Das Café der guten Wünsche - Marie Adams - E-Book
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Das Café der guten Wünsche E-Book

Marie Adams

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Beschreibung

Glück fällt nicht vom Himmel – aber manchmal ist es trotzdem zum Greifen nah …

Julia führt mit ihren Freundinnen Laura und Bernadette ein kleines Café mit einem ganz besonders charmanten Konzept: Jedem Gast wird heimlich ein guter Wunsch hinterhergeschickt. Julia wundert sich nicht, dass alle Gäste das Café glücklicher verlassen, schließlich glaubt sie an die Macht der guten Gedanken – die auch ihre große Liebe Jean zurückbringen soll. Alle anderen Männer hält sie deshalb auf Abstand – bis Robert sich mit (anfangs) unlauteren Mitteln in ihr Herz schleicht. Ist es seine Schuld, dass auf einmal manches schiefläuft? Oder braucht sie nicht nur Glück, sondern auch eine große Portion Mut, um sich wirklich auf die Liebe einzulassen?

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Seitenzahl: 389

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Buch

Julia ist einfach ein Glückskind. Klar, wenn man von der Großmutter nicht nur das kleine Café hat, sondern auch ein Glücksbüchlein voll hilfreicher Lebensweisheiten geerbt hat. Im Sinne ihrer Großmutter führt auch Julia mit ihren beiden Freundinnen Laura und Bernadette das Café der guten Wünsche, das eigentlich Café Juliette heißt. Beim Verlassen des Cafés wird jedem Gast ein ganz persönlicher guter Wunsch hinterhergeschickt, und tatsächlich verändert sich daraufhin bei so manchen das Leben. Julia selbst glaubt schließlich auch an die Macht der guten Gedanken und ist sich sicher, dass diese ihr auch ihre große Liebe Jean, den sie in einem Urlaub kennengelernt hat, zurückbringen wird. Anderen Männern gegenüber ist sie daher zurückhaltend, bis Robert sich in ihr Leben – und in ihr Herz – schleicht …

Autorin

Marie Adams veröffentlichte unter anderem Namen bereits Romane – in denen es darum geht, die Liebe nach Jahren durch den Alltag zu retten und das Familienchaos zu meistern. Umso mehr Freude hat sie nun daran, ein Liebespaar auf fast märchenhafte Weise erst einmal zusammenzubringen – schließlich weiß sie aus eigener Erfahrung, wie irrational das Glück manchmal arbeitet.

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Marie Adams

Das Café der guten Wünsche

Roman

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Copyright © 2016 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur

erzähl:perspektive, München

Zitat 1 und 2 von Marcelle Auclair im Text stammen aus »Auch du kannst glücklich sein. Kleine Schule der Lebenskunst«, aus dem Französischen von Nora Tinnefeld, Ehrenwirth Verlag, München 1954.

Umschlaggestaltung:

Umschlagmotiv: plainpicture/Etsa/Pernilla Hed

Redaktion: Sarah Otter

LH · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17863-5V002

www.penguin.de

Für Michael

Köln in den fünfziger Jahren. Wenn man Juliette eines garantiert nicht nachsagen konnte, dann war es Pessimismus. Jeden Mittwoch traf sie sich mit ihren beiden Freundinnen nachmittags im Café um die Ecke, und egal wie groß der Kummer war, es gab nichts, was durch eine heiße Tasse Kaffee, ein leckeres Stück Punschtorte und das gemeinsame Gespräch nicht zumindest ein wenig besser wurde.

Diesmal hatte es das Damenkränzchen schlimm erwischt: Gertrud hatte ihre Anstellung beim Konditor verloren, und Hildas Verlobter war fest entschlossen, nach Kanada auszuwandern, woraufhin Hilda ihn allein ziehen ließ, weil sie dort vor Heimweh umkommen würde. Juliette hatte trotz all ihrer Nachforschungen noch immer nichts von ihrer großen Liebe gehört. Ob sie nicht wisse, wie viele Jean-Pierres es in der Nähe von Bayeux gäbe, hatte die unfreundliche Frau von der Telefonauskunft in den Hörer geraunzt und dann einfach aufgelegt. Aber Juliette glaubte fest an die Gesetze des Glücks und daran, dass sie ihren Jean-Pierre eines Tages wieder in die Arme schließen würde. Hatte er ihr damals dieses kleine Büchlein einer gewissen Marcelle Auclair übers Glücklichsein etwa völlig umsonst geschenkt? Nein, das durfte einfach nicht sein! Jean-Pierre war von der Kraft guter Gedanken überzeugt, seit ihn eine innere Stimme ausgerechnet auf jene Brücke geführt hatte, auf der sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Wenn sie nun so sah, wie die Welt bei Kaffee und Kuchen mit ihren besten Freundinnen schon ganz anders aussah, dann musste sie ihm ein ums andere Mal recht geben. Ihre Gedanken waren die Baumeister ihres Glücks, egal wie weit es noch entfernt schien. Doch warum nur die eigene Welt verbessern, wo sie doch alle drei nach einer neuen Aufgabe suchten? Warum nicht selbst ein Café eröffnen? Eins, in dem jedem Gast noch ein klitzekleiner guter Wunsch hinterhergeschickt wurde– still und heimlich wie das Lächeln eines Engels? So dauerte es nicht allzu lange, bis wie durch ein Wunder das behagliche Café Juliette eröffnete, und niemand konnte sich erklären, wie es den drei wunderlichen Freundinnen gelang, dass jeder Gast das Café mit einem warmen Gefühl im Herzen verließ. Irgendwann berichtete sogar eine französische Zeitung von dem Kleinod, von dem ein unerklärlicher Trost ausging. Jean-Pierre las die Nachricht beim Morgencroissant, wusste sofort, um wen es sich handelte, und nahm den nächsten Zug in die Heimat jener Dame, mit der er damals zwar jede Menge Küsse, aber keine Adresse ausgetauscht hatte. Man braucht eigentlich nicht zu erwähnen, dass Juliette zwar außer sich vor Freude, aber eben kaum überrascht war, als ihr geliebter Jean-Pierre zur Tür hereinkam. Sie hatte nie daran gezweifelt, ihn wiederzusehen.

Neun Monate nach ihrer Hochzeitsnacht trat wieder ein großes Glück in ihr Leben, sie tauften es auf den Namen Sophie. Juliette führte das Café weiter, Gertrud wurde wegen ihrer Prachttorten von einem großen Konditor abgeworben, und Hilda folgte irgendwann dann doch ihrem Verlobten nach Kanada. Als Juliette und Jean-Pierre viele Jahre später zusammen in die Provence zogen, schloss das Café seine Pforten. Sophie erzählte ihren Kindern Nick und Julia immer wieder die Liebesgeschichte der Großeltern. Besonders die kleine Julia hörte mit großen Augen und mucksmäuschenstill zu und konnte gar nicht genug davon bekommen. Dass die Geschichte sich zwei Generationen später wiederholen würde, das konnte sie damals noch nicht ahnen.

