Das Spukschloss - Margit Sandemo - E-Book + Hörbuch
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Das Spukschloss E-Book und Hörbuch

Margit Sandemo

4,7

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Beschreibung

Als dem jungen Tancred Paladin im Wald ein verängstigtes Mädchen begegnet, verliebt er sich zum ersten Mal in seinem Leben. Vollkommen von ihr fasziniert, muss er sie unbedingt wiedersehen. Auf der Suche nach ihr findet er ein Schloss, das nicht mehr existiert – und eine Frau, die schon lange tot ist. Ist dies alles nur ein Albtraum oder verliert er den Verstand? Oder spielt ihm womöglich das merkwürdige Erbe des Eisvolks einen Streich ... 

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Zeit:6 Std. 46 min

Sprecher:Demet Fey
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Eine tolle Saga die ich mir gerne angehört habe.
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Das Spukschloss

Die Saga vom Eisvolk 7 - Das Spukschloss

© Margit Sandemo 1982

© Deutsch: Jentas A/S 2021

Serie: Die Saga vom Eisvolk

Titel: Das Spukschloss

Teil: 7

Originaltitel: Spøkelsesslottet

Übersetzer: Sigrid Sæether

© Übersetzung : Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2012-4

Die Saga vom Eisvolk

In einer längst vergangenen Zeit, vor vielen hundert Jahren, wanderte Tengel der Böse hinaus in die Einöde, um seine Seele dem Teufel zu verkaufen.

Er wurde der Stammvater des Eisvolks.

Tengel wurden große irdische Reichtümer versprochen um den Preis, dass mindestens ein Kind aus jeder Generation in die Dienste Satans treten und böse Taten verüben sollte. Das Erkennungszeichen dieser Nachkommen sollten katzengelbe Augen sein, und sie sollten Zauberkräfte besitzen. Und eines Tages würde dem Eisvolk ein Kind mit größeren übernatürlichen Fähigkeiten geboren werden, als die Welt sie jemals gesehen hatte.

Dieser Fluch sollte auf der Sippe ruhen bis zu dem Tag, an dem der vergrabene Kessel mit dem Hexensud gefunden würde, mit dem Tengel der Böse den Fürsten der Finsternis heraufbeschworen hatte.

So berichtet es die Sage.

Ob sie wahr ist, weiß niemand.

Aber eines Tages im 16. Jahrhundert wurde dem Eisvolk einer dieser Verfluchten geboren. Er versuchte jedoch, das Böse zum Guten zu wenden, und wurde deshalb Tengel der Gute genannt. Von seiner Familie berichtet diese Saga, vor allem von den Frauen seiner Familie.

1 Kapitel

Nach König Christians Tod wurde das Leben für seine und Kirsten Munks Töchter bedeutend schwieriger.

Sie waren von ihm sehr überlegt mit den Männern verheiratet worden, die er selbst an die Spitze des Reiches gestellt hatte. Anna Christina, die älteste Tochter, hatte er mit Franz Rantzau verlobt, der zuvor von ihm zum Reichsmarschall befördert worden war. Aber noch bevor die Hochzeit stattfinden konnte, starben beide sehr jung.

Die unsympathische Sofie Elisabeth, die zweite Tochter, war von ihm mit Christian von Pentz — Gouverneur, Statthalter und Amtmann — verheiratet worden. Er war wohl auch so eine Art dänischer Außenminister — wenn ein solcher Titel existiert hätte.

Leonora Christina heiratete den bedeutendsten und ehrgeizigsten von allen, Corfitz Ulfeldt, der jetzt Reichsmarschall und der Erste im Reich war. Leonora Christina war damit schon lange die Erste Dame Dänemarks.

Elisabeth Augustas Mann, Hans Lindenov, entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einer absoluten Null.

Christiane dagegen hatte mehr Glück. Ihr Mann, Hannibal Sehested, wurde ein sehr erfolgreicher Statthalter in Norwegen.

Und Hedwig heiratete den obersten Beamten von Bornholm, Ebbe Ulfeldt. Aber auch er merkte bald, dass seine Frau eine Tochter von Kirsten Munk war.

Hannibal Sehestad beschrieb seine Ehefrau und deren Schwestern einmal so: »Das sind doch Teufelsweiber. Der Satan sollte meine Frau und die restliche Brut von Kirsten Munk holen.«

Die Schwestern waren alle davon überzeugt, zur Creme de la Creme Dänemarks zu gehören. Aber dann bestieg ihr Halbbruder Frederik III. den Thron, zusammen mit der sehr jungen Königin Sofie Amalie.

Frederik führte eine umfassende Säuberung durch. Zuerst entließ er Christian von Pentz, mit dem er sich schon als junger Prinz überworfen hatte, und verbot ihm, sich bei Hofe zu zeigen.

Dann kam Ebbe Ulfeldt an die Reihe. Seine Amtsführung wurde untersucht, und es zeigte sich, dass er die Bauern aufs Gröbste schikanierte. Auch er wurde verabschiedet.

Als ob alle diese Kränkungen noch nicht genug gewesen wären, wurde allen Töchtern von Kirsten Munk das Recht genommen, sich Gräfin zu nennen — und es wurde ihnen verweigert, mit ihren Kutschen in den Schlosshof zu fahren, ein Recht, das nur den ersten Damen des Reiches zustand.

Die Töchter tobten. Kirsten Munk tobte. Und die Großmutter, Ellen Marsvin, die seit dem Tode Christian IV. Schwarz trug, murmelte auch das eine oder andere in ihren Bart. Sie starb übrigens 1649 und musste somit die weiteren Demütigungen ihrer Enkelinnen nicht mehr erleben.

