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Das Buch des Vaters ist die Aufzeichnung eines leidenschaftlichen Lebens, von der Liebe zur Literatur bestimmt. Von den großen Utopien, Hoffnungen und Enttäuschungen des 20. Jahrhunderts. Und von der Liebe zu Clara Molinari, einer geheimnisvollen Frau.
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Seitenzahl: 272
Urs Widmer
Roman
Diogenes
Für May
mein Vater war ein Kommunist. Er war nicht immer ein Kommunist gewesen, natürlich nicht, und er war, als er starb, keiner mehr. Wenn man es genau nimmt, blieb er nur wenige Jahre lang ein Mitglied der Kommunistischen Partei, von 1944 bis so um 1950 herum. Danach war er über alle Parteigrenzen hinweg empört und schimpfte über jeden Politiker, so ziemlich jeden. »Hornochse! Trottel! Mörder!« – Dass er ein Kommunist werden würde, war ihm nicht an der Wiege gesungen worden. Sein Vater las ein Leben lang ein einziges Buch, die Bibel – seine Mutter kannte auch die Bibel nur vom Hörensagen –, und kümmerte sich nicht um Politisches, wenn man von einer diffusen Begeisterung für Kaiser Wilhelm II. absah. Als Zehnjähriger war mein Vater tatsächlich mit seinem Papa zur Kaserne gegangen, auf die Exerzierwiese hinter ihr, weil der Kaiser aller Deutschen seinem Nachbarland und dessen schönster Stadt einen Besuch abstattete und eine Parade der einheimischen Truppen abnahm. Ein herrlich blauer Himmel, Kaiserwetter eben. Eine gutgelaunte Menschenmenge. Mein Vater, klein für sein Alter, durfte zu den Kindern nach vorn und sah über Jungen- und Mädchenköpfe hinweg einen Pulk Reiter in prachtvollen Uniformen vorbeitraben, ganz nah, jeder mit einem andern Kopfputz. Helme aus Gold, rote Federbüsche, Pickelhauben, Kappen voller Eichenlaub. Die Jungen und Mädchen um ihn herum juchzten und warfen ihre Mützen in die Luft. Auch mein Vater glühte vor Begeisterung. Nur, er wusste nicht, welcher der Gefiederten denn nun der Kaiser war. Der auf dem weißen Pferd, oder doch der mit dem gezwirbelten Schnurrbart? Er traute sich nicht, seinen Nachbarn zu fragen, einen dicken Burschen, der ihm die Sicht versperrte. – Auf dem Heimweg kriegte er einen Zuckerkrapfen, und er und sein Vater schwärmten, wie herrlich der Monarch ausgesehen habe. – Ein Jahr später, als der Erste Weltkrieg ausbrach, rief der Vater meines Vaters – ein stiller Mann – immer noch Hurra! und Immer feste druff!, das taten alle in der Stadt, so ziemlich alle. Das Welsche galt damals nicht viel, und mein Vater las den Guten Kameraden, eine Zeitschrift, die immer aus allen Rohren feuernde Kriegsschiffe oder mit aufgerissenen Mäulern aus ihren Gräben stürmende Soldaten auf dem Titelblatt zeigte. – Vom Krieg merkte er im Übrigen dann wenig, mein Vater, allenfalls, dass die Begeisterung seines Vaters kleiner wurde und am Ende ganz geschwunden war. – Seine Mutter sagte zu den Kriegsereignissen kein Wort. – Mein Vater ging ins Gymnasium hinter dem Münster, lernte Altgriechisch und Latein und war immer der Primus seiner Klasse; ohne es zu wollen. Zu Hause aber war er der Dumme, weil sein Bruder, Felix, ihm stets zwei Jahre voraus und in seiner Klasse ein noch unangefochtenerer Klassenbester war. Wenn mein Vater lauter Sechsen und nur im Turnen eine Fünfeinhalb hatte, dann stand im Zeugnis von Felix auch da eine Sehr gut. (Ganz zu schweigen von den Benotungen für Fleiß und Betragen, der Achillesferse meines Vaters.) Dabei spielte mein Vater besser Fußball als Felix, das heißt, Felix spielte überhaupt nicht Fußball. Er saß hinter den Büchern, die bei ihm makellos sauber blieben, auch wenn er sie zehnmal las. Mein Vater brachte es bei den Junioren II der Old Boys zum Goalgetter, er spielte Mittelstürmer und wurde der Kleine mit dem Bombenschuss genannt. – Vielleicht nannte er sich auch nur selber so. – Die große Politik blieb für ihn unsichtbar. Die Geschützdonner von Ypern und Verdun waren weit weg. Nicht einmal Lenin begegnete er, obwohl dies gut hätte geschehen können, denn der zukünftige Revolutionär ging durch dieselben Straßen wie er. Vielleicht – daran dachte er später zuweilen – hatte er ihn ja gesehen, er mit seinem Fußball unter dem Arm und Lenin schwarz in sich hineinschimpfend. Kein Herzrasen hatte ihm gesagt, dass