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Die antike Sagenwelt ist ein kultureller Schatz, der auch aus unserer modernen Welt nicht wegzudenken ist: Die Geschichten, die Mythen und Gestalten, um die sich die Legenden ranken, sind unvergleichlich. Sie werden in immer neuen Formen gestaltet: im Theater, in der Literatur und in der bildenden Kunst. Die vielen Abbildungen dieses Lexikons, sorgfältig zusammengetragen aus der gesamten abendländischen Kunstgeschichte, zeigen, wie tief die antike Mythologie in der Vorstellungswelt der Menschen zu allen Zeiten verwurzelt war und es bis heute ist. Als achtzehnjähriger Medizinstudent entdeckte Axel Munthe die Insel Capri und die traumhaft gelegene kleine Kapelle San Michele. Er verliebt sich in diesen einzigartigen Ort und träumt davon, sich irgendwann genau hier, vor der atemberaubenden Kulisse der Bucht von Neapel, ein Haus ganz nach seinen Wünschen zu bauen. Er arbeitet hart, hat Erfolg als Modearzt des europäischen Adels, aber er behandelt auch die Armen, die Diphteriekranken am Montparnasse, die Typhusfälle unter schwedischen Arbeitern und die an Cholera Leidenden bei einer Epidemie in Neapel. Endlich, zwölf Jahre nach seinem ersten Besuch auf der Insel, beginnt er mit dem Bau seiner weißen Traumvilla. In lebendigen Geschichten und Anekdoten erzählt Axel Munthe von seinem reichen Leben auf Capri.
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Das Buch
Als 18jähriger Medizinstudent entdeckt Axel Munthe im Jahr 1875 die Insel Capri und die herrlich gelegene kleine Kapelle San Michele. Er verliebt sich in diesen einzigartigen Ort und träumt davon, sich irgendwann genau hier, vor der atemberaubenden Kulisse der Bucht von Neapel, ein Haus ganz nach seinen Wünschen zu bauen. Er arbeitet hart und hat Erfolg als Modearzt des europäischen Adels, aber er behandelt auch die Armen, die Diphtheriekranken am Montparnasse, die Typhusfälle unter schwedischen Arbeitern und die an Cholera Leidenden bei einer Epidemie in Neapel. Endlich, zwölf Jahre nach seinem ersten Besuch auf der Insel, kann Axel Munthe mit dem Bau seiner weißen Traumvilla beginnen. In seinen berühmten Memoiren, die schon unzählige Italienliebhaber und Capribesucher begeistert verschlungen haben, portraitiert Axel Munthe liebevoll die Menschen, denen er begegnet, läßt reales Erleben mit Visionen und Träumen zusammenfließen, mischt wirklich Geschehenes mit romanhaft Verfremdetem. So schuf er eines der meistgelesenen Erinnerungsbücher des letzten Jahrhunderts, das bis heute nichts an seiner Faszination verloren hat.
Der Autor
Axel Munthe wurde 1857 als Sohn eines Apothekers im schwedischen Oskarshamn geboren. Er studierte Medizin in Uppsala und Paris und praktizierte als Arzt in Paris, Rom, Stockholm und anderen europäischen Städten. Axel Munthe erblindete im späteren Leben und starb am 11. Februar 1949 in einem Seitenflügel des königlichen Schlosses in Stockholm, wo er schon seit Jahren als Gast König Gustavs gelebt hatte.
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ISBN 978-3-8437-0802-9
Ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch
1. Auflage Dezember 20092. Auflage 2012
© dieser Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2007
© der deutschen Ausgabe 1931 by Paul List Verlag, Leipzig
Die Originalausgabe erschien 1929 unter dem Titel
The Story of San Michele in London.
Die schwedische Ausgabe erschien 1930 unter dem Titel
Boken om San Michele in Stockholm.
Umschlagkonzept: sempersmile Werbeagentur GmbH, München
Umschlaggestaltung: bürosüdo GmbH, München
(nach einer Vorlage von Sabine Wimmer, Berlin)
Titelabbildung: © Massimo Listri / CORBIS
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eBook: CPI – Clausen & Bosse, Leck
1. Jugend
Gioia
Maria Porta-Lettere
La Bella Margherita
Don Dionisios Wein
Im Garten von Mastro Vincenzo
Die Kapelle
Der Mann im roten Mantel
Der Vertrag
2. Quartier Latin
Arbeit, Arbeit, Arbeit!
