Das Haus der Hebammen - Susannes Sehnsucht - Marie Adams - E-Book
SONDERANGEBOT

Das Haus der Hebammen - Susannes Sehnsucht E-Book

Marie Adams

0,0
8,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Für sie ist der Beruf eine Berufung: die Hebammen aus dem Haus der guten Hoffnung!

Köln. Susanne, Carola und Ella arbeiten als Hebammen im selben Krankenhaus und sind gute Freundinnen. Als sie in der Cranachstraße 21 ein leer stehendes Haus entdecken, entscheiden sie sich, ein Geburtshaus zu gründen. Sie träumen davon, den werdenden Müttern und deren Babys die bestmögliche Geburt zu schenken – voll Geborgenheit und Wärme – und sie auch danach weiter zu begleiten. Als Susanne eine Frau betreut, die vorgibt, ihr erstes Kind zu erwarten, erkennt die erfahrene Hebamme anhand einiger Narben sofort die Lüge. Warum verheimlicht ihre Patientin die frühere Geburt? Sofort reißen bei Susanne alte Wunden auf. Denn sie hat in jungen Jahren eine Tochter geboren, die sie weggeben musste …

Ein berührender Roman über die kleinen und großen Dramen, über Schmerz, Freude und den Glauben, dass am Ende alles gut wird.

Die Trilogie um das Geburtshaus in der Cranachstraße:
Band 1: Das Haus der Hebammen – Susannes Sehnsucht
Band 2: Das Haus der Hebammen – Carolas Chance
Band 3: Das Haus der Hebammen – Ellas Entscheidung
Die Bücher erzählen eigenständige Geschichten und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 506

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Köln 1989: Susanne, Carola und Ella arbeiten als Hebammen im selben Krankenhaus und sind gute Freundinnen. Als sie in der Cranachstraße 21 ein leer stehendes Haus entdecken, entscheiden sie sich, ein Geburtshaus zu gründen. Sie träumen davon, den werdenden Müttern und deren Babys die bestmögliche Geburt zu schenken – voll Geborgenheit und Wärme – und sie auch danach weiter zu begleiten. Als Susanne eine Frau betreut, die vorgibt, ihr erstes Kind zu erwarten, erkennt die erfahrene Hebamme anhand einiger Narben sofort die Lüge. Warum verheimlicht ihre Patientin die frühere Geburt? Sofort reißen bei Susanne alte Wunden auf. Denn sie hat in jungen Jahren eine Tochter geboren, die sie weggeben musste …

Autorin

Marie Adams ist das Pseudonym der Kölner Autorin Daniela Nagel. Unter beiden Namen hat sie bereits diverse Romane und Sachbücher verfasst. Zudem schreibt sie Artikel über das Autorendasein für Fachzeitschriften. In ihrer neuen Trilogie »Das Haus der Hebammen« behandelt sie ein echtes Herzensthema: die Geburt und das Glück werdender Mütter. Die Autorin ist selbst Mutter von fünf Kindern, von denen einige in eben jenem Geburtshaus zur Welt kamen, das als Vorbild für die Romantrilogie diente.

Von Marie Adams bereits erschienen

Das Café der guten Wünsche · Glück schmeckt nach Popcorn · Der kleine Buchladen der guten Wünsche

Besuchen Sie uns auch auf

www.instagram.com/blanvalet.verlag und

www.facebook.com/blanvalet.

MARIE ADAMS

Das Haus der

Hebammen

Susannes Sehnsucht

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Marie Adams

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur

erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

© 2022 by Blanvalet in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv:

© Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

(Monica Ivanica, contrastwerkstatt, Anatoliy, kulniz,

WavebreakMediaMicro, ajr_images) und Katong/Shutterstock.com

JA · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-27432-0V001

www.blanvalet.de

Für meine Familie

Das Kölner Geburtshaus existiert seit 1989, und vieles hat sich tatsächlich ähnlich zugetragen, aber alle Figuren sind genauso wie manche Örtlichkeiten – etwa das St.-Laurentius-Krankenhaus – frei erfunden.

Kapitel Eins

Köln, im März 1989

Susanne

Susanne wärmte ihre Hände am Kaffeebecher und betrachtete aus dem Fenster des vierten Stocks des St.-Laurentius-Krankenhauses den Sonnenaufgang. Blutrot stand die Sonne über der Stadt, wunderschön und doch von den allermeisten Menschen unbeobachtet. Wer war schon um diese Zeit mitten in der Woche unterwegs? Menschen, die dafür arbeiteten, dass alles funktionierte. Bäcker. Polizisten. Rettungssanitäter. Zeitungsausträger. Krankenschwestern. Und Hebammen, so wie sie. Und all diese Leute hatten meist kaum Zeit, den Sonnenaufgang zu beobachten, weil ihr Blick fest auf die Straße, den nächsten Briefkasten oder auch den Verletzten gerichtet war, den sie versorgen mussten. Noch war es ruhig. Der Vollmond vor zwei Tagen hatte wohl alle überfälligen Fruchtblasen platzen lassen und allein auf ihrer Geburtsstation den Tag für zwölf Kinder zum ersten Geburtstag gemacht. Ein Blaulicht störte das Bild. Oder nein, es stört das Bild nicht, es rückt es wieder gerade, dachte Susanne. Das Leben war eben kein friedlicher Sonnenaufgang, sondern ein ständiges Auf und Ab mit unendlich vielen Momenten zwischen Leben und Tod. Und doch fühlte sich Susanne immer getröstet, wenn sie den Sonnenaufgang beobachtete. Schließlich ging die Sonne über jedem Menschen auf. Auch über einem ganz besonderen, den sie schon viel zu lange nicht gesehen hatte und in diesen Momenten einen stillen Gruß schickte.

Susanne wandte ihren Blick vom Fenster ab, um ihren Rundgang bei den Wöchnerinnen zu starten. Um sechs Uhr wurden den frischgebackenen Müttern das erste Mal die Babybettchen herangeschoben – sofern sie es wollten. Die meisten Mütter waren froh, dass sie so kurz nach der Geburt wenigstens im Krankenhaus das Füttern und Wickeln den Schwestern überlassen konnten. Noch lagen alle Babys im Säuglingszimmer. Susanne warf einen Blick durch das Fenster des schalldichten Raumes, in dem ein Kind neben dem anderen im Bettchen lag. Eine Reihe rosafarbener Strampler und Mützchen, eine Reihe hellblau verpackter Babys. Susanne wunderte sich jedes Mal, wie die meisten seelenruhig weiterschliefen, während ein paar andere die Münder aufgerissen hatten und aus Leibeskräften brüllten. Antje, die Säuglingsschwester, kam mit einem Tablett voller Fläschchen den Flur entlang.

»Hilfst du mir, die kleinen Mäuler zu stopfen?« Antje schaute auf die Kaffeetasse in Susannes Hand, als habe sie sich einen Drink gegönnt, während die anderen schufteten. Susanne war es gewohnt. Antje war dafür bekannt, dass sie ihren Kolleginnen schnell ein schlechtes Gewissen unterjubelte. Sie war jung, ehrgeizig, wartete sowieso nur auf ihren Medizinstudienplatz und liebte den Arbeitsplatz Krankenhaus mehr als die neuen Erdenbürger.

»Na klar, sie sollen unsretwegen nicht verhungern!«, antwortete Susanne, stellte den Kaffeebecher ab und öffnete die Tür. Sofort wurde es laut. An manchen Betten klebte eine Notiz, die verriet, dass die Mütter stillen wollten. Antje griff zielstrebig nach dem Würmchen im blauen Strampler, das der Stimme nach einmal Opernsänger oder Löwenbändiger werden würde, um ihm den Sauger in den kleinen Mund zu stopfen. Susanne hob ein schmales Bündel aus seinem Bettchen, das nur wimmerte, und legte es in ihre Armbeuge, um ihm die Flasche zu geben.

»Hallo, meine kleine Nicole«, flüsterte Susanne beim Blick auf das Armbändchen, das jedes Baby vor Verwechselungen schützte. Susanne war heilfroh, dass sie in den fünfzehn Jahren, die sie schon als Hebamme arbeitete, noch nie eins der Kinder vertauscht hatte. Zumindest hatte noch kein Elternpaar Nachforschungen angestellt, aber ganz sicher konnte man sich nie sein. Der Säugling schaute Susanne aus winzigen braunen Knopfaugen an. Unter dem Mützchen lugten ein paar kupferrote Haare hervor. Welch ein Leben diesem Mädchen wohl beschert war? Waren seine Wege schon vorherbestimmt, oder würde es selbst seines Glückes Schmied sein müssen? Oder dürfen? Nicole war in der letzten Schicht geboren worden, sodass Susanne die Mutter noch nicht kannte.

Die Tür wurde wieder aufgerissen. Oberschwester Hilde, die trotz ihres beträchtlichen Leibesumfangs stets wie ein Wiesel über den Flur flitzte, stand im Türrahmen.

»Susanne, hier bist du! Für diesen Job ist Antje zuständig. Du wirst im Kreißsaal gebraucht, und zwar sofort!«

Trotz Hildes besorgter Miene legte Susanne das Baby behutsam zurück in sein Bettchen und folgte dann der Oberschwester über den Flur.

»Dr. Kramer ist im OP, und bei der jungen Frau stimmt etwas nicht! Ganz davon abgesehen, brauchst du dich nicht um die Babys zu kümmern. Es ist völlig egal, wenn die nach Milch schreien, es ist hier noch keines verhungert! Bei den Frauen dagegen geht es um Leben und Tod! Jawohl! Meine Güte, was bin ich froh, dass ich mir diese Strapaze nie angetan habe!«

Und reden kann sie auch noch wie ein Wasserfall, selbst wenn sie über den Flur rennt, dachte Susanne.

