ich nie gesehen. Mein Bruder Tarjei hat ihn in Verwahrung, denke ich.«
Kolgrim kauerte wie eine kleine Eidechse neben dem jüngsten Cousin seines Vaters.
»Was ist das eigentlich für ein Schatz?«
»Hast du seine Geschichte nie gehört?«
»Nur teilweise. Ich weiß gar nicht, warum alle die Geschichte kennen, nur ich nicht.«
Alle waren sehr darauf bedacht gewesen, Kolgrim nicht allzu viel über das Eisvolk zu erzählen.
Brand atmete tief durch die Nase ein.
»Trond und ich waren schon immer der Meinung, dass sie dich ungerecht behandeln, Kolgrim. Mehr als jeder andere solltest du die Sage vom Eisvolk kennen.«
»Das finde ich auch«, sagte Kolgrim mit zitternder Unterlippe. Es gelang ihm tatsächlich, unglücklich und weinerlich auszusehen. »Ich habe natürlich von dem bösen Tengel gehört und von deinem Großvater Tengel und meiner Großmutter Sol, die zaubern konnte, aber mehr weiß ich nicht.«
Also erzählte Brand von all denen in der Sippe, die der Fluch zu Verdammten gemacht hatte, und Kolgrim lauschte andächtig, während seine Augen immer größer wurden. Er hielt sich nicht für einen Verdammten — seiner Ansicht nach war er ein Auserwählter!
»Hat sich der böse Tengel wirklich auf die Suche nach Satan gemacht? Wo?«
»Das weiß niemand.«
»Aber hat er das geschafft?«
»Er sammelte alle magischen Kräuter und Zaubermittel, die er kannte, in einem großen Kessel und kochte daraus ein Gebräu, das schrecklicher war, als ein Mensch sich vorstellen kann. Denn Tengel der Böse konnte eine Menge, das sage ich dir!«
»Trank er davon, als es fertig war?«
»Keiner weiß es. Vielleicht ja, vielleicht nein. Jedenfalls sprach er merkwürdige Beschwörungsformeln über dem Trank, um den mit dem Pferdefuß, du weißt, wen ich meine, heraufzubeschwören. Und das gelang ihm, sagt man. Großvater Tengel glaubte nicht daran, er meinte, es sei nur eine Eigenart der Sippe, das mit den Katzenaugen und den speziellen Fähigkeiten, die gewöhnliche Menschen nicht haben. Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht!«
»Was denn?«
»Ob die Sage nicht doch wahr ist. Ich glaube, dass Satan selbst seine Hand im Spiel hat.«
»Jesses!«
»Du sollst nicht so lästerlich reden, das weißt du! Und einer der Nachkommen von Tengel dem Bösen soll der Sage nach der größte Hexenmeister werden, den die Welt jemals gesehen hat«, sagte Brand.
Das bin ich, das bin ich, dachte Kolgrim aufgeregt. Denn er hatte sofort gewusst, dass er einer der Verdammten war, wie Brand sie nannte. Das wusste er schon seit ganz langer Zeit. Er brauchte ja nur in den Spiegel zu sehen, um sich davon zu überzeugen.
Ja, er war ganz sicher, dass Tengel der Böse von dem Teufelsgebräu getrunken hatte. Und er, Kolgrim, würde das auch tun. Irgendwann. Wenn er nur wüsste, wie. Und wo ...
»Hat Tarjei den Schatz bei sich, da, wo er jetzt ist, in Wie-heißt-das-noch?«
»In Erfurt? Trond hat gemeint, nein. Denn Trond war auch einer von ihnen, wusstest du das?«
Nein, davon hatte Kolgrim nichts gewusst. Wenn er es nur gewusst hätte, als Trond noch lebte! Dann wären sie beide zusammen ungeheuer stark gewesen. Unbesiegbar!
Brand, der einen Moment ganz versunken gewesen war in die Trauer um seinen toten Bruder, blickte auf. »Und in dem Schatz befindet sich unter anderem eine Alraune.«
Diese Zauberwurzel kannte Kolgrim. O ja, er kannte und wusste viel mehr, als irgendjemand ahnte. Denn genau diese Dinge interessierten ihn maßlos, und deshalb merkte er sich all das sehr genau.
Brand war viel zu gutgläubig, um zu begreifen, welche unheilvolle Saat er mit seinen Worten in Kolgrims kleiner schwarzer Seele ausgestreut hatte.
Das Erste, was der Junge tat, war, an einem Kirchgangssonntag so zu tun, als habe er Fieber. Also durfte er zu Hause bleiben.