Der unerbittliche Gegner
Der Schlaftrunk der Ewigkeit
Der Saal in Ste. Claire
Wieder Arbeit
Arbeit
3. Avenue de Villiers
Kolitis
Die Gräfin
Faubourg St. Germain
Puppen
Die Familie Salvatore
4. Ein Modearzt
Monsieur l’Abbé
Glück
Asyl Ste. Anne
Menagerie Pezon
Jacques
5. Patienten
Hunde
Tollwut
Pasteur
Die Muschiks
Der skandinavische Maler
Eine falsche Diagnose
Vivisektion
Der Affendoktor
6. Chateau Rameaux
Diphtherie
Auf dem Heimweg
Ferien
Das Eichhörnchen
Die Bärengeschichte
Die Lerche
Vicomte Maurice
Im Rauchzimmer
Der Dorfarzt
Spratts Hundekuchen
Romeo und Julia
Der vieux marcheur
Wieder in Paris
Das Gespenst
7. Lappland
Die »Kleinen Leute«
Die Lappenhunde
Der Heiler
Ristin
Der alte Bär
Zwei vornehme Reisende
Nebel
Onkel Lars und Mutter Kerstin
Riesen und Trolle
Das Talglicht und der Wichtelmann
Erinnerungen aus der Kinderstube
Sechshundert Jahre alt
Die goldene Dose
Nächtliche Gäste
Cholera in Neapel
8. Neapel
Angst
Die Straßenreiniger
Die Farmacia di San Gennaro
Doktor Villari
Die Osteria dell’Allegria
Mariuccia
Das Kloster der Sepolte Vive
Suora Ursula
Die Äbtissin
Der Liebestrank des Todes
9. Wieder in Paris
Mein Freund Norström
Der Arzt und seine Kranken
Frauen
Und nochmals Frauen
Mademoiselle Flopette
10. Der Leichenbegleiter
In Heidelberg
Der russische General
Eine angenehme Reise
Unter Kollegen
Waldmann und der Kapitän
Zu Besuch bei meinem Bruder
Die letzte Beerdigung, der ich beiwohnte
11. Madame Réquin
Die Diamantenbrosche
12. Der Riese
Die Hochzeit des Riesen
Im Kittchen
Zwei Uhrensammler
13. Mamsell Agata
»Armer gnädiger Herr«
Der Hausdrache
Der schwedische Pfarrer
Der Held von Gravelotte
14. Vicomte Maurice
Nochmals Loulou
Im Gespräch mit Mr. l’Abbé
Der Graf und die Gräfin
Armer Tom
Im Wald von St. Cloud
Immer wieder Glück
15. John
Nochmals Madame Réquin
Der blauäugige Knabe
Der Curé von Villeroy
Joséphine
Mamsell Agatas Entlassung
Eine Konsultation in London
Die schöne Dame
Johns Pflegerin
»Mama! Mama!«
Die Eigentümerin der Diamantbrosche
16. Eine Reise nach Schweden
Im Nachtzug nach Köln
Hamlet in Lund
17. Ärzte
Über das Schreiben von Rechnungen
Reformen an der Gesellschaft
Honorare
Charcot
Einige berühmte Ärzte
Ruhekur in der Schweiz
Besteigung des Montblanc
Lawine
Wieder in Paris
18. La Salpêtrière
Guy de Maupassant
Hinter den Kulissen der Oper
Ivonne
Die Dienstagsvorlesungen bei Charcot
»Ignotus«
Geneviève
Posthypnotische Suggestion
Mißerfolg
19. Hypnose
Hypnotische Suggestion
Gefahren der Hypnose
20. Schlaflosigkeit
Massage
Wieder der Don Quichotte!
Abstieg vom Erfolg
Der Doppelgänger
21. Das Wunder des heiligen Antonius
Der Baumeister von San Michele
Mein werdendes Heim
Das Telegramm
Der schwedische Gesandte
Ein neuer Gesichtspunkt
22. Piazza di Spagna
Im Keatshause
Einige meiner Kollegen
Billy und sein Herr
Dr. Campbells Frau
Billy kommt zu mir
23. Noch mehr Ärzte
Mrs. Jonathan
Mrs. Jonathans Baby
Deserteure
Noch ein Modearzt
Tod und Jenseits
Das Krankenhaus der Porta Pia
Ein gefährlicher Rivale
24. Im Grand Hotel
Das neue Serum
Der Pittsburger Millionär
Der Scheck über tausend Pfund Sterling
Der protestantische Friedhof
Vierundzwanzig Stunden Schlaf
Mrs. Charles Washington Perkins jr.
25. Les petites sæurs des pauvres
Monsieur Alphonse
La Mère Générale
Die Chimäre von Notre-Dame
26. Miss Hall
In der Villa Borghese
Aus Miß Halls Tagebuch
Orden
27. Messina
Hunger und Ohnmacht
Mein gütiger Gastgeber
Nach Reggio
Magna Graecia
28. Das Ende der römischen Saison
Hysterische Frauen
Annas Photographien
Nur Damen
Nochmals Mrs. Perkins jr.
Fräulein Klara und Tante Sally
Die Russin und meine Eule
29. Sommer
Wieder zu Hause
Besichtigung von San Michele
Das Bankett
»Sempre lui!«
Der Traum
Das große Abenteuer
In meiner Abwesenheit
Billy bricht aus
Don Giacinto
Der Erzfeind
Il Demonio
30. Der Vogelberg
Arme Vögel
Die Entdeckung des Teufels
Der Metzger
31. Das Christkind
»il Bambino!«
Jene Nacht auf Golgatha
32. Das Fest des heiligen Antonius
Evviva il Santo! Evviva la Musical
Die Prozession
Empfang in San Michele
Abschieds-Serenade
33. Die Regatta
Die Blaue Grotte
Tiberius
Damecuta
Lord Dufferins Verwandte
»Lady Victoria«
Im Bootshaus
Der alte Pacciale
34. Der Anfang vom Ende
Schubert-Frühling
IM ALTEN TURM
›Der letzte Widerstand‹
Das goldene Licht
San Francesco
Wolf
Der Schlaftrunk der Ewigkeit
Thanatos
Der greise Erzengel
Erschaffung der Welt
Der Krieg
Il poverello
Die Gottes-Mutter
Archangelo Fuscos Sonntagskleider
Die Halle des Osiris
Habakuk
Die Glocken von Assisi
Ich sprang an Land, als das Sorrentiner Boot sein lateinisches Segel einholte. Jungs spielten in Scharen zwischen umgekippten Booten und badeten die blanken Bronzeleiber in der Brandung. Alte Fischer in roten phrygischen Mützen flickten vor den Schuppen ihre Netze. Jenseits der Landungsstelle stand ein halbes Dutzend gesattelter Esel, Blütenzweige im Zaumzeug. Bei ihnen schwatzten und sangen ebenso viele Mädchen, die silberne »Spadella1« in den schwarzen Haaren und ein rotes Tuch um die Schultern. Das Eselchen, das mich hinauf nach Capri tragen sollte, hieß Rosina, und das Mädchen hieß Gioia. Ihre schwarzen Augen leuchteten in feuriger Jugend, ihre Lippen waren rot wie die Korallenschnur an ihrem Halse, und wenn sie lachte, blitzten die starken weißen Zähne wie Perlen. Sie sagte, sie sei erst fünfzehn – und ich sagte mir, daß ich jünger sei als je zuvor. Aber Rosina war alt, »è antica«, sagte Gioia. So glitt ich aus dem Sattel und erklomm leicht den gewundenen Pfad zum Dorfe. Vor mir auf nackten Füßen tanzte Gioia, blumenumkränzt wie eine junge Bacchantin, hinter mir stolperte die alte Rosina in ihren zierlichen schwarzen Schuhen, tief in Gedanken, geneigten Hauptes und mit hängenden Ohren. Ich hatte zum Denken keine Zeit, mein Kopf war voll von staunendem Entzücken, mein Herz voll Lebensfreude, die Welt war schön, und ich war achtzehn. Der Weg wand sich durch Ginsterbüsche und blühende Myrten. Hier und da hoben aus duftenden Gräsern kleine Blumen ihre anmutigen Köpfe. Viele von ihnen hatte ich nie gesehen im Lande Linnés.
