Die Bibliothek der zweiten Chancen - Marie Adams - E-Book

Die Bibliothek der zweiten Chancen E-Book

Marie Adams

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Beschreibung

Warmherzig und sehr inspirierend – über Freundschaft, Liebe und den zurückgekehrten Spaß am Leben!

Charlotte arbeitet seit Jahrzehnten in der Bibliothek, in der sie auch ihren Mann kennengelernt hat. Täglich verlassen dort hunderte Bücher das Gebäude, um die Menschen der Stadt glücklich zu machen und kommen zurück, um wieder andere zu bereichern. Charlotte weiß am besten, dass alles im Leben im Fluss und vergänglich ist. Die Liebe zu ihrem verstorbenen Mann währt ewig, eine neue Liebe bleibt unvorstellbar. Als ihre beiden Töchter ausziehen und die Arbeit bedroht ist, fühlt sie sich verloren, doch eine unerwartete Reise nach Paris und eine neue Freundschaft erinnern sie an einen beinahe vergessenen Traum.

Sie lieben gefühlvolle Geschichten mit Happy End? Dann lesen Sie auch die anderen Romane von Marie Adams!

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EPUB
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Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Charlotte arbeitet seit Jahrzehnten in der Bibliothek, in der sie auch ihren Mann kennengelernt hat. Täglich verlassen dort Hunderte Bücher das Gebäude, um die Menschen der Stadt glücklich zu machen, und kommen zurück, um wieder andere zu bereichern. Charlotte weiß am besten, dass alles im Leben im Fluss und vergänglich ist. Die Liebe zu ihrem verstorbenen Mann währt ewig, eine neue Liebe bleibt unvorstellbar. Als ihre beiden Töchter ausziehen und die Arbeit bedroht ist, fühlt sie sich verloren, doch eine unerwartete Reise nach Paris und eine neue Freundschaft erinnern sie an einen beinahe vergessenen Traum.

Autorin

Marie Adams veröffentlichte unter anderem Namen bereits Romane – in denen es darum geht, die Liebe nach Jahren durch den Alltag zu retten und das Familienchaos zu meistern. Umso mehr Freude hat sie daran, Liebespaare auf fast märchenhafte Weise zusammenzubringen – schließlich weiß sie aus eigener Erfahrung, wie irrational das Glück manchmal arbeitet. Die Autorin lebt und schreibt in Köln und hat neben ihren Romanen und Sachbüchern ebenfalls Artikel über das Dasein als Autorin in Fachzeitschriften veröffentlicht.

MARIE ADAMS

DieBIBLIOTHEK der zweiten CHANCEN

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: www.buerosued.de

LH · Herstellung: DiMo · ChS

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31601-3V002

www.blanvalet.de

Für alle, die jemanden ganz besonders vermissen

Prolog

Auch hundert Jahre an Cedrics Seite wären zu wenig gewesen, und so beschloss Charlotte irgendwann, die zwanzig gemeinsamen Jahre als großes Geschenk zu sehen und lieber in den schönen Erinnerungen zu schwelgen, als sich von der Trauer auffressen zu lassen. Gut, es hatte ein paar Jahre gedauert, aber wenn ihre beiden Töchter Yvonne und Nicola, die viel zu alt für Gutenachtgeschichten waren, die Liebesgeschichte ihrer Eltern hören wollten, dann erzählte Charlotte sie immer wieder bereitwillig. Denn tot war doch nur, wer vergessen war. Und war es nicht vielleicht sogar ein Zeichen gewesen, dass sie sich das erste Mal auf einem Friedhof begegnet waren?

Paris 1995

Charlotte erinnerte sich noch genau an den heißen Julitag, an dem sie mit den anderen Auszubildenden der Stadtbibliothek über den Cimetière du Père-Lachaise gelaufen war. Während auf Melaten, Kölns begehrtestem Friedhof, die Bäume vielleicht keinen Trost, aber immerhin Schatten spendeten, gab es hier an mancher Grabreihe vor der Sonne so wenig Entrinnen wie vor dem Tod. Auch die Mausoleen konnten trotz der Abwesenheit welkender Pflanzen nicht davon ablenken, dass dieses Dasein vergänglich war.

Charlotte hatte bis zu diesem Zeitpunkt keine Erfahrung mit dem Tod gemacht und war darüber hinaus noch zu jung, um zu verstehen, dass auch die neunzigjährigen Großeltern noch nicht so weit gewesen waren. Dafür faszinierte es sie umso mehr, dass Bücher unsterblich waren. Hier hatten Balzac, Colette, Claire Goll und Oscar Wilde ihre letzte Ruhestätte gefunden, doch ihre Geschichten lebten weiter. Und Charlotte sorgte ebenfalls dafür, dass sie lebendig blieben. Sie arbeitete in einer hochmodernen Bibliothek, zu deren Mission es gehörte, dass die Klassiker nie in Vergessenheit geraten würden. Und ihr größter Traum war es, dass eines Tages auch eins ihrer Bücher in einem der Regale in der Bibliothek stehen würde.

Während sie an einem düsteren Mausoleum vorbeilief, lächelte sie, als habe sie einen Engel darüber schweben gesehen. Aber es war kein Engel, sondern nur die Vorstellung davon, wie sich ein Besucher der Bibliothek – in ihrem Tagtraum war es ein hübscher junger Mann – nach dem neuesten Werk von Charlotte Waldorf erkundigte. Sie würde versuchen, nicht rot zu werden, ihn durch die langen Regalreihen führen und zielsicher das Buch herausgreifen. Und dann nähme der junge Mann das Buch ehrfürchtig in seine Hände und sagte, dass er selten so etwas Berührendes gelesen habe wie das erste Buch von Charlotte Waldorf und dass es ihn sehr glücklich mache, dass er es ausleihen könne. Schließlich waren Bücher, besonders die mit festem Einband, sehr teuer, und der junge Mann war bestimmt ein armer Student. Vielleicht würde er das Namensschild an ihrer Brust bemerken und sich über die Namensgleichheit wundern …

»Charlotte, jetzt trödel doch nicht so. Komm, Jimmy wartet nicht.«

Anke, ihre Lieblingskollegin, hatte sich aus der Gruppe zurückfallen lassen, um Charlotte unterzuhaken. Ankes Haut pellte sich schon. Niemand hatte an Sonnencreme gedacht, auch wenn ihre Eltern ihnen schon seit Jahren mit dem Ozonloch in den Ohren lagen.

Charlotte ließ sich mitziehen, obwohl sie viel lieber an einem der Gräber verweilt und jedes Detail studiert hätte. Als sie an Jim Morrisons Grab vorbeikamen, ließ sie ein süßlicher Geruch einen Moment erschauern. Ein Blick auf die Truppe junger Männer, die aussahen, als hätten sie die Kleiderschränke ihrer Eltern geplündert, verriet ihr, dass es der Joint war, der herumgereicht wurde. Ein Mann in Schlaghose spielte Gitarre. Die langen Haare hingen über den Saiten, die Töne waren schief, aber berührten Charlotte im Innern. Ob Jim Morrison das hörte? Dass die Menschen noch zwanzig Jahre nach seinem Tod zu seinem Grab pilgerten und dort seine Lieder sangen?

