Das Haus der Hebammen - Ellas Entscheidung - Marie Adams - E-Book
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Das Haus der Hebammen - Ellas Entscheidung E-Book

Marie Adams

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Beschreibung

Für sie ist der Beruf eine Berufung: die Hebammen aus dem Haus der guten Hoffnung!

Köln. Das Geburtshaus in der Cranachstraße 21 ist zur bevorzugten Anlaufstelle für werdende Mütter geworden. Obwohl mittlerweile neue Kolleginnen das Team ergänzen, müssen die Gründerinnen – die Hebammen Ella, Susanne und Carola –immer wieder schweren Herzens Patientinnen aus Kapazitätsgründen ablehnen. Trotz des beruflichen Erfolgs sehnt sich Ella nach Veränderung. Und als ihr Freund Frank ihr einen Heiratsantrag macht, zögert sie, ja zu sagen. Doch dann wird sie gebeten, ein Hilfsprojekt in einem Geburtshaus in Uganda zu betreuen. Plötzlich steht Ella vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens …

Ein berührender Roman über die kleinen und großen Dramen, über Schmerz, Freude und den Glauben, dass am Ende alles gut wird.

Die Trilogie um das Geburtshaus in der Cranachstraße:
Band 1: Das Haus der Hebammen – Susannes Sehnsucht
Band 2: Das Haus der Hebammen – Carolas Chance
Band 3: Das Haus der Hebammen – Ellas Entscheidung
Die Bücher erzählen eigenständige Geschichten und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 496

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Buch

Köln, 1999. Das Geburtshaus in der Cranachstraße 21 ist zur bevorzugten Anlaufstelle für werdende Mütter geworden, sodass die Gründerinnen Susanne, Carola und Ella mehr Platz und weitere Mitarbeiter bräuchten, um keine Frau ablehnen zu müssen. Und ausgerechnet jetzt stößt Ella an ihre Grenzen in ihrem geliebtem Beruf, weil sie besonders für eine Frau mehr als eine Hebamme sein muss. Ella sehnt sich nach Veränderung –auch in der Liebe. Die Beziehung mit ihrem Freund Frank läuft zwar ganz gut, aber brennt sie wirklich für ihn? Würde sie mit ihm eine Familie gründen wollen? Als ihre alte Liebe Christoph ihr erneut Avancen macht, ist sie hin- und hergerissen. Plötzlich steht Ella vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens. Sie muss herausfinden, was sie wirklich will – privat wie beruflich …

Autorin

Marie Adams ist das Pseudonym der Kölner Autorin Daniela Nagel. Unter beiden Namen hat sie bereits diverse Romane und Sachbücher verfasst. Zudem schreibt sie Artikel über das Autorendasein für Fachzeitschriften. In ihrer neuen Trilogie »Das Haus der Hebammen« behandelt sie ein echtes Herzensthema: die Geburt und das Glück werdender Mütter. Die Autorin ist selbst Mutter von fünf Kindern, von denen einige in ebenjenem Geburtshaus zur Welt kamen, das als Vorbild für die Romantrilogie diente.

Von Marie Adams bereits erschienen

Das Café der guten Wünsche · Glück schmeckt nach Popcorn · Der kleine Buchladen der guten Wünsche · Das Haus der Hebammen – Susannes Sehnsucht · Das Haus der Hebammen – Carolas Chance

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MARIEADAMS

Das Haus der

Hebammen

Ellas Entscheidung

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2022 by Marie Adams

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

© 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: René Stein

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,

unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com

(dudlajzov, LIGHTFIELDSTUDIOS, contrastwerkstatt, kulniz,

hedgehog94, Minerva Studio, ajr_images) und Katong/Shutterstock.com

JA · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-27434-4V001

www.blanvalet.de

Für meine Familie

Kapitel Eins

Köln, Mai 1999

Ella

Ella fühlte sich nach der durchwachten Nacht wie in einem Rausch. Mit dem Sonnenaufgang war die kleine Lena endlich geboren worden. Wie viele Hunderte Geburten hatte Ella jetzt schon begleitet? Sie wusste es nicht, wusste nur, dass der Zauber nie nachließ.

»Danke, Ella, ohne dich hätten wir das nie geschafft.« Lenas Mutter Nina war vier Stunden nach der Geburt noch etwas unsicher im Gang, ihr Mann Jörg trug den Maxi-Cosi mit dem Säugling in der einen und die Geburtstasche in der anderen Hand.

»Doch, das hättet ihr, glaubt’s mir.«

Für Ella waren die Geburten die schönsten, bei denen sie kaum eingriff, sondern nur Begleiterin war. Bei denen die Frauen spürten, über was für übermenschliche Kräfte sie verfügten.

»Trotzdem, ich bin froh, dass du dabei warst. Und dass wir hier in diesem wunderschönen Haus sein durften.«

Ja, vielleicht bin ich einfach wie unser Geburtshaus der schützende Rahmen, dachte Ella. Zehn Jahre betrieb sie nun schon mit den Hebammen Susanne, Carola und Annett, die später zu ihnen gestoßen war, das Haus der guten Hoffnung. Kölns erstes Geburtshaus. Zwei Etagen in dem Eckhaus in der Cranachstraße stellten seit zehn Jahren einen der wunderbarsten Übergangsorte zwischen zwei Welten dar. Damals hatte Ella ihr Glück kaum fassen können, als sie als frischgebackene Hebamme von ihren zwei erfahrenen Kolleginnen Carola und Susanne gefragt wurde, ob sie nicht gemeinsam ein Geburtshaus gründen sollten. Eine Idee, die sie zunächst ständig verteidigen mussten. Das sei verrückt. Und gefährlich. Ja, im ersten Jahr gab es einen Zeitungsartikel im Kölner Express, in dem die drei Hebammen als die Hexen der Cranachstraße verunglimpft wurden.

»Ich danke euch für euer Vertrauen.«

Nina fiel Ella zum Abschied um den Hals.

»Danke, danke, du bist einfach ein Engel.«

Ella grinste. Auch wenn sie einen Beruf zwischen den Welten ausübte, sie stand immer noch mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Sie verabschiedete Nina und Jörg in ihren ersten Tag als Familie. Draußen zwitscherten schon die Vögel, aber drinnen war es nun still. Ob sie auf Hilde warten sollte? Aus Oberschwester Hilde war einfach Hilde geworden. Seit sie in Rente war und ein paar Stunden die Woche das Büro des Geburtshauses organisierte, hatte sie zwar ihren Titel und ihren Feldwebelton abgelegt, aber war immer noch eine Meisterin der Organisation.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Hilde würde das Büro erst in einer halben Stunde betreten. Die anderen Hebammen waren alle bei Hausbesuchen oder sammelten Kraft für ihren nächsten Einsatz. Und Ella hatte seit zwanzig Stunden nicht mehr geschlafen, fühlte sich aber so wach wie nach drei Tassen Kaffee. Nein, sie würde jetzt in ihre Wohngemeinschaft fahren. Vielleicht mit Frank und Dagmar frühstücken und dann schlafen. Schließlich erwarteten zwei andere Frauen in den nächsten Tagen ihr Baby. Sie fasste an ihren Pieper, der immer um ihren Hals hing oder in ihrer Hosentasche steckte. Heute hatte sie ihn um den Hals hängen, weil ihre weite gemusterte Stoffhose nicht über Taschen verfügte. Mit diesem Gerät war sie für ihre Frauen jederzeit erreichbar. Bei Wehen brauchten sie nur die Nummer anzurufen, dann bekam Ella eine Nachricht auf dem Pieper mit der Nummer angezeigt und rief sofort zurück. Ganz egal, ob sie unter der Dusche oder in der Schlange im Supermarkt stand, sie eilte sofort zum nächsten Telefon.

Sie zog die Tür des Geburtshauses hinter sich zu und schaute nach oben. Nur die Häuser in der Kölner Altstadt waren schmaler als dieses Eckhaus, das fast wie ein Dreieck auseinanderlief. Ja, das Gründerzeithaus hatte etwas von einem Turm mit den drei hohen Fenstern über der Eingangstür. Früher beherbergte das Gebäude im Erdgeschoß eine kölsche Kneipe. Der Alkoholausschank müsse die Räumlichkeiten für Jahrzehnte desinfiziert haben, scherzten sie manchmal. Heute war es ein Haus für schwangere und junge Mütter. Vorsorge, Vorbereitungskurse, Spielkreise und vor allem Geburten fanden hier statt.