Die größte Demütigung jedoch traf Leonora Christina. Erstens war sie die Frau von Corfitz Ulfeldt, der im Verborgenen mit dem neuen König ständig darüber im Streit lag, wer nun eigentlich das Land regierte. Zum anderen tobte zwischen ihr und der jungen Königin Sofie Amalie von Braunschweig ein rücksichtsloser Streit, wer die Erste Dame sei. Dieser eiskalte und bittere Kampf dauerte bis zu ihrem Tode.

Eigentlich hatte der König es auf Corfitz Ulfeldt abgesehen. Aber erst nahm er sich Hannibal Sehested vor. Sehested war eigentlich ein Mann des Königs, aber der Reichsrat wollte ihn nicht länger als Statthalter in Norwegen haben. Als es sich dann zeigte, dass er im Laufe der Jahre ein Sechstel aller norwegischen Güter und mehrere Bergwerke an sich gebracht hatte und dass große Schätze, die Dänemark zustanden, dort niemals angekommen, sondern in Sehesteds eigener Tasche gelandet waren — ja, da konnte der König seine Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen.

Damit war Hannibal Sehesteds Laufbahn bis auf Weiteres zu Ende.

Aber es war Ulfeldt, der König Frederik ein wirklicher Dorn im Auge war.

So wie auch der Königin Leonora Christina.

Im Januar 1649 erhielt Cecilie Paladin eines Tages Besuch von Leonora Christina.

Die Königstochter war sehr gereizt. Es gelang ihr nicht einmal, sich ruhig hinzusetzen.

»Dieses deutsche Frauenzimmer!«, schnaubte sie und meinte Königin Sofie Amalie. »Sie tut alles, um mich unterzukriegen. Aber mein lieber Mann hat noch etwas in der Hinterhand. Er reist jetzt in die Niederlande, Markgräfin, und dort wird er Absprachen treffen, die ganz Dänemark, das neue Königspaar eingeschlossen, zeigen werden, wer den klügsten Kopf hat. Wir werden schon sehen, wer am besten dazu geeignet ist, hier zu regieren!«

»Soso, der Reichsrat hat also diese Reise beschlossen? «

»Der Reichsrat? Ein Reichsmarschall von Corfitzens Format braucht von niemandem Ratschläge. Ich fahre natürlich mit ihm, und er wird von einem glänzenden Gefolge begleitet werden. Darum komme ich auch zu Euch, Markgräfin Paladin. Ihr seid mir gegenüber immer gut, loyal und treu gewesen. Mein Mann braucht einen persönlichen Hofherrn, einen jungen Pagen, der ihm die ganze Zeit über aufwarten kann. Und gerade jetzt, wo diese Deutsche am Hof ihre Ränke schmiedet, gibt es so wenige, denen man vertrauen kann. Wir haben sofort an Euren Sohn Tancred gedacht. Er hat eine glänzende Ausbildung, was die Hofetikette betrifft, und er sieht ja so gut aus...«

Cecilie schossen mehrere Gedanken gleichzeitig durch den Kopf. Eigentlich hatte sie keine Lust, ihren Sohn für dieses riskante Vorhaben auszuleihen. Ihr Sohn sollte nicht in den Konflikt zwischen dem König und dem Reichsmarschall — oder zwischen deren Ehefrauen — verwickelt werden. Auf der anderen Seite war sie fast seit Leonora Christinas Geburt deren Kindermädchen gewesen...

Cecilie verhielt sich bezüglich des Machtkampfes zwischen der Königin und Leonora Christina recht neutral. Beide Frauen waren, intellektuell gesehen, sehr begabt. Leonora Christina war außerdem schön, charmant und weltgewandt, während die Königin über Jugend, Anmut und ihren hohen Rang verfügte. Die Mitglieder des Hauses Braunschweig-Lüneburg galten als begabt, energisch und leidenschaftlich — und Sofie Amalie war da keine Ausnahme. Dass sie aber auch grausam und sehr eigensinnig sein konnte, machte die Sache nicht leichter. Leonora Christina konnte, wenn sie wollte, auch eine giftige Zunge haben. Neid und Eifersucht zwischen den beiden Frauen hatten bereits bedenkliche Höhen erreicht.

Hätte es sich nur um Leonora Christina gehandelt, wäre Cecilie nicht so sehr dagegen gewesen, Tancred in die Niederlande zu schicken. Aber er sollte Corfitz Ulfeldts Diener sein — und den Mann mochte Cecilie überhaupt nicht. Sicher, er war stattlich und der Liebling des Volkes — vorläufig —, aber er war auch arrogant und fürchterlich von sich eingenommen, und man konnte ihm nicht in allen Dingen trauen. Passte es in seine Pläne, griff er durchaus zur Selbsthilfe. Das könnte Tancred in Konflikt mit dem Königshaus bringen. Alexander würde das nie erlauben, da war sie sich sicher.

Wenn Alexander nur hier wäre! Aber er befand sich irgendwo draußen auf dem Gut.

Bevor sie noch weiter nachdenken konnte, antwortete sie rasch und vielleicht etwas unüberlegt: »Oh, Euer Hoheit« (Leonora Christina liebte diese Anrede), «das ist bedauerlich! Natürlich wissen wir die Gunst zu schätzen und würden Eurem Mann unseren Sohn gerne als Begleiter mitgeben; aber Tancred ist leider unabkömmlich. Er ist auf dem Weg nach Jütland zu meiner Schwägerin. Sie hat ihn eindringlich gebeten, zu kommen und einige Monate zu bleiben. Sie lebt allein und hat sich das Bein gebrochen, sie ist ganz hilflos und kann sich nicht um ihr Gut kümmern. Sie hat auch keine anderen Verwandten, die sie darum bitten könnte. Wir können unser gegebenes Versprechen nicht rückgängig machen.«

Leonora Christina machte ein saures Gesicht und bedauerte, dass es nicht möglich sei, Tancred mitzunehmen.