Sogleich lief er hinüber nach Lindenallee und durchsuchte das gesamte Haus, den gesamten Hof, ohne jedoch etwas zu finden. Er brauchte die ganze lange Zeit des Gottesdienstes und schlich sich erst davon, als er hörte, wie das Gesinde sich dem Hof näherte. Er konzentrierte sich vor allem auf den alten Teil des Hauses. Aber nirgends gab es Anzeichen für einen Schatz. Wütend und enttäuscht kehrte er zurück in sein angebliches Krankenbett.
Erfurt war so weit weg, dass er nicht einmal ahnte, wo es liegen mochte. Es war unmöglich, dort hinzufahren und dem verräterischen Tarjei das Messer an die Kehle zu setzen.
Aber etwas anderes konnte er tun! Etwas, wozu er schon seit vielen Jahren Lust hatte ...
Er konnte endlich den loswerden, der sein Rivale auf so vielen Gebieten war. Und jetzt auch noch sein Rivale um das Begehrenswerteste überhaupt: den Zauberschatz!
Sie sollten schon noch merken, wen sie da übervorteilt hatten!
Kolgrim bereitete alles äußerst sorgfältig vor. Vielleicht saß in ihm noch eine ferne Erinnerung an Cecilies Erzählungen über den Großen Troll, der es nicht duldete, dass die kleinen Trolle ihren jüngeren Geschwistern ein Leid zufügten. Auf jeden Fall zog er einen direkten Mord nicht in Betracht.
Aber es gab ja schließlich andere Wege.
Er bettelte so lange, bis er Großvater eines Tages im Juli nach Christiania begleiten durfte. Er nahm seine Sparbüchse mit, die er viele Jahre lang verborgen hatte. Sie war voller kleiner Münzen, die wohlmeinende Tanten und Onkel ihm hin und wieder zugesteckt hatten.
Jetzt würde das Ersparte endlich von Nutzen sein können.
Er kaufte im Laden eines Silberschmieds eine feine Trachtenbrosche.
Aber die zeigte er niemandem.
In den nächsten Tagen traf er weitere Vorbereitungen. An einem Tag war er zum Beispiel viele Stunden zu Pferd unterwegs, ohne nähere Erklärungen. Er hörte das klagende Brausen des Windes in den Baumkronen und grinste böse.
Dann war er bereit.
Eines Abends, als die Halbbrüder in dem Raum, den sie miteinander teilten, in ihren Betten lagen, flüsterte Kolgrim dem kleinen Mattias zu:
»Hast du schon mal gesehen, wie die Fische tanzen?«
»Nein«, sagte Mattias nichtsahnend. »Können Fische denn tanzen?«
»Und ob! Willst du es sehen?«
Das wollte Mattias sehr gerne.
Kolgrim wisperte geheimnisvoll: »Aber es geschieht an einem verhexten Ort. Und nur zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wir müssen uns hinschleichen. Und niemand darf etwas davon erfahren.«
Mattias zögerte: »Auch Mutter nicht?«
»Die schon gar nicht! Dann wäre alles umsonst!«
Der kleine Bruder nickte nachdenklich.
»Ich zeige dir die Stelle, wo sie tanzen. Morgen noch nicht, dann sind sie nicht da. Übermorgen. Ich werde frühmorgens losreiten und nachsehen, ob es wirklich der richtige Tag ist, und du kommst hin und triffst mich am Waldrand an der großen Eiche um ... sagen wir um neun Uhr. Weißt du, wann das ist?«
»Ich kann Papa fragen.«
»Nein, du Dummerjan, das sollst du doch gerade nicht! Wenn die Mägde anfangen, den Frühstückstisch abzuräumen, schleichst du dich hinaus. Keiner darf dich sehen, vergiss das nicht! Wir sind bald zurück, deshalb braucht niemand etwas davon zu wissen.«
»Ich mache alles so, wie du gesagt hast«, sagte Mattias mit dem reinen Herzen.
Am nächsten Tag sagte Kolgrim beiläufig zu seinem Vater:
»Kann ich morgen nach Christiania reiten, Vater? Als wir neulich dort waren, habe ich bei einem Silberschmied eine schöne Brosche gesehen. Ich möchte sie so schrecklich gerne Großmutter Liv schenken. Damit sie sich richtig feinmachen kann für den Gottesdienst am St. Olavstag.«
Kolgrim selbst machte sich nichts aus Kirchenbesuchen. Manchmal war er gezwungen hinzugehen, aber meistens fand er irgendeinen scheinbar einleuchtenden Grund, um daheim zu bleiben.
