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Nach längerer unfreiwilliger Dienstpause darf Harry Bosch endlich wieder ermitteln und bekommt prompt einen besonders heiklen Fall auf den Tisch: Ein Pornofilmproduzent wurde ermordet in Hollywood aufgefunden, im Kofferraum eines weißen Rolls-Royce, zwei Kugeln stecken in seinem Kopf. Handelt es sich um einen Auftragsmord? Schnell wird klar, dass eine ganze Menge Geld im Spiel gewesen sein muss. Bosch folgt der Spur des Geldes bis nach Las Vegas, wo er es nicht nur mit der Mafia zu tun bekommt, sondern auch von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt wird, in Gestalt einer Frau, die er einmal sehr geliebt hat - und die womöglich auch in den Fall verwickelt ist.
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Seitenzahl: 604
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Michael Connelly
Das Comeback
Der fünfte Fall für Harry Bosch
Aus dem amerikanischen Englisch von Norbert Puszkar
Kampa
Auf dem Mulholland Drive hörte Bosch die Musik. Einzelne Klangfetzen von Streichern und Bläserakkorde wurden von den ausgedörrten Hügeln zurückgeworfen und gingen fast unter im Rauschen des Verkehrs, das vom Hollywood Freeway heraufdrang. Er konnte die Musik nicht identifizieren, aber sie wurde lauter, je näher er dem Cahuenga Pass kam.
Er verlangsamte sein Tempo, als er die Autos sah, die am Rande einer mit Schotter bedeckten Abzweigung standen. Ein Streifenwagen und zwei Wagen der Fahndungsabteilung. Bosch parkte seinen Caprice dahinter und stieg aus. Ein uniformierter Polizist lehnte am Kotflügel des Streifenwagens. Gelbes Plastikband, mit dem man in Los Angeles Tatorte absperrte, war vom Seitenspiegel über die Forststraße zu einem Schild auf der anderen Seite gespannt, dessen Aufschrift hinter den aufgesprühten Graffiti kaum zu erkennen war.
Los Angeles Feuerwehr
Mountain District
Feuerwehrzufahrt
Betreten und offenes Feuer verboten!
Der Streifenpolizist, ein großer, blonder Mann mit sonnengeröteter Haut und Bürstenschnitt, richtete sich auf, als Bosch sich näherte. Das Erste, was Bosch an ihm auffiel, war die Größe seines Schlagstocks. Er hing an einem Ring vom Gürtel. Der schwarze Acryllack am Ende des Knüppels war abgesprungen und ließ das Aluminium darunter sichtbar werden. Streifenbullen trugen ihre zerkratzten, kampferprobten Schlagstöcke mit Stolz – und zur Warnung. Diesem Cop machte es Spaß, Leute zu verprügeln. Daran bestand kein Zweifel. Auf dem Namensschild über der Brusttasche stand Powers. Obwohl die Sonne schon untergegangen war, trug er noch immer seine Ray-Ban-Brille. Der Cop blickte auf ihn herunter, und Bosch sah in den verspiegelten Gläsern der Sonnenbrille Wolken dunkelorange glühen. Solche Sonnenuntergänge erinnerten Bosch immer an die lodernden Feuer der Rassenunruhen vor ein paar Jahren.
»Harry Bosch«, sagte Powers und klang überrascht. »Seit wann bist du denn wieder zurück?«
Bosch musterte ihn einen Moment, bevor er antwortete. Er kannte Powers nicht, aber das bedeutete nichts. Wahrscheinlich kannte jeder Cop in der Hollywood Devision seine Geschichte.
»Seit heute«, sagte Bosch.
Er streckte seine Hand nicht aus. An einem Tatort begrüßte man sich nicht per Handschlag.
»Gerade erst wieder im Sattel, und das ist der erste Fall?«
Bosch zog eine Zigarette hervor und steckte sie an. Es verstieß gegen die Dienstvorschriften, aber er machte sich deswegen keine Sorgen.
»Könnte man sagen.« Er wechselte das Thema. »Wer ist unten?«
»Edgar und die Neue vom Pacific-Revier, seine schwarze Schwester.«
»Rider?«
»Was weiß ich.«
Bosch ging nicht auf die Bemerkung ein. Er kannte den Grund für das Vorurteil. Es spielte keine Rolle, dass Kizmin Rider Talent hatte und ein ausgezeichneter Detective war. Für Powers war das irrelevant, auch wenn Bosch es ihm versichern würde. Für Powers gab es wahrscheinlich nur einen Grund, warum er immer noch eine blaue Uniform trug und nicht die goldene Dienstmarke eines Detectives. Er war ein weißer Mann im Zeitalter der Quotenregelung für Frauen und andere Minoritäten. Am besten, man legte den Finger nicht auf die wunde Stelle.
Powers schien sein Schweigen als Kritik zu verstehen und fuhr fort.
»Sie haben mir gesagt, ich sollte die Geri und Kriwi durchlassen, wenn sie kommen. Ich schätze, sie sind fertig mit der Tatortuntersuchung. Du kannst also runterfahren, statt zu laufen.«
Bosch begriff erst nach einem Moment, dass Powers von der Gerichtsmedizin und der kriminalwissenschaftlichen Spurensicherung sprach. Es hatte sich angehört, als spräche er von einem Paar, das zu einem Picknick eingeladen war.
Bosch setzte einen Fuß auf den Asphalt, ließ die halb gerauchte Zigarette fallen und trat sie sorgfältig aus. Es wäre nicht gut, seine erste Morduntersuchung nach langer Zeit mit einem Waldbrand zu beginnen.
»Ich geh zu Fuß«, sagte er. »Ist Lieutenant Billets hier?«
»Noch nicht.«
Bosch ging zu seinem Wagen und griff durch das offene Fenster nach seiner Brieftasche. Dann kehrte er zu Powers zurück.
»Hast du sie gefunden?«
»So ist’s.«
Powers war mächtig stolz auf sich.
»Wie hast du den Kofferraum geöffnet?«
»Ich hab einen Drahtbügel im Auto. Damit hab ich die Tür geknackt und dann den Kofferraum geöffnet.«
»Warum?«
»Der Gestank. Es war offensichtlich.«
»Handschuhe angehabt?«
»Nee, hatte keine.«
»Was hast du berührt?«
Powers musste einen Moment nachdenken.
»Türgriff, Kofferraumhebel. Das war wohl alles.«
»Haben Edgar oder Rider deine Aussage notiert. Hast du einen Bericht geschrieben?«
»Noch nicht.«
Bosch nickte.
»Pass auf, Powers. Ich weiß, du bist mächtig stolz auf dich. Aber öffne beim nächsten Mal das Auto nicht. Jeder will Detective sein, aber wenige sind auserwählt. So werden Tatorte versaut. Das dürfte dir bekannt sein.«
Bosch beobachtete, wie das Gesicht des Cops dunkelrot anlief und sich die Haut am Unterkiefer spannte.
»Hör mal zu, Bosch«, sagte er. »Falls ich angerufen und nur ein verdächtiges Fahrzeug gemeldet hätte, das riecht, als ob eine Leiche im Kofferraum liegt, hättet ihr gesagt: ›Was weiß denn Powers, dieser Idiot?‹ Die Leiche wäre dann hier in der Sonne verfault, bis der Tatort in alle Winde verweht wäre.«
»Das könnte sein, aber dann hätten wir es vermasselt. Stattdessen versaust du die Sache, bevor wir überhaupt anfangen.«
Powers war immer noch wütend, sagte jedoch nichts. Bosch wartete einen Moment, bereit, die Diskussion fortzuführen, ließ dann aber das Thema fallen.