Sie schwang sich auf ihr Hollandrad, das sie vor dem Geburtshaus abgestellt hatte, klemmte ihre Hebammentasche zwischen Sattel und Gepäckträger und trat in die Pedale. Ihre langen schwarzen Haare flatterten im Fahrtwind, und die frische Morgenluft hielt sie weiter wach. Um die Zeit war der Weg von Nippes über die Hohe Straße und dann direkt in die Südstadt noch nicht mit Unmengen an Passanten bevölkert, sodass sie durch die Fußgängerzone mit dem Fahrrad fahren konnte. Bis auf Transporter, die Ware anlieferten, und Verkäufer, die ihre Geschäfte für die Öffnung vorbereiteten, war kaum jemand unterwegs. Ob sie bei Merzenich noch ein paar Röggelchen holen sollte? Gestern war der Kühlschrank in der WG leer gewesen, und wie sie Frank kannte, schlief er noch tief und fest; Dagmar hingegen bereitete gerade ihre erste Modenschau vor und verschwendete kaum einen Gedanken ans Essen. Ella erwischte sich dabei, dass sie sich manchmal wie die WG-Mutter benahm. Mit ihren dreiunddreißig Jahren war sie die Älteste in ihrem Gespann. Vor fünfzig Jahren hätte so mancher Ella schon als alte Jungfer bezeichnet, dabei fühlte sie sich genau richtig, wie sie war, auch wenn manchmal ganz leise die Torschlusspanik anklopfte. Was war, wenn sie doch etwas im Leben verpasste? Was war, wenn sie Tausenden Babys auf die Welt half, aber ihr eigenes nie im Arm halten würde, weil sie noch auf den perfekten Mann wartete? Wer hatte noch berechnet, dass eine Frau über dreißig eher einem Attentat zum Opfer fiele, als noch einen Mann zum Heiraten zu finden? Und hatte ihre Mutter vielleicht sogar recht, wenn sie sagte, dass Ella ihre große Chance, Arztgattin zu werden, weggeworfen hatte, um eine halbherzige Beziehung mit einem verträumten Dauerstudenten einzugehen? Nein, Ella würde es genauso wieder machen. Sie standen kurz vor einem neuen Jahrtausend, und allein der Gedanke, dass ihr Wert von einem Mann abhing, war lächerlich.

Sie radelte auf eine Kreuzung zu und hielt an, als die Straßenbahnlinie 1 durchfuhr. Das Plakat an der Litfaßsäule mit Stefanie als H&M-Model ließ sie lächeln. Carolas älteste Tochter lebte seit ein paar Jahren in Berlin, sorgte aber mit ihrer Modelkarriere dafür, dass ihr Gesicht auch in Köln nicht vergessen wurde. Stefanie sah ihrer Mutter Carola ähnlich, wobei diese eher bei dem Modeladen für große Größen gegenüber einkaufen musste, und hatte etwas von Kate Moss. Bei Ulla Popken trugen auch die Schaufensterpuppen Übergröße. Warum gaben sich die Designer bei fülligen Frauen so wenig Mühe? Sie hatte es einmal auch Dagmar gefragt, die meinte, an dünnen Frauen kämen die Kreationen einfach besser zur Geltung. Ella hätte am liebsten selbst etwas entworfen und die Welt vom Gegenteil überzeugt, aber sie konnte die Frauenwelt nicht in allen Punkten verbessern. Ihr Thema war die selbstbestimmte Geburt, bei der sich die Götter in Weiß zurückhalten sollten. Sie trat ordentlich in die Pedale, als es wieder grün wurde. War das Christoph in der Menschengruppe gegenüber? Auf der Mitte der Straße geriet sie ins Schlingern. Ihre Stoffhose hatte sich in den Speichen verfangen. Mist. Sie konnte nicht mehr bremsen. Sie riss den Lenker herum und dann wieder in die andere Richtung, um nicht in die Menschengruppe zu fahren, wobei sie allerdings das Gleichgewicht verlor und stürzte.

»Ella!«

Ja, die Stimme war Christophs. Ella wollte etwas antworten, doch der Aufprall auf dem Asphalt hielt sie davon ab.

Köln, Mai 1995

»Ella!«

Es war Christophs Stimme, die immer noch hin und wieder in Ellas Kopf herumspukte, obwohl sie zum Glück immer leiser geworden war. Ella erinnerte sich daran, wie sie gerade erst im St.-Laurentius-Krankenhaus als Hebamme angefangen und sich oft noch unsicher gefühlt hatte. Einmal hatte Christoph sie bloßgestellt, weil sie unter einer Geburt zu spät ärztliche Hilfe geholt hatte. Als Arzt auf der Kinderstation wurde er immer dann gerufen, wenn es Unsicherheiten gab. Als Ella das Krankenhaus verlassen hatte, um mit ihren Kolleginnen das Geburtshaus zu gründen, hatte er ihr zwar alles Gute gewünscht, aber als seine Schwester Monika sich dort angemeldet hatte, hatte er Ella dazu gedrängt, Monika die Betreuung im Geburtshaus auszureden. Natürlich hatte Ella nicht auf ihn gehört, und als Monika bei ihrer ersten Geburt durch eine plötzliche Querlage in Lebensgefahr geriet, schien Christoph mit seinen Befürchtungen recht zu behalten. In seinen Augen war das Geburtshaus für Mutter und Kind eher eine Gefahr denn eine Hilfe. Monika vertraute Ella jedoch auch in der zweiten Schwangerschaft, und alles war gut gegangen. Und Ella hatte immer wieder Verständnis für Christophs Abwehr gehabt, ja hatte sich sogar in den jungen Arzt verliebt und war eine Zeit lang mit ihm zusammen gewesen.

»Ella, wie schön, dich zu sehen!«

Ausgerechnet Christoph war hier unter all den Familien, die sie betreut hatten, unter all den Weggefährten, die dieses Jubiläum möglich gemacht hatten. Heute feierten sie das sechsjährige Bestehen des Hauses der guten Hoffnung. Jede einzelne Familie hatte per Post eine Einladung bekommen, um den Tag gemeinsam in der nahe gelegenen Alten Feuerwache zu feiern.

»Christoph? Ausgerechnet du hier? Ich dachte, das Geburtshaus ist dir immer noch suspekt.« Ella schaute ihren Ex-Freund skeptisch an.

»Monika hat mich hier hingeschleppt. Sie droht damit, noch mindestens zwei weitere Kinder mit dir zusammen zur Welt zu bringen.«

Christoph sah älter aus. Ob es die neue Oberarztstelle war? Oder der Alltag als Familienvater? Wobei er immer wieder betonte, wie wenig er zu Hause sein könne, da er so viel arbeiten müsse.

»Von mir aus sehr gerne. Ich mag deine Schwester sehr.«

»Sie dich auch. Und ich dich auch.«

Er lächelte Ella an und verschwand wieder in der Menge der Gäste. Ella war der Trubel fast zu viel. Eine Geburt zu betreuen war da viel entspannter, als so ein Jubiläum zu feiern.

»Hast du Susanne gesehen?«, fragte in diesem Moment Carolas Tochter Maike. Ihr Bruder Thomas stand neben ihr. Beide außer Atem, als wären sie über den ganzen Platz gerannt. Maike war erst elf, aber schon ziemlich groß für ihr Alter. Der Schmetterling vom Kinderschminken in ihrem Gesicht passte nicht zu ihrer besorgten Stimme.

»Mhm, ich weiß nicht, ist schon was her. Schaut doch mal an unserem Infostand vorbei. Kann ich euch helfen?«

»Mama hatte einen Blasensprung. Sie ist schon ins Geburtshaus gegangen und hat gesagt, dass wir Susanne suchen sollen, damit sie die Geburt begleiten kann.«

Thomas schaute vernünftig wie ein Erwachsener. Kaum zu glauben, dass er in der letzten Zeit mit seinen Sperenzchen Carola zur Weißglut gebracht hatte. Ella hatte sich vor ein paar Monaten ernsthaft Sorgen um ihre Freundin und Kollegin gemacht. Sie war fahrig, ständig müde und gereizt, litt unter Schwindel und war kurz vor Weihnachten zusammengebrochen. Sie hatte auf niemanden gehört, der ihr riet kürzerzutreten. Sie wurde eben gebraucht. Als Mutter. Als Hebamme. Als Ehefrau. Und landete schließlich im Krankenhaus. Und erfuhr nebenbei, dass sie zurück auf Los geschickt wurde. Sie war wieder schwanger, nachdem ihre Kinder endlich aus dem Gröbsten raus waren.

»Ich helfe euch suchen, und wenn wir Susanne nicht sofort finden, springe ich ein.«

Carola hatte immer bedauert, dass sie alle ihre drei Kinder vor der Gründung des Geburtshauses bekommen hatte. Und jetzt schloss sie selbst, mit ihrem Mann an der Seite, das Haus in der Cranachstraße 21 auf, um doch noch einmal selbst ein Kind in diesen heiligen Hallen zu bekommen. Natürlich hatte sie ihre Geburtstasche seit einer Woche in dem Geburtszimmer mit der großen Gebärwanne stehen.

»Andreas, ich weiß nicht, ob ich das schaffe!«

Ihre Jeanslatzhose klebte nass an ihrem Körper. Sie hatte diese Hose eigentlich nur noch für Renovierungsarbeiten aufgehoben. Auch die orangefarbenen Wände hatte sie in dieser Latzhose bearbeitet. Immer wieder hatte sie einen Schwamm in Farbe getunkt und auf die Wand gedrückt. Die Schwammtechnik war 1989 der letzte Schrei gewesen.

»Natürlich schaffst du das! Du bist doch Profi!«

Meine Güte, ich und Profi, dachte Carola und bemerkte ein leichtes Ziehen. Nach dem Blasensprung gab es kein Zurück mehr. Die Geburt war eröffnet, auch wenn die richtigen Wehen noch auf sich warten ließen.

»Du hast leicht reden. Für dich als Mann ist das auch einfach. Musst nur zuschauen.«

Carola dachte an Maikes Geburt, die nun auch schon elf Jahre zurücklag, ein Kaiserschnitt. Würde die alte Narbe reißen? Ach was, das war ohne Einleitung mehr als unwahrscheinlich. Wobei es auch mehr als unwahrscheinlich gewesen war, dass sie nach dem Eingriff unter der Narkose noch einmal schwanger werden konnte …

»Carola, kannst du bitte damit aufhören?«

Carola sagte ihren Schwangeren immer, dass Frauen unter der Geburt Dinge zu ihrem Mann sagten, die sie niemals so meinten. Doch sie meinte es in diesem Moment genau so. Die Frauen waren es doch noch immer, die von Anfang an die größte Last trugen, um den Fortbestand der Menschheit zu gewährleisten.