»Tja, scheint vielen Frauen irgendwie Freude zu machen. Im Wöchnerinnenzimmer liegt eine mit dem dritten Kind und meinte gestern, dass sie sich sicher sei, noch mal wiederzukommen«, entgegnete Susanne. Sie selbst war jetzt mit vierunddreißig in einem Alter, in dem die Fragen zunahmen, ob sie sich nicht lieber um ein eigenes als um fremder Leute Kinder kümmern wollte. Und da dieser Gedanke so schmerzvoll war, dass sie mit niemandem darüber sprach, war sie fast froh, wenn sie einfach antworten konnte, ihr fehle dafür einfach der passende Partner. Vermisste sie einen Mann? Wenn sie die glücklichen Paare sah, wurde sie daran erinnert, dass Liebe und eine glückliche Familie möglich waren. Aber auch daran, dass in ihrem Leben etwas vollkommen schiefgelaufen war.

Schwester Hilde sah sie einen Moment skeptisch an, als könnte sie Gedanken lesen. Doch dann schüttelte sie nur den Kopf.

»Nach drei Kindern noch ein viertes? Selbst schuld. Für den Karnickelpass reichen doch drei.«

Selbst schuld. Bin ich auch an allem selbst schuld?, fragte sich Susanne auf dem Weg zum Kreißsaal und wappnete sich für die werdende Mutter, die in Schwierigkeiten steckte.

Auweia, dieser Mutter geht es gar nicht gut, dachte Susanne, als sie den Kreißsaal betrat. Die Hochschwangere hatte bereits eines dieser Krankenhausleibchen an, die nur im Nacken zugebunden waren und den Blick auf den blanken Po freigaben. Sie lag auf dem Bett und hielt die Hände vor die Augen, als würde ihr das grelle Licht Kopfschmerzen verursachen.

Susanne trat an das Bett und legte ihre Hand auf die Schulter der jungen Frau, die sie jetzt ansah wie ein Reh, das sich im Stacheldraht verfangen hatte.

»Ich bin Susanne, Ihre Hebamme für die nächste Schicht.«

Um die Frau nicht mit Fragen zu beunruhigen, nahm sie sich den Mutterpass, der auf dem Nachtkästchen lag, und blätterte ihn durch. Eine unauffällige Schwangerschaft. Ihr Name war Anita Berger.

»Ich möchte den Arzt. Ich glaube, ich sterbe. Mein Schädel platzt.«

Susanne seufzte. Fast alle wollten den Arzt. Und fast alle dachten, sie würden sterben. Beides war meistens Quatsch.

»Dr. Kramer wird gleich kommen, bis dahin kümmere ich mich um Sie.«

Anita Berger nickte und hielt sich wieder die Hände vor die Augen. Laut Schwester Hilde war sie mit starken Wehen eingeliefert worden, und Wehen waren normalerweise stärker als Kopfschmerzen.

»Sind Sie allein gekommen?« Susanne legte die Blutdruckmanschette um Anita Bergers linken Oberarm.

»Ja, mit dem Taxi. Mein Mann ist auf der Arbeit. Ich wollte ihn nicht stören. Aber ich habe ihm einen Zettel auf den Tisch gelegt.«

Die werdenden Väter waren selten dabei, und wenn, tigerten sie auf dem Flur auf und ab. Manche genehmigten sich im Flur auch eine Zigarette oder eine Flasche Bier. Susanne konnte sich auch an einen Mann mit Schlaghose, langen Haaren und einem Joint zwischen den hübschen Lippen erinnern, der darauf bestanden hatte, mit seiner Freundin im Kreißsaal zu bleiben. Susanne, damals gerade mit dem Abschluss zur Hebamme in der Tasche, hatte es ihm erlaubt, aber natürlich ohne sein Tütchen.

Dr. Kramer, der Oberarzt, fand Väter im Kreißsaal »unpassend«, auch wenn immer mehr Krankenhäuser die Männer dazu ermutigten, bei der Geburt dabei zu sein. Aber zum Glück hatten die Hebammen in unkomplizierten Fällen das Ruder selbst in der Hand.

»Dann wird er sich nach der Arbeit bestimmt sofort auf den Weg machen, und wenn Sie Glück haben, halten Sie Ihr Kind dann schon in den Armen.«

Susanne betrachtete die Frau, die mit angewinkelten Beinen unter der Decke lag und nur den Oberkörper leicht aufgerichtet hatte. Gleich müsste sie ihren intimsten Bereich abtasten, ohne dass sie mit ihr mehr als drei Sätze gewechselt hatte. Susanne hätte ihr gern mehr Zeit gelassen, aber Schwester Hilde hatte wohl recht. Hier stimmte etwas nicht. Ein Blutdruck von 190/110. Die Kopfschmerzen. Die Gesichtsfarbe. Den Urin auf Eiweiß zu untersuchen war fast überflüssig, um ihren Verdacht zu bestätigen.

»Darf ich mir einmal Ihre Beine anschauen?«

Anita Berger lachte kurz hysterisch auf.

»Warum nicht? Wobei mir fast alles wehtut, nur die Beine nicht.«

Susanne schlug die Decke zurück. Sie hatte keinen Vergleich, wie die werdende Mutter sonst aussah, aber trotz des Bambiblicks waren das hier keine grazilen Rehbeine.

»Darf ich?«, sie berührte ihre Unterschenkel, Anita nickte.

Susanne drückte in die Knöchel. Die Dellen blieben, und das war kein gutes Zeichen. Ödeme, ein weiteres Anzeichen für eine Gestose. Unauffällig drückte sie den Piepser in ihrer Tasche, der den Alarm im Schwesternzimmer auslösen würde. Den Alarm, der dafür sorgen würde, dass sich sofort ein Arzt blicken ließ. Wenn Anita Berger nicht bald einen Kaiserschnitt bekommen würde, dann würde der Vater hier am Abend vielleicht nur noch ein leeres Bett vorfinden.

Carola

Carola überlegte einen Moment, ob sie sich bei Eduscho eine Tasse Kaffee gönnen sollte, als sie wie an jedem Arbeitstag durch den Kölner Hauptbahnhof lief. Dann hätte sie sich zehn Minuten an einen der Stehtische stellen können und aus einer weißen Porzellantasse einen richtig guten Kaffee geschlürft und den Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen eingeatmet. Ein Hörnchen dazu wäre auch nicht schlecht gewesen. Carola spürte erst jetzt, dass ihr Magen knurrte. Dabei hatte sie heute schon sechs Wurst- und Käsebrote geschmiert, noch dazu drei Äpfel kleingeschnitten. Aber alles war in die Brotdosen der Kinder gewandert. Sie selbst hatte nur die Reste von Stefanies Kakao getrunken, während Thomas und Maike sich darum stritten, wer sich zuerst Zucker über die Cornflakes streuen durfte. Dabei war die Öffnung der Zuckerdose nun wirklich groß genug, dass zwei Teelöffel gleichzeitig hineinpassten. Carola schmunzelte. Ihre beiden Kleinen fanden immer einen Grund, sich zu streiten, versöhnten sich aber auch fünf Minuten später gleich wieder. Ob das am Alter lag? Wenn Carola und ihre Schwester stritten, lenkte Carola meist schnell ein, ärgerte sich aber manchmal noch wochenlang über eine blöde Bemerkung ihrer Schwester; die letzte lag gerade erst drei Tage zurück.

Carola nahm die Treppe zur U-Bahn hinunter, um in die Linie 18 Richtung Ebertplatz einzusteigen – für einen Kaffee hätte sie eine S-Bahn früher nehmen müssen. Und bei Eduscho kam ihr heute die Erinnerung, wie sie vorvorgestern mit ihrer Schwester Kaffee getrunken hatte, zum dritten Mal in den Sinn.

Heike, ihr Mann Klaus und ihr Sohn Konrad – trotz seiner zwölf Jahre in Hemd und Cordhose – hatten zehn Minuten vor der Zeit an der Tür geklingelt. Carola fegte gerade die Krümel vom Boden auf; die Kinder machten ihrer Tante sofort auf, sodass Carola ihre Schwester mit Handfeger und Kehrschaufel in der Hand begrüßte.

Die letzten fünf Minuten hatte Carola eigentlich für Wimperntusche und einen Hauch Rouge eingeplant, aber dafür war es nun auch zu spät gewesen.

»Wie schön, euch zu sehen!«, flötete Heike, und Klaus nickte beflissen. Heikes Kostüm schillerte in Blau- und Grüntönen, und die Haare waren bauschig aufgeföhnt. Sie sieht gut aus, dachte Carola, als sie ihre ältere Schwester betrachtete. Heike lenkte Carolas Aufmerksamkeit jedoch schnell auf den runden Tupperbehälter mit Henkel, den sie in der Hand hielt.

Sie trug ihn wie einen heiligen Gral zum Esstisch, stellte ihn dort ab und lüftete den Deckel.

»Ich habe mich heute mal ein paar Stunden in die Küche gestellt, um euch eine Nuss-Sahne-Torte mitzubringen. Ich weiß doch, dass du kaum Zeit zum Backen hast.«

»Boah, ey, die sieht ja geil aus!«, rief Thomas angesichts des beigekaramellfarbenen Traums mit Krokantstreuseln. Carola fragte sich, wo Andreas blieb. Der hatte sich vor einer halben Stunde ins Bad eingeschlossen, nachdem er die halbe Nacht geschrieben und dann bis zum Mittag geschlafen hatte.

