Das Buch der zu Unrecht vergessenen Bräuche - Norbert Golluch - E-Book

Das Buch der zu Unrecht vergessenen Bräuche E-Book

Norbert Golluch

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Beschreibung

Dort die eiskalte Welt der Computer, wo täglich eine neue digitale Sau durchs Dorf getrieben wird. Hier wir Menschen, die Vertrautes brauchen, die gute alte Zeit, Sitten und Gepflogenheiten, die uns mitnehmen in die kollektive Geborgenheit. Doch was ist geschehen, was haben wir getan, was nicht alles vergessen? Wie viel Ruhm und Ehre fehlen uns, seit zwar der digitale Führerschein, aber nicht mehr der Ritterschlag Teil unseres Lebens ist? Wie viel Adel und Größe, seit wir unser Recht nicht mehr im Duell mit blanker Waffe verteidigen? Es wird Zeit, die alten Bräuche aus den vermoderten Schatztruhen der Menschheitsgeschichte hervor zu zerren!

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Seitenzahl: 171

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NORBERT GOLLUCH

NORBERT GOLLUCH

VOM RECHT DER ERSTEN NACHT BIS ZUM DUELL

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Ulrike Reinen

Umschlaggestaltung: Catharina Aydemir

Umschlagabbildung: Mott Jordan/Shutterstock.com

Layout: Catharina Aydemir

Schmuckillustration im Innenteil: Vasya Kobelev/Shutterstock.com

Zeichnungen im Innenteil: Jan Buckard

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1338-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1026-9

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1027-6

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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INHALT

Disclaimer

Bräuche und Rituale – auf Schatzsuche

Was unterscheidet Brauch und Ritual?

Und wozu das Ganze?

Die Fundstücke von A bis Z

Nachwort

DISCLAIMER

Nein, liebe Geschichtslehrer, gebt euch keine Mühe, dies ist ein unseriöses Buch. Sie werden es nicht wegen mangelhafter wissenschaftlicher Qualität in der Luft zerreißen können – es ist schon ziemlich zerrissen. Das liegt an der Art und Weise, wie hier das Thema behandelt werden soll. Nämlich so, dass man sich gut unterhalten durch einen recht schwierigen Stoff arbeiten kann. Es mag umfangreichere und weitaus differenziertere Darstellungen des Brauchtums geben, aber hier geht es nicht um Brauchtumsforschung, sondern um Gedanken darüber, was Menschen gestern getan haben und heute unternehmen und welche Folgen ihr Handeln gestern hatte und heute haben könnte. Lesen Sie einfach ein paar Zeilen – Sie werden schon sehen, wie gut wir in manchen Fällen eine Erneuerung durch eine Rückkehr zum Althergebrachten brauchen könnten, wie sinnlos oder schädlich es aber an anderer Stelle wäre.

Wir sind hin- und hergerissen zwischen der eiskalten Welt der Computer, in der täglich eine neue digitale Sau durchs Dorf getrieben wird, und dem menschlichen Bedürfnis nach Vertrautem, nach der guten alten Zeit, nach Sitten und Gepflogenheiten, die uns mitnehmen in eine kollektive Geborgenheit. Unsere Seele ist nicht gemacht für Big Data und die tägliche technische Revolution – wir möchten unser eigenes Leben jeden Tag aufs Neue wiedererkennen, und dabei können Bräuche die Markierungen gegen das Vergessen, die Knoten im Taschentuch unseres Wohlbefindens sein.