Bevor Carola antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen. Susanne, Annett und Ella standen in der Tür. Carola grinste. Mit diesen drei wunderbaren Frauen an der Seite würde sie alles schaffen. Ohne Annett, die als letzte zu ihnen gestoßen war, hätte sie niemals die letzten Monate kürzertreten können. Sie war die Älteste von ihnen, was man ihr kaum ansah. Die blonden Locken und das elfenhafte Gesicht ließen niemals die fünfzig Jahre erraten, die sie schon gelebt hatte. Wie hatten sie erst damit gehadert, noch jemanden in ihre eingeschworene Gemeinschaft aufzunehmen! Und jetzt war es ohne Annett nicht mehr vorstellbar. Während Ella oft viel zu harmoniebedürftig war und Susanne Angst hatte, jemandem zu nahe zu treten, sagte Annett ohne Umschweife, was sie dachte, und ähnelte Carola in ihrem Pragmatismus.

Ella, die kaum älter als Carolas Tochter Stefanie gewesen war, als sie sich kennenlernten, war mittlerweile eine richtige Frau geworden. Allerdings sah sie immer noch aus wie Schneewittchen, auch wenn sie die dreißig überschritten hatte. Und Susanne war Carolas beste Freundin. Carola bewunderte ihre Großzügigkeit, mit der sie sich mit ihr auf das vierte Kind freute, obwohl ihr selbst der Wunsch nach einem Baby seit Jahren verwehrt blieb.

»Hey, ihr verpasst unsere Party!«

Carola griff sich mit beiden Händen in den unteren Rücken, während sie den drei anderen Geburtshaushebammen breitbeinig gegenüberstand. Wegen der Feier heute hatte Carola sich sogar etwas geschminkt und die blonden Haare hochgesteckt, was den Kontrast zu ihrem Outfit aus nasser Jeanslatzhose und umgebundenem Männerhemd noch betonte.

»Die wichtigste Party findet hier statt. Wir wollten dir nur zusammen alles Gute wünschen. Und was zur Stärkung vorbeibringen.«

Jetzt erst bemerkte Carola das Tablett in Annetts Hand mit lauter Leckereien von dem Festtagsbüfett. Herrlich, hatte sie sich doch so auf das Fingerfood von ihrem Lieblingstürken am Eigelstein gefreut. Das hatte sie doch extra mit ausgesucht für die Feier in der Feuerwache. Andreas, der Carolas Leidenschaft für gutes Essen teilte, es aber im Gegensatz zu ihr nicht an Bauch und Hüften sammelte, obwohl er den ganzen Tag am Schreibtisch saß, nahm Annett das Tablett ab und stellte es auf das Sideboard, an dem auch das Telefon hing.

»Danke. Ich bin so froh, dass ihr Carola zur Seite steht.«

Ella stellte einen Karton Pfirsichsaft dazu und zwinkerte Carola zu. »Das ist doch selbstverständlich. Und hier für alle Fälle schon mal die leckerste Zutat für einen Wehencocktail.«

Carola verzog das Gesicht. Der Pfirsichsaft machte das Rizinusöl tatsächlich erträglicher. Wenn vierundzwanzig Stunden nach einem Blasensprung keine richtigen Wehen aufkamen, würde sie rein theoretisch ins Krankenhaus müssen. Wobei sie sich als erfahrene Hebamme auch einfach über die Vorschriften hinwegsetzen könnte. Es war schließlich ihre eigene Geburt.

»Lass mal. Ein Kaffee wäre mir lieber.«

»Denke an den Cortisolspiegel. Da kommt der Stress direkt beim Kind an«, mahnte Ella.

»Quatsch, das macht den Kohl auch nicht mehr fett. Der Kleine hat in seinem Leben schon so viel Stress mitgemacht, da bringt ihn die Tasse Kaffee jetzt auch nicht mehr um.«

Carola sagte das so lapidar, aber tief im Inneren hatte sie Angst, dass sie ihrem Kind den Start ins Leben schon versaut hatte. Eine Mutter, die eigentlich nicht mehr schwanger werden wollte, allen Bedenkenträgern wie ihrer Schwester Heike Bestätigung gegeben hatte, weil sie völlig überfordert von der Vereinbarung von Beruf und Familie war und sogar in der Klapse gelandet war. Zuvor hatte sie wochenlang Angst gehabt, unheilbar krank zu sein, weil sie Schwindel und Kreislaufprobleme nicht auf eine Schwangerschaft, sondern einen tödlichen Tumor zurückführte.

»Andreas, für dich auch?«, fragte Ella, ohne auf Carolas Worte weiter einzugehen. Carola sah ihren Mann an. Er hatte ihr bei jeder Geburt zur Seite gestanden. Das machte auch heute noch nicht jeder Mann. Sie gingen nun schon zwanzig Jahre den Weg gemeinsam, auch wenn sie in den letzten Jahren etwas auseinandergedriftet waren. Carola hatte in all den Jahren oft genug beobachtet, dass ein Kind nie eine Beziehung heilte. Ganz im Gegenteil. Die Elternschaft war oft wie ein Brennglas für den Zustand der Beziehung. Wie es wohl bei ihnen beiden weitergehen würde?

»Für mich auch. Danke.«

Er klang fast schüchtern.

Susanne hatte nichts in den Händen, aber brachte das Versprechen mit, Carola beizustehen, bis ihr Kind geboren und sie beide versorgt sein würden. Ganz egal, wie lange es dauern würde. So wie Carola auch schon für unzählige Frauen hier im Geburtshaus da gewesen war. Als Ella mit drei Tassen Kaffee wieder hereingekommen war, spürte Carola ein leichtes Ziehen im Kreuzbein. Noch keine Wehe, aber immerhin.

»Ella, Annett, es ist so schön, dass ihr auch noch gekommen seid, aber jetzt geht wieder auf unsere Party. Macht Werbung für unser Geburtshaus. Wir wollen schließlich auch noch das Zehnjährige zusammen feiern!«

Carola freute sich schon darauf, selbst endlich wieder Geburten zu begleiten. Und sie wusste nur zu gut, dass dieser besondere Ort keine Selbstverständlichkeit war. Jahr für Jahr mussten sie schauen, dass genug Geld für die Miete der zwei Etagen zusammenkam. Dass die Krankenkasse zumindest den Großteil der Kosten übernahm, dass sich genug Frauen zu einer außerklinischen Geburt anmeldeten, die für viele noch als riskant galt. Wie oft hatte sie in diesem Raum mit den orangefarbenen Wänden, der riesigen Gebärwanne in einem gebärmutterfarbenen Ton und dem gemütlichen Bett anderen Frauen zur Seite gestanden. Nun war sie es, die sich hier fallen lassen durfte.

»Okay, wir gehen wieder rüber, aber wenn irgendwas ist, funkt uns sofort an«, sagte Annett.

»Machen wir«, antwortete Susanne.

Weder der Rizinuscocktail noch der abscheulich schmeckende Wehentee hatten Fortschritte gebracht. Ella und Annett hatten längst mit ein paar weiteren Helfern dafür gesorgt, dass die Feuerwache am nächsten Tag wieder für andere Gäste bereitstand. Carola hatte mit ihrer Ältesten Stefanie telefoniert, die sich um ihre Geschwister zu Hause kümmerte.

»Kommt ihr frühstücken?«

Montagmorgen um acht war es noch ruhig im Geburtshaus. Susanne hatte ein paar Stunden geschlafen und Carola und Andreas geraten, es ihr gleichzutun. Um sieben Uhr hatte sie Carola untersucht. Der Muttermund war keine drei Zentimeter offen, der Blasensprung schon bald siebzehn Stunden her.

Susanne hatte ihren Besprechungstisch gedeckt, eine Duftlampe angezündet und durchgelüftet. Sie hatte ihren Mann Antonius angerufen, dass sie sich wohl erst heute Abend sehen würden. Ihre Wohnung lag um die Ecke, dennoch war es Susanne lieber gewesen, im Geburtshaus zu schlafen.

»Susanne, du bist ein Schatz.«

Carola und Andreas setzten sich an den runden Tisch.

»Und, tut sich was?«, fragte Susanne, während sie allen dreien einen Kaffee eingoss. Vielleicht würde der die Wehen ja in Gang bringen.

»Ein leichtes Ziehen.«

Sie wussten beide, dass sie so ein Ziehen meinte, dass in fast allen Fällen Fehlalarm war, besonders bei Erstgebärenden.

»Vielleicht sollten wir doch besser ins Krankenhaus.« Andreas sah aus, als hätte er kaum geschlafen. Die blonden Haare verstrubbelt, unter den Augen tiefe Schatten.

Susanne sah Carola an.

»Wäre dir das lieber?«

»Nein. Ich möchte hierbleiben.« Carola griff zu einem Brötchen, sah dann auf die Uhr und ließ es wieder fallen.

»Mist. Schon acht Uhr. Ich habe ganz vergessen, Stefanie zu sagen, dass sie aus dem Wohnzimmerschrank noch ein Arbeitsheft für Maike raussuchen soll. Maike schreibt doch heute Deutsch, und die letzte Arbeit war eine Fünf.«

»Carola, am Heft wird es nicht scheitern. Es kann ihr bestimmt jemand ein paar Blätter geben. Außerdem ist Maike alt genug, selbst an ihre Sachen zu denken«, widersprach Andreas und nahm einen Schluck Kaffee.