»Wie heißt die Blume?« fragte ich Gioia. Sie nahm sie mir aus der Hand, sah sie zärtlich an und sagte: »Fiore2!« »Und diese?« Sie betrachtete sie mit der gleichen Zärtlichkeit und sagte: »Fiore!« »Und diese?«
»Fiore! bello bello!«
Sie pflückte duftige Myrten, die sie mir aber nicht geben wollte. Sie sagte, die wären für San Costanzo, den Schutzpatron von Capri, der ganz aus Silber war und so viele Wunder getan hatte. San Costanzo! bello! bello!
In langer Reihe näherten sich uns Mädchen, Tuffsteine auf den Köpfen tragend. Wie die Karyatiden vom Erechtheum schritten sie in stolzer Prozession. Eine von ihnen gab mir lächelnd eine Orange. Es war Gioias Schwester, und schien mir noch schöner als sie. Ja, es waren acht Geschwister zu Hause – und zwei »in Paradiso«. Der Vater war draußen, Korallenfischer in »Barbaria3«! Seht, die schöne Korallenschnur – die er gerade geschickt hat. »Che bella collana, bella, bella!«
»Und du selbst bist auch schön, Gioia, bella bella!«
»Ja«, sagte sie.
Mein Fuß stolperte über eine zerbrochene Marmorsäule, »Roba di Timberio4!« erklärte Gioia, »Timberio cattivo5, Timberio mal occhio6, Timberio camorrista7!« und sie spie auf den Marmor.
»Ja«, sagte ich, in frischer Erinnerung an Tacitus und Sueton, »Tiberio cattivo!«
Wir bogen in die Landstraße ein und erreichten die Piazza. Ein paar Seeleute standen an der Brüstung, die zum Meer hinausschaut – ein paar schläfrige Capresen saßen vor Don Antonios Osteria und ein halbes Dutzend Priester auf den Kirchenstufen; sie gestikulierten wild in lebhafter Unterhaltung: »Moneta! Moneta! Molto moneta; Niente moneta!« Gioia lief und küßte Don Giacinto die Hand, der ihr Beichtvater war und ein wahrer Heiliger – wenn er auch nicht so aussah. Sie ging zweimal im Monat beichten, wie oft ging ich?
Überhaupt nicht! Cattivo! Cattivo!
Würde sie Don Giacinto erzählen, daß ich ihre Wange geküßt hatte, dort unter den Zitronenbäumen?
Natürlich nicht!
Wir kamen durchs Dorf und standen an der Punta Tragara.
»Ich muß gleich auf die Spitze dieses Felsens klettern!« sagte ich und zeigte auf den steilsten der drei Faraglioni, die zu unseren Füßen wie Amethyste strahlten. Aber Gioia war sicher, daß ich es nicht konnte. Ein Fischer hatte es versucht, dort Möweneier zu rauben, aber er war zurückgeschleudert worden ins Meer von einem bösen Geist, der dort hauste – in Gestalt einer blauen Eidechse – blau wie die Blaue Grotte – und den goldenen Hort bewachte, den einst Timberio selbst dort verbarg.
Über dem freundlichen Dörfchen gegen den westlichen Himmel ragte düster der Umriß des Monte Solaro auf, schroff gespalten und unzugänglich.
»Da muß ich gleich hinauf«, sagte ich.
Aber Gioia gefiel der Plan keineswegs. Ein steiler Pfad, 777 Stufen, die Timberio selbst in den Fels geschlagen hatte, führte an der Flanke des Berges empor, und auf halber Höhe in einer dunklen Schlucht hauste ein furchtbarer Werwolf – der schon mehrere Cristiani verschlungen hatte.
Am Ende der Stufen war Anacapri; aber nur »gente di montagna8« wohnten dort – lauter sehr böse Leute; kein forestiere9 ging je dahin, und sie war auch nie dort gewesen. Ich sollte doch lieber zur Villa Timberio klettern oder zum Arco Naturale oder zur Grotta Matromania.
Nein – ich hätte keine Zeit – ich müßte gleich hinauf, gerade auf diesen Berg.
Zurück zur Piazza! als die verrosteten Glocken des alten Campanile Mittag läuteten und kündeten, daß die Makkaroni fertig seien. Wollte ich nicht wenigstens erst etwas essen unter der großen Palme des Hotels Pagano? Drei Gänge und Wein nach Belieben, für eine Lira? Nein – ich hatte keine Zeit, ich mußte gleich auf diesen Berg. »Addio, Gioia, bella, bella! Addio, Rosina!« »Addio, addio, e presto ritorno!« Ach, das presto ritorno!