Doch was ist geschehen mit diesen Ankerpunkten, mit unseren wertvollen Wurzeln in der kollektiven Vergangenheit? Was haben wir nicht alles radikal als überkommen verworfen, was nicht alles vergessen! Und was ist dabei nicht alles auf der Strecke geblieben! Wie viel Ruhm und Ehre fehlen uns jeden Tag, seit zwar der digitale Führerschein, aber nicht mehr der Ritterschlag Teil unseres Lebens ist? Wie viel Adel und Größe gingen uns verloren, seit wir unsere Ehre nicht mehr im Duell mit blanker Waffe verteidigen? Es wird Zeit, manche der alten Bräuche wieder aus den vermoderten Schatztruhen der Menschheitsgeschichte hervorzukramen und zurück ins Licht zu zerren. Manche jedoch können wir getrost dort lassen, wo der Staub der Jahrhunderte sie bedeckt hat. Darüber hinaus sollten wir uns aber auch Gedanken über manches fragwürdige neue Brauchtum machen – auch das wird – zumindest am Rande – Teil dieses Buches sein.

»Was ist eigentlich ein Brauch?«, fragte der kleine Prinz.

»Das ist auch etwas, das in Vergessenheit geraten ist«, sagte der Fuchs.

»Es ist das, was einen Tag von den anderen Tagen unterscheidet, eine Stunde von den anderen Stunden.«

(Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz)

BRÄUCHE UND RITUALE – AUF SCHATZSUCHE

In der Tat, viele Bräuche sind vergessen, aber manche wurden nur vergraben wie Kleinodien aus Gold und Silber. Mit etwas Mühe kann man sie wiederentdecken. Die Erde, unter der wir suchen, besteht allerdings aus einem besonderen Stoff. Es handelt sich um den Staub des Vergessens, aufgehäuft durch die Verwerfungen der Geschichte, durch die wir uns graben müssen. Manche der Dinge, die wir finden werden, liegen knapp unter der Oberfläche, andere sind seit Jahrhunderten nicht ans Tageslicht gekommen. Ungewöhnlich auch die Orte, an denen wir suchen: Einer von ihnen ist unsere eigene Erinnerung, an irgendeinem unbekannten Ort in unserem Gehirn platziert. Ein anderer das kollektive Bewusstsein, durch das wir uns mit gedankenscharfem Spaten und präziser logischer Hacke wühlen müssen. Und schließlich: Das stofflich gewordene Gedächtnis der Menschheit verspricht ebenfalls reichliche Funde – das Wissen unserer Vorfahren auf Papier. Spucken wir also in die Hände – auch so ein alter Brauch – und machen uns an die Arbeit. Wir brauchen Bräuche.

Wird das Leben dir zur Qual,

versuch’s mit einem Ritual!

(Bert Borderlein)

WAS UNTERSCHEIDET BRAUCH UND RITUAL?

Ein Brauch ist ein Handlungsablauf nach alter Väter Sitte – so könnte man es formulieren. Auch ein Ritual passt zu dieser Definition, allerdings gibt es doch deutliche Differenzen zwischen beiden. Auch wenn im alltäglichen Sprachgebrauch quasi kein Unterschied mehr zwischen den Begriffen gemacht wird, bezeichnen sie ursprünglich doch verschiedene Sachverhalte. In der Vergangenheit wurde das Ritual in einen sakralen oder magischen Zusammenhang eingeordnet, während der Brauch eher im Alltagsleben stattfand. Auch heute wird dem Ritual eine übergeordnete Bedeutungsebene zugewiesen, Rituale haben ein gewisses Wirkpotential und verändern den Status der Personen, die an ihnen teilnehmen, zum Beispiel, indem sie Erleuchtung oder Heilung versprechen. Sitten und Gebräuche praktiziert man eher, weil man sie eben praktiziert, vielleicht auch weil es Spaß macht, etwas gemeinsam mit seinen Mitmenschen zu tun.

Präzise Begriffe, die eine Sache klar und eindeutig erklären, sind aber in der Regel weder das Wort Ritual noch die Bezeichnung Brauch. Es geht alles munter durcheinander. Außerdem fransen die Begriffe an den Rändern aus – Event, Happening, Festival, Performance und zahlreiche andere neue Formen laufen ihnen an manchen Stellen den Rang ab und definieren Altes neu: Aus dem Erntedankfest wird das Kartoffelfestival, auf der Strecke bleibt der historische Hintergrund und zum Teil auch die tiefergehende Bedeutung, die wir hier, soweit es möglich ist, für die Neuzeit retten wollen.