Gerührt über die Feinfühligkeit seines Sohnes sagte Tarald: »Aber du hast doch gar kein Geld dafür, Kolgrim?«
»Ich habe gespart«, lächelte der Sohn geheimnisvoll.
»Na schau mal einer an, das lob ich mir! Aber du solltest nicht allein reiten. Vielleicht kann ich mir frei nehmen ...«
»Vater, ich bin zwölf Jahre alt! Ich bin ein guter Reiter, das weißt du, und ich kann mich vor Räubern und Betrügern in Acht nehmen.«
Ja, davon war Tarald überzeugt. Zögernd willigte er ein.
Am nächsten Morgen winkte Kolgrim seiner besorgten Familie zum Abschied zu und machte sich auf den Weg nach Christiania.
Sobald er außer Sichtweite von Gråstensholm war, bog er vom Weg ab und ritt auf verborgenen Pfaden einen Halbkreis um das Kirchspiel.
Etwas später saß er hoch zu Ross neben der großen Eiche und beobachtete einen kleinen Jungen, der in eiligem Tempo über die Wiesen gestolpert kam, um die verabredete Zeit einzuhalten. Eine tiefe, eiskalte Ruhe erfasste Kolgrims Herz.
»Ich habe es geschafft«, keuchte Mattias atemlos. »Keiner hat mich gesehen. Ich hatte schon Angst, weil sie gesagt haben, dass du nach Christiania geritten bist, und ich nicht wusste, ob du wirklich hier bist. Aber das bist du«, strahlte er.
Dann zog ein bekümmerter Schatten über sein Gesicht. »Aber es gefällt mir nicht, Mutter anzulügen.«
»Hat sie dich denn gefragt?«, sagte Kolgrim scharf.
»Nein. Aber nichts sagen ist fast wie lügen, finde ich.«
Der große Bruder hatte solche Skrupel nie gehabt, deshalb verstand er das nicht. Außerdem machte er sich nichts aus seiner Stiefmutter Yrja, obwohl sie immer versucht hatte, ihm genauso viel Liebe zu geben wie ihrem eigenen Sohn Mattias.
»Wir sind so kurze Zeit fort, dass keiner etwas merken wird. Komm jetzt herauf, und setz dich hinter mich!«
Mit Kolgrims Hilfe kletterte Mattias mühsam aufs Pferd, und Kolgrim wendete das Tier.
Wie alle kleinen Geschwister vergötterte auch Mattias seinen großen Bruder. Er war der Held, der alles wusste und alles konnte. Kolgrim registrierte die Anbetung mit einer Spur Stolz, vor allem aber mit distanzierter Verachtung.
Als sie durch den Wald ritten, sagte Mattias aufgeregt:
»Wie spannend das ist! Ich habe heute Nacht überhaupt nicht geschlafen.«
Na wunderbar, dachte Kolgrim und grinste tückisch.
»Ich habe Butterbrote für uns mitgenommen«, fuhr der kleine Bruder fort.
»Was hast du?«, explodierte Kolgrim, riss sich dann aber zusammen und fügte beherrschter hinzu: »Hat dich jemand dabei gesehen?«
»Nein, ich habe mich in die Küche geschlichen, als keiner da war.«
»Gut! Ja, vielleicht kriegen wir Hunger.«
Dann ritten sie eine Weile schweigend weiter.
»Hör nur, wie es in den Baumwipfeln rauscht«, flüsterte Mattias. »Wie traurig sich das anhört! Wie bei einem Requiem in der Kirche.«
»Was ist ein Requiem?«, fragte Kolgrim, der sich im Labyrinth der Kirchenrituale nicht auskannte.
»Eine Seelenmesse.«
Na, das passt ja hervorragend, dachte der große Bruder.
»Ist es noch weit?«, fragte Mattias nach einer Weile zaghaft.
»Wir sind bald da«, versprach Kolgrim.
Noch eine Weile später sagte Mattias: »Ich will nicht jammern, aber mein Po tut schon arg weh.«
»Jetzt haben wir es gleich geschafft«, antwortete der große Bruder. Sein Herz begann vor Erregung heftig zu pochen.
Sie folgten einem Waldweg, der genauso grün war wie der Waldboden um sie herum, also waren in diesem Sommer noch nicht viele Menschen hier entlanggegangen. Falls Mattias hin und wieder Spuren von Pferdehufen sah, brachte er sie jedenfalls nicht mit Kolgrims Ausritt vor ein paar Tagen in Verbindung. Ab und zu ritten sie über kleine Lichtungen, die umrahmt waren von Dickicht aus Waldhimbeeren, und einige Male kamen sie an Ansammlungen von Hütten vorbei, die offenbar seit langer Zeit schon verlassen waren.