»Ist sie eben nicht. Und die Lehrerin hat uns eh auf dem Kieker. Ich rufe Stefanie an, dass sie es notfalls noch mit in die Schule bringen soll. Ich glaube, Maike schreibt erst in der dritten. Und Stefanie hat doch eh heute frei.«

»Nein, sie hat nicht frei, sondern lernt für das Abi.«

»Ich rufe trotzdem zu Hause an. Ich will wissen, ob alles gut ist. Ich hoffe, Thomas ist auch pünktlich rausgekommen und hat nicht die ganze Nacht auf der Spielekonsole gezockt.«

Susanne sah die beiden erfahrenen Eltern an. Es konnte doch jetzt nicht sein, dass Carola sich gedanklich noch um solche Kleinigkeiten kümmerte! Die beiden sahen angespannt aus. Wie sollte das erst noch mit einem weiteren Kind werden? Wo war die heilige Ruhe, die meist im Geburtshaus herrschte, wenn eine Geburt bevorstand?

»Susanne, ich hätte heute Nachmittag noch eine letzte Vorsorge gehabt. Konnte ja nicht wissen, dass die Frau überträgt und ich eine Woche früher dran bin. Kannst du die übernehmen? Falls du schon mit mir fertig bist? Sonst frag Ella!«

»Ich kümmere mich darum. Mache dir keine Sorgen. Das Einzige, was jetzt zählt, bist du. Und dein Baby.«

Carola sah Susanne verständnislos an. So als ob es schon lange keinen Moment mehr gegeben hätte, in dem nur sie zählte. War das Muttersein einfach so? Susanne dachte an die Adoptiveltern ihrer Tochter Julia. Vieles hätte sie anders gemacht, wenn sie die Chance dazu gehabt hätte. Aber Angela und Gerd Müller waren es gewesen, die sich achtzehn Jahre lang um passende Schuhe, Mahlzeiten, Kindergarten- und Schulwege, Hefte, Arzttermine und all die Tausenden anfallenden Aufgaben gekümmert hatten, allesamt vermeintliche Kleinigkeiten. Besser gesagt, vor allem Angela war es gewesen, während ihr Mann dafür gesorgt hatte, dass die kleine Familie in einem schmucken Einfamilienhaus leben und zweimal im Jahr in Urlaub fahren konnte. Das normale Familienleben in den Siebzigern und Achtzigern eben.

»Wir könnten auch noch mal nach Hause fahren und nach dem Rechten sehen.«

Carola hatte immerhin schon ein Brötchen mit Käse vertilgt. Sie würde Kraft brauchen.

»Carola, es reicht. Hast du denn gar nichts gelernt im letzten Jahr?«

»Doch, ich habe mich selbst besser kennengelernt und weiß, dass es mir besser geht, wenn ich Herrin der Lage bin.«

»Das bist du sowieso nicht. Die wichtigsten Dinge können wir nicht beeinflussen.« Susanne sah ihre Freundin an. Carola hatte ihr zur Seite gestanden, als sie in ein dunkles Loch gefallen war, nachdem sie ihre Tochter zum zweiten Mal zu verlieren drohte. Susanne hätte sich damals am liebsten aufgegeben. War tagelang nicht aus dem Bett gekommen. Carola hatte sie nicht zuletzt mit ihrem Pragmatismus gerettet. Susanne wurde gebraucht. Und wenn sie nicht zur Verfügung stand, würde eben jemand anders ihren Platz einnehmen. Das hatte Susanne damals mehr als alles andere wachgerüttelt. Sie wollte nicht noch mehr von dem verlieren, was ihr wichtig war.

»Was passiert denn, wenn keine Wehen kommen?«, fragte Andreas und schenkte sich Kaffee nach.

»Dann müssten wir ins Krankenhaus, und dort würden sie irgendwann einleiten.«

»Sind ja noch ein paar Stunden.«

Carola versuchte locker zu klingen, aber Susanne hörte die Angst in ihrer Stimme. Sie wussten beide, dass so ein Wehentropf zu schmerzhafteren Geburten führte. Und da ein vorhergegangener Kaiserschnitt in Kombination mit einer Einleitung die Gefahr erhöhte, dass der Uterus riss, würden sie vielleicht im Krankenhaus sofort zu einem Kaiserschnitt raten.

»Carola, vielleicht gehen wir doch besser direkt ins Krankenhaus. Nachher passiert irgendwas. Wir brauchen dich noch.«

Andreas nahm die Hand seiner Frau. Susanne hatte Carola noch heute Morgen untersucht. Die Kindslage war perfekt. Die Herztöne waren gut. Keine Anzeichen einer Schwangerschaftsvergiftung. Wenn nur endlich Wehen kommen würden! Das erste Mittel, das Hebammen zur Geburtseinleitung empfahlen, war Sex. Das setzte Prostaglandine frei, die sonst auch in Zäpfchenform verabreicht wurden. Nach einem Blasensprung war das wegen der Infektionsgefahr aber eher keine Option mehr, und Carola wusste um diese Möglichkeit nun selbst gut genug. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie die Nacht schon genutzt.

»Ich habe echt Angst.«

Susanne und Andreas sahen Carola an, die sich eine Träne aus den Augenwinkeln wischte.

»Wovor hast du am meisten Angst?«

»Ich weiß nicht. Dass was schiefgeht. Dass die Narbe reißt. Dass ich die Schmerzen nicht aushalte. Dass unser Baby nicht gesund ist. Dass wir das alles nicht schaffen. Dass unsere Großen auf die schiefe Bahn geraten, weil wir keine Zeit mehr für sie haben. Dass ich nie wieder als Hebamme arbeiten kann. Dass unsere Ehe kaputtgeht, weil wir noch weniger Zeit füreinander haben. Dass mein Baby sich für mich schämt, weil ich als Oma auf dem Abiball auftauche. Aber vielleicht macht es auch gar keinen Schulabschluss, weil man mit vier Kindern doch endgültig zum Rand der Gesellschaft gehört.«

Susanne reichte Carola ein Taschentuch.

»Carola, und du meinst, das alles kannst du verhindern, wenn das Baby drinbleibt?«

Ein Lächeln huschte über Carolas Gesicht. »Na ja, wenn’s ein Kaiserschnitt wird, erspare ich mir zumindest den Wehenschmerz.«

Im Geburtshaus konnten sie keine PDA vornehmen. Warmes Wasser, Akupunktur oder Globuli waren die einzigen Schmerzmittel. Und Entspannung. Aber davon war Carola weit entfernt.

»Weißt du noch, wie Oberschwester Hilde die Schwangeren manchmal durch das Treppenhaus gejagt hat? Ihr Tipp für ausbleibende Wehen.«

»Eine Treppe hätten wir auch im Angebot.«

»Ach, nee, vielleicht packen wir die Sachen, fahren ins Krankenhaus, und ich lasse es rausholen.« Als würde sie direkt ihre Tasche schnappen und losfahren wollen, sprang Carola auf. Andreas tat es ihr nach, stapelte aber erst die Teller übereinander.

»Carola, es ist deine Entscheidung«, bestärkte Susanne ihre Freundin.

Ella hüpfte schon von einem auf das andere Bein. Wenn Dagmar nicht bald das Badezimmer verlassen würde, würde Ella unten im Café nachfragen, ob sie die Toilette benutzen dürfe. Endlich! Und so wie Dagmar aussah, hatte sie sich in aller Ruhe geschminkt, statt notwendigen Bedürfnissen nachzugehen.

»Und, wie sehe ich aus?«

Dagmar sah fantastisch aus in ihrem bordeauxroten Spitzenkleid, das sie selbst entworfen hatte.

»Toll«, rief Ella, während sie die Badezimmertür hinter sich zuknallte. Sie hörte durch die Tür, dass Frank wieder hereinkam.

»Habe Croissants und Sekt dabei! Es gibt was zu feiern!«

Allein dass Frank freiwillig vor neun das Haus verlassen hatte, war schon ein Grund, die Sektkorken knallen zu lassen. Ob Carola und Susanne auch schon etwas zu feiern hatten? Noch hatte Ella nichts von den beiden gehört. Das war ungewöhnlich.

Als Ella in die Küche kam, lief Frank auf sie zu und gab ihr einen Kuss.

»Kannst dich bald Frau Doktor nennen.«

Ella lachte. Frau Doktor. Sie wusste nicht einmal, ob sie überhaupt seine Freundin war. Also so richtig.

»Ich dachte ja, der hasst mich, als er mir den frühen Termin gegeben hat, aber ganz im Gegenteil. Er fand mein Konzept für die Magisterarbeit so vielversprechend, dass er sich durchaus vorstellen könnte, dass ich danach bei ihm weitermache.«

Dagmar, die schon mal den Tisch deckte, zwinkerte Frank zu. »Na, dann hau jetzt auch mal rein, nachher kommt noch einer auf die Idee, den Magister abzuschaffen, bevor du fertig bist.«

»Na, einen Sekt trinke ich darauf trotzdem gerne mit. Ich freue mich für dich!«

Ella hatte noch etwas Zeit, bis sie den ersten Wochenbettbesuch machen musste. Sie waren jetzt alle drei Ende zwanzig, lebten aber immer noch wie Anfang zwanzig. In einer Wohngemeinschaft, die sich wie Familie anfühlte. Was war Frank für sie? Ihr Freund? Irgendwie ja, aber irgendwie auch nicht. Und Dagmar? Etwas zwischen Freundin und Schwester, ohne dass sie so viele Gemeinsamkeiten hatten wie Ella mit ihren Hebammenkolleginnen.