UND WOZU DAS GANZE?

Einige regelmäßig wiederkehrende Bräuche und Rituale sind verbunden mit den Festen und Festtagen. Zum Beispiel Karneval, Ostern, Sankt Martin, Nikolaus, Weihnachten und Silvester. Ihre Regelmäßigkeit verdanken wir neben ihren fest gebuchten Terminen im Kalender unter anderem auch der Begeisterung, welche das Publikum, aber auch eine riesige Anzahl von Händlern und anderen Geschäftsleuten und oft auch Herstellerfirmen für sie aufbringt. Speziell ohne Weihnachten – in anderen Fällen ist es Karneval – wären Teile des Wirtschaftslebens schlicht pleite. Dieser Enthusiasmus für das Brauchtum ließe sich durch die Wiederbelebung alter regelmäßiger Bräuche ausweiten. Dass es auf den einen oder anderen Brauch mehr oder weniger nicht ankommt, beweisen der Importbrauch Halloween und das althergebrachte Fest zu Ehren von Sankt Martin, durch ganze elf Tage voneinander getrennt. In vielen Regionen schnorren Kinder an beiden Tagen Süßigkeiten, weil es eben der Brauch ist. Für die nötige Ausrüstung ist schnell gesorgt: Kostüme für Halloween, die Laterne für den Martinszug. Was der historische Hintergrund beider Brauchtumstage ist, hat allenfalls im Falle St. Martin die Schule vermittelt. Über das Leben des Heiligen Halloween (;-) weiß kaum jemand etwas. Ein wenig mehr darüber werden Sie in diesem Buch erfahren.

Manches Brauchtum dominiert also das gesamte gesellschaftliche Leben – schließlich ist Rosenmontag quasi ein Feiertag. Auf der anderen Seite schrumpfen alte Bräuche dahin und verschwinden sang-und klanglos, weil sie kommerzielle Flops sind, wie die gute alte Dorfkirmes oder das Schützenfest, weil es mancherorts an Schützen mangelt und weil die Organisatoren vor lauter Stress am Rad drehen, aber für sie kommt dabei am Ende materiell nichts heraus, was den Aufwand lohnen würde.

So weit die kommerzielle Seite. Das Brauchtum und speziell die Rituale erfüllen aber auch noch andere Aufgaben, außer dass sie manchen Leuten die Taschen füllen. Sie geben der alltäglichen Welt eine gewisse Magie, und das Fehlen dieser übergeordneten Ebene wird als Entzauberung wahrgenommen; in Zeiten, in denen sich die Religion auf dem Rückzug befindet – nicht zuletzt wegen schlimmer Entgleisungen ihrer Priester – ein empfindlicher Mangel. Die mit Kirche und Gebet verbundenen Bräuche und Rituale fehlen in der emotionalen Gesamtsumme einer kalten und technisierten Welt. Die Folge: Es entsteht ein immenser Bedarf an Ersatzreligionen, der teilweise in kurioser Weise ausgelebt wird. Man denke nur an die CO2-Kirche.

Die verbleibenden säkularen Brauchtumsanlässe, zum Beispiel der Tag der deutschen Einheit oder der Tag der Arbeit, können in Sachen Charisma nicht mithalten. Bis auf geschwollene Politikerreden auf Kundgebungen ist nichts los – gemeinsame Aktionen wie das Errichten eines Maibaums oder die Ereignisse rund um die schwedische Mittsommernachtsfeier spielen in einer anderen Liga und bieten ästhetisch-kulinarisch einfach mehr als dicke Männer und emanzipierte Frauen (oder umgekehrt?) auf einem Kleinstadtmarktplatz, die formelhafte Reden vom Blatt ablesen.