Charlotte wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ ihren Blick über die Grabstätte schweifen. Anke hatte ihren Arm längst von ihrem gelöst, um im Takt der Musik mitzuklatschen. Sie ließ ihren Blick weiterwandern und zuckte zusammen. Keine zwei Gräber weiter saß der junge Mann aus ihrem Tagtraum zu Füßen eines Grabmals. Genauso hatte sie sich ihn vorgestellt. Aber es war viel zu früh! Sie hatte erst hundert Seiten geschrieben, und die lagen noch in ihrer Schreibtischschublade. Sie starrte den Mann mit den hellbraunen langen Locken, Jeans und einem weißen T-Shirt ohne irgendein Emblem an. Er hatte genau so ein Notizbuch auf den Knien, wie es in ihrem Rucksack steckte, schwarz mit roten Ecken. Und er schrieb etwas da rein. Hegte er denselben Traum wie sie? Sie malte sich ihren Tagtraum weiter aus, denn dass es ein Traum bleiben würde, war selbst ihr klar. Bestimmt war er Franzose, und ihr Französisch war leidlich. Ça va? Äh, bien … Nein, die Fantasie war romantischer, aber vor allem sicherer. Sie prägte sich das schöne Gesicht ein und wusste jetzt noch genauer, wie der Held in ihrem Roman aussehen sollte. Würde das Buch einmal ins Französische übersetzt, würde er sich vielleicht wiedererkennen. Genau, sie würde diese Szene einbauen, er würde sie lesen und auf einer ihrer Lesungen auftauchen …

Und dann sah er von seinem Notizbuch auf. Und lächelte sie an. Das Lächeln war so viel bezaubernder, als es in jedem ihrer Tagträume sein konnte. Sie hielt seinem Blick stand. Lächelte zurück. Ihr Herz klopfte. Würde er sie ansprechen? Würde sie antworten können, ohne zu stottern? Wie hieß noch mal »Ich heiße Charlotte und komme aus Köln«? Und warum fiel ihr kein weniger banaler Satz ein? Immerhin trug sie ihr schönstes Sommerkleid, lang und bordeauxrot mit kleinen Blümchen, und dazu flache Sandalen. Die langen aschblonden Haare hatte sie sich mit einem gekräuselten, selbst genähten Samtband im selben Ton des Kleides zu einem Pferdeschwanz gebunden.

Er senkte seinen Blick, aber das Lächeln verweilte auf seinen Lippen. Vielleicht war er schüchtern? Ob sie sich ein Herz fassen und auf ihn zugehen sollte? Sie spürte, dass da etwas zwischen ihnen war, dass diese Begegnung kein Zufall war. Anke, mit der sie ein Zimmer in der Jugendherberge teilte, würde sie auslachen und sagen, dass sie zu viele Liebesromane lesen würde.

In diesem Moment kam eine Frau über den Weg getrippelt, die Claudia Schiffer zum Verwechseln ähnlich sah. Blond, groß und kurvig wie das Mannequin, das Zeitschriften wie die Elle oder Marie Claire zierte. Die Frau lief auf den jungen Mann zu, nahm ihn an die Hand und forderte ihn auf, ihr zu folgen. Auf Deutsch!

»Hey, Süßer, danke, dass du so geduldig auf mich gewartet hast, die Schlange vorm WC war ewig lang. Und jetzt komm. Ich sterbe vor Hunger, und die Restaurants machen gleich auf.«

Charlotte drehte sich schnell um, reihte sich in die Menge vor Morrisons Grabstätte ein und richtete den Blick auf den Gitarrenspieler. Jetzt bloß nicht umdrehen.

Was hatte sie sich gedacht? Dass dieser hübsche Mann an ihr interessiert sein könnte? Charlotte hatte Augen im Kopf. Gegen diese Frau, die aussah wie ein Supermodel, wirkte sie selbst wie eine graue Maus. Und wenn sie das Bild des jungen Mannes dennoch immer wieder in ihrem Geiste heraufbeschwor, dann nur, um sich zu merken, wie ihr Romanheld aussehen sollte. Die Welt der Bücher war einfach sicherer und vor allem weniger banal als die Wirklichkeit. Eine Schlange vor dem Klohäuschen wäre in ihrem Buch jedenfalls nicht vorgekommen.

Köln 1995

Charlotte liebte Jane Austen und bedauerte manchmal, zu spät geboren worden zu sein. Wie wäre es, in einer Zeit zu leben, in der der Angebetete einen Liebesbrief mit Siegel zusteckte, ein Kuss einem Verlobungsversprechen gleichkam, die Kleider und Häuser nach ihrem Geschmack gewesen waren? Ja, sie hätte lieber in einer Bibliothek mit hohen Decken und Holzvertäfelung gearbeitet, mit Kronleuchtern an der Decke und Parkettboden. Objektiv gesehen war der wuchtige, quadratische Betonbau am Neumarkt potthässlich, aber als die Stadtbibliothek Köln im Jahr 1979 eröffnet worden war, gehörte sie zu den modernsten Bibliotheken des ganzen Landes. Und Charlotte wusste ganz genau, dass sie in den ach so romantischen Zeiten hätte froh sein können, wenn sie überhaupt freien Zugang zu einer großen Bibliothek gehabt hätte.

Über fünf Etagen verteilt, gab es Klassiker und Neuerscheinungen, Taschenbücher und wissenschaftliche Abhandlungen, Bilderbücher und sogar CDs. Auf jeder Etage huschten mindestens fünf gute Geister auf dem grauen Linoleumboden herum, um den Besuchern zu helfen, die ein ganz bestimmtes Buch suchten, und gleichzeitig jene nicht zu stören, die in Ruhe lesen wollten.

Und unbemerkt von der Öffentlichkeit gab es noch einen Keller unter dem Untergeschoss, in dem sich ein gewaltiges Archiv befand.

Wenn Charlotte zum Arbeitsbeginn das helle Gebäude erst einmal betreten hatte, sah sie nur noch die Bücher und nicht mehr all den nackten Beton und die schnörkellose Einrichtung. Das Schildchen an ihrer beigen Bluse hatte sie gerade erst angesteckt, als auch schon die erste Kundin nach einem Buch fragte.

»Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir sagen, wo ich Das Superweib finde, das neue Buch von dieser Hera Lind?«

Das hätte die Frau, eine Mittfünfzigerin mit Dauerwelle, gar nicht hinzufügen müssen. Seit dem Roman Ein Mann für jede Tonart kannte jeder die Bücher der Rheinländerin, die angeblich im Erziehungsurlaub vor lauter Langeweile den ersten Roman geschrieben hatte. Wie man das halt so machte.

»Natürlich, Sie finden den Roman im Freihandbereich unter U wie Unterhaltung.« Charlotte lächelte die Frau freundlich an. Sie selbst gruselte sich bei dem Begriff Freche Frauen, unter der der Gonski um die Ecke ein eigenes Regal für diese Art Bücher eingerichtet hatte.

»Und wo finde ich den genau?«

»Ich zeige es Ihnen.«

Für viele war es immer noch ein Rätsel, wie man in Minuten eins der vielen hunderttausend Bücher finden konnte, aber Charlotte hatte ja nicht umsonst den Beruf erlernt. Wenn sie ganz ehrlich war, hätte sie ja am liebsten selbst hauptberuflich Bücher geschrieben, aber nicht nur ihre Eltern, sondern auch der renommierte Kölner Autor Wolfgang Bittner warnten davor, dass die allermeisten Schriftsteller bettelarm wären. Nein, sie musste erst etwas Vernünftiges machen. Und was war vernünftiger und schöner, als mit Büchern zu arbeiten? Und andere mit dem passenden Buch glücklich zu machen?

Charlotte drückte der Frau das Buch von Hera Lind in die Hand und bot ihr gleich den Vorgänger Frau zu sein bedarf es wenig an.

»Danke schön! Sie sind ein Schatz. Wissen Sie, seit mein Ernst das Zeitliche gesegnet hat und die Kinder aus dem Haus sind, habe ich so viel Zeit. Und da tut mir was Leichtes gut. Das Leben ist ja schon so eins der schwersten.« Sie zuckte entschuldigend mit den Achseln und legte die beiden Bücher in ihr Körbchen.