Kaum zu glauben, dass unser Café morgen schon drei Jahre alt wird, dachte Julia, als sie den Alträucher verließ. Bernadette und Laura werden staunen, wenn ich ihnen zeige, was ich gefunden habe! Das Geschirr sieht aus, als hätte es die letzten Jahrzehnte im Dornröschenschlaf verbracht. Julia hielt das Paket fest an ihre Brust gedrückt. Hoffentlich regnet es sich heute aus, damit wir morgen auf der Terrasse sitzen können, dachte sie angesichts des Platzregens, der dafür sorgte, dass sich ein Meer an Regenschirmen um sie herum aufgespannt hatte. Tropfnass beschleunigte sie ihre Schritte, um den Bus zu erreichen, der gerade kam. Allerdings fuhr er wieder an, bevor Julia die Haltestelle erreichte. Jede andere hätte geschimpft. Doch Julia sagte sich, dass sie im Wartehäuschen nun ihre Aufgabenliste für den nächsten Tag durchgehen konnte.

Bevor es dazu kam, riss ein Hupen sie aus den Gedanken. Der Bus hielt neben ihr, und die Tür öffnete sich. »Bei dem Regen und mit dem schweren Paket kann ich Sie doch nicht hier stehen lassen!«, sagte der Busfahrer.

»Danke, das ist lieb von Ihnen!«

Trotz des Feierabendverkehrs gab es noch ein paar freie Plätze, sodass sie sich dankbar setzte. An der nächsten Haltestelle stieg ein Obdachloser ein, den sie oft am Café vorbeigehen sah. Julia und ihre Kolleginnen, die zugleich ihre besten Freundinnen waren, ließen unterm Fenster immer eine Kiste mit Pfandflaschen stehen. Es hatte noch keinen einzigen Tag gegeben, an dem sie nicht mitgenommen wurden.

Der Mann schaute sich um – fünf Tüten fest im Griff, die Haare waren verfilzt, und das Hemd hing halb aus der Hose –, bevor er sich neben Julia auf den Sitz fallen ließ. Als Julia seinen Geruch bemerkte, versuchte sie, nur noch durch den Mund zu atmen. Ein Mann, der ihnen gegenübersaß, stand auf und stellte sich vor den Ausgang, obwohl die nächste Haltestelle noch weit entfernt war. Die Frau neben ihm folgte ihm wortlos. Julia blieb sitzen, obwohl der Oberschenkel des Obdachlosen in seiner dreckigen Jeans ihr Bein berührte. Es störte sie, aber wie sollte der Mann sonst sitzen, wenn sein gesamter Besitz zwischen seinen Beinen stand? Und wer war sie, sich über fünf Minuten Gestank aufzuregen, während er sein Leben im Elend verbrachte? Wenn ich jetzt aufstehe, wird er das als weitere Demütigung empfinden, dachte sie.

In der Kurve fiel eine seiner Tüten um, worauf ein paar Konserven herauskullerten. Sie hob zwei Dosen Linsensuppe auf und hielt sie ihm hin, während sie hoffte, dass er die Suppen überhaupt irgendwo aufwärmen konnte. Die Vorstellung, dass er das Essen kalt aus der Büchse löffelte, brach ihr das Herz. Er nahm sie mit schwarzen, vernarbten Fingern entgegen. »Danke, das ist lieb von Ihnen.«

Genau das hatte sie zuvor dem Busfahrer geantwortet. Alles was wir denken, tun und aussprechen, kommt eben zu uns zurück, fühlte sich Julia in ihrer Sicht auf das Leben bestätigt. »Gern geschehen.«

Ob die Suppe jemals warm werden würde, stand in den Sternen, aber Julia war es auf einmal noch wärmer ums Herz, als es ihr ohnehin schon immer war.

Auch wenn Robert als Redakteur eines Lokalblatts auf das Geld angewiesen war, das ihm die Texte über belanglose Ereignisse einbrachten, würde er selbst als Erster sein Zeitungs-Abo kündigen. Wenn er denn eins hätte. Spätestens wenn alle Vertreter der Präfacebookzeit abgekratzt sind, wird kein Mensch mehr eine Tageszeitung kaufen. Aber ein Teil dieser Generation klammert sich beharrlich ans Leben, dachte Robert, als er durch die Eingangshalle des Seniorenheims »Abendrot« lief. Der Namensgeber hatte selbst ihn noch an Zynismus übertroffen. In dem Heim stank es. Und ihm stank es. Warum muss ich einen Mann interviewen, der nichts Besseres vollbracht hat, als die Hundert zu knacken – während Piet sich auf einer Kulturveranstaltung voller hübscher Germanistikstudentinnen vergnügt? Robert meckerte in Gedanken vor sich hin. Er betrat die Cafeteria und überlegte, welcher der Greise sein Interviewpartner sein könnte. Viel zu sagen hatte keiner von ihnen. Die meisten starrten mit leerem Blick auf ihr Gegenüber. Falls dort ein Gegenüber saß, denn der Großteil der Tische war nur mit einer Person besetzt.

Hinter ihm waren Schritte auf dem Linoleumboden zu hören. Er drehte sich um und grinste. Vielleicht lohnte es sich ja doch, hundert zu werden, wenn Frauen wie diese ihm dann den Hintern abwischen. Der weiße Kittel war eindeutig zu eng für den Busen der Schwester.

»Sind Sie der Herr Dorn von der Zeitung?« In ihrer Stimme schwang eine Ehrfurcht vor seinem Beruf mit, die seine eigene Verachtung noch steigerte.

Als er ihr die Hand reichte, strich sie sich die blonde Mähne aus dem Gesicht und führte ihn zu einem Tisch, an dem ein Mann zusammengesackt im Rollstuhl saß. »Dann gehen wir jetzt zu unserem Geburtstagskind!«, flötete sie Robert ins Ohr.

»Herr Müller«, schrie sie fast, »das ist der Herr Dorn von der Zeitung! Der ist extra gekommen, um über Sie zu schreiben. Wird ja nicht alle Tage jemand hundert!«

»Ja, ja, ist ja gut, Dörte, ich bin weder schwerhörig noch dement«, knurrte der Greis und wies mit seinem Zeigefinger, der aussah wie ein Ast aus einem Gruselwald, auf den freien Platz gegenüber.

Robert setzte sich.

»Darf ich den Herren einen Kaffee anbieten?«

»Ein Schnaps wäre besser!«, brummte der Jubilar.

»Aber Herr Müller, Ihr Blutzucker.«

»Papperlapapp, ich habe nicht vor, hundertzehn zu werden.«

Dörte verzog entsetzt die roten Lippen.

»Herr Müller, das dürfen Sie nicht sagen. Sie müssen immer optimistisch bleiben!«

»Optimistisch? Dann beantrage ich noch heute den Exitus.«

Vielleicht würde die Veranstaltung doch nicht so dröge werden wie befürchtet, dachte Robert, als er sein Diktiergerät und die Kamera auf den Tisch legte. »Darf ich? Nur damit ich nicht mitschreiben muss. Ich glaube, Sie haben einiges zu erzählen.«

Ein Strahlen ging über das Gesicht des Alten, und Robert interpretierte das als Aufforderung, das Aufnahmegerät einzuschalten. »Herr Müller, wie ist es, den hundertsten Geburtstag zu feiern?«

»Beschissen!«

Dörte, die mit zwei Schnapsgläsern zurückkam, zog eine Augenbraue hoch. Sie raunte Robert zu, er solle das nicht persönlich nehmen. Dann fragte sie lauter, ob die Herren noch Wünsche hätten, schließlich habe sie in einer halben Stunde Dienstschluss. Und wieder leiser zu Robert, dass sie noch nichts vorhabe – an ihrem Feierabend. Für den Fall, dass er noch Fragen habe.

Natürlich würde er noch Fragen haben! »Wenn Sie sich die Zeit dafür nehmen, lade ich Sie zu einem Abendessen ein«, sagte er.