Carola strich Thomas über die Haare und korrigierte ihn sanft: »Ja, die Torte sieht fantastisch aus.«

»Das hört sich schon besser an«, entgegnete Heike und raunte Carola zu, sie sei froh, dass Konrad nicht in den Hort müsse, da würden sie ja nur solche Ausdrücke aufschnappen, von denen sie gar nicht wüssten, was sie bedeuteten. Na ja, der Hort sei immer noch besser als Schlüsselkinder, plapperte Heike weiter, obwohl Carolas Kinder nach der Schule weder in den Hort noch sich alleine versorgen mussten, sondern vom Vater betreut wurden.

Als Andreas dann endlich mit verwuschelten, noch feuchten Haaren aus dem Bad kam und erst Carola einen flüchtigen Kuss gab, bevor er seine Verwandtschaft begrüßte, verscheuchte eine warme Welle in ihrem Körper den Unmut über Heikes Sticheleien. Eine Weile plauderten sie nett, während die Kinder Erdbeerkaba und die Erwachsenen Kaffee tranken; sie waren zu acht, da war die Prachttorte schnell verputzt. Den eingeschweißten Schokokuchen hatte Carola im Vorratsschrank belassen. Erstens brauchte sie keine Bemerkung darüber, ob sie das Aufreißen von Packungen im Hauswirtschaftskurs gelernt habe, zweitens wollte sie nicht, dass sie die nächsten zwei Tage Kuchenreste in sich reinstopfte. Schließlich hielt sich der Schwangerschaftsspeck hartnäckig, obwohl ihr jüngstes Kind bereits fünf war.

Unter dem Tisch suchte Carola immer wieder Andreas’ Hand und fand sie zum Glück bereitwillig, um ihren Händedruck zu erwidern. Ausgerechnet Konrad verschüttete seine rosa Milch auf dem Tischtuch und bat höflich um eine Serviette.

Maike, die ihren Cousin anhimmelte, sprang auf, um den Esszimmerschrank zu öffnen. Carola sprang ebenfalls auf und rief dabei: »Ich hole einen Lappen aus der Küche!«

Doch da war es schon zu spät. Als Maike die obere Tür des Esszimmerschrankes öffnete, purzelten nicht nur Servietten heraus, sondern auch Schulhefte, ein paar bemalte, ausgeblasene Eier, ein Monster aus Fimo, Stifte, halb abgebrannte Kerzen in den unterschiedlichsten Farben und ein Zwerg mit Zipfelmütze, den Carola zwar hässlich, aber zu schade zum Wegwerfen fand. Am Ende ploppte noch das Mundstück einer Holzflöte hinterher. Carola hob alles auf und legte es zu den Sachen, die auf der Anrichte des Schranks liegen geblieben waren. Dabei hatte sie die Fläche gerade noch freigeräumt, alles schnell in den Schrank gestopft und die Tür mit Mühe zugedrückt. Eigentlich war das zum Lachen, wenn Heikes Bemerkung sie nicht fast zum Heulen gebracht hätte.

»Tja, alles auf einmal kann man eben nicht schaffen.«

Dieser Satz hallte in Carola noch nach, als die U-Bahn endlich einfuhr. Gemeinsam mit einer gestressten Mutter wuchtete sie deren Kinderwagen die Stufen der Bahn hoch und suchte sich einen freien Sitzplatz, wenngleich es nur ein paar Stationen waren.

Doch, sie wollte alles auf einmal schaffen! Zumindest alles, was ihr wichtig war! Aber auch sie würde so gern einmal das Gefühl haben, Pause zu haben, Feierabend, wirklichen Urlaub. Einmal innehalten. Einmal das Gefühl, alles geschafft zu haben.

Aber es gab keine Pause, nicht einmal ein kurzes Innehalten. Schon gar nicht, als Carola auf dem üblichen Weg durch das Viertel marschierte, in dem das St. Laurentius lag, in dem sie als Hebamme arbeitete. Die Straße war wegen einer Baustelle gesperrt, das Pflaster, über das sie mehrmals die Woche lief, aufgerissen. Gut, der Asphalt hatte hier und da ein paar Risse, durch die sich ein vorwitziger Löwenzahn drängte. So wie in der Serie mit diesem Peter Lustig, der im Bauwagen wohnte und den Kindern etwas über Umweltschutz erzählte. Und nicht nur wegen der zarten Pflanzen hätte die Straße für Carola einfach so bleiben können, aber irgendjemand musste es ja wieder mal perfekt haben!

Noch schnelleren Schrittes nahm Carola einen Umweg und lief vorbei an hübschen Altbauten, Büdchen, einem Buchladen und einem Café, in dem ein paar Leute das Frühlingswetter für das erste Kännchen Kaffee im Freien nutzten.

Am Ende der Straße hielt sie inne. Es war, als ob das Gebäude, auf das sie zugelaufen war, ihr etwas zuflüsterte. Der hohe, schmale Altbau lag in einer Gabelung, zu beiden Seiten hin gingen ruhigere Straßen ab. Die Holztür in dem Ziegelbau wirkte auf Carola wie ein übergroßer Mund. Ein Mund, der flüsterte: Nimm dieses hässliche Schild über mir weg. Ich bin zu viel mehr bestimmt, als dass hier literweise Kölsch ausgeschenkt werden. Carola fühlte sich ein wenig wie die Goldmarie in Frau Holle. Sollte gerade sie das weiße Plastikschild mit der Aufschrift Schützenhof abnehmen, das so gar nicht zu den Stuckfenstern und der schmucken Fassade passte? Diese Schrift in einer Art modernem Sütterlin, die schon seit dem Beginn der Achtzigerjahre jede zweite Kneipe verunstaltete und so gar nicht mit der würdevollen Ausstrahlung des Hauses harmonierte?

Carola blickte die Fassade empor, die vier Stockwerke bauten sich vor ihr auf wie ein Turm. Selbst wenn sie die drei Steinstufen zur Tür erklimmen würde, reichte sie nicht an das Schild heran, abmontieren könnte sie es ohnehin nicht. Und da war noch ein zweites Schild, das davon zeugte, dass das erste bald verschwinden würde. Zu vermieten stand darauf zu lesen, darunter eine Telefonnummer mit Kölner Vorwahl.

Carola ging dennoch die Stufen hoch, ja, drehte sogar am Türknauf, ohne dass die Tür nachgegeben hätte. Das kleine Fenster in der Tür gab jedoch einen Blick ins Innere frei. Ein großer Raum mit schrägen Wänden, ein bisschen so, als breite er die Arme aus. Er war leer und schon jetzt recht hell, obwohl die Fenster völlig verstaubt waren. Hier hätte man tanzen können oder einfach in der Mitte des Raumes liegen und die hohe Decke anstarren.

Carola liebte alte Häuser. Natürlich regte eins, das dazu noch leer stand, ihre Fantasie mächtig an. Und natürlich war es vermutlich Blödsinn, sich die Nummer zu notieren, zumal sie weder Zettel noch Stift dabeihatte. Dennoch konnte sie nicht anders, als noch ein wenig auf den Stufen zu verweilen und die Ruhe zu genießen, die sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte, wenn sie pünktlich kommen wollte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass dieses Haus in der Cranachstraße 21 noch eine Rolle in ihrem Leben spielen würde.

Ella

Ella war es gewöhnt, dass die Menschen sie anstarrten, selbst wenn sie die altrosafarbene Hebammentracht trug. Nicht einmal die weite Hose und das lose Oberteil aus festem Stoff konnten ihre weiblichen Rundungen verstecken, und auch das von einem krausen Samtband gebändigte schwarze Haar konnte ihre südländische Schönheit nicht verbergen. Die vollen Lippen und dunklen Augen hatte sie von ihrem Vater geerbt, der 1956 als Gastarbeiter nach Köln gekommen und seiner Aussage nach nur der Liebe wegen geblieben war. Die meisten seiner Kollegen waren auch ohne Liebe geblieben, aber Ernesto war glücklich hier. Immer noch.

Gegen den anfänglichen Widerstand der Eltern mütterlicherseits, die sich gewünscht hätten, dass ihre Tochter ihr Studium zur Deutschlehrerin beendet, hatten er und ihre Mutter Anneliese ein schönes Leben aufgebaut und waren stolze Eltern dreier bezaubernder Töchter geworden, wobei Ella immer mehr das Gefühl hatte, dass ihrer Mutter etwas fehlte, seit alle Kinder fast erwachsen waren. Ella lag mit ihren zweiundzwanzig Jahren in der Mitte und teilte sich mit ihrer jüngeren Schwester Carla ein Zimmer, obwohl auch Carla bald erwachsen sein würde.

Falls einer der Männer, die in ihren Pyjamas im Raucherraum eine Zigarette rauchten, oder einer der Ärzte sie zu lange anstarrte, starrte Ella einfach zurück. Und wenn der Mann nett aussah, lächelte sie, was die meisten endgültig dazu brachte wegzuschauen. Bei Dr. Christian Wiedemeyer hatte sie diese Strategie nicht beherzigt, sondern anfangs immer weggeschaut, weil sie niemals etwas mit einem der Ärzte anfangen wollte. Und sie wusste vom ersten Moment an, dass sie sich in ihn verlieben würde, wenn sie nur einmal zu lange hinschaute. Genau das hatte ihn wohl dazu animiert, ihr so lange nachzustellen, bis er sie schließlich doch auf einen Kaffee einladen durfte, bei dem sie den Blick nicht mehr abgewendet hatte. Tja, und am Ende hatte er ihr das Herz gebrochen, wenn auch nicht so sehr, dass sie ihren Glauben an die große Liebe verloren hatte, die irgendwo auf sie warten würde. Ella war nicht zuletzt deshalb Hebamme geworden, weil sie Babys liebte und selbst einmal mindestens drei Kinder haben wollte. Durch einen Zufall oder eine glückliche Fügung – Ella glaubte eher an Letzteres – war sie dabei gewesen, als ihre älteste Schwester Maria ihre Tochter zur Welt gebracht hatte.

