Hexenjagd - Margit Sandemo - E-Book + Hörbuch
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Hexenjagd E-Book und Hörbuch

Margit Sandemo

4,5

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Beschreibung

Im hohen Norden Europas, um 1600. Auf Tengel vom Eisvolk lastet ein mysteriöser Fluch der auch an seine Nackommen weitergegeben wird. Doch bei wem wird er sich zeigen? Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse geht weiter ... Silje und Tengel haben Schutz gefunden im Tal des Eisvolks, und Silje ist glücklicher denn je – als Ehefrau an Tengels Seite. Trotzdem fühlt sie sich eingesperrt in dem engen Tal mit den seltsamen Menschen. Besonders die alte Hexe Hanna ist ihr unheimlich, voller Hingabe weiht sie Tengels Nichte Sol in all ihre dunklen Geheimnisse ein. Doch eine weit schlimmere Bedrohung entsetzlichen Ausmaßes steht dem Eisvolk bevor …

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Seitenzahl: 322

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Zeit:7 Std. 40 min

Sprecher:Demet Fey
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Hexenjagd

Die Saga vom Eisvolk 2 - Hexenjagd

© Margit Sandemo 1982

© Deutsch: Jentas A/S 2020

Serie: Die Saga vom Eisvolk

Titel: Hexenjagd

Teil: 2

Originaltitel: Heksejakten

Übersetzer: Dagmar Lendt

© Übersetzung : Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2002-5

1. Kapitel

Es gab nichts, das die Katastrophe angekündigt hätte. Jedenfalls nichts Auffälliges.

Die Riemen knarrten in den Dollen bei jedem Schlag, mit dem die Ruderblätter in das stille Wasser tauchten. Am Heck saßen die drei Kinder und plapperten miteinander. Ihre hellen Stimmen schallten über den See, Sols herausfordernd keck, Dags ruhig und ein wenig kühl, und Livs lebhaft fantasierend, immer wieder mit vielen »Psst« und »Schscht« von den beiden älteren Kindern gedämpft.

Silje, die auf der mittleren Ruderbank saß, blickte Tengel an. Er ruderte mit langen, gleichmäßigen Schlägen, den Blick aufmerksam auf die Kinder gerichtet. Er war immer ein wenig unruhig, dass ihnen etwas passieren könnte. Doch sie waren gut erzogen, sie hatten ihre Freiheiten, aber innerhalb gewisser Grenzen, deshalb brauchte er eigentlich gar nicht so besorgt über sie zu wachen, dachte Silje. Trotzdem verstand sie ihn. Er, dessen Leben einst auf das Alleinsein eingerichtet gewesen war, hatte nun vier Menschen, die ihn brauchten, die zu ihm aufsahen und ihm die Liebe gaben, von der er früher nur geträumt hatte.

Sie war so stolz auf sie alle — ihre kleine Familie. Tengel, der Gefürchtete und Ausgestoßene — nur sie wusste, was für ein unglaublich guter Mensch sich hinter seinem abschreckenden, dämonischen Äußeren verbarg. Und die Kinder ... Ihr wurde warm ums Herz, wenn sie nur an sie dachte.

Sol, das fröhliche, lebhafte Sorgenkind, über dem ein Damoklesschwert hing. Dag, der blonde, intelligente Träumer. Und die kleine Liv, die den beiden älteren Kindern alles nachahmte. Wie ähnlich sie mir geworden ist, dachte Silje verwundert. Die gleichen nussbraunen, lockigen Haare — vielleicht etwas mehr kupferfarben als meine —, die gleichen scheuen Augen, das gleiche schnelle Lächeln. Und auch ihre Fantasie ist die gleiche wie meine. Überall gibt es Trolle, Schatten, Dinge, die ihr eigenes Leben haben, Bäume, mit denen man reden kann ... Geliebtes Kind, wenn du nach mir schlägst, wirst du ein reiches Leben haben, aber du wirst auch viele harte Schläge erdulden müssen, gegen die du dich nicht wehren kannst, weil du so empfindsam bist.

Sie wollte sich jetzt nicht umdrehen und die Kinder anschauen. Es tat ihr immer weh zu sehen, wie ärmlich sie gekleidet waren. Sols Kleid war viel zu klein, Hose und Jacke von Dag waren aus einem von Siljes alten Kleidern genäht und verrieten, wie grässlich ungeschickt sie als Schneiderin war. Für Livs Kleidchen aus dunklem Lodenstoff hatte sie eine alte Hose von Tengel aufgetrennt; es war ein absolut unförmiges Kleidungsstück geworden, über das die Nachbarinnen höhnisch gelacht hatten. Silje kroch auf der Bank in sich zusammen, als sie daran dachte.

Sie hatten das Netz ausgesetzt und waren auf dem Weg zurück zum Ufer. Weil es ein milder Sommerabend war, hatten die Kinder mitkommen dürfen. Es machte ihnen einen Riesenspaß.

Siljes Augen glitten über die Berge, die das Tal des Eisvolks von allen Seiten umringten. Jetzt lagen sie in das rotgoldene Licht der untergehenden Sonne getaucht. Siljes Blick verweilte an einer Kluft zwischen zwei Berggipfeln.

»Weißt du, Tengel, ich habe oft gedacht, dass es doch möglich sein müsste, die Berge zu überqueren.«

Er ließ die Riemen sinken und folgte ihrem Blick. »In Gedanken, ja. Und einigen wenigen ist es gelungen, hinüber zu kommen. Aber es ist nicht ratsam. Man kommt auf der anderen Seite an einen Gletscher. Und danach ist es ungeheuer anstrengend, in freundlichere Gefilde hinabzusteigen.«

»Du hast es also schon einmal gemacht?«

»Vor langer Zeit einmal, ja. Und ich habe mir damals geschworen, dass ich es nie wieder tun werde.«

Das Boot stieß ans Ufer, und alle Kinder probierten gleichzeitig, als Erste hinauszuspringen.

»Na, na!«, sagte Tengel scharf. Mehr brauchte er nicht zu sagen. Er besaß eine unglaubliche Autorität über sie, eine Autorität voller Wärme und Liebe.

Die Kinder beteten ihn an, das wusste Silje.