Cecilie ihrerseits hoffte, dass die Königstochter beim Verlassen des Hauses nicht auf Alexander und den Jungen stoßen möge.

Als Vater und Sohn dann wenig später erschienen, war Tancred tief enttäuscht.

»Aber Mutter! Ihr hindert mich daran, in die Niederlande zu reisen und ein wenig von der Welt zu sehen — und dann solch ein ehrenvoller Auftrag.«

Cecilie betrachtete ihren jungen Sohn. Er war wunderschön. Einundzwanzig Jahre alt, mit glänzendem, dunklem Haar, das sein edles Gesicht in einer Pagenfrisur umrahmte. Die Damen bei Hofe hatten schon ein Auge auf ihn geworfen, und Cecilie wollte ihn gerne für eine Weile fortschicken. Sie wollte nicht, dass ihr Sohn von abenteuerlustigen Hofdamen verdorben wurde. Aber vorläufig sah es so aus, als ob er sich seiner Anziehungskraft gar nicht bewusst sei — sein Vater und seine kommende Offizierskarriere waren noch immer seine Ideale.

»Und dann noch zu Tante Ursula«, maulte Tancred. »So streng wie sie ist. Immer hackt sie auf mir herum und behandelt mich wie einen Zwölfjährigen.«

»Deine Mutter hat ganz richtig gehandelt«, sagte Alexander kurz. »Es wäre sehr gefährlich für dich, in den Machtkampf zwischen König und Reichsmarschall verwickelt zu werden. Ulfeldt reist auch ohne Genehmigung des Reichsrates. Und du brauchst nicht so lange in Jütland zu bleiben. Sagen wir mal, zwei Monate?«

»Zwei Monate? Dann ist ja die beste Zeit meines Lebens vorüber!«

»Na, na«, lächelte Alexander. »Das eine oder andere wirst du wohl später auch noch erleben.«

Tancred wollte schon antworten, dass er dann zu alt wäre, aber er wusste nicht, wie weit er gehen könnte, bevor sein Vater böse werden würde. Er schwieg und ergab sich seinem bitteren Schicksal.

»Hat Tante Ursula sich wirklich ein Bein gebrochen?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Cecilie leichthin. »Aber irgendetwas musste ich doch erfinden.«

»Ich werde ihr wohl ein Bein stellen müssen«, meinte Tancred. »Falls Ulfeldt Spione ausschickt.«

»Das glaube ich kaum«, bemerkte Alexander. »Du darfst deine Bedeutung nicht überschätzen.«

»Die kann man gar nicht überschätzen«, grinste Tancred.

Leonora Christina war Ende Januar in Gabrielshus gewesen. Tancred hatte danach eine unbehagliche Grippe gehabt, so dass er nicht vor Anfang März nach Jütland reisen konnte. Da war das große Gefolge bereits in die Niederlande unterwegs, und die Familie konnte erleichtert aufatmen. Aber sicherheitshalber musste Tancred trotzdem nach Jütland — falls jemand fragen sollte. Zu seiner großen Freude wurde ihm jedoch versprochen, dass er nicht, wie ursprünglich gesagt, zwei Monate, sondern nur vierzehn Tage dort bleiben müsse.

Ursula war sehr überrascht über den Besuch ihres stattlichen Neffen.

»Aber Tancred! Wie schön! Du kommst genau richtig zum jährlichen Treffen mit den Nachbarn. Herrlich, du bist so groß, dass du alle Girlanden an den Deckenleuchten befestigen kannst. Aber sei vorsichtig mit den Kronleuchtern, die sind teilweise recht lose. Hier hast du eine Leiter.«

Leicht überrumpelt begann Tancred, die Girlanden zu befestigen, und die Dienstmädchen kicherten hingerissen. Danach setzten sie die Arbeit mit viel größerem Eifer fort.

»Nein, das ist aber schade«, rief die Tante von unten. »Ausgerechnet morgen muss ich nach Ribe, um in den Geschäften meines seligen Mannes aufzuräumen! Es hat sich nämlich gezeigt, dass der Mann, den ich damit beauftragt hatte, mich sehr betrogen hat.«

Tancred zweifelte keinen Augenblick daran, dass ihr Mann jetzt selig war — nachdem er ihrem unentwegten Genörgel entronnen war.

»Ja, das ist wirklich schade«, sagte er und versuchte, seiner Stimme einen traurigen Klang zu geben. »Dass die Tante fahren muss, und dann noch in einer so traurigen Angelegenheit. Hoffentlich hat die Tante nicht zu viel verloren?«

»O nein, es gibt noch genug zu erben für dich«, erwidertesie trocken. Das war nur ein Spaß, denn sie kannte wohl Tancreds geringes Interesse an Reichtum. Diese Gleichgültigkeit, die man oft bei Menschen findet, die nie arm gewesen sind. »Aber ich denke an dich, mein armer Junge, dass du den langen Weg vergebens gemacht hast ...«

»Nein, nein, denkt nicht an mich, Tante Ursula! Ich bin gerade krank gewesen und hierhergeschickt worden, um mich zu erholen. Ich werde mich schon selber verwöhnen. Das macht zu Haus nämlich niemand, dort gibt es immer jemanden, der mich durch die Gegend scheucht.«

»Ja, wie ist das eigentlich? Hast du mal daran gedacht, dir eine Liebste zuzulegen?«, fragte die Tante, ohne die Spitze in seinen Worten zu bemerken.