Dann wurde die Landschaft weiter und offener. Die Bergrücken waren zunächst mit Eichen bewachsen, später vorwiegend mit Espen und Erlen.
Sie näherten sich dem Strand.
Kolgrim lenkte das Pferd auf einen kleinen Pfad, der zu einem Steg führte. Dort sprang er ab und half seinem kleinen Bruder herunter.
»Oohh«, sagte Mattias. »Das ist ja das Meer!«
Ganz weit draußen, zwischen Holmen und Schären, glänzte der offene Fjord im Sonnenlicht.
»Na sicher ist es das Meer«, sagte Kolgrim. »Denn nur da tanzen die Fische. Sie sind sehr groß, und man nennt sie Delfine. Komm, ich habe ein Boot!«
»Du hast ein Boot?«, fragte Mattias mit großen Augen, während Kolgrim das Pferd an einem Baum festband.
»Aber ja. Schau, da liegt es.«
Sie stiegen hinein. Kolgrim zerschlug das Kettenschloss mit einem Stein und begann zu rudern. Wem auch immer das Boot gehören mochte — das dichte Erlengestrüpp versperrte jedem Menschen den Blick auf die Bucht.
Die Ruderblätter tauchten sachte plätschernd ins Wasser. Mattias hing über dem Bootsrand und folgte mit den Augen den Wirbeln, die die Ruderblätter hinterließen.
Kolgrim ruderte gemächlich, er wollte keinen langen Heimweg in Kauf nehmen. Vielmehr bemühte er sich um ruhige, einschläfernde Ruderzüge, und tatsächlich rollte sich der kleine Mattias schon bald auf der hinteren Bank zusammen. Seine Lider wurden schwerer und immer schwerer.
»Ja, ruh dich nur aus, du«, sagte Kolgrim mit hypnotisch beruhigender Stimme. »Ruh dich nur aus. Es ist noch ein ganzes Stück. Ich werde dich wecken, wenn wir da sind.«
Mattias nickte matt und machte es sich bequem.
Als sie die Landspitze erreichten, zog Kolgrim vorsichtig die Ruder ein und ließ das Boot sachte auf den Strand gleiten. Er vergewisserte sich, dass der kleine Bruder fest schlief, dann ließ er die Ruder vom Dollbord gleiten und beobachtete, wie sie auf den Wellen davontrieben. Lautlos stieg er an Land — und dann gab er dem Boot einen kräftigen, aber geschmeidigen Stoß.
Er hatte auch die Gezeiten in seinen Plan einbezogen. Zufrieden sah er, wie der Prahm durch das ablaufende Wasser unaufhaltsam hinaus auf das Meer gezogen wurde.
Im Boot selbst war keine Bewegung zu entdecken.
So schnell er konnte rannte Kolgrim am Ufer entlang, zurück zum Steg mit dem wartenden Pferd.
Keiner weiß, was für ein Instinkt diesen Gedanken durch seinen Kopf jagte: »Ich habe ihn nicht getötet. Getötet habe ich ihn nicht!«
Es hing vermutlich mit seinen frühen Kindertagen zusammen. Mit Cecilies Märchen über den Großen Troll, also den Teufel. Der seine ganz bestimmten Vorstellungen davon hatte, was kleine Jungen ihren kleineren Geschwistern antun durften und was nicht.
Eine andere Erklärung für Kolgrims »humane« Art, sich seinen lästigen kleinen Bruder vom Hals zu schaffen, gab es nicht.
Am Nachmittag kehrte er heim zu einer aufgeregten Familie.
»Kolgrim, hast du Mattias gesehen?«, fragte Liv.
Er sprang vom Pferd. In der Hand hielt er ein kleines Päckchen.
»Mattias? Nein. Ich war den ganzen Tag in Christiania.«
»Und heute Morgen?«
»Da hat er noch geschlafen.«
Kolgrims Gesicht war noch nie unschuldiger gewesen.
»Nein, er hat doch mit uns am Frühstückstisch gesessen«, gab Tarald den anderen zu bedenken. »Erst danach ist er verschwunden. Und da war Kolgrim schon lange fort.«
Yrjas Gesicht war wie tot, versteinert. »Aber Mattias hat Butterbrote mitgenommen. Für zwei, da bin ich ganz sicher!«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragte Tarald.