Alle bekamen etwas in die Hand, das sie den Weg zum Haus hinauftragen mussten. Die Kleinen hatten schon früh begriffen, dass jeder Einzelne seinen Teil Verantwortung zu übernehmen hatte, wenn sie in dieser rauen Einöde überleben wollten.

Livs Beinchen ermüdeten schnell in dem Kampf gegen das flache Wacholdergestrüpp, deshalb hob Tengel sie auf seine Schultern. Sol und Dag nahmen Silje zwischen sich.

Sol war nachdenklich. Ihr aufgewecktes Gesicht, das von dunklen Locken eingerahmt wurde, war ausnahmsweise ernst.

»Du, warum sage ich Silje zu dir, während Dag und Liv Mutter zu dir sagen?«

Silje nahm ihre Hand. »Das ist eine lange Geschichte. Du hast schon immer Silje zu mir gesagt.«

Beide Kinder sahen abwartend zu ihr hoch.

Sol sagte mit großen, verständnislosen Augen: »Die anderen Kinder haben heute gesagt, dass Dag ein Wechselbalg ist und ich auch. Was haben sie damit gemeint?«

Silje wurde innerlich kalt. »Haben sie das? Dazu hatten sie kein Recht.« Sie blieb stehen. »Ich glaube, ihr seid groß genug, um die Geschichte jetzt zu hören«, entschied sie. »Du bist ja schon sieben, Sol, und Dag ist fast fünf. Liv wird es wohl noch nicht verstehen, sie ist ja erst drei. Tengel!«, rief sie.

Er blieb stehen. Sie waren jetzt auf ihrem Grundstück, auf der Wiese unten vor dem Haus.

»Die Kinder sind als Wechselbälger beschimpft worden.«

»Was?«

»Ja, und sie wollen ihre Lebensgeschichte hören«, sagte Silje aufgebracht und eifrig zugleich. »Kannst du dich um Liv kümmern, dann werde ich sie ihnen erzählen. Du findest doch sicher auch, dass ich das jetzt tun kann?«

Tengel zögerte und betrachtete die Kinder forschend. »Es ist vielleicht am besten so«, sagte er schließlich. »Ich komme, wenn ich die Kleine ins Bett gebracht habe. Nein, keine Widerrede, Liv, du bist ja so müde, dass dir schon die Augen zufallen.«

Sie setzten sich auf den alten Steg am Bach, wo die Milchkannen gekühlt wurden. Das Wasser gluckste und plätscherte um die Pfähle, während Silje begann, den aufmerksam lauschenden Kindern die Geschichte zu erzählen.

»Dann will ich mal damit anfangen, dass ich nicht deine richtige Mutter bin, Sol. Deine auch nicht, Dag, aber Livs dagegen schon. Ich hoffe doch, das macht nichts?«, fragte sie ängstlich. »Ich habe wirklich versucht, alles zu tun, damit ihr eure leiblichen Mütter nicht vermisst, und ich liebe euch ganz genauso, wie ich meine eigene Tochter Liv liebe. Das tut Vater auch.«

Die Kinder schwiegen.

Dann sagte Sol mit dünner Stimme: »Dann ist Tengel auch nicht unser Vater?«

»Nein. Nur der von Liv. Und du hast ihn ja auch immer Tengel genannt, Sol.«

»Ich nicht«, sagte Dag. »Ich sage Papa zu ihm.«

»Ja, weil du noch so klein warst, als wir dich bekommen haben. Sol war schon größer.«

Nein, so ging das nicht. Das war viel zu verwirrend. Sie versuchte, es besser zu erklären: »Wisst ihr, wir wollten so schrecklich gerne, dass gerade ihr unsere Kinder seid ...«

»Aber wer ist denn dann unsere richtige Mutter?«, fragte Sol mit einem kleinen Zittern in der Stimme. »Habt ihr uns einfach mitgenommen, nur weil ihr uns haben wolltet?«

Das war typisch Sol! Sie durchkreuzte Siljes tastenden Erklärungsversuch und verdrehte alles.

»Nein, natürlich nicht. Ihr beide habt nicht dieselbe Mutter«, sagte Silje. Das war schwierig zu erklären, aber sie wusste, dass es richtig war, ihnen jetzt die Wahrheit zu sagen. »Deine Mutter, Sol, war Tengels Schwester. Also ist er eigentlich dein Onkel. Und Liv ist deine Cousine.«

Sol saß vollkommen unbeweglich da. Ihr Blick war nach innen gekehrt. »Wo ist sie denn jetzt?«

»Deine Mutter? Im Himmel. Sie ist tot, Sol. Sie ist an der Pest gestorben, das ist eine furchtbare Krankheit, weißt du. Dein Vater ist damals auch daran gestorben, und deine kleine Schwester Leonarda. Aber das weißt du nicht mehr, du warst ja erst zwei Jahre alt, als ich dich gefunden habe. Du warst ganz alleine, verstehst du, und ich auch. Also habe ich dich genauso gebraucht wie du mich. Und der Name, den deine Mutter dir gegeben hatte, war Angelica.«

Nun sah Sol sie aufmerksam an. Sie war immer sehr stolz auf ihren Namen gewesen, Sol Angelica, und jetzt erfuhr sie, woher sie ihren zweiten Namen hatte.

Silje betrachtete bekümmert die allzu kurzen Ärmel des Kinderkleids. Sol würde es nicht mehr lange tragen können. An einzelnen Stellen war der Stoff schon so dünn, dass er wie Spinnweben aussah, und sie hatte nichts, woraus sie ein neues Kleid hätte nähen können. Absolut nichts.

Sie richtete sich auf und erzählte weiter. »Deine Mutter war wunderschön, Sol. Wunder-, wunderschön. Sie hatte schwarze, lockige Haare, genau wie du, und sehr dunkle, schöne Augen.«

Das kleine Mädchen sagte noch immer nichts, aber ihre Augen standen voller Tränen.

»Aber deine Augen sind heller«, sagte Silje schnell. »Grün oder gelblich, fast wie die von Tengel.«

Ein Zeichen, dass sie eine der Auserwählten ist, eine aus dem ursprünglichen Eisvolk, dachte sie beklommen. Ach, armes Kind, was soll nur aus dir werden?