»Nein, es gibt so viele, die das Denken für mich besorgen. Das kann ich mir sparen. Das ist doch eine verdammt eigenwillige Girlande, die will einfach nicht ...«

»Tancred!«, rief die Tante mit spitzer Stimme. »In meinem Haus wird nicht geflucht!«

Er sah sich verwundert um und verlor fast das Gleichgewicht. »Hab ich geflucht?«

»Ja, das hast du! Du hast gesagt ...« Flüsternd buchstabierte Ursula das schreckliche Wort: »V-e-r- d-a-m-m-t.«

»Ist das ein Fluch? Für mich ist das nur ein verdammt guter Ausdruck ... Oh, Verzeihung, da hab ich es schon wieder gesagt! Ich werde mich in Acht nehmen, damit ich dieses Haus nicht mit so brutalen Worten beschmutze. Wann kommt Ihr zurück, liebe Tante?«

»Das weiß ich nicht, es kann eine Weile dauern; aberich werde mich beeilen, damit ich zurück bin, bevor du wieder abreist.«

»Das ist nicht notwendig. Nehmt Euch die Zeit, die Ihr braucht! Solche Dinge sollte man ernst nehmen.«

»Ja, aber ich habe gerade die gesamte Dienerschaft ausgetauscht, die anderen waren zu alt geworden, und ich bin nicht sicher, ob die neuen dich ordentlich bedienen werden.«

»Das geht schon in Ordnung«, sagte Tancred mit einem strahlenden Blick auf die Zimmermädchen, die verzückt zurücklächelten.

Ursula merkte nichts davon. »Und wie geht es deinen Eltern, Tancred? Ich gehe davon aus, dass du Grüße bestellen sollst.«

»Ja, das soll ich, so was vergesse ich immer. Vater züchtet jetzt Weintrauben, ohne großen Erfolg, und Mutter versucht verzweifelt, Vater nicht mehr als einmal in der Woche zu schlagen. Im Schachspiel, meine ich. Mutter ist eine von den ewig jungen Frauen, obwohl sie schon siebenundvierzig ist. Vater ist vierundfünfzig, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt, er war immer der kleine Bruder, um den ich mich kümmern musste.«

Sie versank in tiefe Gedanken. Auch Tancred wurde ernst.

»Die beiden sind sehr glücklich, Tante Ursula. Ich hoffe, dass ich auch einmal eine so glückliche Ehe führen werde.«

»Ja«, sagte die Tante abwesend. »Deine Mutter ist eine einmalige Frau. Sie hat mehr für Alexander getan, als wir ahnen.«

»Mutter?«, fragte er verwundert und fiel fast wieder von der Leiter. »Ich dachte, dass Vater ihr durch die Heirat einen höheren Rang gegeben hat, denn sie war ja nur halbadelig.«

Ursula seufzte. »Ach, du weißt nicht... Nein, pass doch auf, mein Junge, jetzt hast du zwei Girlanden zusammengebunden, ohne sie am Kronleuchter zu befestigen. Sollen die so quer durch den ganzen Raum hängen?«

»Tja«, grinste Tancred. »Vielleicht möchten einige der gnädigen Witwen ein Seilspringen veranstalten?«

Nach dem Frühstück brauchte Tancred eine Pause von den vielen Fragen der Tante und den Festvorbereitungen, deshalb holte er sich ein Pferd aus dem Stall und machte einen Ritt in die Umgebung.

Ihm hatte die Umgebung von Tante Ursulas Gut immer gut gefallen. Der Buchenwald war noch kahl, aber ein zarter Schimmer an den Knospen berichtete schon vom Frühling. Als Tancred in den Wald ritt, hörte er das Frühlingszwitschern der Kohlmeise, und vor den Hufen des Pferdes verbeugten sich erste Leberblümchen.

Bei uns wird es viel eher Frühling als bei Großmutter in Norwegen, dachte er. Seine Zwillingsschwester Gabriella wohnte dort. Da muss die Liebe ganz schön groß sein, dachte Tancred. Natürlich war es schön in Norwegen, aber er persönlich zog das mildere dänische Klima vor.

Er ritt durch den unwegsamen Mischwald, glücklich über das Leben, aber gleichzeitig erfüllt von der Unruhe der Jugend. Vielleicht würde er gar nichts erleben, bevor es zu spät war. Und zu spät war so um die Dreißig. Da war man uralt.

Plötzlich hielt er an.

In den Büschen hatte sich eilig etwas Braunes verkrochen.

Ein Tier? Ein Reh vielleicht?

Tancred gab dem Pferd die Sporen und nahm ohne Waffen die Jagd auf. Er war nur neugierig, war darauf aus, etwas Neues zu erleben, egal was. Er wollte dem Tier nicht wehtun.

Wo war es abgeblieben? Es konnte nicht weit sein. Er hielt das Pferd an und horchte.

Nicht ein Ton. Das Tier hatte sich verdrückt.

Tancred schärfte seinen Blick und starrte in den Wirrwarr von Ästen, nackten Büschen, umgestürzten Bäumen und Wurzeln...

Da!

Dort sah er das Braune wieder glänzen. Es hatte einen leicht rötlichen Schimmer.

Er rutschte vom Pferd herunter und schlich sich näher.

Eigentlich dumm, dachte er grinsend. Das Pferd und er waren sicher gut zu sehen. Seine Jacke und Hose waren purpurrot. An den Ärmeln waren Schlitze, wo goldfarbene Seide durchschimmerte, und der weiche Spitzenkragen fiel bis über die Schultern. An den Füßen trug er hohe, weiche Lederstiefel. Und das Pferd war wohl kaum zu übersehen oder zu überhören.