»E un pazzo inglese10« war das letzte, was ich von Gioias roten Lippen hörte, als ich im Banne meines Schicksals die phönizischen Stufen nach Anacapri hinaufeilte. Unterwegs überholte ich eine alte Frau, die einen großen Korb Orangen auf dem Kopf trug. »Buon giorno, Signorino.« Den Korb niederstellend, gab sie mir eine Orange. Auf den Früchten lag, in ein rotes Tuch geknüpft, ein Bündel mit Briefen und Zeitungen. Die Alte war Maria Porta-Lettere, die zweimal wöchentlich die Post nach Anacapri trug. Sie sollte später meine Freundin fürs Leben werden, ich sah sie mit fünfundneunzig Jahren sterben. Sie kramte unter den Briefen, wählte den größten und bat mich, ihr zu sagen, ob er nicht für Nannina la Caprara11 wäre, die so sehnsüchtig »la lettera« von ihrem Mann in Amerika erwartete? Nein, er war es nicht. Vielleicht dieser? Nein, der war für Signora Desdemona Vacca.
»Signora Desdemona Vacca«, wiederholte die Alte ungläubig. »Vielleicht meinen Sie ›la moglie dello scarteluzzo12««, sagte sie sinnend. Der nächste Brief war für Signor Ulisse Desidero. »Ich denke, Sie meinen Capolimone13«, sagte die alte Maria. »Der hatte genau solchen Brief vor einem Monat.« Der nächste Brief war für Gentilissima Signorina Rosina Mazzarella. Diese Dame schien schwieriger festzustellen. »War es la Cacciacavallara14 oder la Zopparella15? Oder la Capatosta16? Oder la femmina antica17? Oder Rosinella pane asciutto18? Oder vielleicht la Fesseria19?« schlug eine andere Frau vor, die uns eben einholte, einen Korb mit Fischen auf dem Kopf. Ja – es konnte für la Fesseria sein, wenn es nicht für die Frau von pane e cipolla20 wäre. Aber war kein Brief da für Pepinella n’coppo u camposanto21 oder für Mariucella Caparossa22 oder für Giovannina amazzacane23, die alle »la lettera« aus Amerika erwarteten? Nein, es tat mir leid, die waren nicht dabei. Die zwei Zeitungen waren für il Reverendo parroco Don Antonio di Giuseppe und il Canonico Don Natale di Tommaso; das wußte sie, denn sie waren die einzigen Abonnenten im Dorfe. Der Parroco war ein sehr gelehrter Mann, und er war es, der immer herausbekam, für wen die Briefe waren. Aber heute war er in Sorrento beim Erzbischof zu Besuch, und deshalb hatte sie mich gebeten, die Aufschriften zu lesen. Maria wußte nicht, wie alt sie war, sie wußte nur, daß sie die Post trug, seit sie fünfzehn war – als ihre Mutter es aufgeben mußte. Lesen konnte sie natürlich nicht. Als ich ihr erzählte, daß ich am Morgen mit dem Postschiff von Sorrento gekommen sei und seitdem nicht gegessen hätte, schenkte sie mir noch eine Orange, die ich mit der Schale verschlang, und die andere Frau gab mir aus ihrem Korb gleich ein paar frutti di mare, die mich furchtbar durstig machten. Gab es ein Gasthaus in Anacapri? Nein, aber Anarella, die Küsterfrau, würde mir guten Ziegenkäse und ein Glas herrlichen Wein geben aus dem Weinberg des Priesters Don Dionisio, ihres Onkels – ein wunderbarer Wein! Außerdem war la bella Margherita da, von der ich natürlich gehört hätte, und daß ihre Tante »un lord inglese« geheiratet hatte. Nein – das hatte ich nicht – aber ich wäre sehr begierig, la bella Margherita kennenzulernen.
Endlich erreichten wir das Ende der 777 Stufen und kamen durch einen Torbogen. Die schweren Eisenangeln seiner einstigen Zugbrücke waren noch an den Felsen festgeschmiedet. Wir waren in Anacapri. Die ganze Bucht von Neapel lag zu unseren Füßen, umrahmt vom Ischia, Procida, dem pinienbewaldeten Posilippo, der flimmernden weißen Linie von Neapel, dem Vesuv mit seiner rosigen Rauchwolke, der Sorrentiner Ebene im Schutze des Monte Sant’ Angelo und dem fernen, noch schneebedeckten Apennin. Gerade über unseren Köpfen ragte auf steilem Felsen, wie ein Adlernest angeklammert, eine kleine verfallene Kapelle. Die Dachkuppel war eingestürzt, aber große Blöcke des Mauerwerks, das in seltsamem Muster wie symmetrisches Netzwerk gefügt war, stützten noch die bröckelnde Wölbung.
»Roba di Timberio«, erklärte die alte Maria.
»Wie heißt die kleine Kapelle?« fragte ich begierig.
»San Michele.«
»San Michele, San Michele!« hallte es in meinem Herzen wider. Unter der Kapelle im Rebenland stand ein alter Mann und grub tiefe Furchen für den jungen Wein. »Buon giorno, Mastro Vincenzo!« Ihm gehörten der Weinberg und das Häuschen daneben. Er hatte es mit seinen Händen erbaut, aus Ziegeln und Steinen der »Roba di Timberio«, die überall im Garten umherlag. Maria Porta-Lettere erzählte ihm, was sie von mir wußte, und Mastro Vincenzo lud mich ein, in seinem Garten zu sitzen und ein Glas Wein zu trinken. Ich sah auf das Häuschen und die Kapelle – mein Herz begann so heftig zu klopfen, daß ich kaum reden konnte.