»Es geht doch nichts über Gründlichkeit. Wissen braucht Zeit und Tiefe.« Frank musste selbst darüber lachen. Er war ohne Zweifel sehr intelligent, aber zeitlebens extrem bequem gewesen. Dass er noch den Doktor anstrebte, war nur folgerichtig. Dann konnte er noch mal drei Jahre am Schreibtisch sitzen und wie ein Student leben.

Dagmar stellte Butter und Marmelade von Spar auf den Tisch. »Man muss sich den Doktor aber auch leisten können. Ich zahle immer noch meine BAföG-Schulden ab.«

Dagmar hatte Modedesign studiert, entwarf selbst Kleidung und jobbte noch im Modehaus Sauer in der Nähe des Doms, wo sie auf Kundenwunsch teure Kleidungsstücke änderte. Solche von Chanel oder Gucci statt ihre eigenen Kreationen.

»Jetzt sei keine Spielverderberin. Und meine Eltern haben mir den Geldhahn zugedreht. Falls du es noch nicht mitbekommen hast, ich arbeite als wissenschaftliche Hilfskraft.«

»Das ist doch keine Arbeit. Kopien an Studenten verteilen.«

Frank hielt inne, bevor er Sekt in Dagmars Leonardo-Glas schüttete. »Willst du, oder willst du nicht?«

»Ja, ich will.«

Ella beobachtete Frank und Dagmar. Sie waren eine zusammengewürfelte Truppe, es hatte als Zweckgemeinschaft angefangen. Wann würde jeder seinen eigenen Weg gehen? Würde Ella irgendwann »Ja, ich will« sagen?« Es war Zeit, Entscheidungen zu treffen. Wie wollte sie leben?

Carola stupste das Seil an, das von der Decke des Geburtszimmers hing und an dem sich die Frauen oft während der Wehen festklammerten. Das Seil schwang hin und her. Was konnte sie tun, um ihre Wehen endlich in Gang zu bringen? Es ist deine Entscheidung, hatte ihr Susanne gerade gesagt. Nein, das war es nicht. Es gab Dinge, die passierten einfach. Mit ihr.

»Also was ist, Carola? Sollen wir ins Krankenhaus fahren?«

Susanne setzte sich auf den Rand der Badewanne.

»Susanne, es tut mir leid, dass ich deine Geduld so strapaziere.«

»Ist doch mein Job«, lächelte Susanne.

Das war so viel mehr als ein Job. Das war wahre Freundschaft. Susanne unterstützte sie dabei, etwas zu bekommen, was sie selbst vergeblich herbeisehnte. Carola schnappte sich die Geburtstasche, die immer noch unausgepackt im Raum stand.

»Du willst also los?«, fragte Andreas fast erleichtert.

»Nein, ich möchte auspacken.«

Sie öffnete den Reißverschluss, wühlte zwischen Wechselklamotten für sich, einer CD von Toni Braxton, Windeln, Müsliriegeln und Babysachen und fischte einen Strampler in Größe 62 mit Sendung-mit-der-Maus-Aufdruck, eine winzige Babywindel und einen Babybody heraus. Es war real. Sie würde heute noch ein Kind bekommen, dem sie diese Sachen anziehen würden. Wenn es hier zur Welt kam, denn im Krankenhaus bekamen die Babys immer krankenhauseigene Kleidung übergestreift. In dem Moment, in dem sie die Babysachen auf die Wickelkommode legte, zog es in ihrem Lendenbereich.

»Susanne, ich werde unser Kind hier bekommen.«

»Du brauchst dir aber auch keinen Druck machen. Es ist völlig okay, wenn das nicht passiert.«

»Es wird passieren. Ich lasse das Wasser schon mal ein.«

Susanne schaute sie an, als hätte sie bei ihrer eigenen Geburt jede Expertise vergessen. Immerhin sagte sie nichts dazu. Genauso wenig wie Andreas. Als das warme Wasser in die Wanne lief, öffnete sich auch bei Carola etwas. Sie würde nicht davonlaufen. Und auch nicht die Augen verschließen. So wie sie das viel zu lange getan hatte. Nein, sie würde sich ihren Aufgaben stellen.

Als die Wanne zu einem Drittel voll war, zog Carola sich bis auf ihren Sportbüstenhalter aus und stieg in die Wanne.

»Ist das nicht viel zu früh? Ich meine, bis es richtig losgeht, ist deine Haut doch ganz schrumpelig, oder?«, fragte Andreas. Er war zwar bei allen Geburten dabei gewesen, aber dennoch war es Carola, die die Expertin für ihren Körper war. Sie ließ sich in das warme Wasser gleiten.

»Nein, das wird schon. Gibst du mir noch das Öl, bitte?«

Andreas holte die Geburtsölmischung aus Carolas Tasche, öffnete das Fläschchen und ließ etwas in die Wanne tropfen. Carola sog den krautigen und gleichzeitig süßen Duft ein. Muskatellersalbei zum Loslassen und Ylang Ylang zum Beruhigen. Und dann kamen sie endlich. Die Wehen. Schnell. Und heftig. Statt dagegen zu kämpfen, ließ Carola sich von den Wellen mitreißen. Und blieb doch ruhig inmitten des Sturms. Alles würde gut werden. Allein dieser Moment bewies ihr, dass sie eine grandiose Kraft hatte, alles zu schaffen, was sie schaffen wollte.

Andreas legte ihr seine Hand auf das Steißbein, als sie ihm zunickte. Das hatten sie vorher so besprochen. Reden wollte sie nicht. Alle Konzentration gehörte jetzt ihr und ihrem Baby. Sie sah Susanne, wie sie ihr zulächelte. Sie war genau wie Andreas so nah und gleichzeitig so fern. Carola griff zwischen ihre Beine und tastete nach dem Muttermund. Es wunderte sie nicht, dass er innerhalb einer halben Stunde geschafft hatte, wofür er vorher einen ganzen Tag nicht bereit gewesen war.

Als würde ihr Körper im Schnelldurchlauf alles nachholen, nachdem sie endlich losgelassen hatte, spürte sie auf einmal, wie ihr Baby tiefer rutschte. Sie brauchte nur wenige Presswehen. Fühlte, wie der Kopf noch mühsam herausglitt und der Körper dann schnell folgte. Der Schmerz war nichts im Vergleich zu ihren Ängsten gewesen.

»Möchtest du ihn selbst hochholen?«, fragte Susanne.

Carola nahm ihr Kind in die Hände, zog es aus dem Wasser und legte es sich auf die Brust. Die Nabelschnur pulsierte noch. Sie hatten keine Eile. Carola drehte ihren Sohn sorgfältig so, dass Andreas und sie sein Gesicht sehen konnten. Wie schön er war. Er schaute sie beide mit großen Augen an. Ganz ohne einen Schrei. Eine Welle der Liebe durchflutete sie. Für dieses so überraschende Kind. Für ihren Mann, dem sie sich so nahe fühlte wie schon lange nicht mehr. Für Susanne, die ihr eine treue Freundin und wunderbare Hebamme war. Gerade weil sie fast nichts getan hatte. Außer ihr zu vertrauen.

Köln, Mai 1999

Noch nie im Leben hatte Ella etwas so wehgetan. Das war es also jetzt mit dem schönen Leben, dachte sie, als sie den Halt verlor. Und dass diese neumodische Sache mit den Fahrradhelmen vielleicht doch keine schlechte Idee war. Warum schrien die anderen Leute, obwohl sie doch verletzt war? Warum sprangen sie alle von ihr weg? War ihr Anblick so schlimm? Ihre Kopfhaut fühlte sich feucht an. Nur einer bückte sich zu ihr herab. Christoph. Sie schloss die Augen.

»Ella! Ella, hörst du mich? Jetzt ruf doch mal einer den Rettungswagen! Hat jemand ein mobiles Telefon dabei?«

Ella blinzelte und sah, wie alle den Kopf schüttelten.

»Ich gehe eben in den nächsten Laden«, hörte sie eine Stimme und dann eilige Schritte auf dem Asphalt. Sie versuchte sich aufzurichten. Aber es war, als läge sie unter einem Felsblock begraben.

»Bewege dich nicht. Ich bin bei dir, hörst du mich, ich bin bei dir. Dir wird nichts passieren.«

Sie nickte schwach. Und hörte irgendwann ein Martinshorn. Sah Beine in roten Hosen. Ließ sich in die Augen leuchten. Auf die Trage legen. In den Wagen schieben.

»Ella, bleib ganz ruhig. Beweg dich nicht.«

Was meinte Christoph da?

»Gehören Sie zu ihr?«, fragte einer der beiden Sanitäter Christoph.

»Ja, ich gehöre zu ihr.«

Ella suchte seinen Blick. Sie war froh, in diesem Moment nicht alleine zu sein.

»Dann fahren Sie mit.«

Warum tat ihr alles nur so weh? Sie wollte etwas sagen, aber es ging nicht. Was war, wenn ihr Kopf nicht mehr funktionierte? Sie spürte das Ruckeln beim Anfahren. Es pochte in ihrem Schädel. Der jüngere der beiden Sanitäter legte einen Verband an, ohne weiter zu sprechen. Christoph hielt ihre Hand. Ob Christoph ihre Eltern informieren würde, wenn es was Ernstes war? Und das Geburtshaus? Sie hatte doch noch jede Menge Geburten in den nächsten Wochen. Was war mit Frank? Warum war er jetzt nicht bei ihr? Aber woher sollte er auch wissen, was passiert war?