»Könntest du jetzt das Band hochheben, – bitte?«
Powers ging zurück zum Absperrband. Er war ungefähr fünfunddreißig und hatte den Macho-Gang eines Veteranen. Powers hielt das Band hoch. Als Bosch darunter hindurchschlüpfte, sagte der Cop: »Verirr dich nicht.«
»Wahnsinnig witzig, Powers. Ich gebe mich geschlagen.«
Die Forststraße war einspurig, und am Rande wucherte Strauchwerk, das Bosch bis an die Hüfte ging. Der Schotter war mit Abfall und zerbrochenem Glas bedeckt, die Visitenkarte von unbefugten Eindringlingen. Wahrscheinlich war die Straße nachts ein beliebtes Ziel für Teenager unten aus der Stadt.
Die Musik wurde lauter, je weiter er ging. Er konnte sie jedoch immer noch nicht identifizieren. Nach einer Viertelmeile erreichte er eine mit Schotter bedeckte Lichtung, die wohl als Sammelpunkt für Feuerwehrfahrzeuge dienen würde, falls in den umliegenden Hügeln ein Feuer ausbräche. Heute war es ein Tatort. Am anderen Ende der Lichtung sah Bosch einen weißen Rolls-Royce Silver Cloud, neben dem seine Partner Edgar und Rider standen. Rider machte auf einem Klemmbrett eine Skizze des Tatorts, während Edgar mit einem Maßband arbeitete und ihr die Zahlen zurief. Edgar sah Bosch und winkte mit einer Hand, die in Latexhandschuhen steckte. Er ließ das Maßband wieder in die Rolle zurückschnappen.
»Harry, wo kommst du denn her?«
»Vom Anstreichen«, sagte Bosch und kam näher. »Ich musste mich erst sauber machen, umziehen und aufräumen.«
Als Bosch sich dem Rand der Lichtung näherte, eröffnete sich ihm der Ausblick nach unten. Sie befanden sich auf einem Kliff, das steil zur Hollywood Bowl abfiel. Die abgerundete Konzertmuschel lag nur eine Viertelmeile links von ihnen. Sie war die Quelle der Musik. Die L.A. Philharmonie beendete ihre Freiluftsaison mit einem Konzert am Labor-Day-Wochenende.
Bosch schaute hinab auf achtzehntausend Leute in Stuhlreihen, die sich auf der gegenüberliegenden Seite des Canyons emporzogen. Die Zuhörer genossen einen der letzten Sonntagabende des Sommers.
»O Gott«, entfuhr es ihm, während er über das Problem nachdachte.
Edgar und Rider kamen herüber.
»Was haben wir hier?«, fragte Bosch.
»Leiche im Kofferraum, männlich, weiß. Schusswunden«, antwortete Rider. »Weiter haben wir ihn noch nicht untersucht. Wir haben den Kofferraum wieder geschlossen. Ansonsten läuft die Fahndung.«
Bosch ging um die Überreste eines alten Lagerfeuers und begab sich zum Rolls. Die beiden folgten ihm.
»Darf ich?«, fragte Bosch, und schaute zum Rolls.
»Ja, wir haben ihn untersucht«, sagte Edgar. »Nicht viel. Etwas Blut unterm Wagen. Das wär’s. Der sauberste Tatort, den ich seit Langem gesehen habe.«
Jerry Edgar, der wie alle anderen direkt von zu Hause gekommen war, trug Blue Jeans und ein weißes T-Shirt. Auf der linken Brust prangte das Polizeiwappen über den Worten LAPD Homicide. Als er vorbeiging, las Bosch, was auf dem Rücken stand: Unser Tag beginnt, wenn Ihr Tag endet. Das knapp sitzende weiße T-Shirt passte gut zu Edgars dunkler Haut und betonte seinen muskulösen Oberkörper, als er sich mit geschmeidigen Bewegungen dem Rolls näherte. Während der letzten sechs Jahre hatte Bosch ab und zu mit ihm gearbeitet. Außerhalb der Arbeit waren sie sich jedoch nicht nähergekommen. Bosch wäre bis heute nie auf die Idee gekommen, dass Edgar anscheinend regelmäßig Gewichtstraining machte.
Es war ungewöhnlich, dass Edgar nicht einen seiner eleganten Anzüge trug. Bosch konnte sich denken, warum. Mit seiner saloppen Kleidung konnte er sich gut um die Dreckarbeit drücken. Die Benachrichtigung der Angehörigen.
Sie gingen langsamer, als sie sich dem Rolls näherten, als ob das Unheil irgendwie ansteckend wäre. Der Wagen war mit seinem Heck nach Süden geparkt und sichtbar für das Konzertpublikum in den obersten Rängen. Bosch dachte noch einmal über die Situation nach.
»Ihr wollt also den Typ rausholen, während all die Leute beim Picknick mit dem Weinglas in der Hand zuschauen?«, fragte er. »Wie würde das wohl heute Abend im Fernsehen aussehen?«
»Nun«, erwiderte Edgar, »wir dachten, wir überlassen dir die Entscheidung, Harry. Schließlich bist du die Drei.«
»Stimmt«, sagte Bosch sarkastisch. »Ich bin die Drei.«
Bosch hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass er ein sogenannter Teamleiter war. Es war schon achtzehn Monate her, dass er offiziell einen Mord untersucht hatte – von der Leitung eines Fahndungsteams ganz zu schweigen. Nachdem er im Januar von seiner Zwangsbeurlaubung wegen Stress zurückgekehrt war, war er dem Einbruchsdezernat der Hollywood Devision zugeteilt worden. Der weibliche Commander der Detective-Abteilung, Grace Billets, hatte ihm erklärt, dass er sich als Detective in seinem neuen Arbeitsgebiet leichter wieder einarbeiten würde. Ihm war klar, dass es sich um eine Lüge handelte, und dass sie Anweisung bekommen hatte, wo sie ihn einsetzen sollte. Aber er nahm die Versetzung ohne Widerworte hin. Er wusste, dass sie irgendwann seine Hilfe brauchen würden.
Nach acht Monaten Schreibtischarbeit und einigen Verhaftungen von Einbrechern wurde er in das Büro des Commanders gerufen. Billets teilte ihm mit, dass sie Veränderungen vornehmen würde. Die Mordaufklärungsrate des Reviers hatte ein Rekordtief erreicht. Weniger als die Hälfte der Morde wurden aufgeklärt. Billets hatte die Leitung der Detective-Abteilung vor einem Jahr übernommen und musste widerwillig zugeben, dass die Aufklärungszahlen unter ihrer Führung einen Sturzflug angetreten hatten. Bosch hätte ihr sagen können, dass dies teilweise daran lag, dass sie nicht die statistischen Tricks ihres Vorgängers anwendete. Harvey Pounds hatte immer einen Weg gefunden, die Statistik zu schönen. Aber Bosch behielt sein Wissen für sich und hörte Billets Plänen schweigend zu.
Der erste Schritt war, Bosch Anfang September wieder an den Mordtisch zu versetzen. Sely, ein lahmarschiger Detective, würde im Austausch zum Einbruchsdezernat gehen. Billets hatte auch einen weiblichen, jungen und cleveren Detective namens Kizmin Rider von der Pacific Devision rekrutiert, mit der sie dort zusammengearbeitet hatte. Die letzte und radikalste Maßnahme war, die traditionellen Zweierteams aufzulösen. Die neun Detectives, die in Hollywood für Mord zuständig waren, würden von nun an zu dritt in drei Teams arbeiten. Jedes Team würde von einem Detective dritten Grades geleitet werden. Bosch war Drei. Er war Leiter von Team Eins.