»Ich muß gleich da hinauf«, sagte ich zu Maria. Aber sie meinte, ich sollte lieber erst mit ihr gehen und etwas essen, sonst bekäme ich nichts mehr. Hunger und Durst ließen mich zögernd ihrem Rat folgen. So winkte ich Mastro Vincenzo zu, daß ich bald wiederkäme. Wir gingen durch einsame Wege und standen bald auf einer Piazetta. »Ecco la bella Margherita.«
La bella Margherita stellte eine Flasche mit rosenfarbigem Wein, dazu einen Blumenstrauß auf den Tisch in ihrem Garten und meldete, die Makkaroni wären in fünf Minuten fertig. Sie war schön wie Tizians Flora, die Züge herrlich geprägt – das Profil rein griechisch. Bald brachte sie einen Riesenteller Makkaroni, setzte sich zu mir und betrachtete mich mit lächelnder Neugierde. »Vino del Parroco«, meinte sie stolz, sooft sie mein Glas füllte. Ich trank aufs Wohl des Parroco, auf ihr Wohl und auf das ihrer dunkeläugigen Schwester, la bella Giulia, die mit einer Handvoll Orangen herankam, die ich sie im Garten pflücken sah. Ihre Eltern waren tot, ihr Bruder Andrea war Seemann, und Gott weiß, wo er sein mochte; aber ihre Tante lebte in einer eigenen Villa in Capri. Natürlich wußte ich ja, daß sie einen »lord inglese« geheiratet hatte. Ja – gewiß wußte ich das, ich hatte bloß ihren Namen vergessen. »Lady Grantley«, sagte la bella Margherita stolz. Es fiel mir gerade noch ein, auf ihr Wohl zu trinken, danach erinnere ich mich an gar nichts mehr – nur daß der Himmel saphirblau war, der Wein des Parroco rubinrot und la bella Margherita neben mir saß mit goldenem Haar.
»San Michele«, klang es plötzlich in meinem Ohr – »San Michele«, hallte ein Echo tief in meinem Herzen!
»Addio, bella Margherita!« »Addio, e presto ritorno!« Ach, das »presto ritorno«!
Ich ging die leeren Gassen zurück und steuerte so gerade wie möglich auf mein Ziel los. Es war die heilige Stunde der Siesta, das ganze Dörfchen schlief. Die Piazza lag vereinsamt im grellen Sonnenlicht. Die Kirche war zu, nur aus der halbgeöffneten Tür der Gemeindeschule trompetete die Stentorstimme des Rev. Canonico Don Natale in schläfriger Eintönigkeit durch die Stille. »Io mi amazzo tu ti amazzi, egli si amazza, noi ci amazziamo, voi vi amazzate, loro si amazzano24«, wiederholte in rhythmischem Chor etwa ein Dutzend barfüßiger Jungen, die in einem Kreis am Boden zu Füßen ihres Lehrers kauerten.
Weiter unten am Wege stand eine stattliche römische Matrone. Das war Anarella, die mir freundlich winkend bedeutete, hereinzukommen. Warum war ich zu la bella Margherita gegangen statt zu ihr? Wußte ich denn nicht, daß ihr Cacciacavallo der beste Käse im ganzen Dorf war? Und was den Wein anlangte? Jedermann wußte, daß der Wein des Parocco nicht zu vergleichen war mit dem des Rev. Don Dionisio. »Altro che il vino del Parroco!« setzte sie mit vielsagendem Zucken ihrer breiten Schultern hinzu. Als ich unter ihrer Pergola saß vor einer Flasche von Don Dionisios vino bianco, dämmerte es mir, sie könnte recht haben, doch ich wollte gerecht sein und mußte die ganze Flasche austrinken, ehe ich ein endgültiges Urteil abgab. Aber als Gioconda, ihre lächelnde Tochter, mir das zweite Glas aus der neuen Flasche eingoß, hatte ich entschieden. Ja – Don Dionisios vino bianco war der beste! Er sah aus wie flüssiger Sonnenschein, er schmeckte wie der Nektar der Götter, und Gioconda sah aus wie eine junge Hebe, wie sie mein leeres Glas füllte. »Altro che il vino del Parroco! sagte ich es dir nicht?« lachte Anarella. »E un vino miracoloso!« Ja freilich, wundertätig, denn plötzlich sprach ich fließend italienisch mit schwindelerregender Zungenfertigkeit unter lautem Gelächter von Mutter und Tochter. Ich empfand große Freundschaft für Don Dionisio; sein Name gefiel mir, sein Wein gefiel mir, ich meinte, ich möchte ihn gern kennenlernen. Nichts leichter, denn er sollte am Abend in der Kirche predigen für die figlie di Maria.
»Er ist sehr gelehrt«, sagte Anarella. »Er kennt die Namen aller Märtyrer und Heiligen auswendig und ist sogar in Rom gewesen und hat dem Papst die Hand geküßt.« War sie denn in Rom gewesen? Nein. Aber in Neapel? Nein. Nur einmal in Capri, an ihrem Hochzeitstage, aber Gioconda war nie da gewesen, in Capri waren lauter gente malamente25. Ich sagte, ich wüßte Bescheid über den Schutzpatron von Capri, wieviel Wunder er getan, wie schön er war, aus massivem Silber. Es entstand ein verlegenes Schweigen.
»Ja, Sie sagen, Ihr San Costanzo wäre ganz aus Silber«, stieß Anarella hervor und zuckte verächtlich die breiten Schultern, »aber wer weiß, chi lo sa?« Und was seine Wunder anlangte, die konnte man an den Fingerspitzen zählen, während Sant’ Antonio, der Schutzpatron von Anacapri, schon mehr als hundert getan hätte. Altro che San Costanzo! Ich war auf einmal ganz für Sant’ Antonio gewonnen und hoffte von ganzem Herzen auf ein neues Wunder, das mich so bald wie möglich wieder in sein bezauberndes Dörfchen führen würde. Die gute Anarella hatte so viel Vertrauen in seine Wunderkraft, daß sie es glatt ablehnte, Geld anzunehmen.