Ella nahm den Aufzug in die Geburts- und Wöchnerinnenstation, die nicht nur nach Desinfektionsmitteln, Windeln und Babymilch roch, sondern auch nach Glück, Hoffnung und Neuanfang. Auf der Geburtsstation starrte sie auch kaum ein Mann an, weil die allermeisten ihre Babys anhimmelten, als wären sie das Schönste der Welt. Und genau so sollte es schließlich sein!

Es war Ellas zweite Woche im St.-Laurentius-Krankenhaus, nachdem sie ihr Examen mit Bravour bestanden hatte. Dennoch durfte sie erst einmal keine Geburt allein begleiten, aber sie war zuversichtlich, dass es bald so weit wäre. Spätestens wenn der Kreißsaal überfüllt war, würde sie schon beweisen können, dass es für diesen natürlichen Vorgang weder einen Arzt noch eine erfahrene Hebamme brauchte, die ihr auf die Finger sah.

Ella desinfizierte sich die Hände und saugte den Geruch ein, der sie an die Ausflüge mit ihrem Vater erinnerte. Tankstellengeruch eben. An der Tankstelle hatten sie immer gehalten, um sich ein Eis zu holen. Bevor sie noch mit jemandem über die Aufgaben des Tages sprechen konnte, bemerkte sie einen kleinen Tumult vor dem Patientenaufzug. Susanne, die immer freundliche Hebamme, die sich stets mit einer Engelsgeduld Zeit für ihre Fragen nahm, und eine der Schwestern schoben eine Frau in den Fahrstuhl. Ella brauchte gar nicht erst zu fragen, als sie in Susannes angespanntes Gesicht sah. Ein Notkaiserschnitt. Die Patientinnen mit geplantem Kaiserschnitt lagen längst im Aufwachraum und ihre Babys im Säuglingszimmer.

»Alles in Ordnung?«, fragte sie dennoch im Schwesternzimmer Oberschwester Hilde, die sich gerade eine Mon-Chérie-Praline in den Mund steckte. Ein frischgebackener Vater hatte eine Schachtel mit Konfekt für die »fleißigen Helferinnen« bei ihr abgegeben.

»Natürlich nicht! Wir sind hier im Krankenhaus und die meisten Frauen in einer Situation, in der sie bereuen, dass sie den Kerl rangelassen haben! So viel Scherereien für zehn Minuten Vergnügen!« Die Oberschwester lachte über ihre eigene Bemerkung, so schlimm konnte es also nicht sein. Ella fragte sich, warum diese an sich so gutmütige Frau, die auch noch auf einer Geburtsstation arbeitete, oft so redete, als ließen sich die Frauen die Gallenblase und kein zauberhaftes kleines Wunder aus dem Bauch holen. Vielleicht war sie aber auch nur auf dieser Station gelandet, weil es auf allen anderen keine freien Stellen mehr gab. Und organisieren konnte Schwester Hilde, keine Frage! Das war auf der Geburtsstation ein besonderes Kunststück, da hier selten etwas nach Plan lief.

»Ella, genug geredet! Gut, dass du da bist, mach bitte die Nachsorge in den Zimmern 25 bis 30, es gibt ein paar Brustprobleme, Abstillmedikamente sind noch genug da, und bei Patientin 27 muss die Dammrissnaht kontrolliert werden. Und verteil die Schmerzmittel bitte großzügig, ich kann das Gejammer nicht ertragen.«

»Aye, aye!«, antwortete Ella ironisch, weil ihr jede andere Reaktion albern vorgekommen wäre. Schwester Hilde hatte einen sanften Kern, der irgendwo tief in ihren Speckschichten versteckt war. Speckschichten, die jeder italienischen Mamma, die die Hälfte der Pasta für ihre Kinder immer selber verspeiste, weil sie die doppelte Menge gekocht hatte, alle Ehre gemacht hätten.

Bevor Ella sich im Schwesternzimmer ihre Unterlagen und Hilfsmittel holen konnte, kam ihr ein Mann in Jeans und Hawaiihemd entgegen, dessen Miene so gar nicht zu den Sonnen und Palmen auf dem Stoff passte, die eher nach Kummerwolken aussah.

»Ich suche meine Frau. Anita Berger.«

Er war nicht viel älter als Ella. Wahrscheinlich sein erstes Kind. Beim dritten würde er dann wohl entspannt den Anruf des Krankenhauses abwarten. Ella hatte noch keinen Überblick über die heutigen Patientinnen.

»Keine Sorge, Herr Berger, ich helfe gern. Ich schaue eben nach, ob wir die Patientin schon aufgenommen haben.«

»Wissen Sie, eigentlich wäre ich erst heute Nachmittag nach Hause gekommen, aber ich hatte so ein ganz komisches Gefühl und hab sie versucht anzurufen. Meine Frau ging nicht ran, obwohl sie sonst immer rangeht. Sie fühlte sich heute Morgen nicht gut, aber sie meinte, das wäre normal in ihrem Zustand. Und dann bin ich nach Hause gefahren, und da lag nur der Zettel, dass sie ins Krankenhaus fährt!«

Ella musste lächeln, weil der Mann so rührend aufgeregt war. Er würde mit Sicherheit ein fürsorglicher Vater werden.

»Ja, Herr Berger, vielleicht bekommt sie gerade ihr Baby, und Sie dürfen ihr bald gratulieren.«

Ella schaute dem jungen Mann aufmerksam in die Augen. Es war selten, dass einer der Männer so auf seine innere Stimme hörte, dass er sogar seine Arbeit liegen ließ. Die Frau auf dem Krankenbett vor dem Aufzug kam ihr in den Sinn. Susannes besorgter Ausdruck. Die Eile. Ella legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Warten Sie ab, es wird alles gut werden! Bestimmt dürfen Sie noch heute Ihr Baby im Arm halten.«

Und das meinte Ella auch so. Der liebe Gott würde dem armen Mann nicht eine innere Stimme schicken, damit er seine Frau aufsucht, um es dann trotzdem zu spät sein zu lassen. Oder sollte die innere Stimme nur den letzten Abschied ermöglichen?

»Glauben Sie wirklich?« Er sah sie flehentlich an, als hätte sie das Schicksal in der Hand.

»Ja, das glaube ich wirklich!«, sagte Ella fest.

Susanne stand wieder an dem Fenster, von dem aus sie heute den Sonnenaufgang beobachtet hatte. Jetzt leuchtete die Mittagssonne um die Wette mit den Narzissenrabatten vor dem Krankenhaus, die um die Patientenbänke herum in Orange, Gelb und Weiß blühten. Wie schnell das Leben doch auf der Kippe stand! Wie schnell veränderte sich alles! Wie schnell war die falsche Entscheidung getroffen! Aber hatte sie wirklich eine Wahl gehabt?

»Susanne!«

Wer rief nach ihr? Sie erkannte die Stimme nicht gleich. Von den Müttern nannte sie kaum eine mit Namen, die meisten sagten nur »Schwester«. Wahrscheinlich war es schon schwer genug, sich auf den Namen für das Kind zu einigen, da auch noch die Namen der wechselnden Hebammen und Krankenschwestern im Kopf zu behalten wäre selbst ihr schwergefallen. Als Susanne sich umdrehte, erkannte sie die neue Hebamme, die noch frisch aus der Ausbildung kam.

»Ach, Ella!« Sie mochte diese junge, leidenschaftliche Frau, die sie in jeder Pause mit Fragen löcherte.

»Susanne, bitte sag mir, dass Anita Berger wohlauf ist!«

Anita Berger. In diesem Fall hatte sie die richtige Entscheidung getroffen. Ella stand mit großen, dunklen Augen vor ihr. Entschlossen, als könnte sie eine schlechte Nachricht einfach abschmettern. Susanne lächelte.

»Anita Berger wird wieder ganz gesund werden. Gestose. Sectio war gerade noch rechtzeitig.«

»Und das Kind?«

»Ist quietschfidel. Die Säuglingsschwester badet den Kleinen gerade.«

»Gott sei Dank! Ich hatte schon Schlimmes befürchtet, als ich euch vor dem Aufzug gesehen habe! Der Vater sitzt im Besucherzimmer, und ich habe ihm versprochen, nach seiner Frau zu schauen. Er hatte so eine komische Ahnung, mit der er ja auch recht hatte! Ich bin so froh, dass es Mutter und Kind gut geht!«

Susanne sah ein, zwei Tränen in Ellas Augen glitzern, und als Ella sie umarmte, musste sie um ein Haar selbst heulen.

»Ich auch«, antwortete sie, löste sich aus ihrem Arm und starrte verlegen auf den grauen Linoleumboden. Wie sollte Ella die Arbeit als Hebamme auf Dauer überstehen, wenn sie jeden Fall so nah an sich heranließ? Irgendwann würde der Moment kommen, in dem sie Mutter oder Kind nicht helfen konnte. Das geschah zum Glück selten, dafür war es umso schmerzhafter. Das Herz brauchte einen Panzer, eigentlich nicht nur für diesen Job, sondern für das ganze Leben, dachte Susanne. Und um Ellas Herz würde dieser Schutz vermutlich auch ganz von allein wachsen, dafür sorgte jedes Jahr, das verging.