Als er nur noch wenige Meter entfernt war, fuhr das »Tier« auf, dass es nur so knackte und raschelte, und stürzte davon.

Tancred hatte einen Augenblick gezögert und fiel damit weiter zurück als notwendig.

Es war ein Mädchen in einem braunen Mantel mit Kapuze.

Sie lief mit leichten Schritten vor ihm her — stürzte tiefer in den Wald hinein. Aber ihre Röcke blieben am Gebüsch hängen, und Tancred war schneller als sie. Er stürzte sich auf sie und hielt sie fest.

»Nein, nein!«, jammerte sie. »Bitte, lasst mich gehen!«

Sie war schmutzig. Das verfilzte Haar war voller Tannennadeln, und ihre Kleider waren ganz zerlumpt. Aber sie hatte ein niedliches Gesicht, mit blauen Augen, die ihn entsetzt ansahen.

»Wer seid Ihr, Herr?«, fragte sie erstaunt. »Seid Ihr einer von denen?«

Er hielt sie noch immer fest.

»Ich heiße Tancred Paladin und bin zu Besuch auf dem Herrensitz der Gräfin Ursula Horn. Ich glaube nicht, dass ich einer von denen« bin.« Er verschwieg, dass er selber von hohem Stand war, da sie so schlicht wirkte...

Bei seinen Worten schrie das Mädchen auf und konnte sich losreißen, vor allem, weil Tancred sie nicht zu fest halten wollte. Sie lief weiter, schnell wie der Wind; dieses Mal hob sie ihre Röcke hoch und kam so viel besser vorwärts.

Aber Tancred war neugierig geworden. Er wollte mehr über diese flüchtende kleine Erscheinung wissen.

Der Wald war tiefer, als er gedacht hatte, und ihm kam der Gedanke, dass es schwierig sein würde, das Pferd wiederzufinden. Aber er gab nicht auf.

Sie hält mich wohl für einen Gewaltverbrecher, dachte Tancred belustigt und verärgert zugleich.

Zum Schluss war sie völlig erschöpft. Mit einem leisen Stöhnen sank sie auf das vertrocknete Laub.

Tancred hob sie wieder auf. Sie konnte kaum ste hen.

»Habt keine Angst vor mir«, sagte er weich. »Ich will Euch nichts Böses. Wer seid Ihr, und warum versteckt Ihr Euch?«

Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Molly«, schnaufte sie. »Molly, gnädiger Herr. Ich bin nur ein gewöhnliches Dienstmädchen.«

»Und wer sind ›die‹?«

Ihre Augen blickten ihn unruhig an. »Niemand, gnädiger Herr. Nur ... nur solche Männer, die ... Ja, Ihr wisst, was die mit Mädchen machen.«

Tancred lächelte. »Ja, aber ich bin nicht so. Darf ich Euch nach Hause begleiten?«

»Ich habe kein Zuhause, gnädiger Herr.«

»Aber Ihr sagt doch, Ihr seid Dienstmädchen!?«

Das Mädchen war sehr niedlich. Er hatte so etwas noch nie gesehen. Ihre Augenwimpern flatterten vor Schreck.

»Jetzt nicht mehr. Ich bin entlassen worden.«

»Und wo wollt Ihr jetzt hin?«

»Ich wollte mir Arbeit im nächsten Kirchspiel suchen, Herr.«

Tancred kramte ein Geldstück hervor. »Nehmt das, dann braucht Ihr nicht zu hungern.«

Ihr Gesichtsausdruck versetzte ihn in Erstaunen. Ihre Augen funkelten, und die Nasenflügel weiteten sich für einen Augenblick.

So nahm sie das Geldstück entgegen und knickste.

»Danke, gnädiger Herr. Ihr seid zu freundlich.«

Er wollte sie nicht gehen lassen. »Molly ... Falls Ihr Schwierigkeiten bekommen solltet, sucht mich auf! Ich wohne auf dem Gut der Gräfin, aber nur für zwei Wochen. Danach reise ich nach Seeland, und dann sehen wir uns nicht mehr. Ich wohne im Eckzimmer gegenüber der Kirche. Versprecht Ihr es mir?«

Sie nickte. »Ich verspreche es.«

»Werde ich... Euch wiedersehen?«

Ein ängstlicher Schatten fuhr über ihre Augen. »Lieber nicht, gnädiger Herr. Aber vielen Dank für Eure Freundlichkeit! Und...«

»Ja?«

Sie schien zu zögern. »Sagt niemandem, dass Ihr mich getroffen habt!«

»Das werde ich nicht tun«, antwortete er verwundert.

Sie nahm Abschied und beeilte sich, den Wald zu durchqueren. Tancred fand sein Pferd schneller als erwartet und ritt in Gedanken versunken zurück zum vornehmen Gut der Tante.

Während des restlichen Tages war er sehr geistesabwesend. Die schlichte Molly ging ihm einfach nicht aus dem Kopf.

Das ist doch wie verhext, dachte er. In unserer Familie haben wir so eine Tendenz, von Menschen unter unserem Stand angetan zu sein. Das ging meinem Vater so, das ging meiner Schwester so — und meinem Großvater Dag von Meiden.

Naja, das Mädchen sehe ich wohl nie wieder.

Aber süß war sie. Und so sanfte Augen!

So gut anzufassen...