»Pagherete un’ altra volta, Ihr werdet ein andermal bezahlen.«
»Addio, Anarella, addio, Gioconda!«
»Arrivederla, presto ritorno, Sant’ Antonio vi benedica! La Madonna vi accompagni26!«
In seinem Weinberg arbeitete der alte Mastro Vincenzo noch fleißig. Der Boden duftete, in den er für den jungen Wein tiefe Furchen schlug. Manchmal ergriff er eine Platte aus buntem Marmor oder ein Stück rotes Stuckwerk und warf es über die Mauer. »Roba di Timberio«, sagte er. Ich setzte mich auf eine zerbrochene Säule aus rotem Granit zu meinem Freunde. »Era molto duro, läßt sich schwer zerschlagen«, sagte Mastro Vincenzo. Zu meinen Füßen scharrte ein Huhn nach Würmern, und plötzlich lag da vor meiner Nase eine Münze. Ich griff nach ihr und erkannte auf den ersten Blick den edlen Kopf des Augustus »Divus Augustus Pater«. Mastro Vincenzo sagte, sie sei keinen Baiocco27 wert; ich habe sie noch. Er hatte den Garten selbst angelegt und all die Reben und Feigenbäume mit seinen Händen gepflanzt. »Schwere Arbeit«, sagte er, und hielt mir die harten, hornigen Hände hin, weil der ganze Boden voll Roba di Timberio sei. Säulen, Kapitelle, zerbrochene Statuen und teste di cristiani28; er mußte tief graben und all das Zeug wegschleppen, ehe er seine Reben pflanzen konnte. Die Säulen hatte er gespalten zu Treppenstufen. Gewiß hatte er einige Marmorstücke brauchen können beim Bau seines Hauses. Das übrige hatte er in den Abgrund geworfen. Aber Glück hatte er doch gehabt, als er plötzlich ein großes unterirdisches Zimmer unter seinem Hause fand. Es hatte rote Wände, genau wie das Stück da drüben unter dem Pfirsichbaum, und die waren bemalt mit lauter splitternackten cristiani rutti spogliati, ballando come dei pazzi29, in den Händen Blumen und Weintrauben. Es hatte ihn Tage gekostet, all die Malereien abzukratzen und die Wände mit Zement zu bedecken, »aber schließlich war das geringere Mühe, als den Felsen zu sprengen und eine neue Zisterne zu bauen«, sagte Mastro Vincenzo mit schlauem Lächeln. Jetzt würde er alt und könnte sich nicht mehr so um seinen Weinberg kümmern. Sein Sohn, der auf dem Festland lebte mit drei Kühen und zwölf Kindern, wünschte, er solle das Haus verkaufen und zu ihm ziehen. Wieder begann mein Herz zu klopfen. Gehörte die Kapelle auch ihm? Nein, die gehörte niemandem, die Leute sagten sie wäre von Geistern bewohnt. Er selbst hatte dort einmal als Knabe einen hageren Mönch gesehen, der an der Brüstung lehnte, und ein paar Seeleute, die eines Abends spät die Stufen heraufkamen, hatten Glockenklang in der Kapelle gehört. Der Grund für dies alles, erklärte Mastro Vincenzo, war der: Als Timberios Palast hier stand, hatte er »fatto amazzare Gesù Cristo«, Jesus Christus umbringen lassen, und seitdem kehrte seine fluchbeladene Seele oft zurück und erbat Vergebung bei den Mönchen, die unter der Kapelle begraben waren. Man erzählte sich, er käme oft als große schwarze Schlange. Die Mönche wurden amazzati von einem Räuber, der Barbarossa hieß, mit seinen Schiffen die Insel anlief und alle Frauen in Sklaverei verschleppte, die ihre Zuflucht droben in dem Schlosse gesucht hatten. Deshalb hieß das Schloß nun Castello Barbarossa. Padre Anselmo, der Einsiedler, ein gelehrter Mann und außerdem mit ihm verwandt, hatte ihm das alles erzählt und auch von den Engländern, die aus der Kapelle eine Festung gemacht hatten und die dann ihrerseits von den Franzosen »amazzati« wurden.
»Sieh«, sagte Mastro Vincenzo, auf einen Haufen Kanonenkugeln auf der Gartenmauer deutend, und »hier«, fügte er hinzu und hob den Knopf einer englischen Uniform auf. »Die Franzosen«, fuhr er fort, »hatten ein großes Geschütz bei der Kapelle aufgestellt und beschossen Capri, das die Engländer hielten.«
»Das war gut«, schmunzelte er, »die Capresen sind schlechte Leute.«
später hatten die Franzosen die Kapelle als Pulvermagazin verwandt. Deshalb nannte man sie auch noch »La Polveriera«. Nun war es bloß noch eine Ruine, aber ihm war sie nützlich gewesen, denn er hatte fast alle Steine zu seiner Gartenmauer dort geholt.
Ich kletterte über die Mauer und ging den schmalen Weg zur Kapelle empor. Der Boden war bis in Mannshöhe mit den Trümmern der eingestürzten Wölbung bedeckt, die Wände umsponnen von Efeu und wildem Geißblatt. Hunderte von Eidechsen spielten zwischen großen Büschen von Myrten und Rosmarin, nur ab und zu innehaltend, um mich mit glänzenden Augen und bebenden Kehlen anzusehen. Aus einer dunklen Ecke erhob sich mit lautlosem Flügelschlag eine Eule, und eine große schwarze Schlange, die auf dem besonnten Mosaikboden der Terrasse schlief, entrollte langsam den schwarzen Knoten ihres Leibes, zischte drohend nach dem Eindringling und glitt in die Kapelle zurück. War das der Geist des finsteren alten Kaisers, der noch die Ruinen heimsuchte, wo seine kaiserliche Villa stand?