»Ella, hörst du mich? Alles wird gut!«

Ella nickte schwach, während der Sanitäter den Verband fixierte.

»Danke«, mehr als ein Hauch war ihre Stimme nicht, aber Christoph hatte es gehört.

»Gott sei Dank.«

Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. Der Sanitäter zog eine Augenbraue hoch, als wäre der Rettungswagen nicht der richtige Ort für eine Turtelei.

Warum ging Hilde denn nicht ans Telefon? Schon zum zweiten Mal durchdrang das schrille Klingen den Raum. Und Ella war auch nicht pünktlich erschienen. Vielleicht war sie angefunkt worden. Susanne setzte die letzte Nadel bei der Schwangeren in den kleinen Zeh.

»Aua.«

»Tut mir leid. Das ist wirklich eine unangenehme Stelle.«

»Macht nichts, Hauptsache, es lässt die Geburt leichter werden.«

Mittlerweile hatten sich alle Hebammen extern in Sachen Akupunktur fortbilden lassen. Immer mehr Hebammen berichteten davon, dass die feinen Nadeln, an den richtigen Stellen gesetzt, die Geburt erleichtern konnten.

»Keine Sorge, Nicole, die Geburt wird gut werden.«

»Meinst du? Meine Mutter erzählt mir nichts über meine Geburt. Sie meinte, da müsste man durch, und es wäre besser, wenn ich vorher nicht zu viel wüsste.«

Es klingelte wieder. Sollte es klingeln. Wahrscheinlich ging es nur um Termine. Solange sie nicht angefunkt wurden, war selten Eile geboten.

»Ich denke, je mehr du weißt, desto besser. Eine Geburt ist nichts, wovor du Angst haben musst.«

»Aber alle sagen, dass es so schrecklich wehtut.«

Früher hatte Susanne den Schwangeren oft gesagt, dass die Schmerzen schwer vorstellbar seien, aber dass jede Frau ungeahnte Kräfte entwickeln würde. Heute hielt sie sich mit den Prognosen über Schmerzen immer mehr zurück, weil Angst die Schmerzen immer verstärkte.

Bevor Susanne antworten konnte, klingelte es an der Tür.

»Ich mache kurz auf. Irgendwie scheint außer mir niemand da zu sein. Du solltest sowieso eine Viertelstunde still sitzen.«

Nicole nickte und schaute auf ihre Füße, die mit Nadeln gespickt waren.

Susanne öffnete die Tür.

»Hallo. Ich möchte zu Ella Valero. Ich habe heute meinen ersten Termin im Geburtshaus.«

Die junge Frau mit deutlich sichtbarem Bauch im Sommerkleid blickte stolz drein.

»Herzlich willkommen. Schön, dass Sie da sind. Nehmen Sie doch noch kurz Platz.«

Sie zeigte auf die gemütliche Sitzbank im Flur. Die Tür öffnete sich erneut. Hoffentlich war das Ella. Nein, es war Carola, die wahrscheinlich von der oberen Etage kam. Dort führte sie in einem Raum, den sie alle Frau Freuds Zimmer nannten, regelmäßig Beratungen für Mütter durch.

»Puh, jetzt brauche ich mal fünf Minuten Pause.«

Carola hatte sich die letzten Jahre von ihnen allen am meisten verändert. Ihren teils burschikosen Look hatte sie durch einen weiblicheren ersetzt. Sie trug ein dunkelblaues, lockeres Jerseykleid. Die Haare waren schulterlang geschnitten und schimmerten durch die blonden Strähnchen viel mehr als vorher. Die Latzhose und die Holzfällerhemden hatte sie kürzlich auf dem Flohmarkt in der Alten Feuerwache mit fast allen Kleinkinderklamotten verkauft. Sie sah fitter aus, auch weil sie nun dreimal die Woche zum Krafttraining ins Kieser-Studio in der Neusser Straße ging.

»Mach das, ich habe gerade eine Mutter mit Nadeln am ganzen Körper im Geburtszimmer sitzen. Kaffee ist noch in der Maschine. Keine Ahnung, wo Hilde ist.«

»Kaffee klingt gut.«

Das Telefon klingelte erneut. Susanne lief in das kleine Büro und hob ab.

»Das Haus der guten Hoffnung. Susanne Winter am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Sie können mir gar nicht helfen! Ella hatte einen Unfall!«

Christoph schrie so laut ins Telefon, dass auch Carola ihn hörte, als sie an dem offenen Büro vorbeilief.

»Wie schlimm ist es?«

Susannes Herz raste. Ella war niemals unpünktlich. Sie hatte gleich ein komisches Gefühl gehabt.

Carola stand pünktlich um fünf Minuten vor zwölf vor dem Kindergarten. Und mit ihr eine ganze Traube anderer Mütter. Seit einem Jahr war Florian im Kindergarten, und Carola bemühte sich, ihn mindestens einmal die Woche mittags abzuholen, wie das fast alle Mütter taten. Wenn sie um zwei oder drei oder gar mal um vier kam, waren es immer nur ein paar Frauen, und je später es wurde, desto verschämter schauten sie sich an. Carola hatte einmal mitbekommen, wie die Zwölf-Uhr-Mütter sich vor dem Kindergarten darüber ereiferten, dass Melina um vier immer von der Babysitterin abgeholt wurde. Da bräuchte man doch kein Kind zu zeugen, wenn man keine Lust hätte, sich darum zu kümmern.

Eigentlich fehlte hier nur noch der Kaffeeausschank, dachte Carola, während sie Doris begrüßte, die gerade mit Kinderwagen und Zweijährigem an der Hand dazugekommen war; Doris war die Mutter von Florians bestem Kindergartenfreund. Das lenkte sie wenigstens von dem Gedanken an Ella ab, die gerade in ein Krankenhaus gebracht worden war. Mit Christoph, wenn sie das vorhin richtig verstanden hatte. Meine Güte, wann kapierte Ella endlich, dass ihr Christoph nur Ärger einbrachte?

»Heute ist ideales Spielplatzwetter. Habt ihr Lust, nachher noch mit nach draußen zu kommen?«

Den Spielplatz in der Einfamilienhaussiedlung, in die Carola und ihre Familie vor einigen Jahren gezogen waren, hatte Carola bis zur Geburt von Florian gar nicht wahrgenommen. Aber jetzt saß sie öfter dort auf der Bank und war froh, wenn sie nicht die Einzige war.

»Ich muss mal schauen, eigentlich müsste ich noch mit Maike lernen. Aber vielleicht kann Andreas das auch übernehmen.«

»Du hast einfach einen perfekten Ehemann. Kurt ist mit allem direkt überfordert, wenn es um die Kinder geht.«

Wenn Doris überfordert war, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie gehörte zu den Müttern, die sich auch mit drei Kindern noch die Schatten unter den Augen wegschminkten.

»Danke«, sagte Carola nur lächelnd, statt zu erklären, dass ihr Mann alles andere als perfekt war und sie erst vor ein paar Jahren eine Ehekrise durchlebt hatten. Carola fand es zwar völlig übertrieben, wenn ihre Mutter früher immer darauf bestanden hatte, dass nicht der geringste Zweifel an der eigenen Ehe nach außen drang, aber sie hätte es auch nicht gemocht, wenn Andreas ihre Schwächen durch die Gegend posaunt hätte. Mit Susanne, Annett und Ella konnte sie aber auch über die wirklich persönlichen Dinge sprechen.

Die Tür zum Kindergarten wurde aufgeschlossen, und die Kindergartenleiterin Gertrud Hoppewitz trat einen Schritt heraus. Mit ihrem grauen Dutt wirkte sie wie eine klassische Großmutter, führte aber eher das Regiment eines Großvaters vom Ende des letzten Jahrhunderts.

»Guten Tag, meine Damen. Sie dürfen jetzt rein.«

Carola reihte sich in die Schlange ein und ließ Doris den Vortritt, da ihr Baby schon zu quengeln begann und der Zweijährige an ihrer Hand zog, weil er unbedingt seinen großen Bruder wiedersehen wollte. In dem langen Flur drängelten sich Mütter und Kinder. Carola hielt nach Florian Ausschau.

»Mamaaa!«

Und da rannte ihr Jüngster auch schon auf sie zu und umarmte sie, als wäre sie drei Wochen alleine auf Weltreise gewesen. Bei den Großen konnte sie froh sein, wenn sie von ihrem Buch oder dem Gameboy aufschauten.

»Hallo, mein Schatz! Was habe ich dich vermisst!«

Und das hatte sie wirklich. Sie konnte sich ein Leben ohne Florian gar nicht mehr vorstellen. Genauso wenig ohne Stefanie, Thomas und Maike.

Florian stellte seine Hausschühchen unter seinen Platz, schlüpfte in seine Salamander-Klettverschluss-Schuhe und hängte sich die Felix-Kindergartentasche über die Schultern.

»Mama, ich habe so einen Hunger! Können wir uns beeilen?«

Hoffentlich hatte Andreas das Mittagessen schon vorbereitet. Sie war direkt vom Geburtshaus hier hingefahren.

»Klar. Und vielleicht gehen wir nachher mit Anton noch auf den Spielplatz.«

Florian jubelte, als hätte er ein Geschenk bekommen. Hatte er im Grunde ja auch. Zeit. Carola wusste nur zu gut, wie schnell sie dahinraste.