Die Gründe für die Umstrukturierung leuchteten ein – zumindest auf dem Papier. Die meisten Mordfälle wurden in den ersten achtundvierzig Stunden gelöst – oder nie. Billets war an einer höheren Aufklärungsrate interessiert und setzte daher mehr Detectives für jeden Fall ein. Was nicht so gut auf dem Papier aussah, besonders für die neun Detectives, war die Tatsache, dass vier Zweierteams durch drei Dreierteams ersetzt würden. Von nun an würde jeder Detective für jeden dritten statt für jeden vierten Fall zuständig sein. Das bedeutete mehr Fälle, mehr Gerichtstermine, mehr Überstunden und mehr Stress. Nur die Überstunden wurden positiv bewertet. Aber Billets hörte sich die Klagen der Detectives nicht lange an und blieb hart. Mit ihrem neuen Plan verdiente sie sich ihren Spitznamen Bullets.
»Hat schon jemand mit Bullets gesprochen?«, fragte Bosch.
»Ich hab angerufen«, sagte Rider. »Sie war übers Wochenende in Santa Barbara. Hat eine Nummer bei der Zentrale hinterlassen. Sie kommt vorzeitig zurück. Aber es dauert mindestens noch anderthalb Stunden. Sie bringt zuerst noch ihren Mann nach Hause und fährt dann zum Revier.«
Bosch nickte und ging zum Heck des Wagens. Seine Nase nahm den Geruch sofort wahr. Schwach, aber unverwechselbar. Er nickte wieder, wie im Selbstgespräch. Dann stellte er seine Aktentasche auf den Boden, öffnete sie und nahm ein Paar Latexhandschuhe aus einer Schachtel. Nachdem er die Tasche wieder geschlossen hatte, stellte er sie weg, einen Meter entfernt.
»Okay, dann wollen wir mal sehen«, sagte er, während er sich die Handschuhe über die Hände zog. Er hasste das Gefühl. »Nah dranbleiben. Wir wollen den Leuten in der Bowl keine Gratisshow geben.«
»Kein schöner Anblick«, sagte Edgar und trat heran.
Sie standen zu dritt am Heck des Rolls, um dem Publikum unten den Blick zu versperren. Bosch war sich jedoch sicher, dass jeder mit einem Fernglas wissen würde, was hier vorging. Schließlich waren sie in L.A.
Bevor er den Kofferraum öffnete, bemerkte er das Nummernschild. TNA stand darauf. Eines der Kennzeichen, die man sich als persönliche Note bestellen konnte. Edgar beantwortete seine unausgesprochene Frage.
»Zugelassen unter TNA Productions. Auf der Melrose Avenue.«
»T n A, Titten und Arsch?«
»Nein, nur die Buchstaben, T-N-A. Wie auf dem Kennzeichen.«
Edgar zog ein Notizbuch aus der Tasche und überflog die Seiten. Die Adresse, die er ihm gab, kam Bosch bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen. Es war irgendwo unten in der Nähe des Paramount Studios, das den gesamten nördlichen Block mit den 5500-Nummern einnahm. Das große Studio war umgeben von kleinen Produktionsfirmen und Mini-Studios, wie ein großer Hai von kleinen Fischen, die die kleinsten Brocken noch aufschnappten.
»Dann wollen wir mal.«
Er wandte sich wieder dem Kofferraum zu. Er war fast zugeklappt, aber nicht geschlossen. Mit einem behandschuhten Finger hob er sachte die Klappe.
Als der Kofferraum geöffnet war, entströmte ihm der ekelhafte Odem des Todes. Bosch hätte sich am liebsten gleich eine Zigarette angesteckt, aber die Zeiten waren vorbei. Er wusste, was ein Verteidiger alles aus der Asche einer Zigarette machen konnte, die ein Polizist am Tatort geraucht hatte. Berechtigte Zweifel an der Schuld eines Angeklagten waren schon aus weniger Material fabriziert worden.
Er beugte sich unter die Kofferraumklappe, um besser sehen zu können, und achtete darauf, die Stoßstange nicht mit seiner Hose zu berühren. Im Kofferraum lag die Leiche eines Mannes. Die Haut war von einem aschfarbenen Weiß. Seine Kleidung war teuer: Gut gebügelte Hosen aus Leinen, mit Aufschlag. Ein hellblaues Hemd mit einem Blumenmuster sowie eine Sportjacke aus Leder. Seine Füße waren nackt.
Der Mann lag auf der rechten Seite in Embryohaltung. Seine Handgelenke waren jedoch hinter ihm zusammengelegt statt über der Brust gefaltet. Es hatte den Anschein, als ob seine Hände zusammengebunden gewesen waren und man später die Fesseln entfernt hatte. Vermutlich nach seinem Tod. Bosch schaute näher hin und entdeckte eine kleine Abschürfung am linken Handgelenk. Wahrscheinlich hatte er sich gegen seine Fesseln gewehrt. Die Augen des Mannes waren fest geschlossen. Eine weiße, fast durchsichtige Substanz war in den Augenwinkeln angetrocknet.
»Kiz, du machst die Aufzeichnungen über das Aussehen der Leiche.«
»Okay.«
Bosch beugte sich tiefer in den Kofferraum und konnte getrockneten Schaum von entflossenem Blut in Nase und Mund des Toten erkennen. Seine Haare waren verklebt von dem Blut, das über die Schultern geflossen und auf der Bodenmatte in einer Lache geronnen war. Im Boden des Kofferraums war ein Loch, durch das Blut auch auf den Schotter gesickert war. Es befand sich ungefähr einen Fuß vom Kopf des Opfers am Rand der Matte und schien sauber in den Metallboden eingelassen zu sein. Es stammte nicht von einer Kugel. Wahrscheinlich war es ein Abfluss oder ein Loch, das durch einen herausgefallenen Bolzen verursacht worden war.
Der Hinterkopf der Leiche sah fürchterlich aus. Bosch konnte deutlich zwei schartige Eintrittswunden unten am Schädel erkennen, an der okzipitalen Protuberanz – der medizinische Fachausdruck fiel ihm automatisch ein. Zu viele Obduktionen, dachte er. Das Haar war um die Wunden herum von den explodierenden Gasen, die aus dem Lauf der Pistole kamen, versengt worden. Die Kopfhaut war mit Pulverstaub gesprenkelt. Schüsse aus kürzester Distanz. Austrittswunden waren nicht zu erkennen. Wahrscheinlich Kaliber .22. Sie rollen im Schädel herum wie Murmeln in einem leeren Marmeladenglas.
Bosch schaute nach oben und sah Spuren von verspritztem Blut auf der Innenseite der Kofferraumklappe. Er untersuchte sie für einen langen Moment, trat zurück und richtete sich auf. Während er einen prüfenden Blick auf den gesamten Kofferraum richtete, hakte er in Gedanken eine Liste ab. Da man keine Blutspuren auf der Zufahrtsstraße gefunden hatte, zweifelte er nicht daran, dass man den Mann hier im Kofferraum getötet hatte. Trotzdem war es eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Warum hier? Warum keine Schuhe und Socken? Warum wurden die Fesseln von den Handgelenken entfernt? Er schob die Fragen für den Moment beiseite.
»Ihr habt nach der Brieftasche gesucht?«, fragte er, ohne sich nach den beiden umzusehen.
»Noch nicht«, antwortete Edgar. »Erkennst du ihn?«
Erst jetzt betrachtete Bosch das Gesicht genauer. Die Todesangst war ihm für immer ins Gesicht geschrieben. Der Mann hatte die Augen geschlossen. Er wusste, was passieren würde. Bosch fragte sich, ob die weiße Substanz in den Augen von getrockneten Tränen stammte.
»Nein, du?«
»Nee. Er ist sowieso zu sehr zugerichtet.«
Bosch hob vorsichtig die lederne Sportjacke am Rücken an, sah aber nichts in den Gesäßtaschen. Als Nächstes öffnete er die Jacke mit einer Hand und entdeckte eine Brieftasche in der Innentasche, auf der sich ein Etikett befand: Fred Haber, Men’s Shop. In der Innentasche steckte außerdem ein Umschlag mit einem Flugticket. Mit der anderen Hand griff er in die Tasche und zog die zwei Gegenstände heraus.