»Tancred!« Tante Ursulas scharfe Stimme störte seine schönen Erinnerungen. »Die Gäste kommen bald, und du bist noch nicht umgezogen!«

Er beeilte sich, seine schönsten Kleider anzuziehen; einen prachtvollen Anzug aus moosgrünem Samt mit Goldspitzen an den Kanten, ein weißes Seidenhemd mit Spitzenkragen und die breiten Manschetten. Als er fertig war, musste er selber zugeben, dass er richtig gut aussah. Er schnitt seinem Spiegelbild eine ironische Grimasse und ging dann nach unten, um zusammen mit der Tante die Gäste zu empfangen.

Das, was Ursula mit »ihren Nachbarn« gemeint hatte, waren kaum die kleinen Bauern, die zum Gut gehörten. O nein, sie verkehrte nur mit den Bewohnern der vornehmsten Herrengüter in der Umgebung. Darum kamen auch nicht so viele Gäste. Aber die dann erschienen, waren umso feiner. Natürlich nur Hochadel, was sonst? Grafen, Barone und Nachfahren des Reichsrates, und deren Familien sollten möglichst schon seit 300 Jahren adlig sein.

Wie den meisten älteren Damen bereitete es auch Ursula große Freude, junge Verwandte zu verheiraten. Gabriellas Heirat mit »diesem Kaleb« hatte ihr ganz und gar nicht gefallen. »Das liegt daran, dass du ihn noch nie getroffen hast«, hatte Alexander ruhig gesagt. »Einen Bürgerlichen?«, hatte Ursula geschnaubt. »Gebe Gott, dass ich ihn nie treffen werde!« »Das soll ihm auch erspart bleiben«, antwortete ihr Bruder.

Jetzt hatte sie für Tancred Pläne gemacht. Es kam auch ein junges Mädchen, die in Deutschland geborene Tochter eines Grafen, der wie so viele jütländische Familien ursprünglich aus Holstein stammte. Sie war in Begleitung ihrer Eltern, und mit einem hohlen Lächeln stellte Ursula die beiden jungen Menschen einander vor.

Stella, wie das Mädchen hieß, sah gar nicht so schlecht aus — im Gegenteil. Ein reines, blankes Gesicht und blonde, glatte Haare. Ihre Augenbrauen drückten ein andauerndes, leeres Erstaunen aus. Ihre Eltern hießen Holzenstern, ein Name, den Tancred einfach zum Lachen fand. Stella Holzenstern, also Stern Holzenstern, was für eine Kombination! Das hätte ihnen bei der Taufe doch auffallen müssen. Sie lächelten Tancred an, und es schien so, als gefiele ihnen die Vorstellung, ihn zum Schwiegersohn zu bekommen. Ursula gelang es selbstverständlich, etwas in dieser Richtung anzudeuten — wenn auch auf sehr verblümte Weise.

Tancred knirschte mit den Zähnen, während er mit der wohlwollenden Familie ein kühles Gespräch führte. Glücklicherweise kam ein junger Mann in seinem Alter und rettete ihn. Sie waren einander bereits vorgestellt worden, und Ursula hatte gesagt: »Das ist Dieter, Tancred, ihn hatte ich eigentlich deiner Schwester zugedacht, wenn sie nicht einen Grubenarbeiter gewählt hätte!«

»Ach, da bist du ja, Tancred«, sagte der junge blonde Dieter. »Ich habe dich gesucht. Entschuldigt bitte, Tante und Onkel und Stella, aber darf ich ihn mal kurz ausleihen? Ich muss noch mehr über die Offiziersausbildung hören; meine Eltern haben damit gedroht, mich zur Armee zu schicken.«

»Und das willst du nicht?«, lachte Graf Holzenstern.

»Ich möchte Jütland nicht verlassen«, lächelte Dieter zurück. »Nicht zu einer so schönen Zeit.«

Tancred konnte an der kahlen grauschwarzen Umgebung und dem nieseiigen Märzwetter nichts Schönes finden. Aber er war dankbar für die Unterbrechung.

Dieter legte ihm vertraulich den Arm um die Schultern und führte ihn in einen anderen Raum. »Mit dieser schönen Zeit meinte ich, dass ich hier eine Freundin gefunden habe«, lachte er ganz offen. »Aber das soll niemand wissen...«

Er lachte geheimnisvoll vor sich hin.

»Aber nun zur Offizierslaufbahn; lohnt die sich?«

»Ich weiß nicht«, sagte Tancred zögernd. »In der Familie meines Vaters ist sie Tradition, ich hatte also gar keine andere Wahl. Aber ich habe wohl etwas von dem wilden Blut meiner Mutter abbekommen, ich mag es nämlich nicht, wenn man mich herumkommandiert.«

»Das geht mir genauso. Wildes Blut, sagst du? Das hört sich spannend an!«

»Ja, sie hat das Blut des norwegischen Eisvolks in sich. Und dem ist alles zuzutrauen. Ich gehöre wohl mehr zu den Ruhigeren unter uns. Nun, ich meine, du könntest es ja mal versuchen...«

Und damit ergab sich eine eifrige Diskussion über Freud und Leid des Offizierslebens.

Natürlich hatte Ursula es so eingerichtet, dass Tancred den Platz neben Stella bekam.

Es war schwierig, aus dem ohrenbetäubenden Lärm bei Tisch bestimmte Stimmen herauszuhören. Tancred versuchte, seine Tischdame zu unterhalten, aber entweder genierte sie sich, oder sie war dumm. Seine Witzeleien fielen jedenfalls auf unfruchtbaren Boden.

Die Gespräche um ihn herum waren auch wenig geistreich.

Ursula rief Gräfin Holzenstern zu: »Wie schade, dass Eure Schwester, die Herzogin, so schnell nach Hause musste. Ich hätte sie sehr gern kennengelernt.«

Verdammter Snob, dachte Tancred, der dem Eisvolk mehr ähnelte, als ihm klar war. Sich so an Leute mit Titeln heranzuschmeißen!