»Aber meine Mutter?«, fragte Dag. »Und mein Vater?« Er hörte sich beinahe vorwurfsvoll an. So als hätten Silje und Tengel ihm etwas weggenommen.

Das war jetzt schon schwieriger. Silje konnte ihm schließlich nicht erzählen, dass seine Mutter ihn im Wald ausgesetzt hatte, damit er sterben sollte.

»Deine Mutter«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln und sah zu Tengel, der gemessenen Schrittes über die Wiese kam, auf der das Gras schon feucht vom Abendtau war. Er setzte sich zu ihnen. Dag kroch auf seinen Schoß, als wollte er sich versichern, dass er wirklich einen Vater hatte.

»Deine Mutter, Dag, war eine feine Dame«, fuhr Silje fort. »Eine adelige Dame, eine Baronesse. Wir wissen nicht, ob sie noch am Leben ist, wir wissen nicht, wie sie heißt oder wo sie wohnt — aber sie geriet damals in große Not und hat dich verloren. Wie das kam, wissen wir auch nicht, nur, dass ich dich gefunden habe ...«

Die Kinder beugten sich gespannt zu ihr herüber, und Silje musste weiter erzählen.

»Das war eine merkwürdige Nacht, Kinder. Es war klirrend kalt, und Feuer loderten am Himmel über Trondheim. Ich hatte alle meine Lieben durch die Pest verloren und war mutterseelenallein. Ich war hungrig und müde und hatte kein Dach über dem Kopf. Da fand ich dich, Sol, neben deiner toten Mutter. Ich nahm dich mit mir, weil ich dich lieb hatte und dir helfen wollte. Du wolltest deine Mutter nicht verlassen, aber das musstest du, sonst wärst du auch gestorben. Das verstehst du doch, nicht wahr?«

Sol nickte ernsthaft. Dag verkündete mit seiner ernsten, ein wenig strengen Stimme, die seine Intelligenz verriet:

»Syver ist tot. Sie haben ihn den ganzen Winter über im Schuppen aufbewahrt. Und Inga auch. Und Svein. Dann haben sie alle begraben.«

Tengel nickte. »Ja. Der Winter war in diesem Jahr sehr hart. Aber dann wisst ihr ja, was es heißt, tot zu sein, nicht wahr?«

Die Kinder murmelten zustimmend und wendeten sich dann wieder Silje zu, um die Fortsetzung der Geschichte zu hören.

»Welcher Hof ist Trondheim?«, fragte Dag.

»Hof? Das ist eine große Stadt. Draußen.«

»Wo draußen?«

»Draußen hinter diesen Bergen.«

Der Junge sah sie mit forschenden Augen an. »Ist da noch etwas hinter den Bergen?«

Silje und Tengel wechselten einen erschrockenen Blick. Das hier war etwas, das sie ganz offensichtlich versäumt hatten!

»Die ganze riesengroße Welt ist dahinter«, sagte Tengel mit unsicherer Stimme. Das hatte ihn jetzt doch erschüttert.»Aber davon erzählen wir euch ein andermal. Jetzt wollen wir Silje zuhören.«

Ein Seetaucher schrie über dem Wasser, und der Nebel senkte sich langsam auf den See herab, aber niemand dachte daran, dass es spät war. Es war ein milder, wunderbarer Sommer!

Silje warf Tengel einen beunruhigten Blick zu. Was ging in ihm vor heute Abend? Übrigens die letzten Tage auch schon. Worauf lauschte er, und warum blickten seine Augen so sorgenvoll? Sie kannte ihren Mann und wusste, wie empfindsam er war. Gerade in diesem Moment sah er aus, als ob er irgendetwas nicht einordnen könnte. Das ängstigte sie ein wenig.

Sie wandte die Augen ab und fuhr fort: »Und als du und ich weitergingen, Sol, fanden wir Dag, der genauso einsam war wie wir, aber viel, viel kleiner.«

Wie klein, das wagte Silje nicht zu erzählen. Sie wollte nicht erzählen, dass er sogar noch seine Nabelschnur getragen hatte. Er sollte niemals etwas von dem Verbrechen seiner Mutter erfahren!

»Übrigens bist du es gewesen, Sol, die ihn weinen hörte. Also haben wir es dir zu verdanken, dass Dag heute am Leben ist.«

Die Kinder sahen einander an, prüfend — als ob sie sich vortasteten. Dann schoben sich ihre Hände vorsichtig ineinander. Zwei kleine, klebrige Kinderhände.

Eigentlich hielten Dag und Liv am meisten zusammen, dachte Silje. Sol war für die beiden Kleineren allzu raubeinig und merkwürdig. Aber es gab niemals einen Zweifel daran, dass sie sich alle drei lieb hatten. Das schwere Leben in der Einöde trug wohl auch dazu bei, dass sie alle sich sicherer fühlten, wenn sie zusammenhielten.

»Und dann, wisst ihr, als wir alle drei so gingen — nun ja, natürlich habe ich Dag getragen — und nicht wussten, was wir machen sollten, war plötzlich Tengel da. Keiner von uns hatte ihn jemals vorher gesehen.«

Ein Schauer durchlief Silje, als sie sich diese Nacht ins Gedächtnis rief. Die erste Begegnung mit Tengel. Die Galgen, der Henker, der Gestank des brennenden Scheiterhaufens ... Sie richtete sich auf und schob die schaurige Erinnerung von sich.

»Und Tengel hat sich um uns gekümmert«, sagte sie mit warmer Stimme. »Er hat uns alles gegeben, was wir brauchten, und seitdem haben wir zusammengehalten wie eine kleine Familie — wir fünf.«

Tengel lächelte wehmütig. Er sagte nichts von seiner eigenen Einsamkeit, die viel tiefer gewesen war als ihre. Ihre Einsamkeit war äußerlich und offenkundig gewesen, seine ein tiefer Schmerz in der Brust. Der Abstand zwischen ihm und allen anderen Menschen, die Gewissheit, dass alle seine Nähe scheuten. Er erinnerte sich schmerzvoll an die Begegnung mit Silje und Sol, wie beide zusammengezuckt waren beim Anblick seiner mächtigen, geheimnisvollen Gestalt. Und er erinnerte sich, wie schwer es ihm gefallen war, diese Begegnung zu vergessen. Wie er in seiner Einsamkeit Siljes treuherzige, schutzlose Augen vor sich gesehen hatte, wie er sich von ihr angezogen gefühlt hatte und ihre Reinheit beschützen wollte — nur um sie selbst zu beschmutzen? Nein, jetzt war er ungerecht gegen sich selbst. Er wollte sie wirklich beschützen, selbstlos und zurückhaltend. Aber als er zu seiner großen Verwunderung erkannt hatte, dass auch sie sich zu ihm hingezogen fühlte, da war sein Panzer zersprungen.