Eine ältere Dame kam in den Flur und suchte in einem der Schränke nach einer Vase, als handele es sich um ihren eigenen Schrank. Vielleicht besuchte sie gerade ihr fünftes Enkelkind und fühlte sich hier schon wie zu Hause. Hinter der Dame kam Carola herein. Ihr blondes, zum Zopf gebundenes Haar war verschwitzt, obwohl sie doch erst ein paar Stunden im Dienst war.

»Mann, war das eine schnelle Geburt! Die Frau musste nur noch dreimal pressen, nachdem ich sie untersucht hatte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihr Baby im Aufzug bekommen! Außerdem sterbe ich vor Hunger, machen wir gleich zusammen Mittagspause?«

Später saß Susanne mit Ella und Carola in der Krankenhauskantine, die sowohl von den Mitarbeitern als auch von Patienten genutzt wurde. Auch hier war alles weiß, grau und vor allem leicht abwaschbar, da halfen auch die hässlichen Clownsbilder in hektisch hingeklatschten Farben nichts, sie ließen die Kantine nicht fröhlicher wirken. Aber die meisten Besucher waren ohnehin genug mit sich selbst beschäftigt, sodass ein geschmackloses Interieur ihr geringstes Problem war.

»Ich hätte ja die Schnapspralinen aus dem Schwesternzimmer aufessen können, aber auf nüchternen Magen wäre ich wohl schnell beschwipst gewesen.«

Carola verschlang die lauwarme Kantinenlasagne, als hätte sie drei Tage nichts gegessen. Susanne musste schmunzeln, als sie Carolas rote Wangen und verschwitzte Haare sah. Und sie musste daran denken, dass Carola ihr gerade zugeraunt hatte, dass sie lieber mit Susanne allein gegessen hätte, als sich Ella noch etwas zu trinken geholt hatte. Wahrscheinlich wollte Carola wieder ihr Herz über ihre chaotische Familie ausschütten. »So kann es nicht weitergehen, sonst werde ich demnächst selbst eingewiesen. Allerdings nicht auf die Geburtsstation!«, hatte sie noch gesagt.

»Ach was, Carola, du bist der glücklichste Mensch unter der Sonne! Warte mal ab, wie gern du an jetzt zurückdenkst, wenn deine Kinder groß sind.«

Für Susanne waren die Kolleginnen ihre Familie und sie hatte Ella ebenso schnell ins Herz geschlossen, während Carola ihr eine wirkliche Freundin geworden war.

»I wanna dance with somebody… with somebody to love me«, sang Ella leise den Hit von Whitney Houston mit, der aus der Lautsprecherbox hinter ihnen erklang.

Carola starrte die junge Frau an, die alle familiären Entscheidungen noch vor sich hatte.

»Ich würde auch gern mal wieder tanzen. Und der Kerl müsste mich noch nicht mal lieben, solange er mir nicht auf die Füße tritt. Ach, im Grunde würde es mir schon reichen, ganz allein zu tanzen! Wie habe ich es früher geliebt, als ich noch jedes Wochenende in einem Club war. Und als ich mal zu Hause tanzen wollte, hat Thomas den Plattenspielerarm einmal quer übers Vinyl gezogen, daraufhin klang Prince noch höher als ohnehin schon.«

Das konnte sich Susanne lebhaft vorstellen! Carolas Sohn Thomas war ein ganz Wilder, wahrscheinlich war er als Kleinkind nur so süß gewesen, damit seine Mutter ihm all die Experimente und Trotzausbrüche verzieh.

»Dann mach das halt! Nimm Andreas mit, und ich passe auf die Kinder auf!« Von Susanne aus würde sie viel öfter aushelfen und bei Carola babysitten. Sie spießte eine der Kroketten auf, die zusammen mit dem Salat und einem Schnitzel auf ihrem Teller lagen. Nur Ella biss unter dem Tisch heimlich immer wieder von dem Brot ab, das sie von zu Hause mitgebracht hatte.

»Ach ich weiß gar nicht, ob die uns noch in eine Disco reinlassen. Ein paar Jahre noch, und ich kann meine Kinder da abholen«, bügelte Carola das Thema wieder ab, sobald es ernst wurde. Susanne musste schlucken, als ihr bewusst wurde, was Carola da gerade gesagt hatte. Ellas Gesichtsausdruck dagegen erheiterte Susanne wieder: Ella guckte nämlich so, als wäre allein der Gedanke, dass Frauen wie Carola oder Susanne in eine Disco gingen, wirklich absurd.

»Wir könnten auch einfach mal zu dritt ein Glas Wein trinken gehen. In einem etwas gemütlicheren Ambiente als hier«, schlug Susanne vor, die sich auch in keinen Tanzclub mehr wagen würde.

»Wisst ihr was? Ich habe heute ein Haus mit dem passenden Tanzsaal gesehen. In der Cranachstraße 21, direkt auf der Ecke. Ist zu vermieten. Ich miete das Haus für einen Monat, und wir veranstalten jeden Abend eine Disco in der Eingangshalle!« Carola strahlte, als strotze sie ganz gegen ihre Behauptung nur vor Energie. »Was meint ihr?«

»Das klingt wunderbar!«, rief Ella und machte ein paar Tanzbewegungen zur Musik aus dem Radio.

»Du bist verrückt!«, lachte Susanne und winkte ab.

Susanne war die Erste von ihnen, die Feierabend hatte. Sie konnte nicht anders, als ebenfalls einen Umweg zu nehmen, um dieses leer stehende Haus anzuschauen. Alte Häuser beherbergten für sie Geschichten, in denen sie fast so etwas wie Hauptdarsteller waren. Die Cranachstraße lag in der entgegengesetzten Richtung von ihrer Wohnung, aber in den eigenen vier Wänden erwartete sie ohnehin nichts Spannendes. Nicht einmal eine Katze, die sich an ihre Beine schmiegen würde, sobald sie die Tür aufschloss. Susanne reagierte allergisch auf Tierhaare, sonst hätte sie mit Sicherheit ein Haustier gehabt. Nett war es hier, alte Häuser, ein nettes Café und ganz am Ende, schräg gegenüber dem Eckhaus, gab es eine Buchhandlung, die Nippeser Bücherstube. Susanne lief zweimal den Halbkreis um das Eckhaus, bevor sie sich die drei Stufen hochwagte. Tatsächlich. Es war zu vermieten, wie das Schild in der Tür verriet. Ob sie sich die Nummer notieren sollte? Aber wofür?

Sie lugte durch das Fenster in den Raum. Wie schön es hier war! Selbst die Leere und der Staub konnten nichts daran ändern, dass der Raum fast so einladend wie ein Festsaal wirkte. Carola hatte recht. Hier konnte man tanzen! Oder Schwangerenkurse veranstalten! Wer weiß, ob das Haus nicht auch Zimmer für Geburten bereithielt? Susanne erschrak. Nein, diese Idee war verrückt. Die Holländer machten sowas vielleicht, aber bei denen durfte man auch nach Lust und Laune kiffen.

Sie lachte, als hätte sie selbst etwas geraucht, und tätschelte die Hauswand, als handele es sich um eine alte Bekannte. Der Ziegelstein war warm von der Frühlingssonne.

»Nichts für ungut! Du gefällst mir zwar, aber ich glaube, mein Gedanke ist mehr als verrückt!«

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Susanne fuhr herum und stolperte die drei Stufen hinunter. Ein paar starke Arme fing sie dabei auf. Die Hitze stieg ihr in die Wangen. Nicht weil der Mann, der sie festhielt, Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Jeremy Irons hatte, den sie durchaus attraktiv fand, sondern weil ausgerechnet sie, die immer beherrscht war, wie eine Verrückte wirken musste. Andererseits konnte es ihr egal sein, was dieser Typ mit dem frechen Grinsen über sie dachte.

»Ich mein ja nur, weil Sie mit einem Haus sprechen.«

»Eigentlich habe ich eher mit mir selbst gesprochen.«

»Und es hörte sich an, als geben Sie ihm einen Korb?«, fragte er und trat einen Schritt zurück, als sie wieder mit beiden Beinen stabil auf dem Boden stand.

»Wem?«

»Na, dem Haus.«

»Ach, so gesehen ist es kein Korb, weil wir nicht mal eine Verabredung hatten.«

Oh, nein. Jetzt musste sie noch viel durchgeknallter klingen, konnte aber nicht anders, als zu grinsen. Es kam schließlich selten genug vor, dass sie sich so unbeschwert albern fühlte. Vielleicht kam das auch daher, dass sie noch völlig durch den Wind war, nachdem sie erst heute Morgen einer Frau und ihrem Kind das Leben gerettet hatte.

»Na, dann bin ich ja beruhigt.«

»Warum?« Warum ging sie nicht einfach weiter? Warum ließ sie sich von einem wildfremden Mann in ein Gespräch verwickeln?

»Weil ich selbst ein Auge auf dieses Haus geworfen habe.«

»Ach ja?«

»Ja, es könnte eine zauberhafte Buchhandlung abgeben.«

»Da haben Sie recht«, und sofort sah Susanne vor ihrem inneren Auge Bücherregale und einen gemütlichen Lesesessel statt Schwangere auf Pezzibällen.

»Lesen Sie gerne?«

»Ja, sehr gerne«, antwortete Susanne spontan. Sie liebte es, sich nach Feierabend auf ihr Sofa zu lümmeln und in einem Schmöker zu versinken, in dem am Ende immer alles gut ausging, egal wie sehr die Figuren vorher leiden mussten.