»Das verstehe ich gut«, antwortete Charlotte, die das natürlich nicht ansatzweise verstand, so jung und ungebunden, wie sie war. Die Bibliothek war heute besonders voll, und sie bemerkte, dass sich vor dem Infostand schon eine Schlange gebildet hatte. Wie voll würde es dann erst an der Ausleihe sein? Heute saß Anke im Erdgeschoss oder stand genauer gesagt wahrscheinlich neben den neu eingeführten Ausleihautomaten, um deren Funktionsweise zu erklären. Die Stadtbibliothek war die erste in ganz Europa gewesen, in der es solche »Roboter« gab. Und es gab immer noch so einige, denen es sicherer vorkam, der Bibliothekarin dabei zuzuschauen, wie sie aus jedem Buch die Karteikarte herausnahm, Ausleihdatum und Namen notierte und es noch mal in dem aufgeklebten Blatt auf der Innenseite des Buchdeckels wiederholte.

»Wissen Sie, junge Frau, so ein Mann wie mein Ernst ist ein Glücksfall gewesen. Einige meiner Freundinnen hatten wirklich Pech mit ihren besseren Hälften. Und es ist ja nicht wie bei euch jungen Frauen, dass man einfach gehen konnte, wenn der Alte soff oder schlug.«

Charlotte nickte und dachte insgeheim, dass sie nur eine Ehe eingehen würde, in der alles perfekt wäre. Ihre Eltern waren weder gewalttätig noch alkoholsüchtig, aber ihr Leben erschien Charlotte entsetzlich langweilig.

»Wünschen Sie noch mehr Bücher? Wir haben auf der Etage noch einen Büchertisch mit Neuheiten. Wenn Sie Hera Lind mögen, dann könnte Barbara Wood auch etwas für Sie sein.«

Tatsächlich nahm die Frau noch ein paar Schmöker mit, sodass sie hoffentlich genug Stoff hatte, um sich von ihrer Einsamkeit abzulenken.

Als die Frau sich verabschiedet hatte, atmete Charlotte tief durch. Sie selbst hatte sich gestern erst aus der ersten Etage zwei Bildbände über Paris mit nach Hause genommen. In einem war das Grab von Jim Morrison abgebildet gewesen, mit ein paar Hippies darauf inklusive Rauchschwaden. Ja, sogar die Grabstätten daneben waren auf dem Bild angerissen gewesen. Aber da, wo der junge Mann mit den haselnussbraunen Locken hätte sitzen sollen, war nichts als Leere. Dafür hatte sich in ihrem Notizbuch wieder Seite um Seite gefüllt, und der Held wurde immer lebendiger, sodass sie sogar schon in Gedanken mit ihm sprach.

Sie fuhr mit dem Finger über die Buchreihe in dem Regal vor sich. So viele Geschichten warteten hier auf jemanden, der sie würdigte. Ach, wenn doch erst ihr eigenes Buch hier stünde!

Ein Stoß in die Knie ließ sie aufschrecken. Als sie sich umdrehte, stand Rosi Rothenmeyer vor ihr, die von Anke und ihr insgeheim Fräulein Rottenmeier genannt wurde, weil sie genauso harsch wie dieser Drachen von Hauslehrerin aus Heidi war. Sie schob einen Bücherwagen vor sich her und rempelte in schönster Regelmäßigkeit die Auszubildenden damit an. Charlotte versuchte, sich einzureden, dass nur ihre Kurzsichtigkeit daran schuld war, doch Anke hasste die Rothenmeyer und überlegte, ihretwegen sofort nach der Abschlussprüfung zu kündigen, aber Charlotte meinte nur, dass jede Geschichte einen Gegenspieler brauche und dass sie sich Schlimmere vorstellen könne als eine schnippische Vorgesetzte.

»Charlotte, Sie werden nicht fürs Rumstehen bezahlt.«

Sie gab dem Wagen noch mal Schwung, aber nur so viel, dass die Bücher darauf nicht umkippten und der Wagen einen Zentimeter vor Charlotte stehen blieb.

»Hier, sortieren Sie die Bücher wieder ein.«

Charlotte übernahm den Wagen und schob ihn durch die Reihen, um jedes Buch zurück an seinen angestammten Platz zu stellen. In dem Regal mit den Thrillern sah sie über die Bücherreihe vor ihren Augen hinweg und beobachtete die Menschen auf der anderen Seite. Der Mann, der im Stehen in einem Roman von Stephen King las, nahm sie nicht wahr, aber auch für die drei Schülerinnen, die tuschelten, war sie unsichtbar. Charlotte verzichtete darauf, sich zu räuspern und mit dem Finger auf das Hinweisschild zu zeigen, auf dem eine Figur den Finger vor den Mund hielt. Sie lief weiter die Reihe entlang, um den nächsten Titel einzuordnen. Als sie ihren Blick abermals hob, ließ sie das Buch in ihren Händen fallen.

Und bückte sich sofort, aber nicht nur, um das Buch aufzuheben.

Hatte sie Halluzinationen? Oder war das wirklich der junge Typ aus Paris? Diese haselnussbraunen Locken. Diese Augen. Beides würde sie nie vergessen, hatte sie doch schon unendlich viele Szenen im Kopf mit ihm durchgespielt.

Nein, er durfte es nicht sein. Er konnte es nicht sein. Als sie sich wieder erhob, stand er vor ihr.

»Entschuldigung, haben wir uns nicht schon mal gesehen?«

Köln, heute

»Und, Mama, was ist dann passiert?« Charlotte schmunzelte bei dem Gedanken an diese Frage ihrer Töchter, während sie in ihrer Küche stand und einen Apfelkuchen backte. Charlotte hatte ihnen Hunderte Male dieselben Kinderbücher vorgelesen, auch als sie längst selbst lesen konnten. Pettersson und Findus, Das doppelte Lottchen, Der geheime Garten … Und jedes Mal hatten die beiden Mädchen mit großen Augen zugehört, als wäre die Geschichte vollkommen neu.

Genau wie die »Geschichten von früher«, die sie immer hören wollten, allen voran die, wie ihre Eltern sich kennengelernt hatten. Auf einem Friedhof. In Paris. Nein, da hatten sie sich nur das erste Mal gesehen. Kennengelernt hatten sie sich in der Bibliothek zwischen Bücherregalen. Und als ihr Mann Cedric vor fünf Jahren plötzlich verstorben war, gehörte diese Geschichte zu Charlottes Rettungsankern. Yvonne war damals erst fünfzehn und Nicola dreizehn gewesen. Charlotte musste in erster Linie funktionieren, um den Rest ihrer Kleinfamilie gut durch den Alltag zu bringen.

Und ja, heute war sie zufrieden. Sie hatte ein gutes Leben. Zwei wunderbare Töchter, mit denen sie in einem gemütlichen Haus lebte. Einen Beruf, den sie liebte, an einem Ort, den sie liebte und an den sie wieder zurückkehren konnte, ohne dass ihr Herz zerriss. Und dass sie gerade fünfzig geworden war, erleichterte sie aus zwei Gründen ganz besonders: zum einen rückte der Tag immer näher, an dem sie ihren Mann hoffentlich wiedersehen würde (nein, sie hatte keine Todessehnsucht, sie mochte ihr Leben, aber die Aussicht auf ein Wiedersehen, in welcher Form auch immer, war für Charlotte eine tröstliche Perspektive). Und zweitens würden die Leute nun hoffentlich endlich damit aufhören, ihr zu versichern, dass sie noch jung genug sei, jemanden kennenzulernen.