er eben sein Idol erblickt hatte, sein Idol von später. – Den Generalstreik bekam er aber durchaus mit. Er war jetzt sechzehn und hörte ferne, vom Münsterplatz her, das Schießen und Schreien. Seine Straße leer, so leer, dass er sich nicht getraute, das Haus zu verlassen. Auch von der Revolution in Russland hörte er, nebenbei. Viel bedrohlicher war die Grippe, die zur selben Zeit in der Stadt wütete. Sein Großvater – der Vater der Mutter – starb, und Onkel Max. Auch eine entfernte Großkusine, die er kaum gekannt hatte. Die Eltern tränenverweint. – In den zwanziger Jahren war das Politischste, was er tat, die Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung, die als progressiv galt, weil sich die Studenten nicht gegenseitig die Schädel mit Säbeln blutig schlugen. Im Gegenteil, die Schlagenden, jene mit den Schmissen, waren ihre Feinde, und wenn sie abends am Stammtisch des Restaurants Harmonie saßen und ihre Humpen gegeneinanderkrachen ließen, ereiferten sie sich darüber, dass die hohen Ämter des Staats und die Verwaltungsratssitze der größten Firmen immer erneut alten Herren der Helvetia oder der Rhenania zufielen, fetten Bürgersöhnchen mit verkrusteten Narben auf den Wangen. Die Mitglieder der Zofingia, der mein Vater angehörte, waren Söhne von Schreinern, Schlossern, Eisenbahnern. (Der Vater des Vaters war Volksschullehrer.) Sie waren sich sicher, dass sie einmal, bald einmal, an den Hebeln der Macht sitzen würden, und dann gäben sie den reichen Hätschelkindern die Tritte in den Hintern. – Frauen gab es damals noch keine. – Mit Kommunisten kam mein Vater erst in den dreißiger Jahren zusammen. Er war nun auch um die dreißig und ein junger Intellektueller geworden. Er sah auch so aus: Brille, beginnende Glatze, Zigarette im Mundwinkel. Er rauchte immer, auch wenn er sprach, las oder aß, und seine neuen Freunde, die Kommunisten, fragten ihn, wie er denn schlafe oder küsse. Kein Problem, antwortete mein Vater. Er küsse wenig, und er schlafe noch weniger. Die Freunde rauchten auch, und sie tranken, anders als mein Vater, gern und viel. Sie waren alle Maler – ein Einziger von ihnen war ein Architekt – und hatten sich, ein zwei Jahre bevor mein Vater zu ihnen stieß, zu einer Gruppe zusammengeschlossen, die sie nach dem Gründungsjahr nannten. Dreiunddreißig. Mein Vater, der nicht malte, wurde so etwas wie ihr Sekretär. Er verwaltete die Gruppenkasse, just er!, und versuchte, Galeristen zu überreden, die Bilder seiner Freunde auszustellen. An den Abenden saßen sie im Ristorante Ticino, einem Lokal hinter dem Güterbahnhof, das von allen die Räuberhöhle genannt wurde, die Höhle, weil Lumpenproletarier, leichte Mädchen und Künstler sich in ihm wohl fühlten. Der Wirt hieß Luigi, kam tatsächlich aus dem Tessin – aus dem Maggiatal – und war ein heißblütiger Genosse. Zuweilen sang er, hinter dem Tresen stehend, Lieder aus seiner Heimat oder die Internationale, die das ganze Lokal dann mitsang. Die Maler und mein Vater sprachen von der Kunst der Afrikaner und Picasso und den Surrealisten, und von der Diktatur des Proletariats, die den himmelschreienden Ungerechtigkeiten der Bourgeoisie den Garaus machen werde. Der Aufstieg Hitlers erschreckte sie, und sie machten viele Witze über ihn. Stalin wurde, je unverschämter Hitler handelte, zu ihrem leuchtenden Helden; über ihn machten sie keine Witze. Von den Schauprozessen hörten sie natürlich. Aber sie hielten das, was sie hörten, für Verleumdungen. (Der Krieg machte Stalin dann vollends unangreifbar. Wer, wenn nicht er, konnte dem Monster Hitler Widerstand entgegensetzen? Der Sieg von Stalingrad trug gar seinen Namen und war das erste Zeichen, dass die Nazis ihren Krieg verlieren würden.) Mein Vater kam auch jetzt nicht auf die Idee, der Kommunistischen Partei beizutreten, obwohl so ziemlich alle seine Malerfreunde das Parteibuch in der Tasche hatten. Der Spanienkrieg! Zwei der Maler waren, kaum hatten sie von Francos Putsch gehört, mit dem Fahrrad losgefahren und hatten in Toledo mitgekämpft. Einer war zurückgekommen und hatte sich wortlos wieder an den Stammtisch gesetzt. Er war der Gleiche wie zuvor, nur, er sprach kein Wort mehr. Keine Silbe von seinem Freund, was mit dem geschehen war. Er wurde am