Ach, es war eine herrliche Zeit gewesen, voller Sehnsucht, Schmerz und Hoffnung, als sie sich näher kamen und gegenseitig erforschten, bis sie sich der Gefühle des anderen sicher waren. Und das ihm, der doch wusste, dass er dazu verdammt war, sich von Frauen fernzuhalten! Aber wie hätte er es fertigbringen sollen, Silje zu widerstehen?

Er lauschte wieder ihrer Erzählung. All diese Gedanken waren so schnell durch seinen Kopf gehuscht, dass ihm keines ihrer Worte entgangen war.

Sie sagte: »Dann bekamen wir Liv, das weißt du doch sicher noch, Sol?«

»Ja. Als du so krank warst.«

»Genau. Du weißt, Sol, dass du gerne Mutter und Vater zu uns sagen kannst, wenn du möchtest, denn wir fühlen uns als deine wirklichen Eltern und möchten es gerne sein.«

Das Mädchen überlegte. »Das könnte ich natürlich«, nickte sie altklug. »Aber ich glaube, ich würde es komisch finden, wo ich mich doch daran gewöhnt habe, Silje und Tengel zu sagen.«

»Das verstehe ich. Und du und ich, wir haben ja schon immer miteinander reden können — wie Freundinnen. Du bist mir eine große Hilfe, weißt du.«

Sol setzte sich impulsiv auf ihren Schoß und umarmte sie ganz fest. Silje lächelte Tengel an. Sie waren als Eltern akzeptiert.

Dag sah ernst und nachdenklich aus. Sein langes, schmales Gesicht war so typisch aristokratisch, dass es beinahe zum Lachen war.

»Sucht meine Mutter nach mir?«, fragte er mit dünner Stimme.

Das war eine schwierige Frage. Tengel beantwortete sie.

»Das wissen wir nicht. Das Einzige, was wir wissen, ist, dass deine Kleider Baronetkrönchen trugen. Deshalb glauben wir, dass du ein kleiner Baron bist. Wir haben versucht, deine Mutter zu finden, Dag, aber ich glaube nicht, dass sie noch am Leben ist.«

»Ist sie an der Pest gestorben?«

»Wir nehmen es an. Wahrscheinlich hat sie dich deshalb auch verloren. Dein Vater ist jedenfalls tot.«

Es war am besten, es so auszudrücken. Alles sprach dafür, dass Dags Mutter eine unverheiratete Frau und er das Resultat einer sehr flüchtigen Verbindung war. Dag schien sich mit Tengels Erklärung zufrieden zu geben.

»Meine richtigen Eltern sind tot«, sagte er andächtig.

»Meine auch«, sagte Sol und schaffte es, eine Träne hervorzupressen, vermutlich weil sie den Gedanken genoss, unglücklich sein zu können.

»Ich hoffe, ihr werdet bei uns bleiben?«, sagte Silje leise und ängstlich.

Beide nickten feierlich.

»Bei den anderen Kindern daheim streiten die Eltern die ganze Zeit«, sagte Dag auf seine langsame, erwachsene Art. »So, als ob sie sich nicht mögen. Aber ihr redet nie so miteinander. Bei euch ist das so, ob ihr euch repsek ... restep ...«

»Respektiert?«, schlug Tengel vor. »Da kannst du sicher sein, dass wir das tun.«

Sein liebevoller Blick begegnete Siljes, und sie wusste, dass auch der ihre die ganze Wärme ihres Herzens widerspiegelte.

An diesem Abend saß Silje lange auf. Sie entzündete eine der kostbaren Pechfackeln und nahm ihr Tagebuch hervor, das sie von Benedikt, dem Maler, vor so vielen Jahren erhalten hatte. Es war beinahe vollgeschrieben, und sie würde wohl kaum ein neues bekommen.

Heute haben di Kinder di Waheit über ihre Eltern erfahn ... begann sie in ihrer unbeholfenen Rechtschreibung.

Als sie fertig geschrieben hatte, löschte sie die Pechfackel und ging hinaus auf den Hofplatz. Es ging auf Mittsommer zu, und das Tal war in ein märchenhaftes, dunkles Licht getaucht, das so typisch für nordische Sommernächte ist. Der Nebel unten am See war dichter geworden, er lag wie Elfenschleier über den Wiesen, und die Schreie des Seetauchers hatten sich in die Schreie des Wassergeistes, des Nöcken verwandelt, oder der versunkenen Kinder. Der Wind raunte im Gras und wisperte in den Ritzen der undichten alten Häuser. Winzige graue Knäuel tanzten um Siljes Füße herum, es schienen ihr Trollkatzen zu sein, geheimnisvolle kleine, verwunschene Wesen. Ein altes Pferd trottete draußen an der eingezäunten Koppel entlang. Mit hohlem Rücken schritt es gelassen heimwärts, wo immer das sein mochte. Ob es wohl auch verwunschen war?

Es ist beinahe unerträglich schön hier, dachte sie. Aber wie sehr ich es trotzdem hasse! Das Gefühl, eingesperrt zu sein. Ich liebe Tengel, und ich liebe die Kinder, aber ich wünsche mir aus tiefstem Herzen, dass wir das Tal des Eisvolks verlassen könnten. Ich habe nichts gemein mit der engherzigen Lebensauffassung dieses Volkes. Sie haben meine Kinder Wechselbälger genannt! Und Tengel schimpfen sie Hexer und Teufel und ich weiß nicht was. Dabei hat er ihnen nie etwas getan, ganz im Gegenteil. Er gebraucht nie die verborgenen Kräfte, von denen ich weiß, dass er sie hat. Trotzdem wird er von der Gemeinschaft verstoßen. Jedenfalls von den meisten — einige gibt es ja noch, die ihn respektieren, und dafür, Gott, danke ich dir!