»Klappe zu«, sagte er, als er zurücktrat.
Edgar schloss den Kofferraum so sacht, wie ein Beerdigungsunternehmer einen Sarg schließt. Bosch ging zu seiner Aktentasche, legte die beiden Objekte darauf und hockte sich hin.
Als Erstes öffnete er die Brieftasche. Auf der linken Seite steckte eine beachtliche Sammlung Kreditkarten und ein Führerschein hinter einem Plastikfenster. Er war auf den Namen Anthony N. Aliso ausgestellt.
»Anthony N. Aliso«, sagte Edgar. »Kurzfassung Tony. TNA. TNA Productions.«
Die Adresse war in Hidden Highlands, einer kleinen Enklave abseits vom Mulholland Drive, umgeben von Mauern und mit einem Wachhaus, das rund um die Uhr besetzt war – meistens von pensionierten Polizisten oder Cops, die etwas nebenbei verdienen wollten. Die Adresse passte zum Rolls-Royce.
Bosch öffnete das Fach für Geldscheine und fand ein ganzes Bündel Banknoten. Ohne das Geld herauszunehmen, zählte er zwei Einhundert-Dollar-Scheine und neun Zwanziger. Er teilte Rider die Summe mit, damit sie sie notieren konnte. Als Nächstes öffnete er den Umschlag mit dem Flugschein. Er enthielt ein Ticket von American Airlines für einen einfachen Flug von Las Vegas nach Los Angeles. Abflug Freitagabend 22:05 Uhr. Der Name auf dem Ticket stimmte mit dem auf dem Führerschein überein. Bosch sah hinten auf dem Umschlag nach, konnte aber weder eine festgeklemmte Notiz noch einen Aufkleber für aufgegebenes Gepäck entdecken. Eigenartig. Bosch ließ die Brieftasche und den Flugschein auf der Aktentasche und ging zum Wagen, um durch die Fenster zu schauen.
»Kein Gepäck?«
»Nein«, erwiderte Rider.
Bosch ging zurück zum Heck und öffnete wieder den Kofferraum. Er betrachtete die Leiche, steckte einen Finger unter den linken Ärmel der Jacke und zog ihn nach oben. Eine goldene Rolex kam zum Vorschein. Das Zifferblatt war umrandet von kleinen Diamanten.
»Scheiße.«
Bosch drehte sich um. Es war Edgar.
»Soll ich OK anrufen?«
»Warum?«
»Italienischer Name, kein Raub, zwei Schüsse in den Hinterkopf. Es war ’ne Liquidierung, Harry. Wir sollten die Abteilung für Organisierte Kriminalität anrufen.«
»Noch nicht.«
»Ich kann dir schon jetzt sagen, Bullets wird sie anrufen.«
»Wir werden sehen.«
Bosch betrachtete noch einmal die Leiche und sah sich das entstellte, blutige Gesicht genau an. Dann schloss er den Kofferraum.
Bosch wandte sich vom Wagen ab und ging zum Rand der Lichtung. Von hier aus bot sich einem ein grandioses Panorama der Stadt. Richtung Osten jenseits von Hollywood konnte er die Spitzen der Hochhäuser von Downtown im Dunstschleier erkennen. Er sah, dass das Flutlicht vom Dodger-Stadion für ein Abendspiel eingeschaltet war. Die Dodgers und Colorado lieferten sich seit einem Monat ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und Nomo war heute Abend der Pitcher. Bosch hatte seine Eintrittskarte dabei. Reines Wunschdenken. Die Chance, dass er das Spiel sehen würde, war gleich Null. Ihm war auch klar, dass Edgar recht hatte. Der Mord wies in allen Aspekten auf die Mafia hin. Organisierte Kriminalität würde benachrichtigt werden müssen. Wenn sie nicht die Untersuchung ganz übernehmen würden, müsste man sie zumindest konsultieren. Aber Bosch schob die Benachrichtigung hinaus. Es war lange her, dass er einen Fall untersucht hatte. Er wollte ihn nicht gleich wieder abgeben.
Er schaute zur Bowl hinunter. Es schien ausverkauft zu sein. Die Sitzreihen formten eine Ellipse, die sich am gegenüberliegenden Hügel hinaufzog. Die Ränge, die am weitesten vom Podium entfernt waren, waren auf Augenhöhe mit der Lichtung, auf der der Rolls geparkt war. Bosch fragte sich, wie viele Leute ihn in diesem Moment beobachteten. Er dachte wieder über sein Dilemma nach. Er musste mit der Untersuchung fortfahren. Aber er wusste, wenn er die Leiche vor diesem Publikum aus dem Kofferraum ziehen würde, gäbe es ein PR-Debakel für die Polizei und die Stadt. Und er würde dafür einen Riesenrüffel einstecken.
Wieder schien Edgar seine Gedanken zu lesen.
»Harry, es wird ihnen nichts ausmachen. Beim Jazzfestival vor ein paar Jahren hat ein Paar es hier oben eine halbe Stunde lang getrieben. Als sie fertig waren, gab es stehenden Applaus. Der Typ ist splitternackt aufgestanden und hat sich verbeugt.«
Bosch schaute ihn an, um zu sehen, ob er es ernst meinte.
»Stand in der Times, in der Kolumne ›Nur in L.A.‹.«
»Jerry, heute Abend spielt die Philharmonie. Das ist ein anderes Publikum. Verstehst du mich? Und ich möchte das nicht morgen unter der Rubrik ›Nur in L.A.‹ lesen.«
»Okay, Harry.«
Rider war klein, ein Meter fünfzig, und wog wahrscheinlich mit Waffe nicht mehr als neunzig Pfund. Sie wäre unter den alten Einstellungsbedingungen nie als Polizist rekrutiert worden. Ihre Haut war hellbraun. Das Haar war geglättet und kurz. Sie trug Jeans und ein rosa Oxford-Hemd unter einem schwarzen Blazer. Bei ihrer kleinen Statur verbarg die Jacke kaum die 9-Millimeter-Glock-17 an ihrer rechten Hüfte.
Billets hatte ihm erzählt, dass sie mit Rider in der Pacific Devision zusammengearbeitet hatte. Rider war für Raub- und Betrugsfälle zuständig gewesen, wurde aber auch bei Mordfällen eingesetzt, falls es sich mit Finanzverbrechen überschnitt. Laut Billets konnte Rider einen Tatort wie ein alter Profi analysieren. Billets hatte ihre Beziehungen für Riders Versetzung spielen lassen, hatte sich jedoch schon damit abgefunden, dass sie nicht lange bleiben würde. Rider war auf dem Weg nach oben. Sie gehörte zwei Minoritäten an, war erfolgreich und hatte einen Schutzengel im Parker Center – Billets wusste nicht genau wer. All das garantierte, dass sie nicht lange in Hollywood bleiben würde. Nachdem sie den letzten Schliff bekommen hatte, würde sie nach Downtown zum Polizeipräsidium abdampfen.
»Wie steht’s mit der APG?«, fragte Bosch.
»Noch nicht benachrichtigt«, sagte Rider. »Ich dachte, wir sind hier noch ’ne Weile, bevor wir den Wagen abholen lassen.«
Bosch nickte. Er hatte die Antwort erwartet. Die amtliche Polizeigarage wurde meistens zuletzt verständigt. Er zögerte seine Entscheidung hinaus, während er Fragen stellte, deren Antworten er schon vorher kannte.
Schließlich entschied er, was zu machen sei.