dritten Tag vom Tisch weg verhaftet und von einem Militärgericht zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, weil er, als Schweizer Soldat, in einer fremden Armee Kriegsdienst geleistet hatte. Mein Vater, der erwartet hatte, die Schweiz danke es ihren Helden, dass sie die Demokratie hatten verteidigen wollen, fuhr jeden Mittwoch nach Lenzburg oder vielleicht auch Aarburg, in eine der Militärstrafanstalten jedenfalls, und brachte dem Maler Zigaretten, Schokolade und Farben. Dieser schwieg immer noch und rauchte finster. Nur einmal knurrte er, das mit den Farben solle mein Vater lassen. Er male nie mehr. – Jetzt war mein Vater reif für die Partei. Aber erst als sie verboten wurde, zu Beginn des Weltkriegs, fühlte er sich als ihr Mitglied und trat ihr tatsächlich sofort bei, als sie wieder zugelassen wurde, 1944, etwa ein Jahr vor dem Ende des Kriegs. Die Partei durfte nur nicht mehr so wie ehedem heißen, Kommunistische Partei, und nannte sich also Partei der Arbeit. Seine Freunde waren natürlich wieder beziehungsweise immer noch dabei. Einer der Maler – er hatte viel von Ernst Ludwig Kirchner gelernt, schätzte aber auch den Optimismus der sowjetischen Realisten – und der Architekt kandidierten fürs Stadtparlament, und auch mein Vater hatte sich überreden lassen, einen hinteren Listenplatz zu übernehmen. »Keine Sorge, mit dem wirst du nie gewählt!« Er hielt sogar eine Rede, im Volkshaus, und war beeindruckt, wie einfach das war. Eigentlich rief er nur »Genossen!«, und ein tosender Applaus brach los. Er rief also noch einmal »Genossen!«, und später noch vier fünf Mal, wenn er mit dem Fluss seiner Gedanken, die sich um die städtische Bildungsmisere drehten, ins Stottern geriet. – Die Wahlen machten nicht nur die Sozialdemokraten zur stärksten Partei der Stadt, sondern verwandelten auch die Kommunisten, die eben noch ihre Fäuste in Hinterzimmern mit zugezogenen Vorhängen gereckt hatten, in eine politische Macht. Achtzehn Sitze, auf Anhieb. Mein Vater, der auf Platz neunzehn gestanden hatte, wäre um ein Haar gewählt worden. Er war jetzt Erster Ersatzmann und musste sich bereithalten, ins Parlament nachzurücken, falls ein Ratsmitglied starb. Es starb aber keines. – Die Partei der Arbeit brachte sogar einen ihrer Genossen in den Regierungsrat. Er hatte das kleinste und auch unbeliebteste Departement und war für die Straßenbahnen und die Schulen zuständig, eine Kombination, deren Sinn und Ursprung niemand mehr so recht erklären konnte. Als mein Vater nach der Wahl in sein Büro kam und die den Wählern versprochene Schulreform in Angriff nehmen wollte, saß der Genosse Regierungsrat an seinem leeren Schreibtisch und schob eine Miniaturstraßenbahn hin und her, ein lebensechtes Modell, das er von der Gewerkschaft der Öffentlichen Dienste geschenkt bekommen hatte. Er sah meinen Vater verständnislos an. Schulreform, ja, natürlich, die Schulreform. Klar, klar. Aber er war ja nun gewählt, das war ja wohl das Wichtigste. Er lächelte seine Straßenbahn an. Mein Vater verließ das Büro türenknallend, weil er die Türen aller Räume zuknallte, in denen er sich erregt hatte. Er schäumte noch, als er am Stammtisch auftauchte, und der Kirchnerschüler und der Architekt, beide nun Mitglieder des Stadtparlaments, brauchten eine ganze Weile, bis sie ihn beruhigt hatten. An dem Abend trank er mehr als sonst, wesentlich mehr, und war bei Wirtschaftsschluss so blau, dass der Architekt zur Telefonkabine bei der Bahnunterführung ging und die Frau meines Vaters anrief. Sie solle ihm nach Hause helfen. Sie kam fast sofort, mit dem Fahrrad, fasste den Vater unter den Achseln und schleifte ihn – das Fahrrad links, den Vater rechts – nach Hause. Der Vater hatte einen riesigen Strauß Rosen bei sich, den er mit beiden Händen an sich drückte. Sie fragte ihn, für wen denn diese Blumen seien, aber er giggelte nur und rief, wie herrlich schön sie sei, wie er sie liebe, und er sage ihr jetzt, wie es gewesen war, als er sie zum ersten Mal erblickte. Natürlich wusste sie das. »Na wie denn?« – »Eine Vision!