»Weil ich die Art wiedererkannt habe, wie Mattias das Buttermesser gebraucht. Die Reste überschüssiger Butter, die er am Rand vom Butterfass abgestreift hat. Und er hat Brote und Wurstbelag für mindestens zwei Leute mitgenommen.«
»Wo ist Großvater?«, fragte Kolgrim.
»Unterwegs, auf der Suche. Wir waren alle den ganzen Tag draußen und haben nach ihm gesucht«, sagte Liv mit angsterfüllten Augen.
Yrjas Gesicht verzerrte sich. Sie packte Kolgrim.
»Du weißt, wo er ist«, schrie sie. »Ich sehe es deinem Gesicht an, du weißt, wo er ist, du hundsgemeiner ...«
Tarald ging dazwischen. »Aber Yrja, besinne dich! Wo du doch immer so lieb zu Kolgrim bist.«
Aber die Hysterie, die den ganzen Tag in ihr gebrodelt hatte, brach jetzt vollends aus. »Ich durchschaue ihn, ich weiß genau, was los ist, wenn er so unschuldig dreinblickt! Er hat etwas mit Mattias gemacht, ich weiß es, ich weiß es!«
Kolgrims Augen füllten sich gekränkt mit Tränen. »Aber ich war doch in Christiania! Um ein Geschenk für Großmutter zu kaufen. Sieh doch!«
Er öffnete die Schachtel mit der schimmernden Silberbrosche.
»Ach, Kolgrim«, sagte Liv gerührt. »Wie lieb von dir! Du musst Yrja verzeihen, eine Mutter kann einfach nicht klar denken, wenn ihrem Kind etwas geschehen ist.«
Yrja weinte und schluchzte hemmungslos. »Das einzig Gute, das ... i-hich auf ... di-hieser Welt zustande gebracht ha-abe, mein ... klei-heiner Mattias ... Er darf nicht weg sein, er darf ei-heinfach nicht weg sein!«
»Er ist auch nicht weg«, beruhigte Tarald sie. »Du wirst sehen, bevor es dunkel wird, ist er zurück.«
Aber Mattias kam nicht zurück. Und Gråstensholm versank in Kummer.
Tag und Nacht hörten sie Yrjas Rufe: »Mattias!« Wie oft sie den Wald durchkämmt hatte, wusste niemand. Manchmal wachte sie mitten in der Nacht mit einem Angstschrei auf, mit einem überwältigenden Gefühl der Panik: »Er braucht mich! Er ist einsam, er braucht mich!« Und dann stürzte sie wieder hinaus, in den Wald, über die Felder, fragte in den Hütten, suchte, suchte ...
Liv verlor ihre gelassene Ruhe, Kummer und Sorge ließen ihre Haare ergrauen. Dag, dessen Gesundheit ohnehin sehr angegriffen war, fiel immer mehr in sich zusammen, so dass alle sich aufs Äußerste sorgten, und Tarald biss seine Fingernägel bis aufs Blut ab. Äußerlich ließ er sich seine Verzweiflung nicht so sehr anmerken, aber wenn er allein war, ging er in Mattias’ Zimmer und berührte seine Sachen, die jetzt so verlassen wirkten, und dann wurde er vom Weinen geschüttelt.
Das gesamte Kirchspiel hatte nach dem kleinen, lieben Jungen von Gråstensholm gesucht, und alle sorgten sich um ihn und trauerten mit den Angehörigen.
Einmal hatte Kolgrim sich vergessen und gewagt zu lachen — über irgendeine Kleinigkeit. Da hatte Yrja ihn angefaucht wie eine Furie, ihn geschüttelt und gerüttelt.
»Ja, du bist froh!«, schrie sie gellend. »Du freust dich, weil du endlich deinen Bruder losgeworden bist, so dass du alles allein erben kannst.«
Wie nahe Yrja damit der Wahrheit kam, konnte sie nicht ahnen. Nur im Hinblick auf das, was Kolgrim wirklich erben würde, irrte sie sich.
Ein glühender Hass erfüllte ihn. »Lass mich los, du Drecksweib«, flüsterte er lautlos mit katzengelben Augen. Dann hob er die Stimme zu einem gehässigen Murren. »Jetzt hast du dich verraten! Aus mir hast du dir nie etwas gemacht, nur aus deinem Goldjungen!«
Liv sagte scharf: »Jetzt reicht es, Kolgrim! Kein mutterloses Kind hat jemals mehr Liebe und Zuwendung erhalten, als du sie hier bekommen hast. Wir alle haben dich mit Liebe überschüttet. Alle, angefangen von deinem Großvater, dem Amtsrichter, bis hin zum jüngsten Stallburschen haben wir dich lieb gehabt und dich verwöhnt. Großvater und ich haben einmal um dein Leben gebettelt, als du gerade geboren warst und es hieß, du wärest zu ... zu schwach, um leben zu können. Wir haben dich gewollt, und wir haben dich immer lieb gehabt, nicht zuletzt Yrja! Ich glaube nicht, dass deine arme Mutter Sunniva dich inniger hätte lieben können. Das solltest du dir merken!«
Yrja hatte sichrasch wieder gefasst. »Verzeih mir, Kolgrim, ich weiß schon gar nicht mehr, was ich sage.«
»Ach, geh doch zum Teufel«, zischte er so leise, dass nur Yrja es hören konnte, und entfernte sich.