Es ist also sinnvoll, Bräuche und Rituale, wie man sie mancherorts seit Menschengedenken praktiziert hat, vor der Abschaffung zu retten oder bereits abgeschaffte Brauchtümer wiederzubeleben. Probleme bereitet das oft noch nicht – in vielen Fällen ist die Staubschicht des Vergessens über dem Brauch noch dünn und auch ohne oder mit leichtem Werkzeug zu entfernen. An die Arbeit!

DIE FUNDSTÜCKE VON A BIS Z

Ein Lexikon ist dieses Buch nicht – aber dann stellt sich die Frage: Warum die alphabetische Anordnung? Die Antwort ist einfach: Die Texte in diesem Buch sind von A bis Z geordnet, weil es wegen der Komplexität des Stoffes schwierig ist, eine andere Ordnung zu finden. Historische, regionale, religiöse, jahreszeitlich geprägte und vom Alltag geschaffene Bräuche und Rituale lassen sich nicht unter einen Deckel quetschen, auch eine Kategorisierung in Feuer-, Lärm-, Rüge- und Heischebräuche (die, bei denen man um etwas bettelt) dürfte das Buch nicht lesbarer machen. So, wie es jetzt aufgebaut ist, gibt es wenigstens eine Chance, das Gesuchte zu finden, auch wenn man wild durchs Alphabet springen muss, um die miteinander verknüpften Themen zu finden. Das schaffen Sie schon.

 

ABLASSBRIEF

Sie leiden an flygskam? Sie als früher Öko-Aktivist bevorzugen natürlich das schwedische Original, während den deutschen Durchschnittsmenschen die gewöhnliche »Flugscham« plagt. Was ist zu tun? Der mittelalterliche Ablassbrief bringt Abhilfe. Der Käufer eines solchen Schriftstücks – es könnte ein betuchter Stadtbürger des 16. Jahrhunderts gewesen sein – gab in jenen Tagen der finsteren Vergangenheit Geld und Gut für das Gefühl, von allen Ängsten bezüglich seiner so oder so in Kürze herannahenden Rolle im Himmelreich befreit zu werden. Man wurde ja nicht allzu alt, es tat Not, rechtzeitig vorzusorgen. Die Idee, durch ein irdisches Geschäft künftige Höllenqualen zu vermeiden, kam richtig gut an – der Ablasshandel florierte.

Beim modernen Ablasshandel geht es eher darum, seine Schuldgefühle wegen des eigenen Wohlergehens zu betäuben, weil man gegen die auch in aller Öffentlichkeit zur Schau getragene persönlich-ökologische Überzeugung handelt, wenn man sich zum Beispiel ein Ticket für einen Jet kauft und sich einfach so – gewaltige Mengen von Verbrennungsrückständen aus Kerosin hinter sich lassend – zu Vergnügungszwecken in die Lüfte schwingt, nach Mallorca oder nach Los Angeles zum Shoppen. Fridays for Future und das schlechte Gewissen halten die Menschen keineswegs davon ab, sich dennoch in die Lüfte zu erheben. Besonders beliebt sind im Frühjahr 2020 Kurztrips in die europäischen Metropolen, Wellness-Urlaub und mehrtägige Eventreisen, zum Beispiel zu Rock- und Klassikkonzerten, Musicals oder in die Freizeitparks.