« Der Vater hatte sie, vor dem Sommercasino, aus einem Auto steigen sehen, in einem weißen Abendkleid und mit einem Hut, der beinah schon ein Schirm war. Rote Lippen, schwarze Haare, die ihren Rücken hinabflossen. Er war wie vom Blitz getroffen und wusste sofort, die oder keine. »Du oder keine«, gluckste er und tat einen so jähen Schritt zur Seite, dass das Fahrrad umfiel. »Das wusste ich auf der Stelle.« – Als er sie ein paar Jahre später wiedertraf, wieder vor dem Sommercasino – allerdings war sie ohne Auto und trug auch keinen Hut –, fragte er sie, noch bevor sie das Eingangstor erreicht hatte, ob sie ein Glas Limonade mit ihm trinke, ein Glas Champagner, und als sie ihm ernst in die Augen sah und dann lächelte, ob sie ihn heirate. Sie wurde wieder ernst, schaute wieder mit großen schwarzen Augen und sagte ja. Er stellte sich vor – »Karl!« – und fragte sie nach ihrem Namen. Sie hieß Clara, Clara Molinari. Inzwischen war der Champagner gekommen, und beide tranken schweigend ihr Glas leer. Sie kenne ihn, Karl, nicht erst seit eben jetzt, sagte Clara dann. Sie habe ihn – in einem andern Leben – schon ein paar Mal gesehen, im Konzert, zusammen mit schönen jungen Frauen, jedes Mal mit einer andern, und dann einmal in der Bayerischen Bierhalle, wo sie mit ihrer besten Freundin, einer Cellistin, ein Glas Wein getrunken habe. Er sei mit gleich allen seinen Damen gewesen, dreien, und habe einen Witz nach dem andern gerissen. Riesengelächter. Sie habe auch gelacht, und ihre Freundin noch viel mehr. – »Kein Bier, in einer Bayerischen Bierhalle?«, sagte der Vater. »Kein Mann?« – »Kein Mann, kein Bier.« – Sie heirateten, vielleicht nicht gerade am gleichen Abend, aber irgendwie notfallmäßig. Nur die Cellistin war dabei, als sie zum Standesamt gingen, und Felix, der Bruder. – Der Vater war überglücklich und trug seine Frau über die Schwelle seiner Junggesellenbude. In ihrer Hochzeitsnacht – nein, vor ihr – schauten sie Fotos an, nebeneinander auf der Liege des Vaters sitzend. Clara hatte sie in einer blauen Schachtel mitgebracht, damit der Vater sie besser kennenlernte. Er sah also den Vater Claras, einen strengen Mann mit einem schwarzen Bart, und die Mutter, die weicher aussah. »Zwei Wochen später ist sie gestorben.« Eine gefleckte Katze, die auch schon tot war, und das Haus, eine Villa, die es ebenfalls nicht mehr gab. Clara in einem Sommerkleid voller Blumen, an ihr Auto gelehnt, ans Auto ihres Vaters, einen Fiat. (Auch der Fiat war weg.) Die Schwester, ein Mädchen wie ein Reh. Onkel wie Gnome und Felsklötze, zwischen Reben stehend. Tanten in Witwenkleidern. Einen Kusin, der ein Bergseil um die Schultern und einen Eispickel in der Hand trug. – Zuunterst in der Schachtel lag ein großformatiges Foto. »Der Besuch des Kaisers.« – »Des Kaisers? Welcher ist der Kaiser?« – »Der da natürlich.« Mein Vater sah ihn – »aha, der!« –, mit einem Federbusch auf dem Kopf, zu Pferd, umgeben von den ebenfalls berittenen Adjutanten und den hohen Offizieren der Schweizer Armee. Hinter ihnen, artig und steif, eine Menschenmenge. Clara zeigte auf ein kleines Mädchen in der ersten Reihe, das ernst in die Kamera blickte. »Die bin ich!« – Mein Vater beugte sich über das Bild. Er schaute und nahm sogar die Brille ab. Dann zeigte er, rot geworden, auf den halben Kopf eines Jungen, der hinter den Schultern eines ungeschlachten Burschen mit einer Schiebermütze hervorlugte, und sagte: »Und der bin ich!«
am Abend vor dem Morgen, an dem mein Vater starb, war ich im Zirkus, zusammen mit einem befreundeten Paar, Max und Eva, und meiner Mutter. Als wir aufbrachen – meine Mutter fegte die Treppen hinauf und hinunter –, kam mein Vater aus seinem Zimmer, gelb und noch durchsichtiger als sonst, sah mich mit großen Augen an und bewegte die Lippen. »Was?«, sagte ich. Er wiederholte, was er gesagt hatte, und weil ich mich jetzt zu ihm hin beugte und auf seinen Mund schaute, verstand ich ihn. »Bleib da. Mir ist nicht gut«, sagte er. Er trug seine Strickjacke – es war Sommer! –, hielt die Zigarette in einer Hand, und seine Augen hinter den Brillengläsern waren nass. Ich umarmte ihn – ihm war seit Jahren nicht gut – und sagte: »Aber Papa, du weißt doch, wir haben Karten für den Zirkus, und Eva und Max warten auf uns.« Er nickte. »Spätestens um elf sind wir wieder da.