Aber Eldrid, unsere beste Freundin, Tengels Cousine, verlässt das Tal jetzt. Ihr Mann will hinaus und versuchen, einen Ort zu finden, wo sie unter Menschen leben können. Er hofft, dass man seine Verbindungen zu den Aufständischen vergessen hat. Wenn wir nur mit ihnen gehen könnten! Es ist, als gehe mit ihnen das Leben von uns.

Wir wissen nichts von dem, was draußen in der Welt vor sich geht. Wegen der Missjahre hier konnten wir auch nicht nach draußen und Benedikt und seinen Leuten helfen. Und ein einziges Mal in meinem Leben möchte ich so gerne den König sehen. Aber er ist ja nie in Norwegen ...

Ich merke, dass meine Sprache ärmer wird, sich der des Eisvolks angleicht. Wir haben versucht, Sol und Dag zu unterrichten, aber das reicht nicht mehr aus. Langsam vergessen wir, was wir selbst gelernt haben. Tengel sehnt sich auch nach draußen, das weiß ich, denn er hat es viele Male gesagt. Aber er wagt nicht, unser Leben und das der Kinder aufs Spiel zu setzen. Denn wenn wir nach draußen kommen, dann schnappen sie uns sofort. Mein geliebter Mann wird zur Folter verurteilt werden und anschließend sein Leben verlieren, denn Tengel und Sol werden niemals verheimlichen können, dass sie Nachkommen des ersten Tengel sind, dem bösen Geist des EisVolkes.

Sie seufzte schwer und schmerzlich vor Ohnmacht.

Die Winter ... Sie hasste und fürchtete sie gleichermaßen. Hier war alles gefroren, sogar die Lebensmittel. Die ewige Angst, dass nicht genug zu essen da sein könnte, dass die Vorräte plötzlich erschöpft sein würden. Die Hungersnot des vergangenen Winters war ein Albtraum gewesen. Die verständnislosen Augen der Kinder, wenn sie genauso hungrig ins Bett gehen mussten, wie sie aufgestanden waren. Das Weihnachtsfest, an dem ein geschmücktes Stück Brot das Einzige gewesen war, was sie zu essen hatten ...

Als sie daran dachte, dass es noch mehrere solche Winter geben könnte, merkte sie, dass ihr das Atmen schwerfiel. Sie spürte den Drang, vom Hof zu laufen, irgendwohin, nur nicht mehr daran denken müssen, nur ihre Liebsten in Sicherheit bringen.

Sie musste ein paarmal tief durchatmen, um das Gefühl des Erstickens loszuwerden.

Oder wenn die Kinder die geringsten Anzeichen von Krankheit zeigten. Sie hatte eine fast schon hysterische Angst davor, dass sie sterben könnten, obwohl sie diese Angst zu verbergen suchte.

Und das hohle Krachen vom See, wenn das Eis im Frühjahr barst. Auch die Frühlingsabende waren schwer zu ertragen. So voller Wehmut und Sehnsucht ...

Sie fuhr zusammen, als Tengel vorsichtig ihre Schulter berührte.

»Dein Bett war leer«, sagte er leise. »Was ist?«

»Es ... ist nichts«, sagte sie ausweichend.

»Du brauchst es gar nicht zu sagen«, sagte er. »Du sehnst dich nach draußen, nicht wahr?«

»Tengel, du darfst nicht denken, dass ich es jemals bereut hätte.«

»Das denke ich auch nicht. Ich weiß, dass du hier glücklich gewesen bist.«

»O ja!«

»Aber nun bist du voller Unruhe und empfindest dieses isolierte Leben hier als unbefriedigend, genauso wie ich.«

Silje machte ein ungeduldige Bewegung. »Wenn es nicht so wäre, dass wir hier sein müssen, dann würde ich dieses Tal aus tiefstem Herzen lieben«, sagte sie voller Überzeugung. »Wenn wir nur im Sommer hier sein könnten, wäre es ganz ideal. Aber wir haben keine Wahl, und das macht mich ärgerlich und rebellisch. Ich ... ich hasse und liebe dieses Tal zugleich, Tengel.«

»Ja, das Gefühl kenne ich. Wenn ich draußen war, habe ich mich immer hierher zurückgesehnt. Und sobald ich hierher zurückgekehrt war, wollte ich wieder hinaus. Aber jetzt ist es ...«

Er schwieg.

Silje sah ihn mit weichem Blick an. »Du bist unruhig. Ich merke es schon seit vielen Tagen. Und dein merkwürdiger Entschluss, Eldrids Vieh nicht hierzubehalten, obwohl sie es dir angeboten hat, hat mir ein klein wenig Hoffnung gemacht. Was ist los, Tengel?«

»Ich weiß nicht«, antwortete er zögernd, während der Nachtwind in seinen schwarzen Haaren spielte. »Ich weiß nicht, was vorgeht. Hast du nicht das unendliche Klagen des Windes gehört? Hörst du nicht das Erschrecken des Grases, wenn der Wind hindurchfährt? Hörst du nicht, dass die Häuser stöhnen?«

»So etwas höre ich nicht, das weißt du doch«, lächelte sie. »Aber Sol spürt etwas. Sie ist so gereizt zurzeit, und ihr Blick ist so abwesend.«

»Ja. Das unerträgliche Gefühl von Gefahr peinigt mich. Wenn ich nur wüsste, woher es kommt.«

Silje sagte vorsichtig: »Ich glaube, du hast Eldrid alles Vieh mitnehmen lassen, damit sie es dort draußen für uns behält.«

»Vielleicht«, sagte er zerstreut. »Ich weiß nicht, woran ich gedacht habe. Doch, ich habe ihr gegenüber wohl erwähnt, dass wir nachkommen ...«

»Oh Tengel!«

Er sagte schnell: »Du weißt, wir können die Milch, die wir brauchen, von denen bekommen, die in Eldrids Haus hier einziehen, wir brauchen also jetzt kein Vieh.«