Charlotte verteilte Äpfel auf dem Mürbeteig und streute Zimtzucker darüber. Essen ist der Sex des Alters, hatte ihre Schwägerin Nadine erst neulich gesagt und dann wieder damit angefangen, dass ihr Mann Stefan schuld sei, dass sie um die Hüften herum etwas runder geworden sei. Ersatzbefriedigung eben. Nadine gehörte zu ihrer Kennenlerngeschichte genauso dazu wie der Friedhof in Paris. War sie doch die attraktive Blondine gewesen, die Cedric damals fortgeschleift hatte. Und Nadine war es auch gewesen, die sie nach Cedrics Tod unterstützt hatte. Obwohl sie selbst um ihren Bruder trauerte, kam sie fast jeden Tag zu ihr, machte mit den Mädchen Hausaufgaben, kochte, begleitete Charlotte auf Behördengänge oder übernahm Autofahrten, weil Charlotte sich seit Cedrics Tod nicht mehr hinters Steuer traute. Als sie das letzte Mal die Hände am Lenkrad gehabt hatte, war ihr Mann gestorben.

Und deshalb hörte Charlotte immer geduldig zu, wenn Nadine über Stefan jammerte, auch wenn sie sie manchmal am liebsten angeschrien hätte, dass sie doch einfach froh sein solle, dass er noch lebe. Nicht nur aus Dankbarkeit, sondern auch, weil Cedric und Nadine sich trotz aller Unterschiedlichkeit sehr gemocht hatten, pflegte sie die Beziehung. Nadine wohnte nur drei Straßen weiter und würde auch heute, wie fast jeden Sonntag, zum Kaffeetrinken kommen.

Charlotte schob das Blech in den Ofen, und es dauerte nicht lange, bis sich ein köstlicher Geruch in der Küche ausbreitete. Zimt durfte es für Charlotte das ganze Jahr über geben, auch an einem Frühlingstag wie heute. Zum Ausgleich für das weihnachtliche Gewürz hatte Charlotte noch eine Zitronenbiskuitrolle gebacken, die sie aus dem Kühlschrank holte, um sie mit Pistazienstreuseln und geriebener Zitronenschale zu verzieren.

Charlotte schaute sich in der Wohnküche um. Sie hatten damals in dem Altbau, einem typischen Arbeiterreihenhäuschen auf der Schäl Sick, einige Wände eingerissen und Stahlträger eingebaut, sodass das Untergeschoss nun aus einem einzigen Raum bestand. Die Küche mit dem großen Esstisch in der Mitte wurde nur durch ein offenes Bücherregal von dem Wohnzimmerbereich getrennt, und zur Haustür hin war es auch nur ein deckenhoher Einbauschrank, der auf der einen Seite Vorräte und auf der anderen Seite die Jacken der Familie beherbergte.

Auf dem Esstisch stand ein Strauß mit den ersten Narzissen und falscher Johannisbeere aus ihrem kleinen Garten, der für die Stadt schon ein großer Glücksfall war.

Die Tischdecke aus pastellgrünem Leinen hatte sie genauso von ihrer Mutter geerbt wie das weiße Kaffeeservice mit Goldrand, das sie jeden Sonntag aufdeckte.

Das Telefon klingelte. Charlotte hob ab. Es war Anke.

»Charlotte, es tut mir so leid, aber Mia hat Fieber.«

Charlotte ließ die Schultern hängen. Sie hatte sich so auf ihre Freundin gefreut.

»Kein Problem, Kinder gehen immer vor.«

Anke hatte erst mit Mitte vierzig ihre Tochter bekommen und steckte, obwohl sie fast genauso alt wie Charlotte war, noch in einer ganz anderen Lebensphase fest.

»Danke. Vielleicht klappt es ja nächste Woche mit einer gemeinsamen Mittagspause.«

Anke und Charlotte arbeiteten immer noch gemeinsam in der Stadtbibliothek. Anke hatte auch nach der Ausbildung nicht gekündigt, sondern einfach die Zähne zusammengebissen, bis das Fräulein Rottenmeier in Rente gegangen war, während Charlotte ihren Wunsch, irgendwann ein eigenes Buch in der Bibliothek stehen zu haben, fast vergessen hatte.

»Das wäre super.«

»Dann ist das hiermit fest ausgemacht. Außer ich muss mich wegen Mia nächste Woche krankmelden.«

Der Zimtduft stieg Charlotte in die Nase. Das war doch Ankes Lieblingskuchen.

Charlotte schlug die Sahne, als könne die irgendwas für die Absage, und ärgerte sich, als ihre Bluse ein paar Spritzer abbekam. Ach, was sollte es, für eine Bluse war es eh zu frisch, sie würde sich einen Cardigan drüberziehen.

Es klingelte an der Tür, und das war wohl auch für Yvonne und Nicola der Startschuss, endlich aus ihren Löchern hervorzukriechen.

Als Charlotte die Tür öffnete, fiel ihr Nadine sofort in die Arme.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut mir das tut, jetzt von meinen Männern zu Hause wegzukommen. Yannick hing die ganze Zeit an der Playstation und Stefan vor dem Computer, während ich noch die Küche aufgeräumt habe.«

»Hier brauchst du nichts zu machen, als zu genießen.«

»Das rieche ich schon! Zimtzucker! Aber für mich heute nur ein Ministück. Der Sommer steht bevor und …«

Immerhin hielt Nadine inne, als sie ihre Nichten die Treppe herunterkommen sah.

Charlotte hatte es etwas Überwindung gekostet, aber sie hatte Nadine eingeschärft, in Gegenwart ihrer Töchter nicht mehr über ihre Figur zu jammern. Es reichte Charlotte schon, dass die beiden Mädchen sich nicht nur mit Freundinnen, sondern mit Mädchen und Frauen verglichen, deren Körper auf Instagram und TikTok gepimpt wurden, um irgendwelchen völlig unrealistischen Idealen nachzueifern. Und zwar nicht mit Diäten und Sport, sondern mit digitalem Filter und Weichzeichner.

»Tante Nadine!«

Nicola umarmte ihre Patentante. Sie sah ihrem Vater so ähnlich, dass wahrscheinlich auch Nadine immer an ihren Bruder denken musste, wenn sie ihre Nichte sah. Die gleichen haselnussbraunen Locken, die gleichen grünen Augen. Das verträumte Wesen. Charlotte musste aufpassen, dass sie die Jüngere nicht bevorzugte. Yvonne war ihr selbst ähnlicher, zumindest äußerlich. Aschblonde glatte Haare, eine fast androgyne Figur, die sie wohl ebenfalls immer mädchenhaft wirken lassen würde, wenn sie nicht beide so groß wären. Und braune Augen. Aber im Gegensatz zu Charlotte war Yvonne oft noch sehr unselbstständig, so als wollte sie nicht wirklich erwachsen werden. Dabei studierte sie doch seit drei Semestern Pädagogik, war seit zwei Jahren mit Kostas zusammen und machte fast nur noch Pärchenabende statt Party, wenn Kostas abends mal Zeit hatte. Er hatte gerade seine Ausbildung zum Koch beendet und buckelte jetzt unter den Argusaugen seiner Eltern, um irgendwann einmal ihr Restaurant zu übernehmen. Schließlich planten seine Eltern seit der Geburt ihres Sohnes, ihm die Taverne zu übergeben, um die Hälfte des Jahres in ihrer Heimat auf Rhodos verbringen zu können.

Charlotte wollte ihren Töchtern alle Zeit der Welt geben, in Ruhe erwachsen zu werden, und ihr Leben nicht verplanen.