»Dann schauen Sie doch mal bei mir rein«, er zeigte die Straße hinunter. Vor dem Schaufenster der Buchhandlung stand ein Tischchen mit reduzierten Büchern, wie ein rotes Schild verriet.

»Wozu brauchen Sie einen zweiten Laden?«, entgegnete sie und spürte, wie sie sich innerlich ein Stück in ihr Schneckenhaus zurückzog. Wollte dieser Mann mit ihr anbandeln? Oder wollte er sie nur als Kundin gewinnen? Für das Zweite wäre sie eher zu haben.

»Keinen zweiten, aber das Ladenlokal hier ist um einiges größer. Und schöner.«

Etwas auszutauschen, nur weil es schöner war, kam Susanne etwas übertrieben vor. »Wissen Sie, was die Miete kosten soll?«, fragte sie, weil ein anderes Bild die Bücherregale in dem sonnendurchfluteten Raum hinter der Tür der Cranachstraße 21 verdrängte.

»Sie sind also doch interessiert?«, fragte er. Musste er nicht langsam wieder in seinen Laden?

»Nur theoretisch.«

»Für das ganze Untergeschoss 1.500 Mark. Der Vermieter hat es mir schon gezeigt. Es gibt noch weitere Räume. Man könnte die Wände einreißen, dann könnte ich fast Gonski am Neumarkt Konkurrenz machen!«

»Dann viel Glück!« Susanne lächelte den Mann mit dem eindringlichen Blick noch einmal unverbindlich an und überlegte, in welche Richtung sie nun gehen sollte.

»Und wie gesagt, falls Sie neues Lesefutter brauchen, dann schauen Sie bei mir vorbei.«

»Vielleicht«, sagte sie, während sie sich für die Richtung entschied, die vom Buchladen wegführte. Sie würde nicht dort vorbeigehen, auch wenn sie sich während des kurzen Plauschs so unbeschwert gefühlt hatte wie Jahre nicht mehr. Und sie wusste, dass ein Mann, der aussah wie Jeremy Irons und dabei noch eine Buchhandlung betrieb, ihr gefährlich werden konnte. Und nie wieder im Leben würde Susanne die Kontrolle über ihre Gefühle aus der Hand geben.

»Werde ich nie wieder ein Kind bekommen können?« Susanne war gerade dabei, die Kaiserschnittnaht zu untersuchen, die Anita Bergers Bauch für immer zeichnen würde. Der Säugling lag im Kinderzimmer, genauso wie das Kind ihrer Zimmernachbarin, die schon aufrecht im Bett saß und ein Jäckchen strickte. Dabei trug sie Kopfhörer, deren Kabel zu einem Walkman auf ihrer Bettdecke führten.

»Ich würde erst einmal die vollständige Heilung abwarten, aber die Meinung ist längst überholt, dass Frauen nach einem Kaiserschnitt nicht mehr schwanger werden sollten.« Susanne betupfte die wulstige Wunde mit Jod. »Aber ein Jahr sollten Sie mindestens warten, Frau Berger. Zumindest bis Sie es noch mal auf ein Baby anlegen. Intim dürften Sie nach rund sechs Wochen wieder werden, wenn es Ihnen gut geht.« Damit wäre dieser Punkt auf der Nachsorgeliste auch angesprochen. Von sich aus trauten sich die wenigsten Frauen nach dem ersten Kind zu fragen, wann sie wieder mit ihrem Partner schlafen könnten. Und wahrscheinlich war den meisten auch erst einmal nicht danach.

»Wenn er mich denn noch anschauen mag mit dieser Narbe«, bemerkte Anita Berger seufzend.

»Ihr Mann macht einen sehr netten Eindruck. Die Narbe wird ihn immer daran erinnern, was Sie für Ihr gemeinsames Kind geleistet haben. Machen Sie sich darum keine Sorgen.« Susanne lächelte die junge Mutter an. »Und eine tägliche Massage mit Calendulaöl, sobald die Narbe verheilt ist, sorgt dafür, dass sie sich weiter zurückbildet.«

Anita Berger griff nach Susannes Hand. Etwas, was die meisten Frauen nur unter der Geburt taten. »Sie haben mir das Leben gerettet. Der Doktor hat mir gesagt, dass es keine fünf Minuten hätte später sein dürfen. Danke.«

Die Worte waren wie eine warme Dusche nach einem Wintertag.

»Ja, es war tatsächlich knapp, aber ich denke, Ihr Schutzengel hatte die Lage von Anfang an im Griff. Und der Ihres Sohnes auch.«

»Nicht auszudenken, wenn ich nicht in die Klinik gefahren wäre.«

Susanne spürte, wie wichtig es für die Mutter war, über ihr Erlebnis zu sprechen. »Ja, es war gut, dass Sie auf Ihre innere Stimme gehört haben.« Susanne drückte ihre Hand.

»Haben Sie eigentlich auch Kinder?«

Die Frage aus dem Nichts erwischte Susanne kalt. Hier ging es nicht um sie, sondern nur um ihre Patientin. Bevor Susanne antworten konnte, platzte Gott sei Dank Schwester Hilde mit Dr. Kramer und zwei weiteren jungen Männern in Arztkitteln herein. Die beiden Assistenzärzte waren vielleicht Anfang zwanzig und schauten etwas verschüchtert.

»Guten Morgen, die Damen«, ergriff Dr. Kramer das Wort. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich zur morgendlichen Visite zwei angehende Ärzte mitbringe, die vielleicht in ein paar Jahren Ihr nächstes Kind entbinden.«

Anita Berger öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu, als wisse sie nicht, ob sie protestieren dürfte. Die Mutter mit dem Strickzeug schien die Prozedur schon zu kennen und legte Stricknadeln und Walkman auf das Nachttischchen.

»Wir reden beim nächsten Mal weiter«, sagte Susanne zu Anita Berger. So taktlos sie Dr. Kramers Auftritt fand, der lauthals verkündete, dass sich hier die ideale Gelegenheit böte, den Zustand nach Spontangeburt mit der nach Sectio zu vergleichen, so erleichtert war sie doch, dass sie um eine Antwort herumkam.

Und dachte Susanne noch, dass die nächste Geburt, zu der sie keine drei Minuten später gerufen wurde, sie endgültig von ihren Gedanken ablenken würde, sah sie sich bald noch tiefer in den dunkelsten Moment ihres Lebens zurückgeworfen.

Sie betrat den Kreißsaal, in dem eine hochschwangere, schwer atmende Frau mit ihrem Mann auf und ab ging. Das Krankenhaushemdchen spannte, ihr Mann stützte sie liebevoll.

»Guten Tag, ich bin Susanne Winter, Ihre Hebamme für die nächste Schicht.« Susanne verzichtete darauf, den beiden die Hand zu reichen, weil die beiden einander anscheinend nicht loslassen wollten. Ein herzliches Lächeln reichte. Das Paar wirkte so vertraut und innig. Der werdende Vater hatte so einen offenen Blick, obwohl er noch besorgter als seine Frau schien.

»Danke, dass Sie uns begleiten«, ergriff er das Wort, »das ist meine Frau Heidi, und ich bin der Günther«, ging er direkt zum Vornamen über, was Susanne einen Moment irritierte. Normalerweise sprachen sie sich mit dem Nachnamen an, obwohl sie einen der intimsten Momente im Leben teilten.

»Schön, Sie kennenzulernen, ich bin die Susanne«, entschied sie sich für das Hamburger Sie, um wenigstens etwas Distanz zu wahren. Die Formalien waren schon erledigt, und dem schnellen Atem der Frau nach zu urteilen, würde das Baby in Susannes Schicht noch kommen.

»Ist es normal, dass das Baby mitten am Tag kommen will?«, fragte Günther. »Ich habe gehört, dass die meisten Babys nachts kommen. Vor allem die ersten.«

»Es ist doch ganz egal, wann es kommt, Günther!« Heidi griff sich ins Kreuz. Eine Wehe. Aber Susanne merkte auch, dass es nicht nur körperlicher Schmerz war, der Heidi gerade übermannte. Dass die Schwangeren gereizt waren, war normal. Selbst manch feine Dame beschimpfte ihren Mann unter Wehen wie eine Kesselflickerin; das galt besonders für jene Frauen, die sich im Vorbereitungskurs gar nicht vorstellen können, ausfällig zu werden.

»Das stimmt, die Babys kommen, wann sie wollen«, Susanne schaute sich den Mutterpass an. Erstgebärende, dreißig Jahre alt, fünfundsiebzig Kilogramm schwer, neununddreißigste Schwangerschaftswoche … Zahlen über Zahlen, die alle auf einen unkomplizierten Verlauf hindeuteten.

»Heidi, ich möchte gerne untersuchen, wie weit der Muttermund schon geöffnet ist. Günther, dürfte ich Sie bitten, solange vor der Tür zu warten?«

So war es üblich, auch wenn die Männer bei der Geburt dabei waren. Günther nickte zum Glück, strich Heidi noch einmal über den Rücken und küsste ihr rotblondes Haar, als würde er für eine Woche allein verreisen und nicht fünf Minuten auf dem Flur warten.

Heidi nahm auf dem gynäkologischen Stuhl Platz, den es in jedem Kreißsaal gab. Susanne setzte sich vor Heidis gespreizte Beine und tastete nach dem Muttermund. Das grelle Licht gab den Blick auf Heidis Schambereich unbarmherzig frei.