»Okay, ruf sie an«, sagte er. »Sag ihnen, sie können kommen. LKW mit Ladefläche. Okay? Wenn sie einen Abschleppwagen in der Gegend haben, schick ihn zurück. Sag ihnen, der Wagen muss auf einer Ladefläche transportiert werden. Ich hab ein Telefon in meiner Aktentasche.«
»Alles klar«, sagte Rider.
»Warum auf der Ladefläche, Harry?«, fragte Edgar.
Bosch antwortete nicht.
»Wir verfrachten die ganze Chose«, sagte Rider.
»Was?«, fragte Edgar.
Rider ging zur Aktentasche, ohne zu antworten. Bosch unterdrückte ein Lächeln. Sie wusste, was er tat, und er begann ihr Talent zu sehen, von dem Billets gesprochen hatte. Er zog eine Zigarette hervor und steckte sie an. Das abgebrannte Streichholz schob er in die Zellophanhülle der Zigarettenschachtel, die er dann wieder in die Jacke steckte.
Er merkte, dass der Sound am Rand der Lichtung, von wo er direkt in die Hollywood Bowl sehen konnte, besser war. Nach ein paar Momenten erkannte er das Stück, das gespielt wurde.
»Scheherazade«, sagte er.
»Was?«, fragte Edgar.
»Die Musik. Das Stück heißt Scheherazade. Schon mal gehört?«
»Nicht sicher, ob ich es jetzt höre. Bei den ganzen Echos.«
Bosch schnipste mit den Fingern. Plötzlich war ihm etwas eingefallen. In Gedanken sah er den Bogen eines Tors, eine Nachbildung des Arc de Triomphe in Paris.
»Diese Adresse auf der Melrose Avenue«, sagte Bosch. »In der Nähe von Paramount. Eines von diesen Schmarotzerstudios direkt daneben. Ich glaube, es heißt Archway.«
»Ja? Ich glaube, du hast recht.«
Rider kam in diesem Moment zurück.
»Der LKW ist unterwegs«, sagte sie. »Wird in fünfzehn Minuten hier sein. Ich hab noch mal die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin angerufen. Sind auch unterwegs. Spurensicherung hat jemand in Nichols Canyon, der gerade mit einem Überfall fertig geworden ist. Er sollte also bald hier sein.«
»Gut«, sagte Bosch. »Hat einer von euch die Aussage von dem Schlagstockvirtuosen aufgenommen?«
»Nur eine vorläufige«, erwiderte Edgar. »Ist nicht unser Typ. Wir dachten, wir überlassen ihn der Drei.«
Zwischen den Zeilen ließ Edgar mitklingen, dass er Powers rassistische Gefühle ihm und Rider gegenüber gespürt hatte.
»Okay, ich übernehme ihn«, sagte Bosch. »Ihr zwei stellt die Tatortskizze fertig und untersucht dann noch mal die Umgegend. Tauscht eure Sektoren diesmal.«
Er merkte, dass er ihnen Aufgaben erteilte, die sie ohnehin tun würden.
»’tschuldigung. Ihr wisst, was zu tun ist. Ich wollte nur sagen, wir halten uns bei diesem Fall strikt ans Lehrbuch. Ich hab das Gefühl, wir haben es hier mit Großformat zu tun.«
»Und was ist mit OK?«, fragte Edgar.
»Ich hab dir schon gesagt, noch nicht.«
»Großformat?«, fragte Rider verwirrt.
»Prominentenfall«, sagte Edgar. »Studiofall. Wenn der Typ im Kofferraum ein Macher aus der Filmindustrie ist, jemand vom Archway, werden sich die Medien dafür interessieren. Das ist erst der Anfang. Eine Leiche im Kofferraum eines Rolls ist eine Schlagzeile. Ein toter Filmboss im Kofferraum eines Rolls ist eine größere Schlagzeile.«
»Archway?«
Bosch ließ sie dort stehen, während Edgar Rider über Mord, Medien und die Filmindustrie in Hollywood aufklärte.
Bosch leckte seine Finger, um die Zigarette auszudrücken, und steckte sie dann zu dem abgebrannten Streichholz in die Zellophanhülle. Dann machte er sich langsam auf den Weg zum Mullholland Drive, der eine Viertelmeile entfernt war. Unterwegs ließ er seinen Blick über den Schotter auf der Forststraße hin und her schweifen. Aber es gab so viel Abfall auf der Straße und in den nahen Büschen, dass es unmöglich war, herauszufinden, ob etwas davon – eine Zigarettenkippe, eine Bierflasche, ein gebrauchtes Präservativ – mit dem Rolls zu tun hatte. Das Einzige, wonach er intensiv Ausschau hielt, war Blut. Falls er Blut fände, das mit dem des Opfers identisch wäre, würde es bedeuten, dass er anderswo ermordet und dann hier in der Lichtung zurückgelassen worden war. Das Fehlen von Blutspuren bedeutete wahrscheinlich, dass er hier getötet worden war.
Er merkte, wie ihn diese erfolglose Suche entspannte, vielleicht sogar glücklich stimmte. Er war wieder in seinem Metier, folgte seiner Berufung. Ihm fiel ein, dass der Mann im Kofferraum erst hatte sterben müssen, damit er sich so gut fühlen konnte. Aber er schlug sich die Schuldgefühle gleich aus dem Kopf. Der Mann wäre gestorben, egal ob Bosch an den Mordtisch zurückgekehrt wäre oder nicht.
Als Bosch den Mulholland Drive erreichte, sah er zwei Feuerwehrwagen. Um sie herum stand eine Abteilung Feuerwehrmänner, die anscheinend auf etwas warteten. Er steckte sich eine neue Zigarette an und sah Powers an.
»Du hast ein Problem«, sagte der uniformierte Cop.
»Was?«
Bevor Powers antworten konnte, trat einer der Feuerwehrmänner an sie heran. Er trug den weißen Helm eines Chiefs.
»Haben Sie die Leitung hier?«, fragte er.
»So ist’s.«
»Chief Jon Friedman«, stellte er sich vor. »Wir haben ein Problem.«
»Das habe ich gehört.«
»Das Konzert in der Bowl unten soll in neunzig Minuten enden. Danach gibt’s ein Feuerwerk. Wie ich höre, haben Sie eine Leiche da unten und einen Tatort. Das ist unser Problem. Wenn wir nicht unsere Bereitschaftspositionen fürs Feuerwerk beziehen können, müssen wir das Feuerwerk abblasen. Wenn wir nicht an unserem Platz sind, kann ein einziger Querschläger die ganzen Hügel hier in Brand stecken. Verstehen Sie mich?«
Bosch bemerkte, wie Powers über sein Dilemma grinste. Er ignorierte ihn und wandte sich Friedman zu.
»Wie viel Zeit brauchen Sie zur Vorbereitung?«
»Maximal zehn Minuten. Wir müssen unten sein, bevor die erste Rakete hochgeht.«
»In neunzig Minuten?«
»Inzwischen fünfundachtzig Minuten. Die Menge wird ziemlich ärgerlich werden, wenn sie nicht ihr Feuerwerk bekommt.«
Bosch stellte fest, dass er heute nicht viele Entscheidungen treffen musste, sie wurden ihm größtenteils diktiert.
»Warten Sie hier. Wir werden in eineinviertel Stunden fertig sein. Sagen Sie das Feuerwerk nicht ab.«
»Sind Sie sicher?«
»Verlassen Sie sich drauf.«
»Detective?«
»Ja, Chief?«
»Sie machen sich strafbar mit Ihrer Zigarette.«
Er nickte zum Schild, das von Graffiti bedeckt war.
»Entschuldigung, Chief.«
Bosch ging zur Straße, um die Zigarette auszutreten, während Friedman zurück zu seiner Mannschaft ging, um über Funk mitzuteilen, dass das Feuerwerk stattfinden würde. Bosch fiel etwas ein und rannte ihm hinterher.