Es hatte sich nach Cedrics Tod so eingebürgert, dass die anderen Männer zum Sonntagskaffee auch zu Hause blieben, außer einer in der Familie hatte Geburtstag. So als ob sie eine Zumutung für Charlotte wären, die ihren Cedric verloren hatte. Sie hatten mit der Zeit allerdings gemerkt, dass es in der Damenrunde viel netter und ungezwungener war. Und so auch heute, sie plauderten einfach drauflos und lachten die ganze Zeit.

Nadine meckerte zwar nicht mehr über ihre Figur, nahm sich aber tatsächlich nur ein dünnes Scheibchen Zitronenrolle und ein Ministück Apfelkuchen.

»Ach, Kinder, ich sage euch eins, wenn ihr glücklich sein wollt, dann bindet euch nicht zu früh an einen Kerl. Wenn die sich erst mal dran gewöhnt haben, dass ihr sie von vorne bis hinten bedient, dann kommt ihr aus der Aschenputtel-rolle nicht mehr raus.« Dabei sah sie Yvonne besonders eindringlich an.

Cedric und sie waren immer ein gutes Team gewesen, dachte Charlotte wehmütig, hatte aber keine Lust, die Erinnerung zu teilen.

»Papa war anders.«

Nicola sprach Charlottes Gedanken aus und lächelte selig, während sie sich eine dicke Portion Sahne auf den Kuchen kleckste.

»Ja, mein Bruder war anders. Aber da war er wohl die Ausnahme, die die Regel bestätigt.«

»Und Kostas ist auch anders. Kochen kann er sowieso tausendmal besser als ich.«

Yvonne sah ihre Tante mit dem typisch überheblichen Blick der Jugend an, die davon überzeugt war, später einmal alles besser zu machen.

»Ach, warte mal ab, sobald ihr Tisch und Bett teilt, dann sind sie doch fast alle gleich.«

»Möchte noch jemand Kaffee?«

Niemand antwortete Charlotte.

»Wenn Kostas und ich zusammenziehen, werden wir uns natürlich alles gerecht aufteilen.«

Charlotte horchte auf. Wie schön, dass Yvonne so für sich einstand. Und hoffentlich würde sie recht behalten.

»Mein Schatz, Kostas ist ein toller junger Mann. Ihr macht das bestimmt wunderbar, wenn ihr irgendwann einmal zusammenzieht.«

Charlotte mochte Kostas wirklich, und wer weiß, vielleicht wäre er wirklich der Partner fürs Leben?

»Irgendwann ist schon bald. Genau genommen nächsten Monat.«

Charlotte legte die Kuchengabel ab. »Wie meinst du das?«

»Kostas’ Onkel vermietet ja ein paar Wohnungen in der Stadt, und Kostas hält es zu Hause wirklich nicht mehr aus. Reicht ja schon, wenn er bei seinen Eltern arbeitet. Na ja, jedenfalls könnten wir gemeinsam eine der Wohnungen mieten.«

Nadine atmete tief ein und schüttelte den Kopf. »Nee, den Fehler machst du bitte nicht! Ich sage dir, das wäre der Anfang vom Ende!«

Charlotte war Nadine dankbar. Es wäre vielleicht nicht der Anfang vom Ende, aber definitiv überstürzt. Und von ihren eigenen Gefühlen wollte sie jetzt gar nicht sprechen. Zuzugeben, dass sie sie schrecklich vermissen würde, würde Yvonne nur unter Druck setzen.

»Ich würde mir mit diesem Schritt auch Zeit lassen«, drückte sie es vorsichtiger als Nadine aus. Sie musste nicht den bad cop spielen.

»Mama, du sagst doch immer, dass ich selbstständiger werden soll!«

Yvonne sah sie an, als wolle sie ihren Segen und ihre Erlaubnis. Yvonne war zwanzig. Sie brauchte ihre Erlaubnis nicht. Höchstens ihren Segen. Ach ja, und ihr Geld.

»Also ehrlich, direkt mit dem Freund zusammenziehen, das hat doch wirklich nichts mit Selbstständigkeit zu tun! Das ist doch von einer Abhängigkeit in die nächste. Dann such dir wenigstens eine Wohnung mit einer Freundin!«

»Meine Freundinnen sind alle schon versorgt oder weggezogen. Und irgendeine Zweck-WG? Nein danke.«

Warum um alles in der Welt wollte Yvonne jetzt ausziehen? Sie hatte es doch gut bei ihr, hatte alle Freiheiten der Welt, und die Straßenbahn zur Uni fuhr alle zehn Minuten. Es machte überhaupt keinen Sinn auszuziehen!

»Lass uns da in Ruhe drüber reden. Okay?«

In Ruhe reden. Mit einem heißen Kakao oder Tee. Ganz vertraut. So wie sonst auch. Dann würden sie wie immer zu einer guten, einvernehmlichen Lösung kommen. Nicht, dass Kostas Yvonne bedrängte und sie nur ihm zuliebe auf solche Ideen kam. Sie wohnte doch gerne zu Hause.

»Mama, ich will gar nicht in Ruhe darüber reden. Ich habe mich längst entschieden.«

Ob das die nachgeholte Pubertät war? Yvonne war immer sehr brav gewesen.

»Lass uns das unter vier Augen besprechen. Und ich würde dich vermissen.«

Der letzte Satz war ihr so rausgerutscht. Obwohl er noch völlig untertrieben war, hatte sie ihn herunterschlucken wollen.

»Ich wäre doch nicht aus der Welt, nicht mal aus der Stadt, und wir könnten uns besuchen! Du kannst mich nicht festhalten.«

»Das tue ich nicht.«

»Doch. Dein leidender Blick. Immer willst du wissen, wann ich wieder zu Hause bin.«

Charlotte bemerkte durchaus, dass Nadine und Nicola schauten, als verfolgten sie ein Theaterstück. »Ich bin halt deine Mutter. Deine Oma wollte auch immer wissen, wann ich wiederkomme.«

»Und du hast immer gesagt, wie sehr dich das genervt hat. Dass du dich deswegen nicht getraut hast, alleine auf Interrailtour zu gehen oder wild zu campen.«

»Ja, und heute bin ich froh, dass ich auf sie gehört habe! Und jetzt möchte ich das Thema hier am Tisch beenden. Wir reden später drüber. Will noch jemand ein Stück Kuchen?« Charlotte schaute in drei betretene Gesichter. »Schmeckt’s etwa nicht?«

»Doch, doch, ganz ausgezeichnet.« Nadine hielt ihr fast übereifrig den Teller hin, während ihre Töchter plötzlich den Blick gesenkt hielten.

»Was ist los?«

»Nichts.« Yvonne stocherte auf dem leeren Teller rum und schaute dann zu ihrer Schwester. Stupste sie an.

»Also ich nehme noch ein Stück«, meinte Nicola und wurde rot.

»Jetzt sag’s Mama schon. Sonst wäre das unfair.«

Charlotte sah ihre beiden Töchter an. Das kannte sie doch aus Kindertagen. Einmal war Yvonne stolz mit der Note »ausreichend« angekommen, nachdem Nicola eine Sechs in Mathe geschrieben hatte. War alles immer nur eine Frage des Vergleichs.

Nach einer schlaflosen Nacht räumte Charlotte am nächsten Morgen die Spülmaschine ein, als wäre das Gerät kein treuer Helfer, sondern ein Gegner, der bezwungen werden musste. Fehlte nur, dass die Teller und Tassen Sprünge bekamen. Und dann schalt sie sich gleich wieder selbst: Scheiß doch auf die blöden Teller und Tassen! Da hatte Nicola sich doch tatsächlich hinter ihrem Rücken für ein Jahr Work & Travel in Frankreich beworben! Sie hatte erst eine Zusage abwarten wollen, statt mit ihr rumzudiskutieren. Nach dem Abi wäre sie sowieso achtzehn und hätte eh selbst entscheiden können.