Aber Liv hatte bange Ahnungen. Sie schrieb an Cecilie. Über die abgrundtiefe Verzweiflung, die sie alle befallen hatte. Über die kleine, rasch dahinschmelzende Hoffnung, dass Mattias vielleicht doch noch am Leben sei. Über die Angst, dass er vielleicht irgendwo hilflos läge — und dass sie ihn nicht rechtzeitig finden würden.
Kannst Du nicht heimkommen, meine liebste Ceciliel?, schloss sie. In uns verstärkt sich immer mehr der Verdacht, dass Kolgrim etwas weiß. Du bist die Einzige, die einen Zugang zu ihm hat. Ich bitte Dich so sehr! Unser geliebter kleiner Mattias ist jetzt seit fünf Wochen fort, Yrja verliert ernstlich den Verstand, und auch wir anderen können diesen Zustand nicht länger ertragen.
Cecilie war gerade von Anne Catherines Totenlager heimgekehrt und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich bei ihrer eigenen kleinen Familie ein wenig zu erholen. Aber sie entschied sich sofort für die Reise.
»Nein, Alexander, ich nehme die Zwillinge nicht mit, nicht nach Gråstensholm. Auch ich habe den gewissen Verdacht, dass Kolgrim dahintersteckt. Und ich werde Gabriella oder Tancred unter keinen Umständen seinen raubgierigen Augen aussetzen!«
»Aber er wird doch sicher nicht ...«
»Kolgrim hatte eine sehr enge Beziehung zu mir, wie du weißt. In seinen Augen habe ich ihn verraten, als ich eigene Kinder bekam. Ich habe seinem wohlwollenden Verhältnis zu Mattias sowieso nie recht getraut. Und du weißt, dass ich unsere Kinder niemals mitgenommen habe, wenn ich nach Hause fuhr, wie gerne ich es auch getan hätte. Vater und Mutter waren hier und haben sie gesehen, Tarjei auch, aber der Rest meiner Familie kennt unsere beiden Kinder nicht. Und das nur wegen Kolgrim.«
»Ich finde, du bist dem Jungen gegenüber ein wenig ungerecht. Aber du kennst ihn schließlich besser als ich. Nun gut, dann müssen wir dich eben noch eine Weile länger entbehren. Ich hoffe nur, du findest Mattias! Er war so ein lieber kleiner Junge.«
Cecilie seufzte. »Ach, wenn nur Großvater Tengel noch hier wäre! Oder Sol. Die beiden hatten die Gabe, verschwundene Menschen wiederzufinden. Obwohl Sol vielleicht ihr Enkelkind Kolgrim in Schutz nehmen würde. Wie auch immer, ich werde eine Woche dort bleiben, und anschließend muss ich mich ausruhen. Anne Catherines Tod ist mir doch sehr nahe gegangen. Und falls Mattias ... Ach, der liebe kleine Mattias!«
Eine Woche später traf sie auf Gråstensholm ein. Sie war entsetzt darüber, wie tiefe Spuren Angst und Trauer bei allen hinterlassen hatten.
Schon am nächsten Tag ergab sich die Gelegenheit, mit Kolgrim zu sprechen. Aber er hatte seine Offenheit ihr gegenüber verloren. Er war viel zu sehr von einer gewissen Sache in Anspruch genommen, um sich mit ihr über Nebensächlichkeiten wie Mattias zu unterhalten.
»Wann kommt Tarjei?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht. Er war ja schon lange nicht mehr daheim, also wird er wohl bald kommen. Magst du Tarjei?«
Kolgrims Augen flackerten durch den Raum. Tarjei? Was ging ihn denn dieser Tarjei an? Seine Zaubermittel, die waren es, die ihn interessierten.
»Oh ja!«, sagte er eifrig. »Tarjei ist so unheimlich klug.«
Danach sprach Cecilie mit ihrer Mutter Liv.