Zu meinen Füßen lag die Insel in ihrer ganzen Schönheit. Wie konnte er an solchem Orte leben und so grausam sein, dachte ich. Wie konnte seine Seele so finster sein, bei so strahlendem Glanz über Himmel und Erde! Wie konnte er jemals diesen Ort verlassen und sich zurückziehen in jene andere, noch unzugänglichere Villa auf den westlichen Felsen, die noch seinen Namen trägt, wo er die drei letzten Lebensjahre verbrachte!
Auf einem solchen Erdenfleck zu leben und zu sterben, wenn wirklich der Tod das Glück eines solchen Lebens besiegen konnte! Welch kühner Traum hatte mein Herz so heftig schlagen lassen, als mir eben Mastro Vincenzo erzählte, daß er alt und müde würde und daß sein Sohn ihn bat, das Haus zu verkaufen? Welch wilde Gedanken ließ meine überschwengliche Phantasie in meinem Gehirn auftauchen, als er sagte, die Kapelle gehöre niemandem?
Warum nicht mir? Warum sollte ich nicht Mastro Vincenzos Haus kaufen, Haus und Kapelle durch Rebengewinde und Zypressengänge verbinden, mit weißen Loggien, auf Säulen ruhend, mit Marmorbildern von Göttern und Erzgestalten von Kaisern … Ich schloß die Augen, um die schönen Bilder festzuhalten, die Wirklichkeit verblaßte in traumhaftem Dämmerlicht.
Eine hohe Gestalt in rotem Mantel stand an meiner Seite.
»Es soll dein sein«, sagte eine klangvolle Stimme, und eine Hand beschrieb einen Kreis über das leuchtende Land. »Kapelle, Garten, Haus und der Berg mit seinem Schloß, alles soll dein sein, wenn du bereit bist, den Preis dafür zu zahlen!!«
»Wer bist du, Phantom?«
»Ich bin der unsterbliche Genius dieser Stätte. Zeit bedeutet nichts für mich. Vor zweitausend Jahren stand ich, wo wir stehen, an der Seite eines anderen Mannes, den sein Schicksal hierher führte, wie dich das deine. Er suchte nicht, wie du, das Glück, er verlangte nur Frieden und Vergessen und glaubte, sie auf dieser stillen Insel zu finden. Ich nannte ihm den Preis: ein Brandmal der Niedrigkeit auf seinem hellen Namen für alle Zeiten.
Er schlug ein, er bezahlte den Preis. Elf Jahre lang lebte er hier mit ein paar zuverlässigen Freunden, Männern von unantastbarer Ehre. Zweimal brach er auf, um in seinen Palast auf dem Palatin zurückzukehren. Zweimal versagte sein Mut. Rom hat ihn nie wieder gesehen. Er starb auf der Rückfahrt in der Villa seines Freundes Lucullus auf jenem Vorgebirge dort. Seine letzten Worte waren, man solle seine Sänfte auf die Galeere tragen und ihn nach seiner Inselheimat bringen.«
»Welchen Preis verlangst du von mir?«
»Das Opfer deines Ehrgeizes, dir in deinem Beruf einen Namen zu machen. Den Verzicht auf deine Zukunft.«
»Was aber soll dann aus mir werden?«
»Ein ›Hätte-sein-Können‹. Ein ›mißlungener Versuch‹.«
»Du nimmst mir alles, für das es wert ist, zu leben.«
»Du irrst, ich gebe dir alles, für das zu leben es lohnt.«
»Wirst du mir wenigstens das Mitleid lassen? Ich kann nicht ohne Mitleid leben, wenn ich Arzt werden soll.«
»Ja, ich lasse es dir, aber du wärest ohne das Mitleid besser gefahren.«
»Verlangst du noch mehr?«
»Ehe du stirbst, wirst du noch einen Preis zahlen müssen, einen hohen Preis. Aber ehe er fällig wird, wirst du jahrelang von dieser Stätte die Sonne untergehen sehen über wolkenlosen Tagen des Glücks, den Mond aufgehen über sternenklaren Nächten voller Träume.«
»Werde ich hier sterben?«
»Hüte dich zu forschen nach der Antwort auf diese Frage. Der Mensch ertrüge das Leben nicht, wäre ihm seine Todesstunde bekannt.«
Er legte seine Hand auf meine Schulter. Ein leiser Schauer rann durch meinen Körper. »Noch einmal werde ich bei dir sein an dieser Stelle, nach Sonnenuntergang; bis dahin steht dir die Welt frei.«
»Es gibt für mich keine Wahl, mein Urlaub ist zu Ende, heute abend muß ich fort an mein Tagwerk, weit von diesem schönen Lande. Und Nachdenken ist überhaupt nicht mein Fall. Ich willige ein, ich bezahle den Preis, wie hoch er auch sei. Aber wie soll ich dies Haus kaufen, meine Hände sind leer.«
»Deine Hände sind leer, aber stark, dein Kopf ist ungestüm, aber klar, dein Wille ist gesund, es wird dir gelingen.«
»Wie soll ich denn mein Haus bauen, ich verstehe nichts von Baukunst?«
»Ich werde dir helfen. Welchen Stil willst du haben? Warum nicht Gotik? Ich liebe die Gotik mit ihrem gedämpften Licht und flutendem Geheimnis.«
»Ich werde den Stil erfinden, selbst du wirst ihm keinen Namen geben können. Kein mittelalterliches Halbdunkel für mich! Mein Haus muß offen sein für Wind und Sonne und die Stimme des Meeres, wie ein Griechentempel, und Licht, Licht, Licht überall!«
»Hüte dich vor dem Licht, hüte dich vor dem Licht! Zuviel Licht ist nicht gut für Menschenaugen.«
»Ich will Säulen von unschätzbarem Marmor, die Loggien und Arkaden tragen, schöne Fragmente aus fernen Tagen sollen im Garten verstreut liegen, die Kapelle soll eine stille Bücherei werden, und schöne Glocken sollen das Ave Maria läuten nach jedem glücklichen Tage.«