»Es sind schon sieben Zentimeter. Wirklich gut! Soll ich Sie noch rasieren?«, fragte Susanne, und Heidi nickte. Susanne fand diese Prozedur selbst als Vorbereitung auf einen möglichen Dammschnitt eher überflüssig, aber sie hatte sich als Angestellte des Krankenhauses nun einmal an die Vorgaben zu halten. Wenn ein Baby es eilig hatte, verzichtete sie meist auf solche überflüssigen Maßnahmen, die nur unnötig in die Intimsphäre der Frau eingriffen.

Als Heidi zusammenzuckte, ließ sie den Einmalrasierer sinken, den sie sich gerade aus der Schublade des weißen Schränkchens geholt hatte.

»Ich muss das nicht unbedingt machen.«

»Kein Problem. Bin nur ein bisschen angespannt.« Heidi krallte sich an der Lehne fest. Eine Wehe. Susanne wollte gerade das Krankenhaushemd über ihre Beine ziehen und ihr vom Stuhl helfen, damit sie während der Wehe laufen könnte, da fiel ihr Blick auf den bereits rasierten Teil nahe dem Damm. Eine Narbe. Ihr Damm war einmal verletzt worden. Die Versorgung der Narbe ließ zum Glück vermuten, dass ein Profi am Werk gewesen war. Aber es deutete auf eine vergangene Geburt hin. Sie suchte Heidis Blick, während sie ihr herunterhalf.

»Könnte es sein, dass Sie wissen, was auf Sie zukommt?«, fragte sie sanft.

Heidi sah sie erschrocken an. »Können Sie das für sich behalten?«

Susanne erschauerte. Dieses Paar wirkte so vertraut. Hatte der Mann es verdient, von seiner Frau belogen zu werden? Welchen Grund hatte Heidi, ihm eine vorangegangene Geburt zu verleugnen? Anscheinend nicht nur vor ihrem Partner, sondern auch vor ihrer offenbar nicht sehr sorgfältigen Frauenärztin? Was war mit diesem Kind geschehen? Es gab Vorschriften, Auffälligkeiten zu melden. Oft genug gab es ausgesetzte Kinder. Aber es gab auch Frauen, die ihr Kind ganz bewusst zur Adoption freigaben und alle Spuren verwischen wollten.

»Wie lange ist es her?«, fragte Susanne.

»Fast zehn Jahre. Da kannte ich meinen Mann noch gar nicht.«

Es war schon schlimm, ein Geheimnis mit sich herumzutragen, wenn man allein war, aber Susanne glaubte, so ein Geheimnis vor dem Menschen zu verbergen, den man liebte, musste noch viel schlimmer sein. Es musste den geliebten Menschen so weit weg erscheinen lassen. Es war nicht an ihr zu urteilen. Diese Frau hatte genauso ein Recht auf ihr Geheimnis wie sie selbst.

»Es wird wahrscheinlich trotz der langen Zeit etwas einfacher gehen bei der zweiten Geburt.«

Es klopfte an der Tür. »Alles in Ordnung? Das dauert schon viel länger als fünf Minuten!« Die besorgte Stimme des Ehemanns klang dumpf durch die Tür.

»Alles in Ordnung, es wird nicht mehr lange dauern!«, rief Susanne und wandte sich dann wieder leise an Heidi.

»Es wäre besser, es ihm zu sagen. Er liebt Sie. Er wird es überstehen, und Ihnen wird ein Stein vom Herzen fallen. Aber es ist natürlich Ihre Entscheidung. Ich werde zu niemandem etwas sagen.«

Die nächsten beiden Stunden war es, als gäbe es nur dieses eine Zimmer auf der Welt. Abgedunkelt und dennoch schwül war es in dem Kreißsaal. Der Duft von Lavendel aus dem Massageöl, das Susanne den werdenden Eltern bereitstellte, vermischte sich mit dem Geruch von Schweiß. Die vorher so akkurat liegenden Haare von Heidi klebten an ihrer Stirn, während sie so konzentriert atmete, dass sie in diesem Moment wohl wirklich alle schmerzhaften Erinnerungen ausblendete. Das musste sie auch, bei so einer Geburt galt es, sich absolut auf die Sache zu konzentrieren. Und der Schrei, der jetzt folgte, war eher mit dem Schrei eines Gewichthebers zu vergleichen, der seit Monaten dafür trainiert hatte, die zweihundert Kilogramm zu stemmen.

Susanne hielt den Kopf des Babys. Der ganze kleine Körper glitt auf einmal schnell heraus. Es war ein wunderschöner, kräftiger Junge. Günther, der die ganze Zeit hinter seiner Frau gestanden hatte, beugte sich vor, um seinen Sohn zu sehen, und berührte ihn vorsichtig, als habe er Angst, ihn anzufassen. Susanne sah die Liebe in seinem Gesicht. Das war nicht bei allen Vätern so. Bei manchen kam es erst später, bei manchen auch nie, aber das war die Ausnahme. Und Susanne sah die wenigsten Eltern noch mehr als einmal wieder, obwohl sie einen so wichtigen Moment im Leben mit ihnen teilte. Der kleine Junge begann zu schreien, und Susanne legte ihn auf Heidis Bauch. Und auch das Gesicht der Mutter verwandelte sich jetzt, als fließe die Liebe über. So lange es ging, schenkte sie den Eltern diesen ersten kostbaren Moment.

»Herzlichen Glückwunsch. Ich glaube, Ihr Sohn wird es sehr gut bei Ihnen haben.«

Heidi weinte. Vor Glück, aber da war auch Schmerz. Günther küsste sie. »Wir bekommen das hin. Egal, was passiert.«

»Möchten Sie die Nabelschnur durchtrennen?«, fragte Susanne, obwohl sie die beiden nur ungern unterbrach. Aber es wurde Zeit, dass der neue Erdenbürger den ersten Schritt in die Unabhängigkeit ging. Während der Vater die feste Nabelschnur durchtrennte, die sein Kind monatelang versorgt hatte, sah Heidi Susanne an.

»Danke«, flüsterte sie. »Danke für alles.«

Susanne nickte. »Sie werden das gut hinbekommen, Heidi. Sie werden wunderbare Eltern sein.«

Von der Nachgeburt und der weiteren Versorgung bekamen die Eltern kaum etwas mit, so sehr waren sie damit beschäftigt, ihr Kind zu betrachten. Bis auf eine leichte Schürfung hatte die Mutter keine Verletzungen, diesmal würden keine Narben bleiben. Es war schon eine absurde Situation, zwischen den Beinen der Frau zu schauen, ob alles in Ordnung war, während das Paar verliebt auf das Baby schaute. Susanne war dieser Moment wichtiger, als das Kind schnell zu baden und anzuziehen. In diesem Moment war sie unsichtbar für die Eltern, und das war auch gut so.

»Günther? Ich muss mit dir reden.« Heidis Stimme ließ sie aufhorchen. Sollte sie Heidi aufhalten? Was war, wenn das Geständnis alles kaputt machen würde?

»Ja?«, antwortete er, als erwarte er nun, dass sie ihm gestehe, dass er nicht der Vater sein könnte. Soll ich rausgehen? Mit dem Baby? Kann ich die beiden alleine lassen? Wird er ausrasten? Aber warum? Es war vor seiner Zeit. Und dennoch. Es ist ein Vertrauensbruch, so etwas Wichtiges dem Partner zu verschweigen. Und das Baby würde gleich trinken wollen. Musste sie ausgerechnet diesen Moment für ihre Beichte wählen? Andererseits gab es ihn wohl nicht, den richtigen Moment.

»Heidi, Günther, ich lasse Sie einen Moment allein. Sie brauchen keine Angst zu haben, der Kleine braucht gerade nur Ihre Wärme. Halten Sie ihn einfach fest, ich bin im Flur, rufen Sie, wenn Sie mich brauchen.«

Susanne folgte ihrem Impuls, tätschelte kurz die Schulter des Mannes und lächelte ihn aufmunternd an. Es war richtig so. Er hatte die Wahrheit verdient.

Einen Vorteil hatte es ja, dass Andreas nicht wie die meisten anderen Männer fest angestellt war, dachte Carola, während sie ihre Jeans und ihre Bluse gegen die altrosa Hebammentracht tauschte. Er konnte auf die Kinder aufpassen, während sie arbeitete. Der Nachteil war, dass sie auch jeden Pfennig verdienen musste und deshalb am liebsten die Nacht- und Wochenendschichten übernahm, die besser bezahlt wurden; das galt gerade jetzt, wo ein Auftrag geplatzt war. Andreas war freier Schriftsteller, und wenn jemand fragte, ob man davon leben könnte, verwies er immer auf seinen berühmteren Kollegen Wolfgang Bittner, der in seinem Buch über den Beruf des Schriftstellers immer wieder betonte, dass die meisten eben nicht davon leben konnten. Trotzdem glaubte Andreas wie fast alle Autoren daran, dass genau ihr nächstes Buch der Lottogewinn werden würde; der Preis, den er für die beste Science-Fiction-Kurzgeschichte über das Leben im Jahr 2030 erhalten hatte, wurde sogar in einer überregionalen Zeitung erwähnt, entsprach finanziell aber eher den vier als den sechs Richtigen. Und in den Augen der allermeisten war Andreas’ Arbeit nicht mehr als pure Zeitverschwendung. Trotzdem unterstützte Carola ihren Mann, weil sie ihn liebte. Und an ihn glaubte. Wenn sie zu Hause war, kümmerte sie sich um Haushalt und Kinder, damit er an dem Schreibtisch im Schlafzimmer an seinem Roman arbeiten konnte. Carolas Bereitschaft war jedoch ziemlich geschrumpft, als sie gestern ohne Klopfen ins Zimmer geplatzt war und einen Blick auf seinen Bildschirm geworfen hatte.