»Gerne.« Bevor es zu verbindlich werden konnte, verschwand Dörte mit einem beschwingteren Gang als zuvor. Kam eben nicht alle Tage ein junger, hübscher Mann wie Robert vorbei.

»Herr Müller … wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, dass es kein tolles Gefühl ist, hundert Jahre alt zu sein.«

»Kein tolles Gefühl? Schreiben Sie, was ich wirklich gesagt habe, mich kann schließlich keiner mehr feuern oder rausschmeißen. Und wissen Sie was?« Mit zusammengekniffenen Augen zeigte der alte Mann in die Richtung, in die Dörte verschwunden war. »Das Leben war schon immer ungerecht zu mir. Solche Frauen konnte ich noch nicht mal haben, als ich so jung war wie Sie.«

Robert nahm sein Schnapsglas und trank es in einem Zug leer.

»Herr Müller, ich kann Sie beruhigen, selbst wenn man sie haben kann, irgendwann nerven sie. Wahrscheinlich ist eine Frau nie so toll wie in der eigenen Fantasie.«

Dass er sich nicht mal in seiner Fantasie eine Frau vorstellen konnte, die ihn auf Dauer glücklich machen würde, behielt er für sich.

Du solltest dir endlich einen echten Mann suchen, anstatt einem Hirngespinst nachzutrauern. Was weißt du schon von Jean, außer dass er gut küsst?«

Bernadette deckte einen der Tische mit Julias Vintagegeschirr ein. Laura holte eine Zitronentarte aus dem Ofen und stellte sie zu dem Mohnkuchen auf das Kuchenbuffet.

»Wenn ich mit den Kuchen fertig bin, kann ich dir ja deinen Traummann backen.«

Beim Gedanken an das »Hirngespinst« musste Julia lächeln. Es war zwar schon dreieinhalb Jahre her, dass sie Jean getroffen hatte, aber merkwürdigerweise wurde die Erinnerung an ihn nicht blasser. Ganz im Gegenteil, je länger die Begegnung zurücklag, desto stärker lud sie sich mit Bedeutung auf. Julia war davon überzeugt, dass sie sich wiedersehen würden. So wie ihre Großeltern Juliette und Jean-Pierre. Sie dachte täglich an die erste Begegnung mit Jean in Bayeux. Sie waren auf Abschlussfahrt ihres Gymnasiums, und am letzten Abend stand Jean hinter der Theke einer Konditorei, in der Julia Baguettes für das Picknick am Abend kaufen wollte. Ihr schlechtes Französisch und seine bildschönen Augen hatten ihre Zunge gelähmt. Ihre Freundin Bernadette bestellte dafür nicht nur zehn Baguettes, sondern lud Jean in perfektem Französisch mit zum Abschlussessen ein. Ihr Lehrer würde begeistert sein, wenn ein Muttersprachler ihnen den Unterschied zwischen Bäckerei und Konditorei erklären würde, glaubten sie. Jean richtete seinen Blick auf Julia, als er »Nichts lieber als das« antwortete.

Der Abend wurde der schönste in Julias Leben: eine laue Sommernacht voller Küsse unter dem Sternenhimmel und mit feuchtem Gras unter den nackten Füßen, mit Rotwein und der Versprechung, sich nie aus den Augen zu verlieren. Julia schwor es auf Deutsch, und Jean nickte immer wieder, bevor seine Lippen sie zum Schweigen brachten. Es war Liebe auf den ersten Blick. Daher war es auch egal, dass sie ihn an jenem Abend nicht nach seiner Nummer fragte, sie wusste schließlich, wo er arbeitete. Am nächsten Morgen schaffte sie es gerade noch, eine Nachricht in der Konditorei zu hinterlassen, bevor sie abreisten. Die Verkäuferin schaute sie missbilligend an, als sie den Zettel entgegennahm, aber irgendwann würde Jean sich schon melden, glaubte sie. Oder sie würde ihn besuchen.

»Backen brauchst du meinen Traummann nicht, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, wird er von alleine aus dem Ofen kriechen.«

»Warum schaffst du nicht selbst den richtigen Zeitpunkt?«, hakte Bernadette nach.

»Ich bin dran«, antwortete Julia ausweichend. Eine Hürde auf dem Weg zu Jean, die vor dem richtigen Zeitpunkt noch beseitigt werden musste, war die Sprache. Obwohl Julias Großvater Franzose war, war ihr Französisch so schlecht, dass ein »Je t’aime« ihre einzige Liebeserklärung bleiben würde. Also hatte Julia sich geschworen, Jean erst wieder zu besuchen, wenn sie perfekt französisch sprechen würde. Das nahm sie sich vor, wie andere Frauen sich vornahmen, erst ein neues Kleid zu kaufen, wenn sie fünf Kilo abgenommen hätten.

Als Julia die Tür zum Innenhof öffnete, vermischte sich der Geruch der Zitronentarte mit dem von Lavendel und Sommerregen. Durch die Regenwolken blitzte ein Spaltbreit blauer Himmel.

»Bist du sicher, dass wir auch draußen Plätze anbieten sollten?«, fragte Bernadette ungewohnt gereizt.

»Natürlich, es kommen mehr als dreißig Leute.«

»Und wenn es regnet?«

»Warum sollte es regnen?«

»Weil es jetzt auch schon regnet.«

Irgendetwas schien Bernadette zu belasten, und das musste mehr sein als das schlechte Wetter.

»Bernadette, hat es in den letzten Jahren ein einziges Mal geregnet, wenn wir Sonnenschein brauchten?«

Bernadette schüttelte den Kopf.

»Na, also! Und selbst wenn, dann spannen wir eben unsere Schirme auf!«

»Julia, vielleicht gibt es ja auch jemanden, der sich Regen wünscht! Die Blumen zum Beispiel. Nicht alles ist für jeden gleich richtig!«

Damit war klar, dass es um mehr ging als um das Wetter.

»Was ist wirklich los?«

»Nichts. Lass uns bitte ein andermal darüber reden«, versuchte Bernadette ihre Freundin zu vertrösten, die mit einem kurzen Seufzer zu verstehen gab, dass sie nicht weiter nachfragen würde.

Im Innenhof standen zwei Kübel mit Blumen, die ihnen die Blumenhändlerin für das Jubiläum geschenkt hatte. Die brauchten jedenfalls kein Wasser mehr von oben. Julia holte sie herein und begann, die Hortensien, Dahlien und Rosen auf Vasen zu verteilen.

»Wisst ihr, auf welchen Teil der Feier ich mich am meisten freue?«, fragte Laura, die einen weiteren Kuchen mit Himbeeren verzierte.

»Darauf, die Kuchenreste zu vertilgen?«, riet Julia.

»Bei drei Kuchen wird es bestimmt keine Reste geben«, bemerkte Bernadette.

»Jetzt warte doch mal ab! Wir haben noch zwei Stunden Zeit, bis die Gäste kommen, und ich kann immer noch welchen kaufen, falls wir mit dem Backen nicht fertig werden.«

Laura ärgerte sich ein winziges bisschen, dass ihre Freundinnen sich mehr um die praktischen Belange kümmerten als um ihre geheime Mission, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. »Ich freue mich am meisten darauf, nachher auf unser Café anzustoßen und unser Versprechen zu erneuern«, sagte sie, als es plötzlich an der Tür klopfte, obwohl das »Geschlossen«-Schild daran hing.