Im späten Mittelalter funktionierte der Deal etwa so: Der Ablassbrief jener Tage war ein Einblattdruck, ausgefertigt als Holzschnitt oder Kupferstich, auf dem christliche Motive oder Gebetstexte abgebildet waren. Mit dem Erwerb dieser Urkunde wurde dem Käufer ein Nachlass von Strafen gewährt, die ihm sonst wegen seiner Sünden im Jenseits – meist im Fegefeuer – auferlegt worden wären, also später, nach seinem Tode. Auf dem Ablassbrief prangte der Name eines Bischofs oder Kardinals, der vom Papst beauftragt die Urkunde ausstellte und verifizierte. Sehr beliebt waren im Spätmittelalter Ablassbriefe, die den Namen mehrerer Bischöfe oder Kardinäle trugen, sie galten als besonders wirkmächtig und ihre Käufer multiplizierten die Zahl der gewonnenen Ablasstage mit der Anzahl besagter Kirchenfürsten. Der Kauf eines Ablasses allein jedoch befreite den Kunden nicht von den Höllenqualen, der Käufer wurde außerdem verpflichtet, eine große Zahl von Gebeten zu sprechen und/oder eine mehr oder weniger hohe Spende für den Bau einer Kirche zu entrichten. Besonders effektiv betrieb ein Dominikanermönch namens Johannes Tetzel den Ablasshandel, er prägte den hervorragenden Werbeslogan »Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt.« Eigentlich war alles großartig – das gemeine Volk kaufte Ablassbriefe und der Klerus baute sich wunderbare Kathedralen, doch dann kam der Reformer Martin Luther. Einer seiner wichtigsten Kritikpunkte an der katholischen Kirche war für ihn genau dieser Sachverhalt, die Methode, wie der Kirchenbau – speziell der Petersdom in Rom – finanziert wurde. Am 8. Februar 1567 beendete dann Papst Pius V. das ausufernde Treiben mit dem zukünftigen Seelenheil mit der Bulle Etsi dominicigregis. Er hob alle Almosenablässe auf und drohte am 2. Januar 1570 mit der zweiten Konstitution Quam plenum all denjenigen sogar mit Kirchenstrafen, die weiter Ablasshandel betrieben. Die von ihm festgelegte Regelung galt übrigens bis 1917. Die Sanktionen waren drastisch: Mit Ablässen gehandelt? Exkommuniziert – für den gläubigen Christen das Premiumticket für die Fahrt in die Hölle!

Moderne Ablässe sehen schon vom Konzept her anders aus: Zum einen geht es nicht mehr um Sünden im herkömmlichen Sinn, schon gar nicht um alle zugleich, sondern um eine einzige sündhafte Verfehlung, nämlich den Ausstoß von CO2, nicht zu bekämpfen mit dem Kreuzzeichen, sondern durch eine CO2-Kompensation. Zahlungen an Organisationen wie »atmosfair«, »Primaklima« oder »myclimate« minimieren den ökologischen Fußabdruck von Schuhgröße 49 zurück in die Kinderabteilung. Was die Firmen oder Organisationen genau mit dem eingezahlten Geld tun, lässt sich schwer kontrollieren, aber wozu auch? Das Gewissen ist beruhigt, man sündigt wieder ohne Reue wie schon damals, als der Lieferant für Seelenheil noch Tetzel hieß. Es geht die Mär, dass die kommerziellen Klimaretter irgendwo in der Dritten Welt Bäume pflanzen oder nachhaltige Projekte finanzieren. Wie schön.

Wer mag, kann ergänzend noch ein Gebet zur heiligen Greta (mithilfe eines Rosenkranzes aus naturbelassenem Rosenholz) hinterherschicken oder sich ein informatives Klimadrama mit Ranga Yogeshwar anschauen oder sich die neuesten Prognosen von Klima- Zampano Mojib Latif zu Gemüte führen oder eine Klimawette abschließen. Besonders praktisch am modernen Online-Ablasshandel ist die Tatsache, dass man nicht mehr hinter einem windigen Ablasshändler auf dem Marktplatz herrennen muss, um Gutes für sein Seelenheil zu erwerben, sondern dass man es nun auf einer mehr oder weniger windigen Internetseite kaufen kann.

Ein bereits erwähnter Vorteil des mittelalterlichen Ablasses sollte allerdings wiederbelebt werden: Das historische Vorbild grenzt die Art der Straftat nicht ein, auf die er sich bezieht, sondern gilt allgemein – von Taschendiebstahl bis Mord. Ein gut zusammengestellter Öko-Ablass sollte deshalb von »Kaugummi auf die Straße werfen« bis »Regenwald abholzen« gelten. Mit einer großzügigen Spende an Greenpeace oder die Deutsche Umwelthilfe kann man sich praktischerweise für die nächsten zehn Jahre von allen Umweltverbrechen freikaufen, darf also mit gutem Gewissen und ohne Schuldgefühle um den Globus fliegen, mit dem SUV zum Biobäcker fahren oder in sonst einer Weise die ökologische Sau rauslassen.