»Chief, Sie können sagen, dass die Show läuft, aber erwähnen Sie nicht die Leiche über Funk. Wir können auf Reporter und Fernsehhelikopter verzichten.«
»Verstanden.«
Bosch dankte ihm und wandte sich wieder Powers zu.
»Du kannst die Tatortaufnahme nicht in eineinviertel Stunden abwickeln«, sagte Powers. »Die Gerichtsmedizin ist noch nicht mal hier.«
»Lass das meine Sorge sein, Powers. Hast du schon was aufgeschrieben?«
»Noch nicht. Hab mich mit den Typen hier beschäftigt. Wär ganz gut, wenn ihr ein Walkie-Talkie dabeigehabt hättet.«
»Gut, dann fangen wir mal mit dem Anfang an.«
»Was ist denn mit denen?«, fragte Powers und nickte Richtung Lichtung. »Warum vernehmen die mich nicht? Edgar und Rider?«
»Die haben zu tun. Also willst du’s mir erzählen oder nicht?«
»Ich hab dir’s schon erzählt.«
»Von Anfang an, Powers. Ich weiß, was du gemacht hast, nachdem du das Auto überprüft hast. Warum hast du es überprüft?«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich fahr hier einmal pro Schicht vorbei und verscheuch das Gesindel.«
Er deutete über den Mullholland Drive den Hügel hinauf. Am Kamm standen mehrere Häuser, die auf der Talseite mit Stahlpfeilern abgestützt waren. Sie sahen aus, als ob sie in der Luft schwebten.
»Die Leute hier rufen ständig beim Revier an und melden Lagerfeuer, Partys, satanische Messen – alles Mögliche. Ich schätze, es ruiniert ihnen die Aussicht. Und die Million-Dollar-Aussicht ist ihnen lieb und teuer. Also fahr ich rauf und miste aus. Meistens arme Arschlöcher aus dem Valley. Die Feuerwehr hatte ein Vorhängeschloss an dem Tor hier, aber irgendein Idiot hat es eingerammt. Das war vor sechs Monaten. Es dauert mindestens ein Jahr, bis die Stadt hier irgendetwas repariert. Ich hab vor drei Wochen Batterien für meine Stablampe bestellt und ich warte immer noch darauf. Wenn ich sie nicht selbst gekauft hätte, würde ich nachts im Dunkeln arbeiten. Die Stadt interessiert sich einen Scheißdreck …«
»Bleiben wir beim Thema, Powers. Was war mit dem Rolls?«
»Nun, meist komm ich hier vorbei, wenn’s dunkel ist. Wegen dem Konzert bin ich heute schon etwas früher gekommen. Und dann sah ich den Rolls.«
»Du bist von dir aus gekommen? Keine Beschwerde von dort oben?«
»Nein. Heute war es meine Idee. Wegen des Konzerts. Ich dachte, es würde ein paar unbefugte Besucher geben.«
»Gab es welche?«
»Ein paar – Leute, die aufs Konzert warteten. Nicht die üblichen Typen. Ernste Musik nennt man das wohl. Ich hab sie verjagt, und als sie weg waren, stand der Rolls immer noch da. Aber es war kein Fahrer da.«
»Also hast du den Wagen überprüft.«
»Genau. Den Geruch kenn ich. Also hab ich mit dem Bügel die Tür geöffnet und dann den Kofferraum. Und da lag die Leiche. Dann bin ich hoch und hab euch Profis verständigt.«
Die letzten Worte sprach er ironisch aus. Bosch ignorierte es.
»Die Leute, die du verjagt hast. Hast du irgendwelche Namen?«
»Nein, wie ich schon sagte, ich hab sie verjagt und merkte dann, dass niemand in den Rolls einstieg und wegfuhr. Dann war es zu spät.«
»Was war gestern Abend los?«
»Was soll losgewesen sein?«
»Bist du hier vorbeigekommen?«
»Ich hatte frei. Ich arbeite Dienstag bis Samstag, aber ich habe mit einem Kollegen getauscht, weil er heute Abend etwas zu tun hatte.«
»Wie war’s Freitagabend?«
Er schüttelte den Kopf.
»Freitags ist immer viel los in der dritten Schicht. Ich hatte keine Zeit durch die Gegend zu gondeln. Es gab auch keine Beschwerde, soweit ich weiß … Also bin ich nicht vorbeigefahren.«
»Nur den Funkmeldungen hinterhergejagt?«
»Ich war den ganzen Abend im Rückstand. Noch nicht mal Zehn-Sieben gemacht.«
»Nicht mal Essenspause, das nenn ich Einsatz, Powers.«
»Was soll das heißen?«
Bosch wusste, er hatte einen Fehler gemacht. Powers war total frustriert, was seinen Job anging, und Bosch war zu weit gegangen. Powers lief hochrot an und nahm langsam seine Sonnenbrille ab, bevor er sprach.
»Hör mal gut zu, du Großscheißer. Du hast angefangen, als es noch Chancen gab. Aber wir jetzt? Wir kriegen ’nen Scheiß. Wir … Ich weiß schon nicht mehr, seit wie viel Jahren ich mich bemühe, Detective zu werden. Meine Chancen sind ungefähr so gut wie die von dem Typ im Rolls. Aber ich schieb keine ruhige Kugel. Ich fahr fünf Nächte die Woche Streife. Auf meinem Wagen steht Beschützen und Dienen, und ich tu’s. Also mach dich nicht lustig über meine Arbeitsmoral.«
Bosch wartete ab, bis er sicher war, dass Powers ausgeredet hatte.
»Hör zu, Powers, ich wollte mich nicht lustig machen. Willst du ’ne Zigarette?«
»Ich rauche nicht.«
»Okay, fangen wir noch mal an.« Er wartete einen Moment, während Powers seine Ray-Ban wieder aufsetzte und sich beruhigte. »Arbeitest du immer allein?«
»Ich bin der Z-Wagen.«
Bosch nickte. Zebra-Streife. Ein einzelner Polizist mit mehreren Ärmelstreifen, der alle möglichen Einsätze fuhr – meistens Kinderkram. Die anderen Streifenwagen mit zwei Polizisten wurden bei den gefährlicheren Jobs eingesetzt. Zebras arbeiteten allein und konnten überall im Revier herumfahren. Im Dienstrang standen sie zwischen dem Sergeants und den Streifenpolizisten, die einem bestimmten Gebiet des Reviers zugeteilt waren.
»Wie oft verscheuchst du Leute hier?«
»Ein-, zweimal im Monat. Keine Ahnung, was die anderen Schichten angeht oder die Gebietsstreifen. Aber meistens muss sich der Z-Wagen mit dem Scheiß befassen.«
»Hast du irgendwelche Belästigungskarten?«
Belästigungskarten waren Karteikarten, formell Feldberichte oder FB-Karten genannt. Polizisten füllten sie aus, wenn sie verdächtige Personen anhielten und es nicht genug Beweise für einen Haftbefehl gab – oder falls eine Verhaftung (in diesem Fall wegen unbefugten Betretens) Zeitverschwendung wäre. Von der Amerikanischen Union für Bürgerrechte wurde diese Praxis als Amtsmissbrauch und Polizeibelästigung angeprangert – daher der Spitzname.
»Ja, ich hab ein paar auf’m Revier.«
»Gut. Wir würden sie uns gern ansehen, wenn du sie ausgraben kannst. Könntest du auch einige der Gebietsstreifen fragen, ob sie den Rolls hier in den letzten Tagen bemerkt haben?«
»Soll ich mich an dieser Stelle dafür bedanken, dass ich bei diesem immens wichtigen Fall mitarbeiten darf, und betteln, dass du beim Oberschnüffler ein gutes Wort für mich einlegst?«
Bosch starrte ihn ein paar Augenblicke an, bevor er antwortete.