Julia öffnete die Tür, vor der Frau Schmitz, die achtzigjährige Nachbarin von oben, stand. Als Frau Schmitz jung war, hatte sie Julias Oma Juliette gekannt – sie war nicht nur die netteste Vermieterin gewesen, die man sich vorstellen konnte, mit ihrem damaligen Café im Erdgeschoss hatte sie den gemütlichsten Ort der Stadt geschaffen.

»Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, Frau Schmitz zeigte auf die drei Kartons vor der Tür, hob einen davon hoch und klappte ihn auf. Darin stand ein runder Kuchen, der mit roséfarbenem Marzipan überzogen und mit weißen Zuckerrosen verziert war.

»Seit Sie das Café wiedereröffnet haben, ist es in unserem Viertel viel schöner geworden – und ich dachte, Sie freuen sich über eine Kuchenspende für Ihre Feier.«

Julia umarmte Frau Schmitz und nahm ihr den Kuchen ab. Innerhalb von drei Minuten hatte sich die Kuchenzahl verdoppelt, ohne dass sie dafür einen Finger rühren mussten.

Und, hatte der Hundertjährige was zu erzählen?«

Roberts Chef hielt in der linken Hand eine brennende Zigarette und in der rechten einen Kaffeebecher.

»Mehr als erwartet«, antwortete Robert zögerlich. Er kam sich vor wie Peter Parker alias Spiderman, nur dass sein Gegenspieler keinen Schnäuzer trug und er selbst sich eher mit Peters Freund Harry identifizieren konnte als mit Schwiegermuttis Liebling.

»Was noch? Du wirkst angespannt.«

Das war er auch angesichts seiner aktuellen Stromrechnung. Wütend machte ihn daran vor allem, dass sein Mitbewohner Carsten schuld an der hohen Nachzahlung war – oder, besser gesagt, dessen Freundin Sonja. Die drehte immer die Heizung auf, weil ihr zarter Körper so schnell fror. Miete zahlte sie keine, schließlich war sie nur zu Besuch. Auf Roberts Hinweis, wenigstens den Stromverbrauch durch drei zu teilen, reagierte Carsten mit einem Hinweis auf den Mietvertrag. Robert war Untermieter und hatte unterschrieben, die Hälfte aller Kosten zu übernehmen. Carsten konnte seiner Freundin doch nicht zum Vorwurf machen, dass sie täglich stundenlang heiß duschte. Sein Hirn war durch den Hormonrausch schon so vernebelt wie das Bad, wenn es mal wieder von Sonja blockiert wurde.

»Ulli, ich arbeite hier, seitdem ich mein Studium beendet habe, und ich verdiene kaum mehr als ein Volontär. Ich brauche eine Gehaltserhöhung.«

Sein Chef stellte die Tasse ab, wobei der Kaffee auf seine Unterlagen schwappte. Er wischte mit dem Ärmel drüber und seufzte. »Unterhalte dich mal mit den freien Mitarbeitern, die beneiden dich um deine Festanstellung. Denk dran, ich bekomme immer weniger Anzeigen verkauft, weil kaum noch Leute ein Abo beziehen. So ist das eben, seit man alles kostenlos im Internet lesen kann.«

Warum stellt ihr auch alles kostenlos da rein, ihr Schwachköpfe, hätte Robert am liebsten gefragt, bevor er die Schultern hängen ließ, weil er die Antwort selbst kannte: Wenn die Leute die Texte ihres Lokalblatts nicht kostenlos lesen konnten, dann würden sie eben die Artikel der geistreichen Zeitungen lesen.

»Übrigens hätte ich da noch einen Auftrag für dich.«

Da klopfte es an der Tür. Es war Piet, der junge Volontär, der in jeder Hinsicht noch an eine Zukunft glaubte. Er trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten.

Immerhin hob Ulli die Hand, um in Ruhe aussprechen zu können. »Heute gibt es eine Jubiläumsfeier in einem Café. Soll irgendwie ›retro‹ und besonders sein. Drei Frauen haben da was geerbt, und die Leute kaufen ihnen die Kuchen weg wie warme Semmeln. Geh doch hin, mach ein paar Fotos und schreib was darüber, der Lokalteil steckt sonst nur voller schlechter Nachrichten. Tausend Zeichen, Bild und Überschrift, bis morgen früh.«

Piet schlich sich heran, während in Robert der Zorn hochkochte. Ulli ging nicht mal auf seine Forderung ein, und er sollte wegen irgendwelcher Mädchen, die sich mit einem Backshop verwirklichten, Überstunden machen? Die einen strickten, die Nächsten kochten Marmelade – und er, der irgendwann mal mit seinem Journalismus die Welt verändern wollte, sollte darüber berichten? In einem Jahr wäre der Laden wieder pleite. Nein, so nötig hatte er es nicht, sich bei seinem Chef anzubiedern. Daher entschied er, Stolz vor Vernunft walten zu lassen.

»Ulli, ich habe heute Abend noch einen wichtigen Termin, den ich unmöglich für so einen irrelevanten Artikel absagen kann.«

Ulli war einen Moment lang irritiert, grinste dann aber breit, als sein Blick auf Piet fiel. »Kein Problem, Piet wird das sicher gerne übernehmen!«

Mit Mühe hielt Robert sein Lächeln, als er sich verabschiedete und in die Toilette flüchtete. Wie gerne hätte er sich für fünf Minuten zurückgezogen, aber alle Kabinen waren besetzt. Also wusch er sich die Hände. Mit tropfnassen Fingern tastete er nach den Einmaltüchern und griff ins Leere. Also schüttelte er seine Hände trocken. »Aua!« Nur ein Idiot wie er konnte dabei an dem hüfthohen Gitterkorb hängen bleiben. Hier lagen also die hundert Einmaltücher drin. Eins hätte ihm gereicht, um sich die Hände abzutrocknen. »Verdammte Scheiße!«, schrie Robert, während er sich den Fingerknöchel rieb.

»Alles in Ordnung?«, kam es aus einer der Kabinen.

»Wie hört es sich dann an?«, rief Robert zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Auch ohne die Hungersnöte, Kriege und Verbrechen, über die sie täglich berichteten, war die Welt einfach ein völlig überbewerteter Ort!

Nick hätte seiner kleinen Schwester niemals zugetraut, dass das Café länger als ein Jahr überleben würde. Jetzt lehnte er sich zurück und beobachtete, wie Julia und ihre Freundinnen Kaffee nachschenkten, hier eine Hand auf die Schulter legten, dort Glückwünsche entgegennahmen, den Finger selbst mal in die Sahne eines verunglückten Tortenstücks steckten und ihn genüsslich ableckten. Dabei bewegten sie sich mit einer Gelassenheit, die zur Einrichtung passte. Die meisten Möbelstücke standen schon seit Jahrzehnten hier. Die Nierentische und Cordsessel gehörten zu den wenigen Neukäufen ihrer Oma. Nun waren sie wieder chic, nachdem sie jahrelang belächelt wurden. Der Buffetschrank aus der Gründerzeit passte genauso wenig zu den Fünfziger-Jahre-Möbeln wie die Kerzenständer aus Silber, dennoch harmonierte alles miteinander. Vor der Tür rankte der Efeu die Stuckfassade hoch, als wollte er das Haus vor der kalten Welt da draußen schützen. Es war, als hätte die Zeit hier vergessen zu rasen, wie sie es vor der Tür des Cafés tat. Nick verspeiste gerade ein Stück der Torte, die ihre Eltern hatten schicken lassen. Marzipan-Vanille. Noch kitschiger als die üppige Verzierung war die Karte gewesen, die mit auf dem Geschenketisch lag: Wir haben immer an dich geglaubt!