Und Nadine hatte Bescheid gewusst! Was wusste ihre Schwägerin noch von ihren Töchtern, wovon sie keine Ahnung hatte? Charlotte hatte gelächelt und genickt. Wie toll das doch sei. Klar wäre es schön gewesen, mal vorher drüber zu reden, aber sie könne Nicola verstehen, dass sie nicht über ungelegte Eier reden wollte. Stand jetzt: Ihre Töchter zogen aus. Beide auf einmal, von einem Tag auf den anderen. Sie würde bald alleine im Haus sitzen. Sie musste an einen Morgen mit Cedric zurückdenken. Die Kinder hatten die halbe Nacht durchwacht. Erst war der orangefarbene Schnuller weg, und es durfte auch keine andere Farbe sein. Dann war das Kuscheltier unauffindbar. Morgens dann der Kaffee alle und die Spülmaschine kaputt. Und Cedric war zum Kiosk nebenan gelaufen, um ihr einen heißen Kaffee im Pappbecher ans Bett zu bringen. Und er hatte ihr davon vorgeschwärmt, wie sie eines Tages samstagmorgens gemeinsam im Bett liegen würden, wenn die Kinder ausgezogen wären …

Charlotte würde alles dafür geben, die Zeit zurückzudrehen.

Toll, Cedric, sprach sie ihn in Gedanken an. Jetzt werden wir es nicht einmal mehr genießen können, zu zweit zu sein, nicht genießen können, nur Muscheln statt Fischstäbchen zu essen, miteinander schlafen zu können, ohne von den Kindern überrascht zu werden, keine Enkelkinder gemeinsam aufwachsen zu sehen … wir können uns noch nicht einmal zusammen darüber Sorgen machen, dass Nicola in Frankreich nach zu viel Rotwein per Anhalter fährt! Oder dass Yvonne sich zu früh an ihren Freund bindet. Sie knallte die Spülmaschinentür zu. Wenn ihre Töchter aus dem Haus wären, dann würde das Ding höchstens alle drei Tage laufen. Dann atmete sie tief durch, schnappte sich ihre dunkelbraune Samtjacke, die Brille, die sie nur zum Lesen und für die Arbeit trug, sowie den Jutebeutel, in dem sie ein großes Tuppertablett gelagert hatte. Sie sollte dankbar sein. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, genug zu essen, gesunde Kinder und einen wunderbaren Job mit netten Kolleginnen und Kollegen. Und wenigstens die würden sich über den Kuchen in der Pause freuen, der von gestern übrig geblieben war!

»Oh, Charlotte, hast du mal wieder gebacken?«

Ihr Lieblingskollege Bert nahm sich gleich zwei Stücke während der Frühstückspause, als Charlotte das Tablett herumreichte. Anke und die Auszubildende Sevda waren krank, dennoch war die Arbeit entspannt. Montags war selten viel los, wahrscheinlich weil sich ganz Köln daran gewöhnt hatte, dass die Bibliothek es den Friseuren gleichtat; aber mittlerweile arbeiteten sie auch montags, wenn auch mit eingeschränktem Service. Dörte, die auch in ihrem Alter war, schüttelte den Kopf.

»Lass mal. Ich stelle gerade auf hormonfreundliche Ernährung um. Kein Gluten. Seitdem bin ich viel fitter.«

Dörte gehörte in Sachen Lebensratgeber zu den besten Kundinnen der Stadtbibliothek. Einmal waren es Hormone, das andere Mal die Mondphase, das nächste Mal der Aszendent.

Charlotte war der Meinung, dass nichts so ungesund war, wie sich selbst ein harmloses Vergnügen wie ein Stück Kuchen zu versagen. Aber auch in den Augen ihrer Kollegin Gertrud war der Kuchen Sünde.

Gerade kniff sie sich in den Bauch. »Bitte nur ein hauchdünnes Scheibchen von der Zitronenrolle. Mein Mann hat mir zum Geburtstag eine Woche auf der Aida geschenkt. Da will ich in Form sein.«

Charlotte lächelte verständnisvoll, aber ein Teil von ihr fühlte sich zurückgewiesen. Natürlich hatte jeder das Recht, Nein zu einem Stück Kuchen zu sagen, aber heute hielt sich ihr Verständnis dafür in eng gesteckten Grenzen.

Als Charlotte nach Feierabend aus der Bücherei trat, war das Tablett fast so voll wie am Morgen. Die Sonne hatte auch eine Gruppe Junkies und Obdachlose angelockt, die mit einer Flasche Bier in der Hand auf dem Mauervorsprung saßen, der zu einer Tiefgarage führte. Obwohl die Junkies zum festen Interieur des Neumarkts gehörten, hatte sich Charlotte nie an das Elend dieser Menschen gewöhnt. Jeder von ihnen hatte als Baby angefangen, und in Charlottes Vorstellung wurden Babys immer geliebt und behütet und gehörten zu Eltern, denen es das Herz zerreißen würde, sich auch nur vorzustellen, dass ihr Kind eines Tages »in der Gosse« landen würde.

Natürlich wusste sie, dass das naiv war. Viele von diesen Leuten hier hatten schon einen Fehlstart ins Leben gehabt, der sie nicht damit rechnen ließ, dass das Leben gut war.

Charlotte lächelte eine junge Frau an, deren Augen so schwarz umrandet waren, als hätte sie fünf Wochen nicht geschlafen, und die so gebückt ging, als laste die ganze Welt auf ihren Schultern. Die Frau lächelte zurück.

»Haste mal ’nen Euro?«

Charlotte hatte nur noch zwei Zehncentmünzen im Portemonnaie, allerdings lohnte es sich dafür kaum, den Kuchen abzustellen und die Tasche zu durchwühlen, zumal selbst diese paar Cents wahrscheinlich in Drogen investiert würden. Und den Zehner in der Tasche wollte sie nicht hergeben.

»Nein, aber sehr gerne ein Stück Kuchen. Es ist genug für alle da.«

Ihr Herz wurde warm bei dem Gedanken daran, dass gleich die ganze Gruppe ihren Kuchen genießen würde. Charlotte kam es fast so vor, als hätte es genau so sein müssen, dass ihre satte und zufriedene Familie den Kuchen verschmäht hatte – oder eben nicht mehr als ein bis zwei Stücke gegessen hatte, was bei ihrer eigenen Mutter noch einer Beleidigung gleichgekommen war. Damit diese vom Leben gebeutelten Junkies sich über ein Stück selbst gebackenen Kuchen freuen durften.

Die Frau lachte und offenbarte ihre schwarzen Zähne. »Nä, Kuchen ist nix für mich.«

»Wenigstens ’ne Kippe, Alte!«, grölte einer der Männer neben ihr und schaute Charlotte auf eine Art an, dass sie froh war, am helllichten Tag hier zu sein.

»Rauchen ist ungesund.«

Anscheinend war die Bemerkung so unpassend, dass es den Junkies einen Moment die Sprache verschlug. Sie blickten sich an – und brachen in lautes Gelächter aus. »Danke für den Tipp, junge Dame. Meinen Sie, ich sollte auch weniger Bier trinken?«

Charlotte hatte genug, drehte sich um und lief in Richtung Bahn. Bei Charles Dickens hätten sich die Leute über den Kuchen gefreut.

Jemand tippte ihr von hinten auf die Schulter. Jemand, dessen Nähe sie schon gerochen hatte, sodass sie die Vorstellung des Fingers auf der Schulter nicht besonders angenehm fand. Sie drehte sich um und sah in das Gesicht eines alten Mannes, der am Rand der Gruppe gestanden hatte.