»Der Junge weiß etwas, da bin ich mir ganz sicher. Aber im Moment komme ich einfach nicht an ihn heran. Ich werde es in den nächsten Tagen versuchen, aber versprechen kann ich nichts.«
Cecilie musste unverrichteter Dinge wieder abreisen. Nie zuvor hatte Kolgrim einen so unschuldigen Gesichtsausdruck gehabt wie jetzt. Gerade deswegen war sie überzeugt, dass er viel mehr wusste, als er sich anmerken ließ.
Aus dem Sommer wurde Herbst.
Kolgrim fasste sich in Geduld und wartete seelenruhig auf Tarjeis Rückkehr. Denn jetzt war er, Kolgrim, der Erbe des Schatzes, der für ihn wertvoller war als alles Gold der Erde.
2. Kapitel
Aber Tarjei hatte zu dieser Zeit keinerlei Pläne, nach Hause zurückzukehren.
Er hatte ein glänzendes Examen an der Universität zu Tübingen abgelegt und konnte nun unter einer Vielzahl verlockender Angebote auswählen.
Da das Eisvolk nie unter Geldmangel gelitten hatte — denn Tengel der Gute hatte sein Einkommen als Medizinmann gehabt, und Siljes Wandmalereien waren zu höheren Preisen verkauft worden, als sie selbst es für richtig gehalten hatte —, brauchte Tarjei sich über die finanziellen Dinge keine Gedanken zu machen. Er konnte frei entscheiden.
Er schlug ein verlockendes Angebot aus, in Tübingen Medizin zu unterrichten, und entschied sich stattdessen — wer weiß, aus welchen diffusen Gründen — für eine geringer bezahlte Arbeit in Erfurt. Dort sollte er Gehilfe eines überaus gelehrten Heilkundigen sein, der verschiedene Krankheiten erforschte.
Für Tarjei hatte sich ein Kindheitstraum erfüllt: Johannes Kepler kennenzulernen. Er traf ihn in Tübingen, als der große Mathematiker und Astronom gegen Ende seines Lebens in die Stadt kam.
Sie führten ein langes, tiefes Gespräch, die beiden — bis weit in die Nacht hinein. Kepler war in den letzten Jahren ein desillusionierter Mann geworden, müde von der Ignoranz und Halsstarrigkeit der Menschen und schwer von Krankheiten geplagt. Das Gespräch mit dem jungen und idealistischen Tarjei hatte ihn aufgemuntert, und sie erörterten wissenschaftliche Themen, bis ihnen die Augenlider zufielen.
Fast sofort hatten sie eine Gemeinsamkeit entdeckt. Keplers Mutter war 1622 gestorben, nachdem sie dreizehn Monate im Gefängnis zugebracht hatte, angeklagt des Verbrechens, eine Hexe zu sein, und Tarjeis Verwandte Sol hatte ein ähnliches Schicksal gehabt. Deshalb hatten sie sich anfangs über die Hexenprozesse unterhalten, bis sie schließlich bei Keplers derzeitigen Steckenpferden landeten, Logarithmen und Lichtbrechungen.
Aber jetzt war Tarjei in Erfurt. Seine Arbeit gefiel ihm, obwohl sie mit deutlichen Risiken behaftet war — so wie bei der Pockenepidemie, die er jedoch unbeschadet überstand. Sein Arbeitgeber war sehr zufrieden mit ihm und sagte ihm eine große Zukunft voraus — wenn nur nicht die führenden Männer der Kirche und der Gesellschaft in ihrer Torheit auf den Gedanken verfielen, ihn wegen all seiner Fähigkeiten als Ketzer zu verbrennen. Hatten sie etwa nicht Jan Hus verbrannt und Galilei der Ketzerei für schuldig befunden? Tarjei musste vorsichtig sein!
In Mußestunden besuchte er hin und wieder seine alten Freunde auf Schloss Löwenstein.
Comtesse Cornelia Erbach zu Breuenberg war zu einer sehr willensstarken und selbstbewussten jungen Dame von siebzehn Jahren herangewachsen. Überausentzückend und mittlerweile wesentlich schlanker.
Ihre liebe Tante und ihr Onkel wollten sie mit dem Sohn eines abgedankten deutschen Herzogs vermählen.
Das wollte Cornelia nun aber überhaupt nicht!
Die kleine Marca Christiana war jetzt acht Jahre alt, ein liebes Kind mit einem wachen Verstand. Sie hielt sich gerne bei Tarjei auf, wenn er zu Besuch kam, setzte sich still an seine Seite und lauschte der unverständlichen Konversation zwischen ihm und ihren Eltern. Cornelia dagegen mischte sich oft in die Unterhaltung ein, mit felsenfesten Behauptungen, die Tarjei zum Schmunzeln brachten.