»Nein, an dieser Stelle sag ich dir, dass du die Karten bis neun Uhr vorlegen kannst, oder ich werde mich an deinen Chef wenden. Um die Gebietsstreifen brauchst du dich nicht zu kümmern. Das machen wir selbst. Schließlich wollen wir nicht dafür verantwortlich sein, dass du zwei Essenspausen hintereinander verpasst.«
Bosch machte sich wieder auf den Weg zum Tatort. Er ging langsam und überprüfte die andere Seite. Zweimal musste er die Schotterstraße verlassen und in die Büsche treten, um den LKW der Polizeigarage und dann den Wagen der Spurensicherung durchzulassen.
Als er die Lichtung erreichte, ohne etwas entdeckt zu haben, war er sicher, dass das Opfer im Kofferraum getötet worden war, während der Rolls auf der Lichtung stand. Er sah Art Donovan, den kriminalwissenschaftlichen Techniker, und den Fotografen Roland Quatro, die als Team arbeiteten. Sie begannen gerade mit ihrer Arbeit. Bosch begab sich zu Rider.
»Irgendwas?«, fragte sie.
»Nein, du?«
»Nichts. Ich glaube, der Rolls ist mit unserem Typ im Kofferraum hier angekommen. Der Täter steigt aus, öffnet die Klappe und drückt zweimal ab. Dann schließt er den Kofferraum und geht. Jemand holt ihn oben am Mulholland Drive ab. Hier gibt’s nichts mehr zu finden.«
Bosch nickte.
»Ihn?«
»Statistische Wahrscheinlichkeit.«
Bosch ging hinüber zu Donovan, der die Brieftasche und den Flugschein in Plastiktüten für Beweisgegenstände verpackte.
»Art, wir haben ein Problem.«
»Was du nicht sagst. Ich dachte mir, ich kann ein paar Abdeckplanen über Scheinwerferstative hängen. Aber ich glaube nicht, dass wir allen dort unten die Sicht versperren können. Sie werden ihre Show bekommen. Wahrscheinlich entschädigt sie das für das abgesagte Feuerwerk. Falls du nicht bis nach dem Konzert warten willst.«
»Nee, wenn wir das machen, reißen uns die Verteidiger vor Gericht den Arsch auf. Die haben alle den O.J.-Simpson-Fall auf der Uni studiert. Das ist dir doch auch klar, Art.«
»Also, was machen wir dann?«
»Tu, was du hier tun musst, aber mit Tempo, und dann verfrachten wir die ganze Chose zum Fingerabdrucksschuppen. Weißt du, ob jemand im Moment drin ist?«
»Nein, sollte frei sein«, sagte Donovan langsam. »Meinst du etwa alles? Auch die Leiche?«
Bosch nickte.
»Außerdem kannst du im Schuppen besser arbeiten, nicht wahr?«
»Absolut. Aber was ist mit der Gerichtsmedizin? Bei so was müssen die ihre Zustimmung geben, Harry.«
»Ich kümmer mich drum. Bevor wir den Wagen auf den LKW laden, mach ein paar Fotos und Videoaufnahmen, falls Sachen beim Transport verschoben werden. Und leg eine Karte mit seinen Fingerabdrücken an und gib sie mir.«
»Wird gemacht.«
Während Donovan zu Quatro ging, um ihm den Plan zu erklären, beriet sich Bosch mit Edgar und Rider.
»Okay, wir bleiben dran. Falls ihr Pläne für heute Abend hattet, ruft an. Es wird sich hinziehen. Wir teilen uns die Arbeit folgendermaßen auf.«
Er deutete auf die Häuser am Hügelkamm.
»Kiz, du gehst als Erstes da oben hin und drückst Klingeln. Du weißt, was zu machen ist. Frag, ob jemand den Rolls gesehen hat oder weiß, wie lang er hier gestanden hat. Vielleicht hat jemand die Schüsse gehört. Das Echo reicht vielleicht bis dorthin. Wir wollen die Tatzeit bestimmen können. Ich werde danach – hast du ein Telefon?«
»Nein. Ich habe ein Funkgerät im Wagen.«
»Nein, ich will nichts über Funk rauslassen.«
»Ich kann in einem der Häuser da oben telefonieren.«
»Okay, ruf mich an, wenn du fertig bist, oder du hörst von mir über den Piepser, falls ich vorher fertig bin. Je nachdem wie’s läuft, verständigt einer von uns die Angehörigen oder sein Büro.«
Sie nickte. Bosch wandte sich an Edgar.
»Jerry, du fährst zum Revier und arbeitest dort. Du erledigst den Papierkram.«
»Sie ist der Neuanfänger.«
»Dann komm nächstes Mal nicht im T-Shirt zum Tatort. So kannst du nicht bei Leuten klingeln.«
»Ich hab ein Hemd im Wagen. Ich zieh mich um.«
»Nächstes Mal. Du machst den Papierkram. Bevor du damit anfängst, sieh nach, ob du etwas über ihn in den Akten finden kannst. Sein Führerschein wurde letztes Jahr ausgestellt, also haben sie seinen Daumenabdruck beim Führerscheinamt. Versuch möglichst rasch einen Techniker zu finden, der die Karte, die Art gerade macht, damit vergleichen kann. Ich will seine Identität so schnell wie möglich bestätigt haben.«
»In der Abteilung wird niemand mehr da sein. Art hat Bereitschaft. Er sollte es erledigen.«
»Art wird noch eine Weile zu tun haben. Versuch jemanden zu Hause aufzuscheuchen. Wir brauchen die Identifizierung.«
»Ich versuch’s, aber ich kann nichts ver…«
»Gut. Als Nächstes ruf jeden Cop an, der hier in diesem Gebiet Streife fährt, und frag, ob jemand den Rolls gesehen hat. Powers – der Cop, der oben an der Straße steht – wird uns FB-Karten von Typen geben, die sich hier herumtreiben. Ich möchte, dass du ihnen allen einen Besuch abstattest. Danach kannst du mit den Berichten beginnen.«
»Mit dem ganzen Scheiß hab ich ziemlich viel Glück, wenn ich vor Ende nächster Woche mit dem Tippen anfangen kann.«
Bosch ignorierte sein Jammern und teilte seinen Partnern mit, was er tun würde.
»Ich bleibe bei der Leiche. Falls sich das Ganze hinzieht, Kiz, siehst du dir die Büroadresse an und ich verständige die Angehörigen. Okay, weiß jeder Bescheid?«
Rider und Edgar nickten. Bosch merkte, dass Edgar immer noch verärgert war.
»Kiz, du kannst dich jetzt auf den Weg machen.«
Sie ging, und Bosch wartete, bis sie außer Hörweite war.
»Okay, Jerry, wo drückt der Schuh?«
»Ich will nur wissen, ob so unsere Teamarbeit aussehen wird. Werd ich die Drecksarbeit machen müssen, während die Prinzessin auf den Ball geht?«
»Nein, Jerry, so wird’s nicht laufen. Ich glaube, du kennst mich besser. Also, was ist wirklich das Problem im Moment?«
»Mir gefällt deine Entscheidung nicht, Harry. Wir hätten schon längst die Organisierte Kriminalität verständigen sollen. Wenn irgendein Fall nach OK riecht, dann dieser. Meines Erachtens solltest du sie anrufen. Aber ich glaube, du bist gerade erst zurückversetzt worden und hast lange auf einen Mordfall gewartet. Und deshalb rufst du sie nicht an.«
Edgar breitete seine Hände aus, um auszudrücken, wie offensichtlich es war.