Als sie an dem kleinen Räumchen am Eingang vorbeikam, in dem Gertrud Hoppewitz die Geschicke des Kindergartens in den Händen hielt, klopfte sie trotz offen stehender Tür an den Türrahmen.

Florian, der ziemlichen Respekt vor der Leiterin hatte, hielt ihre Hand und versteckte sich hinter ihrem Rücken.

»Hallo, Frau Hoppewitz, dürfte ich noch einmal Prospekte für unser Geburtshaus auslegen?«

»Natürlich. Wir brauchen schließlich auch immer neue Kundschaft.«

Carola packte einen Stapel aus ihrer Tasche und legte sie auf den kleinen Tisch neben der Eingangstür. Die neue Kundschaft würde den Kindergarten zwar frühestens in knapp vier Jahren beglücken, aber sowohl Kindergärten als auch Geburtshäuser mussten langfristig denken.

Ella hatte Glück im Unglück gehabt. Eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde an der Stirn. Mehr nicht. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre sie gestern im Anschluss an die Wundversorgung direkt nach Hause gegangen, aber der diensthabende Arzt hatte darauf bestanden, dass sie ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus blieb, um eine Hirnblutung komplett auszuschließen. Ihre Pupillen hatten nicht so schnell auf den Lichtreiz reagiert, wie sie eigentlich sollten. Sicher war sicher. Ella hatte sich direkt für fünf Mark, die sie zum Glück noch dabeihatte, das Telefon neben dem Bett freischalten lassen, um ihre Kolleginnen anrufen zu können. Die nette Krankenschwester hatte ihr das Telefonbuch vorbeigebracht. Sie dachte zwar, dass sie die Nummern von Susanne, Carola und Annett auswendig konnte, aber nachdem sie sich mehrmals »Kein Anschluss unter dieser Nummer« anhören musste, hatte sie doch lieber um Hilfe gebeten. Hoffentlich hatte ihr Gehirn keinen bleibenden Schaden durch den Sturz erlitten.

Sie drehte ihren Kopf unter Schmerzen nach links. Dort lag eine rund Fünfzigjährige nach einem Beinbruch. Zofia hieß sie und hatte sich den Bruch bei der Arbeit in einem fremden Haushalt zugezogen. Sie hatten gestern noch lange geplaudert. Zofia hatte zwei erwachsene Söhne, von denen Ella gestern noch die Fotos aus Zofias Geldbörse gesehen hatte.

»Hübsche, tolle Jungs sind das, Ella, aber der Michal findet einfach keine Frau.«

»Na, vielleicht sucht er gar keine«, hatte Ella geantwortet.

»Sind Sie verheiratet?«, hatte Zofia gefragt.

»Nein.«

»Was für eine Schande! So eine hübsche junge Frau!«

»Na, so jung bin ich auch nicht mehr«, hatte Ella geantwortet und gegrinst, während Zofia die Fotos wieder wegsteckte.

»Nein? Wie alt sind Sie denn?«

»Dreiunddreißig.«

Zofia schlug sich die Hand vor den Mund. »Ich dachte, höchstens fünfundzwanzig.«

Ella hatte sich gestern über das Kompliment gefreut, auch wenn sie sich heute mindestens doppelt so alt fühlte. Aber sie war einfach dankbar, dass nichts Schlimmeres passiert war. Gut, sie würde ein paar Tage ausfallen, und Christoph hatte ihr versprochen, den Pieper direkt im Geburtshaus an Susanne weiterzugeben, falls doch eine Geburt anstand. Aber das war alles nicht weiter tragisch, hatte sie doch gestern für ein paar Sekunden gedacht, dass ihr Leben vorbei wäre.

»Zofia, wie geht es dir? Tut das Bein schon weniger weh?«

Zofia drehte sich in ihre Richtung, wobei das eingegipste Bein auf der Decke liegen blieb.

»Heute geht es mir blendend. Mein Michal kommt gleich vorbei.« Sie zwinkerte Ella zu. Ella erinnerte sich daran, wie Zofia gestern auf Polnisch telefoniert hatte. Ob sie ihrem Sohn erzählt hatte, dass hier eine potenzielle Heiratskandidatin auf ihn wartete?

Von drei bis fünf war Besuchszeit in dem Krankenhaus. Frank hatte versprochen, Ella noch Wechselklamotten mitzubringen.

Bevor Ella Zofia antworten konnte, klopfte es auch schon an der Tür. Christoph. Mit einem Strauß rosafarbener Rosen. Er nickte Zofia zu, lief dann zu Ellas Bett und beugte sich zu ihr herunter, um sie zu umarmen. Ella war das unangenehm. Sie war nicht geduscht.

»Hallo Ella, ich bin so froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist.«

»Ich auch.«

Er setzte sich auf die Bettkante zu ihren Füßen, obwohl ein Stuhl neben ihrem Bett stand.

Es klopfte wieder. Diesmal war es Zofias Sohn. Wirklich ein außergewöhnlich hübscher Mann mit hohen Wangenknochen und dunklem, vollem Haar. Er lächelte sie freundlich an, nachdem er seine Mutter begrüßt hatte.

»Michal, das ist Ella, eine ganz tolle Hebamme«, sagte Zofia und deutete dann auf Christoph, »und das ist …«

Ella zögerte und sagte schließlich: »Das ist mein Lebensretter. Er hat mich gestern von der Straße aufgesammelt.«

Wobei sie sich eingestehen musste, dass sie gar nicht erst ins Straucheln geraten wäre, wenn sie ihn nicht gesehen hätte. Und wieder klopfte es. Diesmal waren es Frank und Dagmar. Dagmar balancierte ein Tablett mit Kuchen, einer Thermoskanne und Tassen in den Händen. Frank trug einen Jutebeutel über dem Arm, aus dem ihr Lieblingspulli rauslugte.

Immerhin stand Christoph von ihrem Bett auf, als Frank zu ihr kam und sie auf den Mund küsste.

»Du machst ja Sachen! Habe dich echt vermisst.«

Dagmar stellte das Tablett ab und meinte, dass sie sich ja Kuchen und Kaffee alle teilen könnten.

Ella rappelte sich auf. Ihr Schädel brummte. Vielleicht half ein Kaffee. Und Kuchen. »Das sind übrigens Frank und Dagmar, meine Mitbewohner, von denen ich dir erzählt habe.«

»Na ja, also ein bisschen mehr als Mitbewohner«, sagte Frank und drehte sich zu Christoph. »Und wer bist du noch mal? Ach, richtig, der Typ vom Eis.«

Frank, der immer so gelassen tat, kniff die Augen zusammen. Die Begegnung auf der Eislaufbahn am Heumarkt war zwar schon ein paar Jahre her, aber Frank hatte sich danach über Christophs überhebliche Art bei Ella beschwert.

»Ja, der bin ich.«

Die Tür wurde wieder aufgerissen, diesmal ohne vorheriges Anklopfen. Ellas Eltern Anneliese und Ernesto. Sie stürmten herein und umarmten ihre Tochter.

»Oh, meine arme kleine Ella!«

Ihre Mutter drehte sich dann zu den Besuchern. Sie kannte Frank, aber offiziell war es nur Ellas Mitbewohner, weil Ella keine Lust hatte, sich dann anhören zu müssen, dass sie in ungeordneten Verhältnissen zusammenleben würden. Sie nickte Frank und Dagmar zu und schüttelte Christoph die Hand.

»Wenn dieser Unfall dazu geführt hat, dass sie sich wiedersehen, dann war er für etwas gut!«

»Anneliese«, mahnte ihr Vater.

»Mama, Christoph ist verheiratet!«

Wenn Ella gekonnt hätte, wäre sie nun im Krankenhaushemdchen rausgerannt. Warum wollte ihre Mutter sie immer noch mit Christoph verkuppeln? War sie ohne erfolgreichen Mann – oder überhaupt ohne Mann – keine gute Tochter?

»Jetzt nicht mehr.«

Christoph sah Ella provozierend in die Augen und lächelte, obwohl diese Nachricht nach nicht mal fünf Jahren Ehe wohl kaum ein Grund zur Freude war.

Bei dem Lärm würden sie noch den Pieper überhören! Susanne wollte sich am liebsten die Ohren zuhalten, als Hilde heute Morgen das zehnte Fax durchjagte. Ein schrilles Quietschen, fast als ziehe jemand seine Fingernägel über eine Schultafel.

»Muss das sein? Können wir die Anmeldebestätigungen nicht per Post schicken?«

Susanne beäugte den Stapel weiterer Blätter, die noch gefaxt werden sollten. Hilde stemmte die Hände in die Hüften und schüttelte den Kopf. Auch wenn sie im Geburtshaus die Schwesterntracht aus dem Krankenhaus abgelegt hatte, wirkte ihr Auftreten immer noch sehr offiziell. Die Seidenbluse hatte sie in den Faltenrock gesteckt, was die breiten Hüften betonte. Die grauen Locken waren wie immer perfekt onduliert.

»Per Post! Das ist viel zu teuer! So ein Fax kostet ein paar Pfennige, und ein Brief mittlerweile eine Mark und zehn Pfennige! Ihr habt doch gesagt, dass wir aufs Geld achten müssen.«

Als gemeinnütziger Verein mussten sie natürlich verantwortungsbewusst mit dem Geld umgehen, aber auf drei Briefmarken mehr oder weniger kam es nun wirklich nicht an.