»Ja, sie konnte nur eine Woche bleiben«, rief die Gräfin zurück.

Ein versoffener Major brüllte Tancred entgegen: «Du bist ein Paladin, nicht wahr, junger Mann?«

»Ja doch«, räumte Tancred ein.

»Darauf kannst du stolz sein«, sagte der Alte und schlug ihm hinter Stellas Rücken auf die Schulter. »Der erste Paladin hat an der Seite von Friedrich Barbarossa in Jerusalem gekämpft.«

Falsch, dachte Tancred, das war mit Friedrich II. beim fünften Kreuzzug. Aber er hatte keine Lust, bei all diesem Krach ein Streitgespräch anzufangen.

Nachdem die Tafel endlich aufgehoben war, schlenderte er mit einem aufgesetzten Lächeln in seinem anziehenden Gesicht mutlos durch die Salons. Auf einem Sofa saßen zwei alte Drachen und tratschten.

»Ja, ja, die junge Jessica natürlich«, sagte die eine. »Sie ist mal wieder ausgerissen, habe ich gehört.«

»Zum dritten Mal schon«, antwortete die andere. »Für das Mädchen wird alles getan, und das ist der Dank. Denen ist es aber auch schrecklich peinlich. Und man weiß ja, wie die Leute reden.«

Das müsst ihr gerade sagen, dachte Tancred.

Die erste Klatschtante sagte: »Das ist diese unmögliche Molly, die sie auf solche Gedanken bringt. Dieses Dienstmädchen hat wirklich viel angerichtet. Nur der Allmächtige weiß, was diese Flittchen anstellen, wenn sie alleine unterwegs sind!«

Tancreds Herz schlug bei diesen Worten schneller, und er tat so, als müsse er die Schnallen an seinen Schuhen nachziehen. Er konnte es sich eben noch verkneifen, von Molly zu erzählen; aber er wollte diesen alten Schachteln nicht noch mehr Stoff zum Tratschen geben. Und Molly hatte ihn schließlich gebeten zu schweigen.

Aber wo war nur ihre Herrin, die junge Jessica? Vielleicht irgendwo tief im Wald.

Danach hatte Tancred das Interesse am ganzen Fest verloren. Er wartete nur ungeduldig darauf, dass die Gäste gehen würden.

Nur hatten die es gar nicht so eilig. In einem stillen Augenblick gelang es Tancred endlich, seine Tante im Anrichtezimmer unter vier Augen zu sprechen.

»Tante Ursula, wer ist Jessica?«

Die Tante versuchte, den Festtrubel beiseitezuschieben, um sich auf seine Frage zu konzentrieren.

»Jessica? Welche Jessica? O ja, das hoffnungslose Mädchen. Die ist nichts für dich.«

»Das habe ich auch nicht gedacht. Aber warum ist sie ausgerissen?«

»Reine Abenteuerlust. Sie haben sie mit übernommen, als sie vor zwei, drei Jahren das Gut von ihren Verwandten übernahmen. Es gehörte vorher ihren Eltern, und als die an Pocken erkrankten, haben sie das Gut den Verwandten unter der Bedingung überlassen, dass man sich solange um Jessica Cross kümmert, bis sie mündig ist und alleine zurechtkommt. Aber das Mädchen ist einfach unmöglich. Wird von dieser Molly richtig aufgestachelt. Die hat dort schon zu Lebzeiten von Jessicas Eltern gearbeitet und erzählt dem Mädchen jetzt die wildesten Schauermärchen. Aber in Jessicas Familie gibt es außerdem schlechte Erbanlagen«, sagte die Tante mit gesenkter Stimme. »Ich könnte dir Dinge erzählen ...«

Für Tancred wurde es ein bisschen zu viel mit »sie« und »die«. Er fand sich in dem wirren Gerede seiner Tante nicht zurecht.

»Aber wo wohnt Jessica?«

»Tancred, musst du mich das alles jetzt fragen, wo ich doch so viel wichtigere Dinge im Kopf habe? Hast du die Soßenkelle gesehen? Das Küchenmädchen vermisst sie seit dem Mittagessen. Wie findest du übrigens Stella?«

Wachspuppe, dachte er. Vorsichtig sagte er: »Ich glaube, sie hat keinen Sinn für Humor. Meine spitzfindigen Scherze hat sie nicht verstanden, aber sie lacht aus vollem Halse, wenn der arme Diener über die Schleppe der Baronin fällt.«

»Ja, das war aber auch besonders ungeschickt von ihm«, murmelte Ursula, die genauso viel Humor besaß wie ein Holzstock. »Nein, jetzt habe ich wirklich keine Zeit mehr. Warum interessierst du dich eigentlich für Jessica Cross?«

Weil sie mich zu Molly führen kann, dachte Tancred und antwortete achselzuckend: »Aus keinem besonderen Grund. Es hört sich alles sehr seltsam an, finde ich. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob sie eine Freundin von Stella ist. Hoffentlich nicht.«

Die Tante missverstand ihn völlig und lächelte. »Das war nett von dir. Geh jetzt zu Stella...«

»Ach Tante, ich habe schreckliche Kopfschmerzen, und es wäre schön, wenn ich mich zurückziehen dürfte. Seit meiner Ankunft heute Morgen habe ich noch keine ruhige Minute gehabt.«

»Aber natürlich, wie gedankenlos von mir. Geh und leg dich hin, dann machen wir morgen einen Besuch auf Gut Askinge, nicht wahr?«

»Sehr gerne, Tante«, sagte Tancred scheinheilig.

2. Kapitel

Aber Tancred ging nicht ins Bett.