Julia war stets ihr Lieblingskind gewesen. Süß, brav, gut in der Schule … Und jetzt machte sie nichts anderes als zu kellnern! Er fragte sich sowieso, wer hier was finanzierte. Julia und ihre Freundinnen bestanden darauf, dass alles fair und biologisch angebaut war, aber nicht mehr kostete als im Billigcafé.

»Hi, Nick.« Laura schaute sich um. Als sie feststellte, dass alle Gäste zufrieden waren, setzte sie sich zu ihm an den Tisch.

»Hallo, Laura. Schön, dich zu sehen!« Nick umarmte die Freundin seiner kleinen Schwester und war sich durchaus bewusst, woher Lauras Herzklopfen kam. Sie hatte ihn schon zu Schulzeiten angehimmelt, aber selbst mit Anfang zwanzig kamen Nick seine Schwester und ihre Freundinnen wie Kinder vor. Was vielleicht auch daran lag, dass sie ihn ständig fragten, ob er was im Haus reparieren könne. Hundertmal hatte er ihnen gesagt, das sei alles nur Flickwerk, die Hütte müsse kernsaniert werden. Allein der Geruch im Treppenhaus verriet, dass Modernisierungsbedarf bestand. Aber Julia meinte immer nur, der Duft sei eben typisch für alte Häuser, leicht feucht und moosig, als spaziere man nach einem Regentag durch den Wald.

Sie hatten das Haus von ihren Großeltern geerbt. Nick finanzierte mit der Miete der oberen zwei Wohnungen sein BWL-Studium, während Julia mit Bernadettes Miete ihren Lebensunterhalt aufstockte. Was sie im Café einnahmen, teilten sie durch drei. Wie er seine Schwester kannte, gab es keine vernünftige Buchhaltung, sondern nur die große Keksdose auf dem Tresen, die abendlich geleert wurde. Nick hatte schon ein paar Mal kurz davor gestanden, sie zu öffnen, aber die drei ließen ihn nie unbeobachtet im Café.

»Semesterferien?«

Nick nickte. »Eure Feier konnte ich mir doch nicht entgehen lassen. Außerdem kann ich ein paar alte Freunde treffen. Robert zum Beispiel. Apropos, ich hatte der Redaktion seiner Zeitung den Tipp gegeben, dass ihr heute Jubiläum feiert. Vielleicht kommt er ja noch.«

Nick war davon ausgegangen, dass die Freundinnen etwas Presse händeringend gebrauchen konnten, aber die zehn Tische waren besetzt, und im Innenhof drängten sich die Gäste unter einer Abendsonne, die sich schon seit Tagen nicht mehr hatte blicken lassen.

»Oh, ich glaube, da kommt dein Freund.«

Laura zeigte auf Piet, der mit einer Kamera um den Hals und suchendem Blick aussah wie ein kleiner Junge, der im Kaufhaus verlorengegangen war.

»Nee, den kenne ich nicht.«

Nick nahm sich vor, Robert später anzurufen und nun erst einmal den Abend zu genießen. Er konnte sich nicht erklären, warum, aber seit er im Café saß, hatte er kein einziges Mal an Dinge wie seine Abschlussprüfung oder die Nebenkostenabrechnung des Hauses gedacht – beides lag ihm gerade schwer im Magen.

Robert drehte den Schlüssel im Schloss um und freute sich auf einen Abend auf dem Sofa. Carsten und er teilten sich das Wohnzimmer, und Robert dachte wehmütig an die Zeiten, in denen sie abends gemeinsam Breaking Bad geschaut hatten. Sonja lehnte solche brutalen Serien jedoch ab, daher hatte Carsten sich anscheinend ein neues Hobby gesucht. Nichts war deprimierender, als allein auf dem Sofa zu sitzen und sich zu fragen, warum es hinter der Zimmertür des WG-Partners so still ist, obwohl er Besuch hat. Oder warum etwas so Unsägliches wie Kuschelrock läuft. Aber heute konnte der Tag nur besser werden, denn es war Mittwoch, und da ging Sonja zum Aerobic.

Tatsächlich saß Carsten auf dem Sofa. Vor ihm auf dem Tisch standen ein paar Flaschen Bier, Chips und Erdnüsse. »Hi, Robert, schön, dass du schon da bist. Lust auf ein Bier?«

Robert musste nicht einmal seinen journalistischen Spürsinn einschalten, um zu sehen, dass Carsten was auf dem Herzen hatte. Wenn er jetzt auch noch mit ihrer gemeinsamen Lieblingsserie ankam, dann muss es schon etwas Schlimmes sein. Hoffentlich hatte sein Freund nicht Lungenkrebs oder eine Leiche in der Rohrleitung. Im besten Fall wäre Schluss mit Sonja.

»Klar!« Er ließ Jacke und Tasche auf das Sofa fallen und setzte sich neben Carsten. Der öffnete zwei Flaschen Bier und stieß mit Robert an. Nachdem beide einen Schluck getrunken hatten, steckte sich Carsten eine Zigarette an.

»Hattest du nicht aufgehört?«

»Doch, aber heute brauche ich das noch mal. Diese Schachtel rauchen wir leer, und dann hat das ungesunde Leben ein Ende.«

Robert rauchte äußerst selten, aber jetzt half er seinem Freund gern, die Schachtel zu leeren. Obwohl er nicht dran glaubte, dass danach Schluss sein würde – es sei denn, es steckte was Ernstes dahinter.

»Ich habe heute zufällig die Originalversion der finalen Breaking-Bad-Staffel in der Videothek gefunden. Ich glaube, das alternative Ende haben wir damals nicht gesehen.«

»Carsten, Mensch, das ist ja eine Überraschung. Die wollten wir doch schon lange gucken, aber seit …«

Sollte Carsten ein schweres Geständnis vor sich haben, wollte er ihn nicht mit blöden Kommentaren zu seiner Freundin belasten.

»Du meinst, seit Sonja da ist? Tja, das Leben ist im Fluss, ein ständiges Kommen und Gehen, Leben und Sterben. Du, Robert, vielleicht ist das doch keine gute Idee, Breaking Bad zu gucken.«

»Warum?«

»Ich kann mich auf einmal viel stärker mit Walter identifizieren …« Carsten fixierte die Öffnung seiner Bierflasche.

Mist, dachte Robert. Menschen wie Carsten oder Walter taten nichts Schlimmes, rauchten nicht mehr als die Hälfte der Bewohner eines Altersheims, und dann kam trotz des angeblichen medizinischen Fortschritts eine entartete Zelle angeschlichen und ließ das ganze Leben zusammenbrechen.

Robert legte den Arm um seinen Freund. »Egal was ist, du kannst dich auf mich verlassen.«

»Danke, Robert, das wusste ich.«

Sie starrten auf das Knabberzeug. Nachdem beide ein paar Erdnüsse gegessen und mit Bier hinuntergespült hatten, brach Robert das Schweigen.