Eines Tages sagte Cornelia zu ihrem Onkel:
»Tarjei hat eine große Zukunft, nicht wahr?«
»Eine strahlende, möchte ich meinen.«
»Dann wäre er also eine gute Partie?«
»Für das passende Mädchen aus seinem Stand, ja. Aber nicht für dich, wenn es das ist, woran du denkst.«
»Aber warum nicht?«
»Weil du eine Gräfin bist, liebe Cornelia. Und Tarjei ist nicht einmal adelig.«
»Aber der Name Lind vom Eisvolk würde doch jeden der alten Mummelgreise täuschen, die über die Eintragungen im Gothaer Adelsalmanach entscheiden.«
»Cornelia, eine Ehe zwischen dir und Tarjei kommt auf keinen Fall in Frage! Hat er dir denn einen Antrag gemacht?«
»Nein, aber ...«
»Da siehst du! Vielleicht will er dich nicht einmal!«
»Natürlich will er! Gut, dann brenne ich eben mit ihm durch.«
»Sei nicht töricht, Cornelia! Damit würdest du nur seine Zukunft zerstören.«
»Aber könnt denn nicht Ihr, Onkel, ihn in den Adelsstand erheben?«
Der Graf zu Löwenstein und Scharffeneck schüttelte den Kopf. »Das kann nur ein fürstliches Oberhaupt tun.«
»Fürstlich?«, fragte Cornelia nachdenklich. »Tarjei hat eine Cousine, deren Gemahl ein Fürst ist.«
»Tatsächlich?«
»Ja, oder jedenfalls beinahe, um ganz ehrlich zu sein. Er heißt Paladin und ist wohl eher ein Markgraf. Aber seine Großmutter oder so war eine Fürstin.«
Der Oberkommandant von Erfurt nickte. »Paladin ist ein guter Name. Das müsste das Fürstenhaus Schwarzburg sein.«
»Ja, genau! Ich werde ihn fragen.«
Ihr Onkel lächelte. »Ich glaube nicht, dass er viel tun kann. Und wäre es nicht besser, du fragtest zuerst Tarjei?«
»Das werde ich tun, da könnt Ihr sicher sein!«
Aber Tarjei waren ihre Pläne ziemlich gleichgültig.
»Warum in aller Welt sollte ich denn in den Adelsstand erhoben werden?«
Cornelia war baff. Einen Moment lang hatte sie sogar die Sprache verloren.
Nichtsahnend fuhr Tarjei fort:
»Und Alexander kann ich schon gar nicht mit einem solchen Ansinnen kommen, das versteht Ihr doch sicher! Selbst wenn er seine fürstlichen Verwandten des Hauses Schwarzburg überreden könnte, würde ich mich über eine so dreiste Bitte zu Tode schämen! Also wirklich, Comtesse Cornelia, ich verstehe Euch nicht.«
Wütend machte sie auf dem Absatz kehrt. »Oh, wie seid Ihr dumm! So dumm!«, schluchzte sie beinahe und marschierte davon, bebend vor Zorn.
»War ich denn jemals etwas anderes für Euch als dumm?«, rief er ihr nach.
Danach sprach sie viele Wochen lang nicht mit ihm, zeigte sich auch nicht, wenn er zu Besuch kam. (Obwohl sie oben auf der Galerie stand, hinter einem Vorhang verborgen, und ihn heimlich beobachtete.)
Ein Unglück kam ihr zu Hilfe.
Tarjei wusste eigentlich gar nicht recht, warum er sich auf Löwenstein so wohlfühlte. Er verstand auch nicht, warum er die letzten Male so irritiert gewesen war, begriff nicht, was er vermisste. Das wurde ihm erst klar, als das Unglück geschah.
Ein großer Haufen von ehemaligen Söldnern Wallensteins, die ihrer Tatenlosigkeit überdrüssig geworden waren und nun kampflustig und plündernd umherstreiften, kam nach Erfurt. Der Oberkommandant rief eilig die Schutzwehr der Stadt zusammen und rückte aus, den marodierenden Truppen entgegen.
Damit überließ er Löwenstein schutzlos ihrem Angriff.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie diesen Weg nehmen würden. Das Schloss lag weit außerhalb der Stadt, von der er annahm, dass sie das lohnende Ziel ihres Raubzuges wäre.
Löwenstein war praktisch ohne Verteidigung. Nur eine Handvoll Bedienstete und seine eigene Familie befanden sich dort.