« – Die Vorstellung war gut – eine tolle Trapeznummer, caramelfarbene Pferde, die auf den Hinterbeinen Walzer tanzten, und Clowns, die regelrecht lustig waren –, und um zehn vor elf waren wir wieder zu Hause. Mein Vater schlief schon, jedenfalls hörte ich keinen Ton, als ich an seiner Tür horchte, weder seinen Atem noch den Husten, der ihn immer wieder weckte, und oft auch uns. Mein Zimmer lag direkt über seinem. Es war mein Zimmer seit immer, denn ich war, obwohl inzwischen siebenundzwanzig, nie ausgezogen, weil ich dachte, dass das meinen Vater töten würde. Er war so elend, so wund. Er erinnerte mich an eine Maus, gefangen in einem Käfig aus Büchern, an eine gehäutete Maus. Jede Berührung tat ihm weh, jeder Kuss, jede Umarmung; so bewegte er sich selber kaum mehr. Ins Bad hinüberzugehen und eine Schmerztablette zu schlucken, aufs Klo, das waren seine weitesten Wege. Mir fiel wenig mehr ein, als zuweilen zu ihm zu gehen und ihm stumm zuzuschauen, wie er schrieb. Es störte ihn nicht. Er hatte eine Schreibmaschine, auf der er mit einem einzigen Finger, dem Zeigefinger der rechten Hand, in einem rasenden Tempo tippte. Bevor er schlafen ging, schrieb er – jeden Abend, auch auf einer Reise oder nach einem Fest, das bis zum frühen Morgen gedauert hatte – mit einem Federkiel und Tusche in einem Buch, das in schwarzes Leder gebunden war, einem Folianten voller einst leerer Seiten, die er inzwischen schier alle beschrieben hatte. Er tat das seit einem halben Jahrhundert. Es war ein Auftrag, jedenfalls, er konnte nicht anders. Er hatte eine so kleine Schrift, dass eine Seite für mehrere Tage reichte. Er schrieb ohne eine Lupe, tief über das Papier gebeugt; aber lesen konnte vielleicht nicht einmal er, was da stand. Die alten Seiten, die von vor vierzig oder fünfzig Jahren, musste auch er deuten. Seine Schrift war präzise, alle Zeilen schnurgerade. Der größte Buchstabe war einen Millimeter groß. Ich hatte ihn einmal gefragt, ein einziges Mal, was er da schreibe. »Mein Lebensbuch«, hatte er geantwortet. – Wenn ich ins Zimmer kam, sagte er: »Nimm dir ein Bonbon«, und er sagte es auch noch, als ich längst über das Alter hinaus war, in dem man Zuckerzeug über alles liebt. Ich öffnete also die unterste Schublade des Schreibtischs und nahm aus einem großen Glas ein Himbeer- oder Zitronenbonbon. Mein Vater sah mir zu, ohne mit dem Schreiben innezuhalten. – In den andern Schubladen, wenn ich die einmal aufzog oder eher noch hineinspähte, wenn der Vater es tat, waren Federn, Tuschefläschchen, Papiere, Heftklammern, Briefumschläge, Marken, Radiergummis. Die oberste Lade allerdings war verschlossen. Immer. Da waren die geheimen Dinge drin. – Ich hatte an diesem Abend Mühe einzuschlafen, und dann quälten mich böse Träume. Im Tiefschlaf hörte ich aus dem Zimmer unter mir ein Geräusch, als ob ein Ast bräche, stürzte schlafend noch aus dem Bett und war die Treppe hinabgeflogen, bevor ich wach war. Ich stieß die Tür zum Zimmer meines Vaters auf. Er lag im Bad, den Kopf unter das Waschbecken verkrümmt, schräg gegen die Badewanne gelehnt. Er atmete, rasselnd, mit stockenden Stößen. Ich wusste, das war der Tod. Die Zigarette hing zwischen den Fingern der rechten Hand. Ich warf sie in die Wanne. Ich packte ihn an den Armen, über ihm kniend, und wuchtete ihn unter dem Becken hervor. Ließ ihn nochmals los, weil das Wasser aus dem Hahn schoss und ich es abstellen musste, und zerrte an ihm, weil er sich zwischen Becken, Wanne und Wand verklemmt hatte. Als ich den Kopf frei hatte, verhedderten sich seine Beine im Gestänge des Wäschehalters. Irgendwie schaffte ich es, ihn in sein Zimmer hinüberzuschleifen, wie einen Sack, und ihn auf sein Bett hinaufzuwuchten. Er war so klein und dennoch so schwer! Seine Brille lag auf dem Teppich, in zwei Stücke zerbrochen. Vielleicht war ich draufgetreten. »Papa«, sagte ich. Er atmete nicht mehr und hatte den Mund offen. Er war tot. An einer Schläfe war Blut, da, wo er gegen die Wanne geprallt war. Ich holte ein Frotteetuch und legte es auf die Wunde. Draußen, vor dem Fenster, dämmerte der Morgen. Ich ging zum Telefon und rief Doktor Grien an, seinen Hausarzt und Freund über Jahrzehnte hin, mit dem er sich aber – vor kurzem erst – überworfen hatte, ich wusste nicht, warum. Wahrscheinlich hatte Doktor Grien wieder einmal angedeutet, dass die vielen Zigaretten, ja, dass vier Päckchen am Tag doch eine recht hohe Dosis seien, blaue Gauloises auch noch, und wie es mit nur einem Päckchen wäre, oder gar keinem?, und mein Vater hatte natürlich alle Türen geknallt und ihm vorher gewiss noch und endgültiger als all die Male zuvor gesagt, er könne ihn mal, und zwar von oben bis unten und bis zum Ende aller Tage. Sein Arztdiplom könne er sich sonst wohin schieben. »Ich behandle ihn nicht mehr«, sagte Doktor Grien mit der Stimme eines Mannes, der eben erst seinen Tiefschlaf gefunden hatte und nun unrettbar geweckt war. »Das wissen Sie. Er jedenfalls weiß es.