»Also ich würde ein Stück nehmen.«

»Auch noch einen Kaffee dazu?«

»Haben Sie welchen dabei?«

»Nein, aber wenn Sie Lust haben, lade ich Sie auf einen Kaffee ein.«

Sie zeigte auf den türkischen Backshop, vor dem drei Alutische für Gäste standen, die beim Teilchen die ersten Sonnentage des Jahres oder eine Kippe genießen wollten. Charlotte nahm sich den Tisch ganz außen, stellte den Kuchen darauf ab, und der Mann setzte sich tatsächlich hin, während Charlotte zwei große Kaffee holte.

»Stimmt so«, sagte sie, als die Kassiererin das Kleingeld herausgeben wollte. Dafür nahm sie sich noch zwei Papiertüten und Servietten mit wie auch die Frechheit heraus, dem Mann den eigenen Kuchen im Café anzubieten und selbst noch ein Stück zu essen.

»Sie sind wirklich ein Engel.«

Der alte Mann war einmal schön gewesen, dachte sie. Was war passiert, dass er auf der Straße gelandet war?

»Ach was, in Wirklichkeit bin ich nur neugierig. Wissen Sie, ich wollte früher Schriftstellerin werden und höre mir gerne Geschichten an. Ein Kaffee und ein Kuchen ist nicht viel für eine Geschichte, falls Sie mir die erzählen wollen.«

Sie wurde rot. Was faselte sie denn da? Der Wunsch, Schriftstellerin zu werden, gehörte doch längst der Vergangenheit an. Sie als Bibliothekarin wusste mehr als jede andere, dass es schon genug Bücher gab. Und es war ja nicht so, als hätte sie als junge Frau nicht mal ein paar Manuskripte verschickt, auf die sie allerdings nie eine Antwort erhalten hatte.

»Es hat mich noch nie jemand nach meiner Geschichte gefragt.« Eugen, so hatte er sich vorgestellt, hatte sich mit einem Motorradhandel selbstständig gemacht. Das lief super, bis er einen Bandscheibenvorfall hatte und jemanden einstellen musste, bis er wieder ohne Schmerzen in der Werkstatt arbeiten konnte. Tja, dieser Jemand verprellte nicht nur die Kunden, sondern spannte ihm auch noch seine Freundin aus, sodass Eugen aus der gemeinsamen Wohnung flog. Als sich rumsprach, dass er in der Werkstatt hauste und gerne mit der Flasche in der einen und dem Werkzeug in der anderen Hand an den Gefährten rumschraubte, blieben die Kunden zur Gänze aus. Und irgendwann seine Mietzahlungen. Schließlich war er auf der Straße gelandet, trank aber immerhin seit zwei Jahren keinen Alkohol mehr, sondern nur noch Kaffee. Er zwinkerte Charlotte zu, und als er erzählte, dass er gerade über einen Hilfeverein einen Job in einer Werkstatt gefunden habe, hoffte sie von ganzem Herzen, dass seine Geschichte noch ein einigermaßen gutes Ende nehmen würde.

*

Genau in diesem Moment kam eine junge Frau an dem türkischen Bäcker vorbei, die ebenfalls auf der Suche nach einer Geschichte war. Nicht, um sie selbst zu schreiben, nein, Lisa suchte eine fertige Geschichte für ihren kleinen Verlag. Alle hatten sie für verrückt erklärt, als sie den sicheren Job kündigte und Wunderbuch gründete. Und wie jede Geschichtensucherin fand sie überall eine Geschichte, zum Beispiel auch bei diesem ungleichen Paar an dem Alutischchen. Er ein verlebter Mann, vielleicht gar ein Clochard. Sie wie eine französische Schauspielerin, die ihre besten Tage hinter sich hatte, aber immer noch so elegant rauchen konnte wie Catherine Deneuve. Nur spießiger sah sie aus mit dem Samtjackett über der weißen Bluse und den Ballerinas an den Füßen. Halt, sie rauchte gar nicht, sondern hielt nur die Kaffeetasse in der Hand. Der braune Samt stand ihr gut, hoffentlich kam sie nie auf die Idee, dass mehr Farbe mehr Pep bringen würde, wobei die Lippen mit einem roten Lippenstift noch besser zur Geltung gekommen wären. Die beiden hatten ähnlich hohe Wangenknochen. Waren das Vater und Tochter? Gab es endlich die Aussprache, nach der sich beide gesehnt hatten? Bestand die Tochter darauf, ihren Vater nur draußen zu treffen, statt ihn in ihre Wohnung zu lassen? Vielleicht, weil er sie nie in sein Herz gelassen hatte, die Familie verlassen und seine Entscheidung nach Jahren auf der Straße bereut hatte? Die junge Frau schaute noch einmal hin, weil ihr die Frau bekannt vorkam. Andersrum war es wohl nicht so, denn als sich ihre Blicke trafen, bemerkte sie keine Reaktion des Wiedererkennens. Dennoch lächelten sie sich an, und Lisa lief weiter. Ihre Tasche wog schwer, immerhin hatte sie einen Stapel Bücher dabei, den sie abgeben musste. Und da sie gerade knapp bei Kasse war, wollte sie auf gar keinen Fall schon wieder Überziehungsgebühr bezahlen. Sie kämpfte doch sowieso schon um das Überleben ihres Herzensprojektes, für das sie fast alle Zeit und jeden Cent aufsparte.

*

Charlotte glaubte nicht, dass sich Cedrics Seele in der Nähe des Grabs aufhielt, und dennoch fühlte sie sich ihm an diesem Ort verbunden. Sie hätte ihm ihre Liebe gerne in anderer Form gezeigt, aber wenn sie sich wie heute um das Grab kümmerte, hatte sie das Gefühl, etwas für ihn zu tun. Der Flieder blühte und verströmte einen süßlichen Duft. Das Summen der Bienen erfüllte die Luft, und Charlotte musste immer wieder sanft ein Insekt verjagen, während sie die Stiefmütterchen einpflanzte. Stiefmütterchen. Was für ein komischer Name für so eine dankbare und robuste Blume. Viola klang hübscher. Und warum war weder in der Pflanzenwelt noch in Märchen von einem Stiefväterchen die Rede? Und warum hatte sie ihren Kindern nie einen Stiefvater präsentiert? Hatte doch eine der geschmacklosen Beileidsbekundungen damals gelautet, dass sie noch immer jung und attraktiv genug für einen neuen Mann sei.

Aber selbst wenn sie offen für einen neuen Partner an ihrer Seite gewesen wäre – was sie nicht war, da sie mit den Kindern und der Arbeit genug zu tun hatte –, hätte sie sich niemals vorstellen können, zu jemand anderem auch nur eine ähnliche Verbundenheit zu spüren wie zu Cedric.

Mit bloßen Händen in der Erde zu wühlen, tat gut. »Ach, Cedric, ich wünschte, ich könnte mehr für dich tun, als Blumen zu pflanzen.«

Tust du doch. Seit Jahren. Ziehst unsere Kinder groß, hältst meine Erinnerung bei ihnen lebendig, hältst das Gejammere meiner Schwester aus …

Sie hatten sich so gut und lange gekannt, dass beide schon zu Lebzeiten gewusst hatten, was der andere dachte und sagen würde. Und so hatte Charlotte auch jetzt das Gefühl, dass die Dialoge mit Cedric gar nicht so unwirklich waren. Ob sie ihm die Worte in den Mund legte oder er in Gedanken wirklich zu ihr sprach, war da fast schon egal.

»Stimmt, da hast du recht. Ich mag Nadine, aber manchmal regt sie mich ganz schön auf. Und was die Kinder betrifft, sie ziehen bald beide aus. Dann ist der Job erledigt.«

Sie drückte die Erde rund um die Wurzelballen fest. Ihre Fingernägel würde sie heute ganz schön schrubben müssen.