»Glocken kann ich nicht leiden!«
»Und hier, wo wir stehen, wo zu unseren Füßen die schöne Insel wie eine Sphinx aus dem Meere steigt, soll eine Granitsphinx aus dem Lande der Pharaonen liegen. Wo werde ich das alles finden?«
»Du stehst auf dem Boden einer Villa des Tiberius. Unbezahlbar sind die Schätze vergangener Jahrhunderte, die unter diesen Reben, unter der Kapelle und dem Haus liegen. Der Fuß des alten Kaisers ging über die bunten Marmorfliesen, die du den alten Bauern über seine Mauer warfen sahst, das Fresko mit seinen tanzenden Faunen und blumenumkränzten Bacchantinnen schmückte die Wände seines Palastes. Sieh«, sagte er und deutete in die klare Meerestiefe tausend Fuß unter uns. »Hat dir nicht dein Tacitus in der Schule erzählt, daß bei der Nachricht vom Tode des Kaisers seine Paläste ins Meer gestürzt wurden?«
Ich wollte gleich über die Klippen in den Abgrund springen und im Meer nach meinen Säulen tauchen. »Kein Grund zu solcher Eile«, sagte er lachend. »Seit zweitausend Jahren umspinnen sie Korallen, die Wellen haben sie immer tiefer im Sande vergraben, sie werden warten, bis deine Zeit kommt.«
»Und die Sphinx, wo soll ich die Sphinx finden?«
»Auf einsamer Ebene, fern vom heutigen Treiben, stand einst die Villa eines anderen Kaisers. Er hatte die Sphinx von den Ufern des Nils mitgebracht, seinen Garten zu schmücken. Nur ein Trümmerhaufen ist von dem Palast geblieben, aber tief im Dunkel der Erde schläft noch die Sphinx. Suche, und du wirst sie finden. Es wird dir beinahe das Leben kosten, sie hervorzubringen, aber es wird dir gelingen.«
»Du scheinst die Zukunft zu kennen wie die Vergangenheit.«
»Vergangenheit und Zukunft sind mir eins. Ich weiß alles.«
»Ich beneide dich nicht um dies Wissen.«
»Deine Worte sind älter als deine Jahre, woher hast du den Ausspruch?«
»Das hab ich heute auf dieser Insel gelernt, denn dies freundliche Volk, das nicht lesen und schreiben kann, ist viel glücklicher als ich, der seit seiner Kindheit seine Augen anstrengte, um Wissen zu erlangen. Und wie ich aus deinen Worten sehe, hast auch du das getan. Du bist ein Gelehrter, du kennst deinen Tacitus auswendig.«
»Ich bin Philosoph.«
»Kannst du gut Latein?«
»Ich bin Doktor der Theologie an der Universität Wittenberg.«
»Ach, deshalb schien es mir auch, als hätte ich einen leichten deutschen Akzent in deiner Stimme gehört. Kennst du Deutschland?«
»Allerdings«, lächelte er.
Ich sah ihn aufmerksam an. Seine Formen und sein Benehmen waren die eines großen Herrn. Und jetzt bemerkte ich erst, daß er einen Degen unter dem roten Mantel trug. Seine Stimme hatte einen scharfen Klang, der mir bekannt schien.
»Verzeiht mir, Herr Ritter, ich glaube, wir sind uns schon begegnet in Auerbachs Keller in Leipzig. Seid Ihr nicht …?« Die Kirchenglocken von Capri begannen das Ave Maria. Ich wandte den Kopf nach ihm hin, er war verschwunden.
Quartier Latin. Ein Studentenzimmer im Hôtel de L’Avenir, überall Stöße von Büchern, auf Tischen, Stühlen und auf dem Boden; an der Wand eine verblichene Photographie von Capri.
Morgens in den Sälen von La Salpêtrière, Hôtel Dieu und La Pitié, von Bett zu Bett gehend, ein Kapitel nach dem anderen im Buche menschlichen Leidens lesend, das mit Blut und Tränen geschrieben ist. Nachmittags in der Anatomie und den Hörsälen der Ecole de Médecine oder in den Laboratorien des Pasteur-Institutes mit staunendem Blick im Mikroskop das Geheimnis der unsichtbaren Welt jener unendlich kleinen Wesen wahrnehmend, jener Richter über Tod und Leben des Menschen.
Nachtwachen im Hôtel de L’Avenir. Wertvolle Nächte der Arbeit, um die harten Tatsachen zu meistern, die klassischen Zeichen von Störung und Erkrankung, wie sie von Beobachtern aller Länder gesammelt und gesichtet sind, so notwendig und so ungenügend für das Werden eines Arztes! Arbeit, Arbeit, Arbeit; Sommerferien mit leeren Cafés im Boulevard St. Michel, die Medizinschule geschlossen, Laboratorien und Hörsäle verödet, die Kliniken halb leer. Aber keine Ferien dem Leiden in den Krankensälen, kein Urlaub für den Tod; kein Urlaub im Hôtel de L’Avenir. Keine Zerstreuung, als hier und da ein Gang unter den Linden der Luxembourg-Gärten oder eine gierig genossene Erholungsstunde im Louvre-Museum. Keine Freunde. Kein Hund. Nicht einmal ein Mädel. Henri Murgers Bohème war verschwunden, aber seine Mimi lebte, mehr denn je. Lächelnd schlenderte sie den Boulevard St. Michel herab am Arm fast jedes Studenten, wenn die Stunde des Apéritif nahte, oder sie flickte ihm den Rock und wusch ihm die Wäsche in seiner Dachkammer, während er zur Prüfung arbeitete.
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