« – »Es ist das letzte Mal«, sagte ich. Doktor Grien war zehn Minuten später da, auch er im Pyjama, über dem er einen Regenmantel trug, und mit Pantoffeln an den nackten Füßen. Er leuchtete dem Vater mit einer kleinen Stablampe in die Augen, fühlte seinen Puls und seufzte. »Tja«, sagte er. »Tut mir leid.« Er hob seinen Koffer hoch, eine alte Ledertasche, und ging. Meine Mutter war inzwischen auch da. Sie stand am Fußende des Betts, weiß wie Kalk, in einem grauen Nachthemd. Ich hatte mich auf den Stuhl des Schreibtischs des Vaters gesetzt – ich hatte das bis dahin noch nie getan – und schaute auf die Seite in seinem Buch, an der er bis eben noch geschrieben hatte. Er hatte wohl den letzten Satz nicht zu Ende gekriegt, jedenfalls war da kein Punkt. Ich blätterte das Buch durch. Jede Seite war so voll, so eng beschrieben, dass kein weißer Fleck blieb. Zehn, fünfzehn Seiten waren leer geblieben. Weiß. Er war vor seiner Zeit gestorben. – Das Buch glich einer Bibel, so mächtig war es, so schwarz. Kein ins Leder des Einbands geprägtes Kreuz zwar, aber oben ein Goldschnitt und ein blasses, verfranstes Lesebändchen. Ich legte es zwischen die letzten Seiten und ging an meiner Mutter vorbei nach draußen. Als ich die Tür schloss, stand sie über ihren Mann gebeugt und schloss ihm mit zwei Fingern die Augen. In der andern Hand hielt sie einen der Bügel seiner Brille, mit einem Glas, durch das ein gezackter Riss lief, wie ein Blitz.
mein Vater war ein großer Bub, als er – nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal allein – den Weg von seinem Haus in der Stadt in das Dorf ging, aus dem sein Vater und seine Mutter stammten. Sein eigentliches Ziel war die Kirche des Dorfs, die die Schwarze Kapelle hieß, obwohl sie, außen wenigstens, eher weiß war und einen mächtigen Turm, ein Längs- und ein kleines, wie angedeutetes Querschiff hatte. Das Dorf und die Kirche der Ahnen lagen in den Hügelbergen, einen Tagesmarsch entfernt. Das Haus in der Stadt stand im sogenannten Sumpf, einem keineswegs sumpfigen Viertel am Ende des Seebeckens voller kleiner, schmaler Reihenhäuser. Auch das Kindheitshaus meines Vaters war eng. Aber es hatte leuchtende Fenster mit grünen Läden und stand zwischen heiteren Häusern eingeklemmt. Mein Vater brach frühmorgens auf, die Sonne im Rücken. Er wusste, er musste den gleichen Weg wie sie gehen, und gleich schnell. Es war sein Geburtstag, sein zwölfter, und er trug die rituellen Gewänder, die seit langem für seinen Weg bereitlagen. Feste Schuhe mit Nagelsohlen, eine schwarze Hose, ein Wams, ein weißes Hemd. Ein Hut wie für einen Handwerksburschen, der ihn älter machte, als er war. Ein Ledersack, in dem ein Brot, ein Käse und eine Flasche Most lagen, auch sie eine Wegzehrung von alters her. Der Sack war der, den auch sein Vater getragen hatte, bei seinem Weg zur Kapelle, der bei ihm allerdings nur quer über den Kirchplatz geführt hatte; und vermutlich hatte auch der Vater des Vaters ihn umgehängt gehabt. Der Himmel strahlte blau, und die Sonne lockte jede mögliche Farbe aus den verwaschenen Hausmauern. Gelb, sienarot, olivgrün. Schatten tanzten unter Bäumen. Eine sanfte Luft. Karl winkte seinen Eltern zu, die beide vor der Haustür standen und die Arme hoben, und hüpfte dann hinter einem Karren her, der von einem Pferd gezogen wurde und mit blauschimmernden Eisklötzen beladen war. Schmelzwasser sprühte auf seine Schuhe, ohne dass die Eisblöcke kleiner wurden. Ein Gemüsehändler legte Tomaten und Salate auf einem langen Tisch zurecht. Er rief Karl einen Gruß zu. Der lachte, hüpfte weiter. Er kam an der Brauerei vorbei, an der Maschinenfabrik, deren