»Ja, das sind gute Menschen. Aber ich weiß nicht, ob ich ihre Kinder mag. Sie und die anderen Kinder im Tal machen unseren Kleinen das Leben schwer«, sagte Silje mit tiefem Schmerz in der Stimme. »Sie beschimpfen sie mit den schrecklichsten Namen, wie du heute Abend gehört hast, und ihre Eltern verbieten ihnen, mit unseren Kindern zu spielen. Das tut so weh, Tengel.«

Er biss die Zähne zusammen. »Sie haben Angst vor Sol, nicht wahr? Ach, wie gut ich das aus meinen eigenen Kindertagen kenne! Ständig ausgestoßen, ständig gefürchtet.«

»Sol ist gefährlich«, sagte Silje leise. »Weißt du noch, was sie mit dem Mädchen gemacht hat, das nach Liv getreten hat?«

»Sprich nicht davon«, schauderte er. »Sie hat unheimliche Kräfte in sich.«

»Sie hat eine Puppe gemacht, die dem Nachbarmädchen ähnlich sah, und sie über das Feuer gehalten. Das Mädchen verbrannte sich am selben Tag an glühenden Kohlen und holte sich furchtbare Brandwunden.«

»Bis ich die Puppe unschädlich machen konnte, ja«, sagte Tengel mit zusammengebissenen Zähnen.

»Aber woher hatte sie diese Idee?«

Er holte tief Luft. »Weißt du, was ich entdeckt habe?«

»Nein, was? Jetzt machst du mir Angst.«

»Du weißt, dass Sol oft weg ist. Wir haben immer geglaubt, sie spielt mit irgendwem. Aber weißt du, wo sie dann ist? Drüben bei der alten Hanna!«

»Ach du meine Güte!«, flüsterte Silje entsetzt. »Ja, Hanna lässt Sol nicht aus den Augen. Liv auch nicht, sie hat ihr ja auf die Welt geholfen. Meine Mädchen, nennt sie sie, wenn wir zu ihr kommen und ihr und Grimar Essen bringen. Um Dag dagegen kümmert sie sich nicht weiter.«

»Die Mädchen bedeuten Hanna unendlich viel, und darüber bin ich froh, aber gleichzeitig macht es mir eine Todesangst. Aber ich will nicht, dass Sol allein zu ihr geht.«

»Glaubst du, die alte Hexe ... unterrichtet Sol?«

»Das befürchte ich, ja. Sie sieht natürlich, welche Kräfte Sol innewohnen.«

»Oh nein, das ist ja furchtbar!«

Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Tengel streichelte ihre Schultern.

»Kleine Silje, wo habe ich dich nur hineingezogen?«

»Jetzt bist du aber still! Niemand hat mich so glücklich gemacht wie du, und ich werde jedes Mal krank vor Sehnsucht, wenn ich einige Stunden ohne dich sein muss.«

»Aber du warst erst sechzehn, als du zu mir gekommen bist. Jetzt bist du einundzwanzig und hast dich schon viele Jahre mit uns herumgeplagt. Dabei weiß ich, dass du für etwas anderes bestimmt bist als für die Arbeit in einem armseligen Heim.«

»Ich hoffe doch, ich habe mich nicht beklagt? Ich weiß, dass ich immer noch eine schlechte Hausfrau und Mutter bin, die Kinder wachsen so unheimlich schnell aus ihren Kleidern und Schuhen heraus. Es tut mir weh, dass ich ihnen keine neuen Sachen beschaffen kann. Und ich bin so erschöpft, weil ich einen solchen Widerwillen gegen die Hausarbeit habe, Tengel. Die Gewissheit, dass ich nicht in der Lage bin, den Kindern neue Kleider zu nähen, obwohl ich die Stoffe dazu weben kann, die plagt mich. Und nach diesem furchtbaren Winter gibt es im Tal ja auch keine Schafe mehr, wir haben also noch nicht einmal Wolle, um etwas daraus zu weben. Sol ist wegen des Mantels gehänselt worden, den ich im letzten Jahr für sie zu nähen versucht habe, und oft vergesse ich, die Kleider der Kinder zu waschen, wenn sie schmutzig sind, und ... Nein, jetzt jammere ich, das wollte ich gar nicht!«

Sein zärtliches Lächeln bewies ein grenzenloses Verstehen, aber auch eine verzweifelte Hilflosigkeit. Seine Lippen strichen sanft über ihr Haar.

»Glaubst du, ich verstehe dich nicht? Glaubst du, ich weiß nicht, wie sehr du dich danach sehnst, etwas Schöpferisches zu tun? Malen, vielleicht? Glaubst du, ich weiß nicht, dass du manchmal in dein Tagebuch schreibst, wenn alle anderen zu Bett gegangen sind?«

»Davon weißt du?«, fragte sie erschrocken.

»Aber ja. Ich weiß auch, wo du dein Buch versteckt hast. Aber es würde mir nicht im Traum einfallen, darin zu lesen. Sei nur vorsichtig, dass niemand sonst etwas davon erfährt. Eine junge Frau, die Bücher schreibt — das ist Teufelszeug! Dafür kannst du durchaus als Hexe verbrannt werden.«

»Wie grausam die Welt ist! Und wie beschützt wir hier drinnen sind«, sagte sie erstaunt, als hätte sie gerade eben eine neue Entdeckung gemacht. Dann fügte sie schnell hinzu: »Aber es hätte mir nichts ausgemacht, wenn du es gelesen hättest. Ich habe eines Nachts darin geblättert, und jede Seite ist voller Liebe für dich und die Kinder.«

»Du schreibst gerne?«

»Oh ja! Das ist wie eine Erholungspause für mich. Und als ich durchlas, was ich geschrieben hatte, war ich ganz erstaunt, wie gut es formuliert war.«

»Mich überrascht das nicht. Du redest unsagbar schön, weißt du. Gar nicht wie die anderen im Tal. Jetzt hast du mich richtig neugierig auf das Buch gemacht. Ich würde es gerne sehen.«

Sie kicherte, gut gelaunt und froh. »Es ist sicher alles ganz falsch geschrieben, ich habe ja nie ordentlich schreiben gelernt. Ich schreibe die Worte einfach, wie wir sie sprechen. Nein, Tengel, was machst du denn da?«

Seine Hände waren ihre eigenen Wege gegangen. Er lachte leise und drückte sie dichter an die Hauswand.