»Aber es hat doch gar nicht jeder ein Fax zu Hause.«

»Die meisten aber schon, und wenn nicht, haben sie eine Faxnummer von Freunden angegeben.«

Susanne sah auf die Uhr. Gleich würde Nicole wieder zur Vorsorge kommen. Ihr Geburtstermin war überschritten, sodass sie sich jeden zweiten Tag vorstellen musste. Eigentlich sollte sie einfach dankbar sein, dass Hilde einen Großteil der Organisationsarbeit übernahm.

»Entschuldigung, Hilde. Du machst das schon. Danke dir.«

»Eben. Nur weil ich schon im Rentenalter bin, verschließe ich mich nicht der neuesten Technik. Mal ganz davon abgesehen, ekele ich mich vor dem Geschmack von Briefmarken.«

Susanne grinste. Wer tat das nicht? Vor allem, wenn er wusste, dass der Leim auch aus Tierknochen hergestellt wurde. Wobei das Ablecken der Marken gar nicht nötig war. Sie hatten doch so eine Schwämmchenschale, auch wenn die nach einer Zeit immer muffelte wie die Schwämme in der Schule.

»Vielleicht sollten wir es machen wie Tom Hanks und Meg Ryan!«

»Was meinst du, Susanne? Schlaflos in Seattle?«

»Nein, e-m@il für Dich!«

Diesen Film hatten Susanne und Antonius sogar im Kino gesehen, schließlich ging es nicht nur um Liebe, sondern auch um eine kleine Buchhandlung im Schatten der großen Ketten. Sie waren zwar nicht in New York, aber auch in Köln wurden die großen Ketten wie Gonski oder die Mayersche von den kleinen Buchhändlern mit Skepsis beäugt. Bei Gonski etwa fanden die Kunden auf vier mit Büchern zugestellten Etagen fast alles, was sie bei Antonius erst bestellen mussten.

Antonius hatte sich jetzt von der Telekom auch einen Internetanschluss und eine E-Mail-Adresse für den Laden einrichten lassen. So konnten die Leute auch nach Feierabend noch Bücher bestellen und mussten nicht tagsüber anrufen.

»Na, wir sind doch kein Großkonzern!«, schnaufte Hilde.

»Aber praktisch wäre es schon.«

»Ich weiß nicht, ob das für uns nicht übertrieben ist.«

»Wir müssen es ja nicht heute entscheiden.«

Hilde legte das nächste Fax ein, und Susanne öffnete die Tür, als es klingelte. Hans Klüngel, ihr Postbote, begrüßte sie in seinem typischen kölschen Singsang.

»Juten Morgen, die Dame, mal wieder einen Haufen Briefe für Sie.«

Susanne nahm den Stapel entgegen. »Danke schön. Und darf ich Sie als Experte was fragen?«

»Klar doch.«

»Glauben Sie, dass wir alle irgendwann nur noch Mails mit dem Computer verschicken, statt Briefe mit der Post?«

Hans Klüngel streckte stolz die Brust raus. Er belieferte das Gebiet schon seit Jahren und kannte fast jedes Gesicht hinter den Türen.

»Nä, dat kann isch mir nit vorstelle! Die Mensche wollen alles Wischtige in den Händen halten. Und abheften können.«

»Hmm, aber vielleicht wenigstens für die unwichtigen Sachen wie Terminvereinbaren und Bestellungen?«

»Dafür kann man doch anrufe!«

Und für ganz wichtige Sachen gab es den Pieper. So wie jetzt. Susanne spürte ein freudiges Kribbeln. Eine Geburt stand an. Sie verabschiedete Hans Klüngel und lief in das kleine Büroräumchen. Dort lief immer noch ein Fax.

»Hilde, ich muss ganz dringend telefonieren. Könnte sein, dass wir gleich eine Geburt hier haben.«

»Ojemine, mein Fax ist aber nix gegen das Geschrei, dass ich manchmal von euch höre.«

Das war ihre Hilde, wie sie sie damals im Krankenhaus St. Laurentius kennengelernt hatte. Susanne grinste. Sie liebte ihre Arbeit. Und sie liebte die Menschen, mit denen sie zusammenarbeitete.

Carola genoss es nach den sehr stressigen ersten Jahren nach der Gründung des Geburtshauses, jetzt etwas weniger zu arbeiten. Sie übernahm nur noch die Betreuung von einer Geburt im Monat, bot aber regelmäßig Kurse im Geburtshaus und ihre Beratung für Mütter an.

Sie hatte sich vor Florians Geburt heillos übernommen, und wer wusste, was passiert wäre, wenn sie nicht schwanger geworden wäre. Ausgerechnet dieses Kind hatte dafür gesorgt, dass sie sich mehr um sich selbst kümmerte.

Und Andreas und sie hatten wieder eine vernünftige Balance gefunden. Solange er Hausmann mit Hobby Schriftstellerei gewesen war, war er zwar etwas unzufrieden gewesen, aber solange sie ihn in seinem Traum unterstützt hatte, war die Stimmung zwischen ihnen gut und der Alltag entspannt gewesen. Als Andreas mit seinem ersten Buch Erfolg und weniger Zeit für die Familie hatte und Carola sich immer mehr mit allem aufrieb, waren sie fast in die Katastrophe geschlittert.

Heute hatte Andreas gekocht. Thomas und Maike sollten abräumen, Carola hatte sich mit Doris und ihren Kindern am Nachmittag für einen Ausflug in den Zoo verabredet. Heute war Montag, da kostete der Kölner Zoo nur die Hälfte.

»Also, das ist ungerecht. Mit uns hast du nicht so viel unternommen«, maulte Maike, während sie die Teller stapelte. Maike war gerade ziemlich unleidlich. Die Pubertät meinte es nicht so gut mit ihr wie mit Stefanie damals. Statt endlos langer Beine bekam sie Pickel, gegen die auch Clearasil nicht wirklich half. Und Maike vermisste ihre Schwester.

»Komm doch mit in den Zoo«, schlug Carola vor.

»Ja, Maiki! Komm mit!« Florian zog seine Schwester am Arm, worauf ihr fast die Teller aus der Hand fielen.

»Zoo ist was für Babys.«

Florians Gesicht verdunkelte sich einen Moment. So klein er war, er nahm alles um sich herum sehr genau wahr.

»Maike, wir können ja heute Abend einen Film zusammen gucken.«

»Du schläfst doch eh immer auf dem Sofa ein.«

Carola seufzte. Was sie sagte, war falsch. Immerhin war Thomas wieder entspannter. Nachdem er vor einigen Monaten mit Alkoholvergiftung nach einer Party ins Krankenhaus eingeliefert worden war, rührte er kaum noch einen Tropfen Alkohol an. Carola bekam immer noch Bauchschmerzen, wenn sie an diese Nacht dachte. Nicht nur wegen Thomas. Auch sie hatte damals ihre Familie angelogen. Oder besser gesagt, etwas Wichtiges unterschlagen.

»Also für so einen Spruch hätte es bei uns noch einen hinter die Ohren gegeben!«, mischte sich Andreas ein.

»Kann ich mir gar nicht vorstellen.« Thomas, der sich mit Andreas’ Eltern immer sehr gut verstand, auch wenn sie sich selten sahen, musste grinsen.

»Und geht ruhig los, sonst lohnt sich der Zoobesuch gar nicht mehr.« Andreas schob Frau und Kind fast aus dem Haus.

Normalerweise wäre Carola erst gegangen, wenn die Küche aufgeräumt, die Hausaufgaben der Kinder oder Teenager erledigt und die Wäsche für den nächsten Tag angeschmissen wären. Schließlich hatte sie gerade frei. Aber im Grunde war ein Zoobesuch mit einem Vierjährigen auch Arbeit, selbst wenn sie sich schon darauf freute, mit Doris am Spielplatz zu sitzen und die Löwen, Affen und Tiger eben Tiere sein zu lassen.

Ja, sie gönnte sich sogar den Luxus, mit dem Auto zum Zoo zu fahren. Der Parkplatz war zwar schon voll und sie sich nicht so sicher, ob der Platz in einer der Nebenstraßen wirklich in Ordnung war, aber abschleppen würde sie schon keiner. Sie blockierte immerhin keine Einfahrt. Der Pieper steckte zwar in ihrer Hosentasche, aber da der nächste Entbindungstermin erst in zwei Wochen anstand, würde sie wohl kaum wegmüssen.

Florian und Anton rannten direkt nach dem Eingang zu den Erdmännchen, die in kleinen Grüppchen herumstanden oder sich im Sand rekelten.

Doris zog Friederike, das Baby, und den zweijährigen Sebastian in einem Bollerwagen hinter sich her. Sie waren eingeschlafen, und auch auf die Gefahr hin, dass sie den halben Zoo verpassten, wollte Doris sie nicht wecken.

»Das mache ich, wenn wir den ersten Kaffee getrunken haben.«

Daher steuerten sie direkt den Spielplatz mit der riesigen Eisenbahn an, der die Kinderaugen fast noch mehr als die Erdmännchen zum Leuchten brachte. Carola holte eine Thermoskanne mit Kaffee, zwei IKEA-Becher und eine Packung Spritzgebäck aus ihrem Rucksack.

»Du bist ein Engel!«

Sie setzten sich auf eine Bank, sodass sie den Bollerwagen neben sich und den Spielplatz im Blick hatten.

»Reiner Egoismus. Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Ich hatte heute Morgen mehrere Vorsorgen und eine Beratung. Zu Hause habe ich nur schnell was gegessen, bevor wir losgefahren sind.«

Die Sonne wurde immer kräftiger, sodass Doris sich den Sweater abstreifte und den Blick auf ein verwaschenes T-Shirt mit dem Aufdruck der Dangerous