Hallen alle aus dem gleichen Backstein gebaut waren und deren Hauptgebäude einem Schloss glich. Bald war er beim Stadtgraben und den Schanzen, wo ein Liebespaar Hand in Hand ging und Gärtner ihre Rosen begossen. Hinter dem alten Zoll – ein Gasthaus hieß so, unter blühenden Kastanienbäumen tranken zwei Männer ihren Frühschoppen – fing der Wald an, und schon trabte der Vater zwischen Buchen und Eichen, die so leuchteten, dass ihr Grün auf dem Schwarz des Wamses tanzte. Vögel riefen, auch ein früher Kuckuck. Karl sang wie er, auch wie die andern Sänger, und erhielt immer eine Antwort. Er juchzte. Er schnitt sich einen Haselstecken zurecht und hieb gegen Ginster und Holunderbüsche. Aus einem flog ein dicker Vogel auf, schwer davonflatternd. Der Weg stieg nun an, sanft, in weiten Kurven den Hügel hinauf. Es gab bald auch Tannen, die dunkler waren und da, wo sie in Gruppen standen, die Sonne daran hinderten, bis zum Boden herab zu scheinen. Unter ihnen ein Teppich aus braunen Nadeln. Harz duftete. Karl trat mit den Füßen einen Pinienzapfen vor sich her, bis der zwischen Brennnesseln verschwand. Weit vorn sprang ein Reh. Karl schwitzte jetzt, der Weg war steil geworden, und die Sonne stand senkrecht über ihm. Die Buchen blieben zurück, die Eichen auch, Tannen jetzt fast nur noch, mächtigere, die den Himmel mehr und mehr verbargen. Der Weg wurde zu einem Pfad, auf dem hohe Halme wuchsen, Brombeerranken, die sich im Wams und in den Hosen verhakten. Ein Dorn zerkratzte Karls Hand, aber der kümmerte sich nicht um das bisschen Blut, pfiff ein Lied, denn er war sicher, dass er auf dem Pfad war, den er mit seinem Vater im Jahr zuvor gegangen war. »Da, präg dir den krummen Baum da ein, den Moosfelsen, nächstes Jahr wirst du den Weg allein gehen müssen.« Am Fuß des Felsens war so etwas wie ein kleiner Steinbruch voller glitzernder Kiesel, von denen Karl ein paar Handvoll in die Tasche steckte. Er kam zu den ersten Schneeflecken, aus denen blasse Soldanellen wuchsen und Schmelzwasser floss. Seine Schuhe knirschten im Harsch und hinterließen schmutzige Spuren. Steine voller Flechten. Krokusse. Schmetterlinge gaukelten, Motten eher. Die Sonne hatte den Vater überholt und schien ihm ins Gesicht. Es war kälter geworden. Der Vater setzte sich auf einen Baumstrunk – ringsum dunkle Wipfel – und holte das Brot, den Käse und den Most aus dem Ledersack. Aß. Vögel, Bergfinken vielleicht, pickten die Brosamen auf. Karl warf ihnen die Reste des Käses hin und sprang auf. Die Sonne hatte nun einen Vorsprung und hing schräg vor ihm am Himmel. Er ging hinter ihr her, so schnell er nur konnte. Immer mehr uralte Arven, in denen reglose Vögel saßen. Greifen vielleicht, Geier. Düstereres Licht. Immerhin, der Weg war zu sehen, auch wenn ihn hier nur noch solche wie Karl gingen, denn frühere Heimgänger – auch sie schon aus der Stadt kommend, auch sie an ihrem zwölften Geburtstag – hatten da oder dort jene Glimmersteine fallen lassen, die nun auch Karl vor sich hin warf. Sie spiegelten noch das geringste Sonnenlicht und wiesen den Weg. Allerdings schoben sich jetzt Wolken vor die Sonne. Wind kam auf und schüttelte die Äste. Und schon spürte Karl die ersten Tropfen eines Regens, der gleich darauf auf ihn niederstürzte, als wolle er ihn ertränken. Es war finster geworden. Blitze schlugen ein, links, rechts, ließen für Sekunden die Wegmarkensteine aufglühen. Donner krachte. Hagelkörner auch bald, die um Karl herumtanzten. Zum Glück hatte dieser den Rat seines Vaters im Ohr, der ihm eingeschärft hatte: »Hagel, wenn der Hagel kommt – und er kommt immer –, dann zieh das Wams aus, und leg es wie ein Kissen unter den Hut. Du wirst frieren. Du wirst frieren wie noch nie. Aber das Eis, das vom Himmel stürzt, kann dir nichts anhaben.« Mein Vater band also das Wams wie einen Turban um den Schädel, setzte den Hut obendrauf, und tatsächlich fror er sofort. Seine Zähne schlugen gegeneinander. Das Hemd war im Nu klatschnass und klebte auf seiner Haut. Gefror, wurde steif. Hagelkörner schlugen auf seinem Kopf auf und sprangen neben ihm zu Boden. Er schlug die Arme gegen die Schultern und wich den Blitzen mit Sprüngen aus. Er rannte jetzt. War er auf dem rechten Weg? Er beschwor alle Geister, ihn richtig gehen zu lassen, auch ohne Sonne, denn ohne ihr Licht blinkten die Steine nicht mehr – die Blitze verwirrten ihn, halfen ihm nicht –, und er konnte genauso gut jenem Tobel wie dieser Felsluke entgegenrennen. Einmal, mit einem Fuß in einem Sumpfloch steckend und dem andern in Lianen verheddert, rief er um Hilfe, »Hilfe!