»Weißt du, Carsten, ich habe heute einen Mann im Altersheim interviewt. Der Arme ist hundert geworden und hält das Leben immer noch für völlig überbewertet. Er meinte zu mir, alt zu werden, das sei schrecklich. Er beneidet jeden, der schon in der Mitte des Lebens herausgerissen wurde, anstatt über Jahre zu wissen, dass ›Gevatter Tod‹ – genau so hat er sich ausgedrückt – vor der Tür steht und sich nicht traut, endlich die verdammte Tür aufzumachen.«

Jetzt schaute Carsten Robert besorgt an. »Was ist denn mit dir los? Ich möchte hundert werden, jetzt sogar mehr denn je!«

Robert merkte, dass er die falsche Troststrategie gewählt hatte, und schwenkte um. »Du hast ja recht, Carsten, ich wollte dir keine Angst machen. Außerdem kursieren viel zu viele Horrorgeschichten über die Chemo in den Medien. Ich kenne da ein paar, die wieder vollkommen gesund geworden sind.« Oder lag Carstens Problem im Drogenmilieu? Einem Joint war er nie abgeneigt gewesen. »Carsten, mit welchem Teil von Walter kannst du dich besser identifizieren?«

Carsten drückte die Zigarette auf dem Deckel der Erdnussdose aus. »Also gut.« Er krempelte seine Ärmel hoch. »Ich spüre auf einmal eine Verantwortung, die mich in Gewissenskonflikte bringt. Also, um es kurz zu machen: Sonja ist schwanger. War nicht geplant. Es tut mir leid.«

»Kein Problem, ich hatte nicht vor, Sonja selbst zu schwängern.«

Robert atmete erleichtert auf. Es ging zwar um Leben und Tod, aber nicht dem Leben seines Freundes an den Kragen.

»Tja, die neue Situation zwingt mich, Dinge zu tun, die ich nicht gerne tue.«

»Wer wirklich an deiner Seite steht, wird dich verstehen.«

Carsten nickte, als ob er daran zweifelte.

»Jetzt sag schon, was ist es genau?«

»Ach, Scheiße! Ich muss dich bitten auszuziehen.«

Das Damoklesschwert hat also die ganze Zeit über meinem Haupt gehangen, während ich mir Sorgen um Carsten gemacht habe, dachte Robert. »Wieso das denn?«

»Weil wir natürlich so richtig einen auf Familie machen wollen!«

So leid es ihm für Robert tat, insgeheim wollte er schon lange das WG-Leben beenden, Sonja heiraten, Kinder kriegen und gemeinsam hundert werden. Er hatte jedoch keine Lust auf zynische Sprüche von Robert, sodass er sich mit seiner Lebensplanung bedeckt gehalten hatte.

So konnte Robert natürlich nicht damit rechnen, dass Sonja ihn ersetzen würde. Schon bald würde nichts mehr in dieser Wohnung an die einstige Männer-WG erinnern. Wahrscheinlich hatte Sonja schon Wandfarbe bestellt, um das zweckmäßige Weiß in Lavendel oder Ocker zu verwandeln. Roberts Leben würde dagegen noch grauer werden, als es ohnehin schon war. Das war also die Liebe: Sie brachte einen dazu, sich egoistisch zu verhalten und das auch noch mit Verantwortung zu verwechseln.

»Und warum sucht ihr euch nicht was anderes? Zum Beispiel ein Häuschen im Grünen?«

Alle Gäste waren fort, die Spülmaschine lief, die Samtvorhänge waren zugezogen. Julia, Laura und Bernadette saßen um den runden Tisch in der Mitte des Raumes, sie hatten Kerzen angezündet und hoben ihre Weingläser, um auf ihr wunderbares Café anzustoßen.

So unterschiedlich die drei rein äußerlich waren – Bernadette sah aus wie Schneewittchen mit kurzen Haaren, Laura war rot gelockt und kurvig und Julia aschblond mit grünen Augen –, so eingeschworen wirkte ihre kleine Gemeinschaft nach außen, und das war sie. Dass ihre Freundschaft auch zu dritt funktionierte, lag vor allem an einer unausgesprochenen Regel: Wenn sie zu zweit waren, sprach keine der beiden über die dritte. Und damit war nicht nur Lästern oder Sichaufregen gemeint – die andere wurde hinter dem eigenen Rücken nicht erwähnt. Ausnahmen bildeten organisatorische Hinweise. Daneben gab es etwas, über das nie außerhalb ihres kleinen Kreises gesprochen werden durfte: das Geheimnis ihres Cafés. Ihr Geschäftsgeheimnis musste in den Ohren der meisten Außenstehenden banal oder sogar lächerlich klingen. Oder es würde Erwartungen wecken, die sie nicht erfüllen konnten.

Sie kamen sich selbst ein wenig albern vor, als sie ihre goldenen Regeln in die Mitte des Tisches legten und diskutierten, wer sie vorlesen sollte.

»Aber fangt nicht an zu lachen«, erklärte Julia sich schließlich bereit.

»Selbst wenn, wir nehmen es trotzdem ernst«, kicherte Laura, obwohl sie die Sache wirklich ernst nahm.

Bernadette kicherte nicht, sondern sah aus, als würde gleich ein Trauerbrief verlesen. Dabei war es nur die Quintessenz aus dem kleinen Büchlein Auch du kannst glücklich sein. Kleine Schule der Lebenskunst von Marcelle Auclair, die sie für ihr Café zusammengefasst hatten. Das Buch hatte Julia genau wie das Café von ihrer Oma geerbt.

»Egal, ob ihr lacht oder nicht – ich lese jetzt vor.«

Bevor Julia begann, trank sie noch einen Schluck Wein, der sie angenehm benebelte.

Unsere Regeln des Glücks für das Café Juliette

Wir glauben daran, dass sich jeder Gedanke in irgendeiner Form verwirklicht. Deshalb bemüht sich jede von uns, nur Dinge zu denken, die Wirklichkeit werden sollen.

Wir möchten, dass die Welt ein noch besserer Ort wird, und fangen mit unserem Café an.

(Sie hatten damals lange diskutiert, ob sie aufschreiben, dass bei ihnen weder Tier noch Mensch ausgebeutet werden sollten, hielten das aber für so selbstverständlich, dass sie es wegließen.)

Jeder Gast soll unser Café glücklicher, getröstet und gestärkt verlassen. Dafür schicken wir jedem Besucher einen guten Wunsch mit auf den Weg. Allerdings nur in Gedanken. Wir verlassen uns auf unsere Intuition, um zu wissen, was wir ihm wünschen sollen (im Zweifelsfalle alles Gute).

Niemand außer uns dreien erfährt davon. Nur wir kennen den wahren Namen unseres Cafés: Das Café der guten Wünsche.

Es war natürlich nicht verboten, über ihre Ansicht zu Auclairs Theorie zu sprechen. Immerhin fand sie sich in unzähligen Theorien, Philosophien und Weltanschauungen wieder. Sie leugneten auch nicht, dass die Menschen bei ihnen mehr bekamen als Kaffee und Kuchen, aber was genau, durfte nicht ausgesprochen werden – am allerwenigsten der Name des Cafés. Nicht nur im Märchen besaß das Wort eine Macht, die auch guten Zauber brechen konnte. Ach, wie gut, dass niemand weiß …

Ein heiliges Schweigen senkte sich über die sonst so gesprächigen Damen, bevor sie einander versprachen, diese Regeln zu halten.

»Und was ist, wenn ein Wunsch dem anderen im Weg steht?«

Bernadette sah aus, als sei sie ein wenig vom Weg des unerschütterlichen Glaubens an das Wünsch-dir-was-und-du-bekommst-es-Land abgekommen, aber die Freundinnen waren schließlich dazu da, sie wieder auf die richtige Bahn zu bringen.