Silje, die von bebender Hoffnung erfüllt war, seit er ihr von seinen Überlegungen erzählt hatte, das Tal zu verlassen, ließ ihn gewähren.

Seine Wange strich über ihre Stirn. Tengel trug keinen Bart. Sie wusste, warum. Ihm war durchaus bewusst, dass er sechzehn Jahre älter war als sie, und er wollte nicht älter aussehen, als er war. Falls er sich einen Bart stehen ließe, meinte er, würde er den Altersunterschied noch mehr hervorheben.

»Wir wollten ja nach Benedikt und seinen Leuten sehen«, sagte sie aufmunternd, wo er nun schon einmal den Gedanken ausgesprochen hatte, das Tal zu verlassen. »Ich mache mir Gedanken um sie alle.«

»Sicher«, murmelte Tengel gedankenverloren. »Wenn ich nur wüsste, was richtig ist. Euch mit nach draußen zu nehmen — oder hierzubleiben. Wir können doch nirgends hin, wie du weißt.«

Seine Fingerspitzen ließen ihre Haut zittern und vibrieren, süße Impulse jagten durch ihren Körper und zentrierten sich an einem bestimmten Punkt. Ihr Verlangen nach diesem Mann, der auf andere so erschreckend wirkte, würde nie gestillt sein. Es war nicht nur deswegen, weil er von der Natur so gut bedacht war, was seine Männlichkeit anging, davon hatte sie ja noch nichts gewusst, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Sie brauchte ihn nur anzusehen, um die aufreizenden Wellen durch ihren Körper laufen zu fühlen, diese Weichheit, die sie ihm völlig auslieferte.

Sie hatte nun ernstlich Probleme damit, sich zu konzentrieren. »Was ist mit Benedikt? Könnten wir nicht bei ihm wohnen?«

»Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Und zu der schrecklichen Abelone können wir nicht. Nein, Silje, ich habe wirklich daran gedacht, euch von hier wegzubringen, aber ich wage nicht, dieses Risiko einzugehen.«

Siljes Stimme begann sich zu verschleiern. »Aber ich glaube nicht, dass ich noch einen Winter hier überstehe.«

»Ich weiß. Deshalb bin ich ja auf die Idee gekommen.«

Seine Lippen waren jetzt überall. Auf ihrer Stirn, an ihren Schläfen ...

»Was machen wir denn hier?«, murmelte sie lachend, aber atemlos. »Erwachsene, vernünftige Menschen wie wir. Seit vielen Jahren verheiratet. Aber es ist ganz schön spannend hier draußen.«

Sie kletterte auf die niedrige Steinmauer vor dem Haus, um auf gleiche Höhe mit ihm zu kommen, und zog die Röcke hoch. Tengels Hände schlossen sich augenblicklich um ihre Hüften, heiß und suchend. Er küsste sie lange, lange.

»Das sieht dir gar nicht ähnlich, Silje«, flüsterte er ihr bebend ins Ohr, glücklich über die unerwartete Initiative. »Du warst irgendwie so ... zurückhaltend in den letzten Jahren.«

»Ja. Vielleicht war ich das«, sagte sie, erstaunt darüber, dass er den Grund für ihre Initiative nicht verstand. Sie tastete sich zu ihm vor, und mit einem Aufstöhnen nahm sie ihn in sich auf.

»Ich wollte nicht abweisend sein, aber ich hatte solche Angst.«

Tengel bewegte sich langsam und vorsichtig. »Ich weiß. Du hattest Angst, wieder schwanger zu werden. Das ist nicht verwunderlich. Ich hatte selbst eine Riesenangst davor.«

»Livs Geburt war für mich der schlimmste Albtraum meines Lebens«, flüsterte sie. »Ich wollte den nicht nochmal erleben.«

»Das kann ich gut verstehen«, keuchte er. »Aber wir waren ja immer ganz vorsichtig. Und es ist gutgegangen.«

»Mhm«, murmelte sie zweideutig.

Sie küsste seinen Hals mit feuchten Lippen. Jetzt erkannte er seine Silje vom ersten, heißen Jahr wieder. Er presste sie härter gegen die Wand, hob ihre Beine und legte sie um seine Hüften.

Silje flüsterte mit einem verlegenen Auflachen: »Ich bin aufgespießt — festgenagelt von der überwältigendsten Wonne meines Lebens.«

»Wie du redest«, lächelte er, gerührt und glücklich.

Sie schloss die Augen, außerstande, noch etwas zu sagen. Tengel schaute sie an. Ein weiches, verschleiertes Lächeln erschien langsam auf seinem Gesicht. Er wusste, wo er sie jetzt hatte, aber es war schon lange her, dass sie ihrer Lust so bedingungslos nachgegeben hatte, und er fragte sich, warum.

Aber dann vergaß er alle weiteren Fragen. Die dunkle Holzwand verschwamm vor seinen Augen, und das wohlbekannte, wunderbare Kribbeln ergriff Besitz von ihm, die unerträgliche Glut begann durch seinen Körper zu rasen, und eine Woge völliger Hilflosigkeit schlug über ihm zusammen.

»Oh Silje«, flüsterte er. »Silje, Silje, meine geliebte kleine Blume! Wie kann ein so schmales und zartes Geschöpf nur solche Zaubermacht haben?«

Eldrid zog fort. Sie und ihr Mann nahmen all ihren Besitz aus dem Tal des Eisvolkes mit und verschwanden in der Höhle unter dem Gletscher, von wo der Weg hinaus führte in das Unbekannte, in eine ungastliche Welt.

Silje weinte, als sie fort waren.

Später am Abend fragte sie Tengel: »Warum wolltest du keines der Tiere behalten? Es waren doch eigentlich unsere. Sag mir, was ist der wirkliche Grund?«

Die Kinder spielten draußen. Tengel flickte das Netz, während Silje den Abendbrottisch abdeckte.