Andreas hatte sie nicht kommen hören und starrte weiter gebannt auf das gelb-schwarze Feld, in dem ein rundes Männchen Gänge durch den Bildschirm fraß. Dazu ein nervtötender, monotoner Sound und eine Begräbnismelodie, als Andreas sich erschrocken umdrehte. Carola war näher gekommen und sah fast mit Befriedigung, dass das Männchen gerade einen Grabstein bekam und das Spiel somit aus war.

»Carola, hast du mich erschreckt! Kannst du nicht anklopfen?«

»Ne, ging nicht, hatte die Hände voll mit einem Kaffee und Keksen für dich, weil ich dachte, ich müsste dir mal eine Stärkung bringen, während du dich für die Familie zu Tode schuftest!«

Andreas hatte sich mit seinem Bürostuhl zu ihr gedreht und entschuldigend mit den Schultern gezuckt. »Das war einfach nur eine kreative Pause. Ehrlich. Das brauche ich, damit meine Festplatte nicht durchbrennt. Ist ein nettes Spiel. Digger. Willst du auch mal?«

»Nein danke! Ich habe keine Zeit für kreative Pausen!«, hatte Carola gerufen, Kekse und Kaffee auf den Schreibtisch gestellt und die Tür hinter sich zugeknallt.

Kreative Pause! Carola war froh, wenn sie überhaupt mal irgendeine Pause hatte. Sie liebte ihren Job als Hebamme, sie liebte auch ihren Mann und ihre Kinder sowieso. Aber alles war so durchgetaktet. Und immer rannte sie dem Zeitplan hinterher. Dazu passte es, dass sie in den letzten Wochen ständig Dienstende hatte, bevor das Baby geboren wurde, dessen Mutter sie mit Wehen in Empfang genommen hatte. Die nächste Hebamme machte es in der Regel genauso gut, was Carola das Gefühl gab, in ihrem Job völlig austauschbar zu sein. Als sie einmal mit Oberschwester Hilde darüber diskutiert hatte, ob sie nicht einfach die Geburt zu Ende betreuen konnte (und dafür ein anderes Mal weniger arbeiten konnte), hatte Hilde nur die Hände in die Hüften gestemmt und gesagt, sie wären hier nicht bei Wünsch Dir was, sondern bei So isses! Wo kämen sie denn hin, wenn jeder die bewährten Pläne umschmeißt? Das wäre doch gar nicht zu organisieren in so einem Krankenhausbetrieb! Sie solle doch froh sein, dass ihre Wünsche bei den Schichten immer berücksichtigt würden, damit sie Beruf und Familie unter einen Hut bekommt. Dann folgte wie immer in solchen Momenten ein Vortrag darüber, warum es schon seinen Sinn hatte, dass in vielen Krankenhäusern Nonnen die Arbeit übernehmen würden, die kein Privatleben hatten.

»Alles auf einmal geht nun mal nicht, Kindchen«, sagte Hilde dann immer, genau wie ihre Schwester Heike. Ja, Carola sehnte den Tag herbei, an dem Andreas mit seinen Büchern Tausende scheffeln würde. Dann könnte sie vielleicht auch mal kürzertreten.

Carola schloss den Spind ab, obwohl niemand ihre unmodischen Klamotten klauen würde, und zog ihren Zopf noch einmal straff. Susanne kam um die Ecke. Schade, ihre Schicht war schon zu Ende. Es war immer nett, sich die Arbeit mit ihr zu teilen.

»Hallo, Susanne. Glaubst du, die Welt braucht Computerspiele wie Digger? In der man auf die Suche nach Diamanten geht und von Kopffüßlern gefressen wird?«

»Keine Ahnung. Ich habe nicht mal einen Computer.«

Carola hielt inne. Warum war sie so unaufmerksam? Susanne war offensichtlich aufgewühlt, und sie faselte was von Bildschirmmännchen!

»Was ist passiert?« Die allermeisten Geburten verliefen gut, doch manchmal gab es auch Situationen, die die Hebammen selbst verarbeiten mussten.

»Ich hatte da gerade eine Frau, die ihrem Mann gestanden hat, dass sie vor Jahren schon ein Kind geboren hatte. Da war sie noch Studentin, der Kindsvater wollte nichts von dem Kind wissen, sie war nicht bereit und hat es zur Adoption freigegeben. Anonym. Ich habe gemerkt, dass sie keine Erstgebärende war. Vielleicht hätte ich mich auch nicht einmischen sollen.«

Susanne zog ihre Hebammentracht mechanisch aus, doch die Sorgen der letzten Schicht schienen immer noch an ihr zu kleben.

»Und wie hat er es aufgenommen?«

»Ich war nicht dabei, und als ich wieder drin war, haben beide geheult. Ich habe ja erst gezweifelt, aber im Grunde hat sie den besten Moment abgepasst. Das Babyglück hat überwogen.« Susanne ließ sich auf die Bank vor ihrem Spind sinken. Sie wirkte in ihrem Unterhemdchen und dem weißen Slip fast mädchenhaft, obwohl sie genau wie Carola eine erwachsene Frau war, allerdings eine Frau, die sich eben nur um ihren Job und sich selbst kümmern musste, dachte Carola.

»Aber dann ist doch alles gut? Es würde sie doch noch mehr belasten, das Geheimnis für sich zu behalten, während sie ihr zweites Kind aufwachsen sieht. Ich kann eh nicht verstehen, warum sie sowas für sich behalten hat.«

Carola spürte, dass Susanne jemanden zum Reden brauchte. Ihre bunte Swatch, ein Geschenk von Andreas zum Geburtstag, zeigte 17 Uhr an. Ihre Schicht hatte seit fünf Minuten begonnen, dafür fehlte ihr jetzt schlicht und einfach die Zeit.

»Susanne, sollen wir uns endlich zu einem Glas Wein außerhalb der Kantine treffen? Nächste Woche?«

Immerhin lachte Susanne jetzt. »Alkohol während der Arbeitszeit wäre eh verboten, reicht ja schon, dass eine der Schwesternschülerinnen immer den Rest der kleinen Sektfläschchen getrunken hat und dann gefeuert wurde! Auf den Besuch beim Arbeitsamt kann ich verzichten.«

Ach ja, der Sekt für die Milchbildung, der jetzt nur noch auf Nachfrage hin aus dem Kühlschrank geholt wurde. Carola hätte es am liebsten komplett verboten, auch wenn selbst mancher Arzt noch behauptete, in Frankreich wären Mütter und Schwangere viel besser drauf, weil sie sich hin und wieder ein Gläschen Rotwein gönnen würden.

»Also dann nächste Woche Mittwochabend im Alten Wartesaal?«, wurde Carola konkret, ehe ihr wieder der Zeitmangel dazwischenkam. Wenn Andreas sich kindische Computerspiele gönnte, würde sie auch mal unter der Woche mit einer Freundin weggehen können!

Susanne stand an der Kasse im Stüssgen an und verglich den Inhalt ihres Einkaufswagens mit dem Inhalt der beiden Mädchen vor ihr. Ein Paket Nudeln. Drei Tomaten. Getrocknetes Basilikum, weil es den frischen selten gab, eine Packung Mozzarella, ein abgepacktes, geschnittenes halbes Brot, eine Packung Camembert, fünf Äpfel, Joghurt und eine neue Zahnbürste. Morgen hatte sie frei und würde selbst kochen, statt in die Kantine zu gehen. Die Mädchen vor ihr planten wohl eine Party. Erdnussflips, Sekt, Baileys, Salzstangen, Plastikbecher, Strohhalme, Kinderschokolade, Gummibärchen – allein vom Anblick bekam Susanne Bauchschmerzen und einen Kater.

»Einmal den Ausweis bitte«, riss die strenge Stimme der Kassiererin Susanne aus ihren Gedanken. Die eine der beiden, mit bordeauxrot gefärbten Haaren, heller Jeans und roten Chucks, kramte in ihrem Jutebeutel. »Mist, habe ich wohl zu Hause vergessen!«

»Wohl noch nicht achtzehn, Frollein, dann kannst du den Likör gleich wegpacken.«

Die andere holte tatsächlich einen Ausweis aus der Tasche und reichte ihn der Frau hinter der Kasse.

»Na dann, heute achtzehn geworden. Aber trinkt nicht alles auf einmal.« Sie zwinkerte den beiden zu, während sie weiter abkassierte. Die beiden Mädchen würden heute hoffentlich Spaß haben. So wie Julia, schoss es Susanne durch den Kopf. Sie würde nächste Woche auch achtzehn werden.

Mit achtzehn durfte man Alkohol und Zigaretten kaufen, den Führerschein machen, ausgehen, so lange man wollte, ausziehen, wählen gehen … und über seine Herkunft aufgeklärt werden. Mit achtzehn hatten Adoptiveltern kein Recht mehr, die Wahrheit zu verschweigen, obwohl selbst das genau genommen nicht stimmte. Seit 1976 durften schon Sechzehnjährige wissen, wer die leibliche Mutter war.

Das Paar heute war vielleicht ein Zeichen, dachte Susanne und hastete wenig später nach Hause, um mit der Hand einen Brief aufzusetzen und ihn sofort zur Poststelle am Hauptbahnhof zu bringen, die auch noch abends Briefe annahm. Der Brief war an das Jugendamt adressiert, das damals für die Adoption zuständig gewesen war. Per Einschreiben.