Laura vertrat die Theorie am rigorosesten, vielleicht weil sie tief im Inneren die größten Zweifel hegte. »Dann wird eine dritte Kraft entscheiden. Eine, die weiß, was für dich richtig ist.«

Ein Lächeln huschte über Bernadettes Gesicht. »Vielleicht könnt ihr das ja für mich erledigen.«

Julia drehte das Kristallglas in ihrer Hand, sodass Lichter auf dem Tisch funkelten. »Dann sag schon! Was ist los?«

»Ihr könnt euch doch daran erinnern, dass ich mir so sehr gewünscht habe, ein Jahr in Frankreich zu studieren …« Bernadette studierte Romanistik mit dem Ziel, Romane vom Französischen ins Deutsche zu übersetzen.

»Ja, natürlich.«

»Ich habe die Nachricht bekommen, dass ich einen der wenigen Stipendienplätze ergattert habe.«

Laura ahnte, dass sie heute Abend noch länger zusammensitzen würden. Sie stand auf, füllte am Kaffeevollautomaten, für den sie einen kleinen Kredit aufgenommen hatten, drei Becher mit Milchkaffee und stellte diese wortlos auf den Tisch. Kommentare wie »Und wer übernimmt dann deine Aufgaben im Café?« wären jetzt mehr als kleinlich.

»Ich würde so gerne fahren, möchte euch aber auch nicht im Stich lassen. Was wird dann aus unserem Café?«

Jemanden einzustellen barg Risiken – und wenn nur jemand all ihre guten Wünsche mit seiner negativen Haltung beeinträchtigte.

Laura schwieg noch immer. Sie verteilte ein paar übrig gebliebene Kuchenstücke auf drei Tellern und legte kleine Gabeln dazu.

Julia ergriff Bernadettes Hand. »Das ist doch wunderbar. Natürlich wirst du uns fehlen, aber wenn es so sein soll, dann schaffen wir es auch ohne dich. Ein Jahr ist doch schnell vorbei. Hauptsache, du bist in Gedanken bei uns. Und wer weiß, mit welchen genialen Rezepten du zurückkommst.«

Julia drehte sich zu Laura, die mit sich zu kämpfen hatte.

»Laura, wir schaffen das doch zu zweit, oder? Notfalls reduzieren wir eben die Öffnungszeiten und kaufen den Kuchen, anstatt ihn selbst zu backen.«

Seufzend gab Laura schließlich ihren Segen. »Aber bitte lasst uns dafür sorgen, dass nicht alles zusammenbricht.«

So etwas durfte nach den goldenen Regeln des Cafés nicht einmal gedacht werden. Als ob es gelte, einen Fluch abzuwehren, beschworen daher alle drei, dass Bernadettes Jahr in Frankreich ihre Freundschaft und Zusammenarbeit nur stärken würde.

»Und dir macht es auch nichts aus, wenn ich für ein Jahr keine Miete zahle?«

»Miete?« Verwirrt sah Julia zu Bernadette.

»Für mein Zimmer hier. Ich werde nicht doppelt Miete zahlen können.«

Julia schluckte. Die Heizkosten der ungedämmten Altbauwohnung und des Cafés verschlangen allein schon die Hälfte des Gewinns. Ob man doch eine Zeit mal auf Biomilch und Fair-Trade-Kaffee verzichten sollte? Nein, die Prinzipien durften nicht angetastet werden, sonst wäre das Ganze auf Sand gebaut. Wozu hatten sie denn ihre Notfall-Wunschdose?

Die Dose stand auf dem Tresen und stammte aus der Zeit, in der jeder gute Wunsch noch notiert wurde, sobald der Gast verschwunden war. Schließlich waren geschriebene Worte verbindlicher. Diese Vorgehensweise war aber nicht mehr praktikabel, als das Café voller wurde.

Julia holte die Dose, stellte sie in die Mitte und öffnete sie feierlich. »Wir sollten mal nachforschen, welcher der Wünsche in Erfüllung gegangen ist.«

»Herr Gruber hat kurz nach seinem Besuch einen neuen Job gefunden«, sagte Laura.

»Und Emily ist doch nicht sitzengeblieben.«

»Na also, dann lasst uns endlich wieder eigene Wünsche aufschreiben.«

In der Dose befanden sich auch leere Karten und ein Stift. Julia machte den Anfang:

Bernadette wird einen wunderschönen Aufenthalt in Frankreich haben.

Bernadette nahm den nächsten Zettel.

Unser Café wird trotz meiner Abwesenheit wunderbar weiterlaufen.

Laura beschrieb mit dem goldenen Stift die nächste Karte:

Danach arbeiten wir wieder gemeinsam in unserem Café.

»Das wäre schön, aber wir können uns doch nicht für die nächsten fünfzig Jahre festlegen. Wer weiß, ob eine von uns mal woanders leben wird«, wandte Julia ein, worauf Laura den Zettel zerriss.

»Dann möchte ich es umformulieren.«

Das Café wird so weiterlaufen, wie es für uns alle am bestenist.

»Darf ich auch noch mal?«, fragte Julia.

Ihre Freundinnen nickten.

Ich werde für das Jahr genau die richtige Untermieterin finden.

»Muss es eine Frau sein?«, fragte Bernadette, die es trotz Vorfreude bedauerte, ihre Freundinnen zurückzulassen.

»Lieber wäre es mir. Aber ich kann dem Schicksal ja noch ein Hintertürchen offen lassen.«

Ich werde für das Jahr genau den/die richtige(n) Untermieter/in finden.

»Wie wäre es denn mit einem Wohnungstausch? Vielleicht hat Jean Lust, für ein Jahr nach Deutschland zu kommen?«, bemerkte Laura, die ihre Einzimmerwohnung im Süden der Stadt nicht gegen ein WG-Zimmer bei Julia eintauschen wollte. So sehr sie ihre Freundin mochte, sie war froh, sich auch mal ganz zurückziehen zu können.

Julia schüttelte den Kopf. »Ich weiß doch nicht mal, wie er mit Nachnamen heißt.«

Bernadette schnappte sich den Stift.

Julia wird Jean dieses Jahr endlich wieder in ihre Arme schließen.

Auch wenn Julia so tat, als fände sie das albern, freute sie sich über die Anteilnahme ihrer Freundinnen. Und wer weiß? Vielleicht würde Bernadettes Wunsch ihre unzähligen geschriebenen, gedachten oder ausgesprochenen Wünsche schneller in Erfüllung gehen lassen.

Als Robert Piets Foto von den drei hübschen Cafébesitzerinnen sah, bereute er es, nicht bei der Jubiläumsfeier gewesen zu sein. Aber er hatte größere Sorgen. Über seinen Vorschlag, für die erste Zeit zu dritt in der Wohnung zu leben, hatte Carsten noch nicht einmal gelacht. Natürlich würde er ihn nicht sofort auf die Straße setzen, aber wenn Sonja, die schon ihre Wohnung gekündigt hatte, in einem Monat einziehen würde, müsste er was anderes haben.