 

AM GRENZSTEIN OHRFEIGEN

Früher war es mancherorts üblich, die Position von Grenzsteinen dem Nachwuchs – jungen Männern – »hinter die Ohren zu schreiben«. Ihnen wurde, meist anlässlich einer sogenannten Grenzbegehung, der jeweilige Stein gezeigt und kurz darauf erhielten sie ein paar deftige Ohrfeigen. Der Effekt: Sie vergaßen ihr Leben lang nicht, wo sich dieser Grenzstein befand. Man kann sich denken, dass zum Beispiel eine Gemeindegrenze ganz schön lang sein kann, wenn man bei der Grenzbegehung an jedem Stein, salopp gesagt, etwas in die Fresse bekommt.

Das war allerdings überhaupt nichts Besonderes. Es gab allgemein die Sitte, wichtige Zeremonien, zum Beispiel einen Vertragsabschluss, mit Ohrfeigen zu begleiten, damit sie besser im Gedächtnis blieben. Die Vertragspartner und Zeugen des Vorgangs merkten sich das Geschehen und die damit verbundenen Schmerzen recht gut.

Dort, wo noch heute Grenzbegehungen stattfinden – meist im Rahmen regionaler Traditionspflege – hat man das Bestrafungs- in ein Belohnungssystem umgewandelt. Die Vertreter zum Beispiel der Dorfjugend – jetzt sind auch Mädchen dabei – erhalten an jedem Grenzstein eine positive Überraschung aus dem Fundus des Bürgermeisters, die sie sich aus einem Beutel nehmen dürfen. Mal ist es eine Packung Kaugummi, dann wieder zwei Euro oder ein Gutschein für den Onlinehandel. Es funktioniert – auch dieser Grenzverlauf ist mental gleich mehrfach abgesichert.

In Sachen Grundstücksvermessung sind wir ansonsten weiter, im Kataster ist alles haarklein vermerkt, niemand muss mehr was hinter die Ohren bekommen, es sei denn amtsintern als nullspannungssicheres Back-up oder vom Nachbarn, wenn jemand unerlaubt einen Grenzstein versetzt.

Der alte Brauch bietet sich auch für andere Zusammenhänge des öffentlichen Lebens an: Neu als Abgeordneter im Bundestag? Das hier ist übrigens das Grundgesetz – Klatsch! Die Herrschaften gehören alle zum Klimakabinett? Darf ich Sie an das Pariser Klimaschutzabkommen erinnern, das jeder von Ihnen unterschrieben hat? Klatsch! Sie sind mein zuständiger Abgeordneter? Ich habe mir erlaubt, eine Liste Ihrer Wahlversprechen zu erstellen – Klatsch! Es bietet sich speziell für diesen Bereich an, ein neues politisches Amt einzuführen: Watschenmann oder Watschenfrau, bayerische Bewerber mit besonders kräftigen Händen werden bevorzugt. Ebenfalls wichtig: die Emanzipation – auch Frauen haben ein Recht darauf, etwas auf die Ohren zu kriegen.

Um einmal die deutsche Ingenieurskunst anzusprechen: Die Entwicklung eines Standardmodells einer (möglicherweise tragbaren) Watschenmaschine wäre ein genialer Einstieg für ein Startup-Unternehmen, die flächenübergreifenden nationalen, wenn nicht gar internationalen Erfolg verspricht, da es unabhängig von der jeweils gesprochenen Sprache zum Einsatz kommen kann. Klatsch! Das versteht jeder!