«, mit einer ganz kleinen Stimme, in einem Getöse, das auch kräftigere Rufe übertönt hätte. Und doch ließ kaum eine Minute später der Regen nach und versiegte. Die Blitze leuchteten noch zwei drei Mal in der Ferne, und der Donner rollte davon, bis er nur noch ein fernes Poltern war. Der Himmel riss nochmals auf. Ein fahles Leuchten. Karl ging nun dem Bach entlang, der vom Dorf her kam, auf einem Pfad, der zum Bach hin ein Geländer hatte. Das Wasser toste und tobte; aber nun kannte er sich wieder aus. Als er um einen weißen Kalkfelsen trat – er wuchs aus dem schier schwarzen Weideboden heraus und glich der Hand eines Riesen mit vier Fingern, die in den Himmel griffen –, sah er das Dorf. Die Stadel, die auf Steinpilzen standen, und die Häuser, alle aus uraltem Holz und mit winzigen Fenstern wie Schießscharten. Die Sonne hing tief hinter ihren Schattenrissen. Karl atmete ein und aus. Er hatte es geschafft! Er war doch nicht langsamer als die Sonne gewesen, nicht viel langsamer jedenfalls. Er winkte ihr zu, und sie versank so schnell hinter den Dächern, als risse sie jemand in den Abgrund. Ihr letzter Strahl, von tief unten her, ließ für einen kurzen Augenblick den Turmhahn der Kirche aufleuchten, der über die Giebel eines näheren Hauses lugte. Karl ging in seine Richtung – wo der Hahn war, musste auch die Kirche sein –, durch eine Gasse, die zwar sorgsam mit runden Steinen gepflastert war, dennoch aber schräg und quer und auf und nieder führte. Wie eine erstarrte Welle. Zwischen den Häusern wuchsen Brennnesseln, und Tümpel mitten auf dem Weg verströmten einen ätzenden Geruch. Pisse, Maultierpisse. Karl sprang von einer trockenen Stelle zur andern und trat doch mehr als einmal in die stinkende Brühe. Endlich, mit verschmierten Schuhen, kam er zum Kirchplatz. Die Sonne war weg, aber der Himmel warf ein letztes Licht auf die burghohen Häuser, die im Halbrund standen und, wie jetzt auch Karl, über das steil abfallende Kopfsteinpflaster auf den Gasthof und die Kirche hinabsahen, die weit unten wie auf einer Bühne standen, die Kirche an ihrem rechten und der Gasthof an ihrem linken Ende. Dort waren auch die Maultiere, an Pflöcke und Holzstangen gebunden, die Köpfe in Futtersäcken. Sofort sah Karl auch die Särge. Er hatte, genau wie von den Maultieren, von ihnen gewusst und erschrak also nicht, beinah gar nicht, als er die ersten vor einem der Häuser liegen sah. Drei menschenlange Kisten, nebeneinander. Er blickte von Haus zu Haus. Vor jedem, jedem!, lagen solche Särge, die meisten aus altem, verwittertem Holz, einige aber auch hell und frisch gehobelt. Sie standen – hier fünf oder zehn, dort gerade zwei – sorgsam übereinandergestapelt, in Reih und Glied. Vor dem einen oder andern Haus aber – dem, vor dem Karl stand, zum Beispiel, es hatte eine windschiefe Tür und mit Schindeln abgedichtete Fenster ohne Gläser – waren die Särge achtlos übereinandergeworfen. »Mit den Särgen ist es wie mit den Miststöcken im Emmental«, hatte Karls Vater gesagt. »Du siehst den Stapel, und du weißt, wes Geistes Kind die Bewohner sind.« Er zum Beispiel hätte nie eine Frau geheiratet, die aus einem Haus mit nachlässig gestapelten Särgen gekommen wäre. – Jeder im Dorf kriegte bei seiner Geburt einen Sarg, in den er dann, wenn seine Zeit gekommen war, gelegt wurde. Bis dahin wartete der Sarg vor dem Haus. Jeder hatte seinen Sarg, jede ihren. Dörfler und Dörf&lerinnen ohne Sarg gab es nicht. Natürlich hatte auch Karl den seinen bekommen. Er sah ihn in der Mitte des Stapels vor dem Gasthaus stecken, einem regelrechten Sarggebirge, eine gehobelte Kiste aus einem fast roten Holz, das inzwischen so farblos wie alle andern Sarghölzer geworden war. Der Wirt des Gasthauses, der in einer Ecke des Schankraums auch die Dorfpost betrieb, war sein Onkel. Der Bruder seines Vaters. Mit ihm und seinem Haus waren so viele verbunden, dass die Särge das Haus wie eine Mauer