Er seufzte. »Du magst es doch nicht, wenn ich darüber rede.«

»Jetzt will ich es aber hören.«

»Na gut, du Quälgeist. Es war das Widerstreben.«

»Das Widerstreben? Ach, sicher, ich verstehe. Etwas in dir widerstrebte, als Eldrid fragte, ob du ein paar Tiere behalten willst.«

»Ja. Etwas so Eindringliches, wie ich es nie zuvor gespürt habe. Also ließ ich sie ziehen.«

»Aber du willst das Tal nicht verlassen?«

»Wenn überhaupt, muss ich erst allein gehen und herausfinden,wo wir wohnen sollen und solche Sachen. Aber wir können ja nirgendwo wohnen, außer hier, meine Liebe. Wir, die Nachkommen des bösen Tengel, werden überall gejagt. Ach, es ist zum Verzweifeln!«

»Ich verstehe dich«, sagte Silje still.

Sie blickte ihn verstohlen an. Wusste er wirklich nichts? Begriff er nicht, wie es um sie stand?

Sie hoffte von ganzem Herzen, dass er es nicht tat.

Ach, sie hatte solche Angst! Todesangst. Aber mehr noch fürchtete sie sich davor, dass Tengel etwas merkte. Denn nach Livs schwerer Geburt hatte er gesagt: »Niemals mehr! Niemals, niemals mehr! Wenn das noch einmal passiert, Silje, werde ich das Ungeborene töten. Ich besitze ein Pulver, damit geht das schnell und schmerzlos. Das nächste Mal nützt es nichts, dass du für das Kind bittest!«

Sie musste zugeben, dass sie alles, was sie aß, genau betrachtete, ob er vielleicht ein Pulver daruntergemengt hatte. Aber er hatte offenbar keinen Verdacht geschöpft. Nicht einmal, als sie sich an dem Abend neulich draußen vor dem Haus liebten, hatte er verstanden, warum sie plötzlich so nachgiebig war. Er war nur etwas erstaunt über ihre Leichtsinnigkeit gewesen.

Natürlich war sie verrückt, dass sie dieses kleine keimende Leben behalten wollte. Sie wusste, was das bedeutete. Es konnte ein echter Nachkomme des ersten Tengel sein — ein Ungeheuer wie Hanna oder Grimar, oder wie die Frau unten am See. Silje hatte sie einmal getroffen, als sie mit Eiern und Käse von Eldrid dorthin gegangen war, und als sie wieder fortging, war sie gelähmt vor Entsetzen darüber, dass etwas so Uraltes und Ungeheuerliches wirklich existierte. Bösartig war die Alte außerdem gewesen.

Jetzt war sie tot. Aber damals hatte Silje verstanden, wie viel Glück Tengel und Sol gehabt hatten, dass sie dieses furchtbare Erbe nicht in sich trugen — obwohl die meisten Tengel abstoßend und beängstigend nannten. Für sie war er das nicht.

Aber es war nicht nur dieses Risiko, das sie einging. Sie würde wahrscheinlich keine zweite Geburt überleben, und das war es, wovor sich Tengel am meisten fürchtete. Nur dank Hanna war sie bei ihrer ersten Geburt nicht gestorben. Und wenn dies nun eines der »Ungeheuer« sein sollte, das sie zur Welt brachte — mit den unnatürlich breiten und kantigen Schultern —, dann hätte sie keine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Tengels Mutter hatte sich zu Tode geblutet, als sie ihm das Leben schenkte, aber Sols Mutter nicht, denn Sol war ungewöhnlich schlank gebaut. Trotzdem trug sie das schicksalsträchtige Erbe in sich. Diese unheimliche, magische Kraft — und das Gesicht, die Katzenaugen, die sofort verrieten, welcher Sippe sie angehörte.

Und Silje wollte sie mitnehmen aus dem Tal des Eisvolks, nach Trøndelag, wo man Treibjagd auf das Eisvolk machte!

Eldrid könnte davonkommen, denn sie war normal. Sie war keine der Auserwählten, obwohl sie auch zum Geschlecht des bösen Tengel gehörte. Auch Liv hatte keine besonderen Anzeichen gezeigt, dass sie anders wäre. Aber was wusste Silje über das Kind, das sie jetzt unter dem Herzen trug?

Sie war jetzt fast im vierten Monat. Es war nicht leicht gewesen, das vor Tengel zu verbergen. Zum Glück litt sie nicht so sehr unter Übelkeit wie damals bei Liv. Diesmal ging alles leichter. Aber in allernächster Zeit würde man es sehen können.

Zwei Tage später bekamen sie Besuch.

Es war ein unerwarteter und erschreckender Besuch, von einem Mann, der vorher noch niemals seinen Hof verlassen hatte. Silje bekam große Angst. Was hatte das zu bedeuten?

2. Kapitel

Zuerst hatte Silje nicht erkannt, wer es war, der da schwerfällig den Hügel heraufkam. Aber dann sah sie das widerwärtige Gesicht, das einer Steckrübe voller Auswüchse ähnelte, die stechenden Augen und die krumm gebeugte Gestalt.

Grimar.

Voller banger Ahnungen knickste sie vor dem Verwandten von Tengel und Hanna und bat den Alten herein.

Er schüttelte den Kopf. Er sah aus wie ein Lumpenhaufen, wie er da draußen auf dem Hofplatz stand. Seine Kleider schienen aus Schimmel und spinnwebgrauer Erde zu bestehen. Mit brüchiger Stimme sagte er:

»Hanna hat mich geschickt. Sie will mit euch reden, mit allen zusammen.«

»Danke«, sagte Silje, während die Angst vor dieser Einladung sie erfüllte. »Wir werden selbstverständlich kommen.«

»Aber ein Fest wird das nicht«, sagte der Greis schnell.

»Nein, natürlich nicht, Mutter Hanna ist doch bettlägerig. Aber Tengel und der Junge sind draußen im Wald und holen Holz. Sie müssen jeden Moment zurück sein. Und die Mädchen und ich müssen uns bessere Kleider anziehen. Wollt Ihr nicht hereinkommen und eine Kleinigkeit essen, während Ihr wartet? Dann könnten wir zusammen gehen.«

Die abstoßende Gestalt zögerte und sah Silje verwundert an. »Du bittest mich herein?«, sagte der Blick. »Das hat noch niemand getan.