 

APOTROPAION

In diesem Themenbereich besetzte das Brauchtum in vergangenen Zeiten ein weites Feld; das aus dem Griechischen stammende Wort apotropaios bedeutet »Unheil abwehrend«. Es geht darum, vor den Folgen schwarzer Magie, Verwünschungen und Schadenszauber, zum Beispiel dem bösen Blick, zu schützen. Seit Jahrhunderten verwenden die Menschen deshalb besondere Gesten, führen schützende Handlungen aus oder verwenden Gegenstände, die sie vor Unheil schützen können. Als Amulette dienten und dienen magische Schlüssel, Kreuze, Edelsteine, Korallen, Tierzähne, Hasenpfoten und andere magisch aufladbare Gegenstände.

In der Architektur der Vergangenheit wurden die schützenden Symbole gleich eingebaut: Gorgonenhäupter, Raubtierkrallen, Dämonen mit herausgestreckter Zunge, Giebelkreuze und andere bauliche Vorkehrungen sollten Gebäude schützen. Als Apotropaion wurden auch abwehrende Rituale ausgeführt – hier sind das Drei-Königs-Ritual (C+M+B zum Schutz von Häusern), Grundsteinrituale und das Besprengen mit Weihwasser zu nennen. Eine besonders brutale Variante ist das Einmauern oder Einbauen von etwas Lebendem in ein Bauwerk wie in der Novelle Der Schimmelreiter von Theodor Storm beschrieben: Die abergläubischen Nordfriesen wollen einen gelben Hund lebend im Deich begraben. »Soll euer Deich sich halten, so muss etwas Lebendiges hinein!« bekommt Deichgraf Hauke Haien zu hören. Er rettet den Hund, doch zu einem hohen Preis. Nun glauben die Nordfriesen, dass der neu erbaute Deich mit einem Fluch belastet ist. Warum macht man eigentlich ständig Witze über die angeblich dummen Ostfriesen?

Für den modernen Freund alter Bräuche und Rituale ist eine Ausweitung der Nutzung von Apotropaia (so lautet der Plural) eine lohnende Angelegenheit. Zum einen kann er seine Vorgesetzten, die übrigen Mitarbeiter, seine Familie, die Straße, in der er wohnt, mit einem neuen, überaus intellektuell klingenden Fremdwort beeindrucken oder womöglich sogar das ganze Stadtviertel.

Das hat doch was. Falls nicht schon irgendjemand vor ihm dieses Buch gelesen hat, das wäre dann Pech. Zum andern leben wir in einer Welt, die in vielen Bereichen gefährdet und zugleich ungeschützt ist. Und wir alle sehnen uns nach mehr Sicherheit, wie die Verkaufszahlen von Antivirus-Programmen, Berufsunfähigkeitsversicherungen, einbruchsicheren Fenstern und extra reißfesten Kondomen belegen. Warum also nicht auf die Magie setzen?

Gargoyle-Figuren an allen Ecken jedes Computergehäuses schrecken jede Form von IT-Geistern ab, wirkkräftige digitale Amulette wie iPods pro oder die Apple-Watches umgeben den Träger mit einer Aura von Unverwundbarkeit. Bereits auf dem Weg in eine sicherere, weil durch Apotropaion geschützte Welt befinden sich Teile der Jugendszene – Adidas-Streifen machen ebenso unüberwindlich wie der Mercedesstern, am Goldkettchen getragen, und andere Szene-Utilitys. Aber auch im Geschäftsleben und dort vor allem in Form der aktiven Aktion sind Apotropaia angesagt: Neuseeländische Haka-Tänze der gesamten Abteilung oder Firma vor einer Konferenz oder einem Verkaufsgespräch sind absolute Kampfansagen an die Konkurrenz, falls die Dominanz ausstrahlende Mercedes-G-Klasse (die Produktion von Hummer-Geländewagen wurde ja leider eingestellt) und die bis 30 Meter wasserdichten Breitling-Uhren nicht mehr über genügend Abschreckungspotenzial verfügen. Aber jetzt sind wir doch ein wenig abgeschweift …

 

1. APRIL