Dann such dir eine neue Aufgabe!

»Cedric! Was soll das? Es ist nicht so, dass ich mich langweilen würde, aber so eine wichtige Aufgabe wird es nicht mehr geben in meinem Leben! Verdammt noch mal, ich habe Angst davor, bald alleine zu Hause zu sitzen! Ich hatte das anders geplant! Wir wollten in der Zeit noch mal ganz neu anfangen. Auf Reisen gehen, Abenteuer erleben! Ich wollte mit dir alleine sein und irgendwann mit dir auf die Enkel aufpassen und die Familie sonntags zum Kaffee einladen. Also immer dann, wenn wir gerade nicht auf Reisen wären. Und du hast mir da einfach einen Strich durch die Rechnung gemacht!«

Charlotte wusste gar nicht, was davon sie nur gedacht oder vor sich hingebrummelt hatte. Als sie aus der Hocke aufstand, wurde ihr leicht schwindelig, und die Knie schmerzten, ausgerechnet der Grabstein gab ihr Halt. Als sie sich umschaute, zuckte Charlotte zusammen. Hinter ihr ging eine Frau mit Rollator vorbei, die vielleicht schon viel länger hierherkam. Sie sah Charlotte mitleidig an.

»Der hört sie nicht.«

Sie sprach mit ihr wie mit einem kleinen Kind, das dem Weihnachtsmann eine überbordende Geschenkeliste diktierte.

»So ganz sicher kann man nie sein.«

Charlotte wischte sich die Erde von den Händen, packte die kleine Gartenschaufel und die leeren Plastiktöpfe in ihren Jutebeutel und machte sich auf den Weg nach Hause.

Eine neue Aufgabe! Cedric hatte gut reden.

*

Lisa saß auf einem weißen Lederhocker in dem Brautmodengeschäft in der Nähe des Heumarktes und wartete auf ihre Schwester Claudia. Sie war wie immer ein paar Minuten zu spät, was Lisa gar nicht störte, weil sie so die anderen Frauen in dem Geschäft beobachten konnte. Wie jung die Frau in dem schmalen Seidenkleid war. Ob sie nur so früh heiratete, weil sie unter dem Stoff schon ein Bäuchlein trug? Und was war mit der Frau, die so verbissen schaute, aber immer dann ein falsches Lächeln aufsetzte, wenn ihre Freundin im Tülltraum ihren Blick suchte? Hatte sie vielleicht selbst ein Auge auf den Zukünftigen geworfen? Gleich würde Lisa das erste Mal im Leben selbst ein Brautkleid anprobieren. Wie wohl ihre eigene Geschichte werden würde? Sie hoffte, dass sie keinen Romanstoff abgeben würde, denn glückliche Liebesgeschichten waren oft zu langweilig. Unwillkürlich dachte sie an den Anblick des alten Obdachlosen und der Frau an demselben Tisch, die so anders gewirkt hatte als er. Und sie dachte daran, wie sie mit ihrem eigenen Vater am Wochenende an einem Tisch gesessen hatte.

»Lisa, mach dir keine Sorgen. Marten ist der perfekte Mann für dich.«

»Ich mache mir keine Sorgen!«, hatte sie empört zurückgegeben. Wenn sie sich Sorgen machen würde, hätte sie kaum seinen Heiratsantrag zu ihrem fünfunddreißigsten Geburtstag im Kreise der Familie und engsten Freunde angenommen. Und wahrscheinlich waren alle außer sie eingeweiht gewesen, denn alle hatten sie so gespannt angestarrt, als sie in dem schicken Restaurant am Friesenplatz den Nachtisch löffelte. Spätestens da war sie durch Hollywoodfilme vorgewarnt, dass sie das Eis langsam lutschen und nicht gleich schlucken durfte. Und tatsächlich befand sich in dem Vanilleeis unter gezuckerten Erdbeeren ein schlichter Ring mit einem Diamanten in der Mitte, wofür Marten ein Vermögen ausgegeben haben musste.

»Ach, Kindchen, ein bisschen Muffensausen vor der Hochzeit haben alle. Hatten Mama und ich auch. Und jetzt sind wir schon vierzig Jahre glücklich verheiratet.«

Lisa nickte, obwohl die Ehe ihrer Eltern für sie keine Traumvorstellung war. Die beiden liebten sich noch immer, keine Frage, aber Lisas Mutter hatte alle eigenen Ambitionen aufgegeben und war vollkommen im Dienst für die Familie aufgegangen. Auch jetzt kümmerte sie sich ganz viel um die ersten Enkelkinder. Ursprünglich war sie Kindergärtnerin gewesen, so hatte man das früher genannt, doch in ihren Beruf zurückkehren wollte sie nie. Da kümmere sie sich lieber um ihre eigenen Kinder und Enkel, zumal die heutigen Erzieherinnen so viel Stress hätten: Wickeln, Babys rumtragen und alles auch noch dokumentieren …

Und dann war da ja auch noch der Hund. Rudi, der Dackel, der ins Haus geholt worden war, als alle Kinder ausgezogen waren. Wenn man Rudi allein zu Hause ließ, knabberte er Sofakissen an und zog Bücher aus dem Bücherregal, um die Ecken abzufressen. Lisa hatte irgendwann gemerkt, dass es nicht die Bücher von jedem Verlag traf. Es gab welche, die schmeckten besser, und das konnte nur am Leim liegen, mit dem manche Bücher gebunden wurden. Leim war eben nicht vegan, sondern bestand aus Tierknochenmehl. Die Bücher in ihrem eigenen Verlag waren alle ohne Leim gebunden, und auch auf Plastikfolie verzichtete sie.

»Ich weiß, Papa. Und ich freue mich auch, dass ihr so glücklich zusammen seid.«

Aber mir würde das nicht reichen, dachte sie. Lisa wollte auch Kinder, sehr sogar, und ihre biologische Uhr tickte jeden Tag ein wenig lauter. Aber sie wollte vor allem eine gleichberechtigte Elternschaft, nicht so wie bei ihren Eltern und auch nicht so wie bei ihren Geschwistern. Ihr Bruder Clemens war mit seiner Familie nach Berlin gezogen, wie sein Alltag aussah, wusste sie kaum, aber sie vermutete, dass Ela, die »was mit Schmuck machte«, ihm vor allem den Rücken freihielt.

Und ihre Schwester Claudia war genau wie ihre Mutter, nur dass ihr Mann nicht so nett wie Papa war. Claudia merkte noch nicht einmal, wie er sie ausnutzte. Lisa versuchte mindestens einmal die Woche, etwas mit dem vierjährigen Leo zu unternehmen. Wenn sie konnte, verknüpfte sie das mit dem Hundesitting von Rudi, damit ihre Eltern auch mal was zu zweit außer Haus machen konnten.

»Und ihr werdet genauso glücklich werden. Marten ist ein toller Mann. Und er wird sich um dich kümmern und dir ein sorgloses Leben bereiten. Ganz ehrlich, Kindchen, wenn ich sehe, wie du dich die letzten Jahre für nichts und wieder nichts abgerackert hast …«

Mit »nichts und wieder nichts« meinte er wohl ihren Verlag Wunderbuch.

Lisa seufzte und sparte sich eine Antwort. Ihr Vater hatte keine Ahnung von der Bücherwelt, er wollte sie nicht verletzen und meinte es ja nur gut mit ihr. Aber irgendwann würde er sehr stolz auf sie sein!

Es bimmelte, und die Tür wurde aufgerissen. Claudia kam herein, mit Kinderwagen und ungekämmten Haaren.