»Ach komm, die Stadt ist riesig, da wird sich was finden!«, hatte Carsten gesagt und war direkt mit ihm die Immobilienanzeigen durchgegangen. Doch alles war zu teuer, zu weit weg oder viel zu klein. Und drei Monatsmieten Kaution hatte er weder auf dem Konto noch unter der Matratze versteckt. Die einzige Notreserve, die er besaß, waren Schuhe mit Autogrammen der größten Stars der Musikbranche – das Ergebnis eines Semesterferienjobs bei einem renommierten Musikmagazin. Damals hatte er die Serie »In den Schuhen von …« ins Leben gerufen. Sein Charme und sein gutes Aussehen sorgten dafür, dass er an jedem Bodyguard vorbeikam, um die Stars zu ihren Schuhen zu interviewen – wohlgemerkt an seinen Füßen. Er hatte behauptet, dadurch würde er sich besser in sie hineinfühlen können. Was für ein Schwachsinn! Das Magazin wurde zwar eingestellt, und er hatte nie wieder einen vergleichbaren Job bekommen, aber die Schuhe hatte er behalten, und sie waren ihm hin und wieder nützlich gewesen. Kylie Minogues Glitzerpumps im Regal lösten bei weiblichen Besuchern eine solche Begeisterung aus, dass er selbst zur Nebensache wurde. Er war für sie die Brücke zur Glitzerwelt. Wie konnte er nach dem Studium nur so blöd sein, bei einer Zeitung anzufangen, die so provinziell war?

»Nimm es nicht persönlich. An unserer Freundschaft ändert das nichts!«, sagte Carsten.

Auf den Hinweis, dass die meisten Wohnungen über Kontakte vermittelt wurden, ging Robert sein Adressbuch durch.

Ein paar seiner Freunde und Kollegen versprachen, sich umzuhören. Simona hatte sich anscheinend mehr von seinem Anruf versprochen.

»Hi, Robert. Wie schön, von dir zu hören.«

»Äh, ja, war ein wenig stressig hier in letzter Zeit. Wie geht’s denn so?«

»Ich habe dich vermisst.«

Robert überlegte kurz, ob er lügen sollte. Er entschied sich dafür, neutral zu bleiben. »Wir könnten doch mal wieder zusammen einen Kaffee trinken. Aber bevor ich überhaupt an so was wie Ausgehen denken kann, muss ich erst ein anderes Problem lösen.«

»Kann ich dir dabei helfen?«

Simona klang, als creme sie sich gerade ihre langen Beine ein. Vielleicht wäre ein Kaffee wirklich eine gute Idee – danach wäre sie bestimmt noch hilfsbereiter? Aber Robert wollte fair sein – oder das, was er darunter verstand.

»Vielleicht.«

»Aha? Worum geht’s?« Jetzt klang sie, als bürste sie ihr langes Haar.

»Kennst du jemanden, der ein Zimmer oder eine kleine Wohnung vermietet?«

»Arschloch.« Sie knallte den Hörer auf.

Bei seinem alten Freund Nick hatte er mehr Glück. Der sprach sogar von Gedankenübertragung, und eine halbe Stunde später saßen sie zusammen bei Starbucks.

»So einen Laden müsste man haben«, bemerkte Nick anerkennend und biss in seinen Blaubeermuffin.

Robert klammerte sich an seinen heißen Kaffee, schwarz und ohne Zucker, den er sich von Nick hatte mitbringen lassen. Die Auswahl, die hier den Hang zum Individualismus ins Absurde trieb, hätte ihn sonst in die Verzweiflung getrieben.

»Tja, wie gesagt, mir würde im Moment ein WG-Zimmer reichen.«

»Wird sich finden!«

Robert war genervt von Nicks Auftreten. Er hätte als Leiter des Seminars Die Welt ist wunderbar– wie kann man das zu Geld machen? eine gute Figur abgegeben. Neben Nick, den er bei einem Praktikum in einer Werbeagentur kennengelernt hatte, sah er schlaksig aus, seine Klamotten wirkten schäbig und seine Brille streberhaft.

»Aber sag mal, Robert, wie geht es dir sonst? Immer noch auf den Chefposten des Rolling Stone aus?«

War er das je gewesen?

»Hör schon auf. Der Journalismus liegt im Sterben. Passend zu seinem Stoff.«

»Du warst schon immer ein Zyniker. Ich meine, wie geht es dir?«

Diese Frage gehörte zu den schlimmsten, die ein Mensch dem anderen stellen konnte. »Was läuft?« hätte vollkommen gereicht.

»Willst du wirklich wissen, wie es mir geht?«

»Na klar.« Nicks Muffin war verspeist. Jetzt ging es dem dreifachen Toffee-Dingsbums-fettarm an den Kragen.

»Beschissen. Ich berichte über Greise, Baumarkteinweihungen und Gartenausstellungen, während meine Kollegen über Krieg, Pleiten und Umweltzerstörung schreiben. Ich frage mich nicht nur, wer in so einer Welt noch eine Zeitung kaufen will, ich frage mich auch, wer in so einer Welt überhaupt noch leben will!«

»Keiner. Darum sollten wir sie ändern!«

»Ach, ja? Sitzstreik vor dem Panzer oder was?«

»Warum nicht? Abgesehen davon leben wir in einem friedlichen Land.«

»Meinst du? Fragt sich nur, wie lange noch.«

Nick wurde wieder einmal klar, dass Robert beim Thema Weltverbesserung der falsche Ansprechpartner war.

»Und privat?«

»Prekäre Verhältnisse trotz Job. Demnächst wahrscheinlich obdachlos. In dieser Stadt gibt es ja keine Wohnungen mehr, weil die ganzen verwöhnten Gören die Einzimmerwohnungen belegen und von ihren reichen Eltern noch den Hintern gepudert bekommen, damit sie auf Staatskosten Vorlesungen verpennen, die durch die Steuergelder armer Mittelschichtler finanziert werden!«

Nick suchte krampfhaft nach einem unverfänglichen Thema. Frauen. Vielleicht wäre das Thema erbaulicher.

War es nicht, wie sich beim ersten Stichwort herausstellte.

»Hör mir auf mit der Liebe! Die hat mich gerade erst die Wohnung gekostet. Seit mein Mitbewohner wieder liiert ist, ist vor allem eins in festen Händen: sein Gehirn.«

Vor dem Fenster schlich der Obdachlose vorbei, der immer die Pfandflaschen einsammelte.

»Wenn ich nicht bald etwas finde, dann ende ich wie der Penner da!«

Bei allem Mitleid für Robert war Nick die Situation langsam peinlich. Er wusste, dass Robert im Grunde seines Herzens niemandem etwas zuleide tat. Die Frauen, die sich von ihm abschleppen ließen, waren im Grunde selbst schuld. Sie sollten dankbar sein, dass er ihnen die Lektion erteilte, dass manche Männer eben nur Sex wollten. Auf einmal kam Nick eine Idee, wie er mehreren Menschen gleichzeitig einen Gefallen tun würde – sich selbst inklusive.

»Robert, das wirst du nicht. Ich glaube, ich habe ein WG-Zimmer für dich: 400 Euro warm, Altbau, Balkon, Wohnküche und Wannenbad.«

»Und wo ist der Haken?«

Nick strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Häkchen. Allerhöchstens.«

»Sag mir doch gleich, dass ich die Wohnung nicht bekomme!«

Roberts Galle musste schon schwarz sein. Wenn die Theorie meiner Schwester stimmt, dass Gedanken Wirklichkeit werden, dachte Nick, dann ist er selbst schuld an seiner Misere.

»Die Vermieterin und Mitbewohnerin wäre meine Schwester Julia.«

»Also wenn ich in irgendeine dunkle Familienangelegenheit verstrickt werde, dann wäre mir ein Leben als Penner doch lieber!«