Er machte sich Sorgen um die kleine Molly, »das immögliche Mädchen«. Jetzt, wo sie in der Nähe war, musste er aufpassen. Später würde sie verschwinden, und dann könnte er ihr nicht mehr helfen.

Bis jetzt hatte er noch von keinen Gefahren gehört, die ihr drohen könnten, aber man konnte ja nie wissen.

Während die Gäste in den Salons noch weiterfeierten, kletterte er aus dem Fenster und lief in Richtung Wald. Ein Pferd wollte er nicht nehmen, denn allein konnte er sich freier bewegen.

Es war bereits Mitternacht, als er den Wald erreichte und den gleichen Weg wie beim ersten Mal einschlug. Der Vollmond machte die Nacht fast taghell, unter den Bäumen lagen blaue Schatten, und die Zweige leuchteten silbern.

Vierbeinige friedliche Wesen bewegten sich in der Dunkelheit, und dabei knackte es im Unterholz. Tancred versuchte, sich lautlos zu bewegen; aber wie sollte ihm das auf dem dicken Teppich aus dem Laub des Vorjahres gelingen?

Wie dumm ich bin, dachte er. Wie sollte es möglich sein, Molly hier zu finden? Oder Jessica, auf die er regelrecht neugierig war? Warum lief ein junges Mädchen so oft weg? Und die Aufwieglerin Molly?

Und die schrecklichen ... »sie«?

Das waren natürlich die Verwandten. Vielleicht waren sie ja hinter Jessicas Erbe her?

Nein, jetzt durfte er nicht anfangen zu fantasieren.

Tancred blieb stehen und sah sich um.

Jetzt war es im Wald ganz still. Er verfluchte seine Gedankenlosigkeit. Hatte er doch vergessen nachzusehen, wie der Mond im Verhältnis zum Gut seiner Tante stand. Ziemlich hoch oben, meinte er, aber auf welcher Seite?

Tancred wusste nicht länger, wo er war. Der Wald sah nach allen Seiten gleich aus. Verzaubert, geheimnisvoll, unergründlich.

Wildschweine?

In den dänischen Wäldern gab es reichlich Wildschweine, und die konnten ziemlich hitzig werden, wenn man sie störte. Und er war unbewaffnet.

Jetzt durfte er aber nicht den Teufel an die Wand malen.

Er trabte ziellos umher. Er hatte keine Ahnung, wie tief der Wald war, aber unendlich konnte er ja wohl nicht sein. Irgendwann musste er doch wieder herauskommen, wenn er nicht gerade im Kreis lief.

Der Gedanke, wieder nach Hause zu gehen, half ihm auch nicht weiter, denn er wusste nicht länger, in welcher Richtung das Gut lag.

Tancred runzelte irritiert die Stirn. Es sah ihm gar nicht ähnlich, so einen Fehler zu machen.

Oder vielleicht doch? Er musste sich eingestehen, dass er nicht immer nur vernünftig dachte.

Es war nur so, dass er sich noch nie vorher auf diese Weise für ein Mädchen interessiert hatte. Sie erregte seine Neugierde, so weich und süß und hilflos, wie sie war. Tancreds Ritterinstinkte waren erwacht. In der Familie Paladin gab es eine Menge davon.

Er trottete schwerfällig durch das raschelnde Laub und wurde immer verwirrter. Es war wie ein endloser Streifzug durch Dantes »Inferno«, fand er, eine Strafe für alle seine Sünden der vergangenen Jahre ...

Viel später erreichte er ein seltsames Waldgebiet. Die Bäume waren uralt, mit Flechten, die in langen Flocken von den Zweigen hingen. Die Stämme waren weiß und tot und teilweise mit wilden Weinranken übersät, so dass sie grotesken, grünen Behausungen für Elfen und Trolle ähnelten. Der Mond versilberte das trockene Gras und die Spinnweben. Der Laubteppich auf dem Boden war hier noch verrotteter. Eine tote Welt, dachte Tancred.

Plötzlich blieb er stehen. Zwischen den dicht stehenden Bäumen öffnete sich eine Lichtung. Und er sah einen silbergrauen Pfad, den ersten in diesem Wald.

Unter den Bäumen lag pechschwarzer Schatten.

Wie verhext ging Tancred auf dem vom Mond beschienenen Pfad weiter. Hier schien seit Jahren niemand mehr gegangen zu sein, alles war so still, so leblos. Er folgte dem Pfad, denn der musste ja irgendwo hinführen.

Immer weiter ging es. Tancred hatte schon fast vergessen, dass er auf der Suche nach Molly war, so sehr fesselte ihn der Pfad. Die Bäume wurden immer größer und älter — hier und da war aus dem Wald ein Knacken zu hören, wenn ein Ast aus Altersschwäche abbrach. Nervös sah er zu den Ästen über seinem Kopf hinauf.

So bemerkte er auch nicht gleich, dass der Waldpfad einen Bogen machte. Als er wieder geradeaus sah, fuhr er erschrocken zusammen.

Ein Schloss erhob sich vor dem dunklen Nachthimmel. Uralt und verwittert lag es im Mondschein vor ihm, nur noch durch einen halb zugewachsenen Burggraben von ihm getrennt.

Durch eines der kleinen unterteilten Fenster im ersten Stock fiel ein schwacher gelber Lichtschein ...

Hier kann doch wohl niemand wohnen, dachte er schockiert.

Er stand eine Weile im Schatten der Bäume und betrachtete das unglaublich abweisende Gebäude, dessen Anblick ihn fast so etwas wie kindliche Angst verspüren ließ.

Dann straffte er seinen Rücken und begann, nüchtern nachzudenken.