»Weißt du, Harry, du musst hier nichts beweisen. Und an Leichen wird es uns nie mangeln. Oder hast du vergessen, dass wir in Hollywood sind? Wir sollten den Fall weiterreichen und auf den nächsten warten.«
Bosch nickte.
»Vielleicht hast du recht«, sagte er. »Wahrscheinlich sogar – und in jeder Hinsicht. Aber ich bin die Drei. Also tun wir, was ich will. Ich werde Bullets anrufen und ihr sagen, was wir haben. Danach werde ich OK anrufen. Aber selbst wenn sie anmarschieren, werden wir an der Fahndung beteiligt sein. Das weißt du. Also lass uns saubere Arbeit leisten. Okay?«
Edgar nickte widerwillig.
»Hör zu«, sagte Bosch, »ich werde deinen Einwand in den Akten vermerken. Okay?«
»Alles klar.«
Bosch sah den blauen Lieferwagen der Gerichtsmedizin auf die Lichtung rollen. Am Steuer saß Richard Matthews. Das würde die Sache leichter machen. Matthews war nicht so pedantisch wie die anderen MTAs, und Bosch glaubte, er würde seine Zustimmung bekommen können, den Rolls nebst Inhalt zum Fingerabdruckschuppen zu bringen. Matthews würde begreifen, dass es die einzige Möglichkeit war.
»Halt mich auf dem Laufenden«, rief Bosch Edgar nach.
Edgar winkte missmutig, ohne sich umzudrehen.
Für ein paar Augenblicke stand Bosch allein inmitten der Aktivitäten am Tatort. Er merkte, wie er sich geradezu in seiner Rolle sonnte. Am Anfang eines Falles war er wie elektrisiert. Es wurde ihm klar, wie sehr er dieses Gefühl während der letzten anderthalb Jahre vermisst hatte.
Schließlich schlug er sich diese Gedanken aus dem Kopf und ging zum Wagen der Gerichtsmedizin, um mit Matthews zu reden. Von der Bowl brandete Applaus auf, Scheherazade hatte geendet.
Der Fingerabdruckschuppen war eine Nissenhütte vom Zweiten Weltkrieg, die auf dem städtischen Fuhrparkgelände hinter dem Polizeipräsidium Parker Center stand. Sie hatte keine Fenster, aber ein doppeltes Garagentor. Von innen war sie schwarz angestrichen und jede Ritze, durch die Licht hätte eindringen können, war überklebt. Schwere schwarze Vorhänge konnten von innen vor das Garagentor gezogen werden. Wenn sie geschlossen waren, war es hier so dunkel wie im Herzen eines Kredithais. Die Techniker, die hier arbeiteten, nannten den Schuppen ›die Höhle‹.
Während der Rolls vom LKW geladen wurde, ging Bosch mit seiner Aktentasche zu einer Werkbank und holte sein Telefon heraus.
Die Abteilung für Organisierte Kriminalität war eine Geheimgesellschaft innerhalb der Polizei. Bosch wusste sehr wenig über OK und kannte nur ein paar der Detectives. OK hatte die Aura des Mysteriösen, selbst für Polizisten. Kaum jemand wusste, was sie taten. Vermutungen und Neid waren das Resultat.
Die meisten OK-Detectives waren bei den anderen Detectives als Aasgeier verschrien. Sie jagten anderen Detectives Fälle ab, brachten jedoch selten Verbrechen zur Anklage. Bosch wusste, wie viele Fälle sie sich unter den Nagel rissen und wie wenige Mafia-Typen angeklagt wurden. OK war die einzige Polizeiabteilung mit einem ›schwarzen‹ Etat – einem Haushalt, der hinter verschlossenen Türen vom Police Chief und der Police Commission beschlossen wurde. Das Geld wurde für Spitzel, Fahndungen und High-Tech-Instrumente ausgegeben und verschwand in einem schwarzen Loch, in dem auch die meisten Fälle landeten.
Bosch ließ sich von der Telefonzentrale mit dem Detective verbinden, der an diesem Wochenende als OK-Leiter Bereitschaft hatte. Während er wartete, dachte er an die Leiche im Kofferraum.
Anthony Aliso – falls dies sein Name war – hatte gewusst, was ihm bevorstand, und hatte die Augen geschlossen. Bosch hoffte, dass er nie in die Lage kommen würde. Er wollte seinen Tod nicht kommen sehen.
»Hallo«, sagte eine Stimme.
»Ja, hier Harry Bosch. Ich bin der D-Drei bei einer Mordfahndung in Hollywood. Mit wem spreche ich?«
»Dom Carbone. Ich hab Bereitschaft. Hast du vor, mir das Wochenende zu verderben?«
»Vielleicht«, Bosch versuchte nachzudenken. Der Name kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er wusste nicht woher. Er war sich sicher, sie hatten nie zusammengearbeitet. »Deswegen rufe ich an. Vielleicht willst du dir die Sache ansehen.«
»Schieß los.«
»Okay. Leiche, weiß, männlich, im Kofferraum seines Silver Clouds gefunden. Zwei im Hinterkopf. Wahrscheinlich zweiundzwanziger.«
»Was noch?«
»Wagen stand auf einem Forstweg für die Feuerwehr, unterhalb vom Mulholland Drive. Sieht nicht nach Raub aus – zumindest was persönliches Eigentum angeht. In der Brieftasche waren noch Bargeld und Kreditkarten. Und am Handgelenk hatte er noch eine diamantenbesetzte Rolex.«
»Du hast mir noch nicht gesagt, wer die Leiche ist.«
»Wir konnten es noch nicht bestätigen, aber …«
»Gib mir den Namen.«
Es störte Bosch, dass er kein Gesicht mit der Stimme am Telefon verbinden konnte.
»Wahrscheinlich Anthony N. Alison, achtundvierzig Jahre alt. Wohnt oben in den Hollywood Hills. Scheint, er hat eine Firma mit einem Büro bei einem der Studios unten auf der Melrose Avenue – in der Nähe von Paramount. TNA Productions heißt die Bude. Ich glaube, es ist auf dem Gelände der Archway Studios. Wir werden bald mehr wissen.«
Die Reaktion war Schweigen.
»Irgendwie bekannt?«
»Anthony Aliso.«
»Ja, richtig.«
»Anthony Aliso.«
Carbone wiederholte den Namen langsam, als wäre es ein kostbarer Wein, bevor er entscheiden würde, ob er die Flasche akzeptieren oder zurückschicken würde. Dann schwieg er lange.
»Im Moment fällt mir nichts dazu ein, Bosch«, sagte er schließlich. »Ich kann ein paar Anrufe machen. Wo wirst du sein?«
»In der Fingerabdruckhalle. Er ist hier, und ich werde hier eine Weile beschäftigt sein.«
»Was soll das heißen? Du hast die Leiche im Schuppen?«
»Das ist ’ne lange Geschichte. Wann wirst du zurückrufen können?«
»Sobald ich meine Anrufe erledigt habe. Warst du schon in seinem Büro?«
»Noch nicht. Wir werden irgendwann heute Abend hinfahren.«
Bosch gab ihm die Nummer seines Handys, klappte es zu und steckte es in die Jackentasche. Einen Moment lang dachte er über Carbones Reaktion auf Alisos Namen nach. Er kam zu dem Ergebnis, dass man nichts daraus schließen konnte.
Nachdem der Rolls im Schuppen stand und das Tor geschlossen war, zog Donovan die Vorhänge zu. Er ließ die Leuchtstoffröhren an der Decke an, während er seine Geräte bereitstellte.
Matthews, der MTA von der Gerichtsmedizin, und seine zwei Assistenten, die Leichenschlepper, waren über einen Koffer auf der Werkbank gebeugt und entnahmen ihm Instrumente, die sie benötigen würden.
»Harry, ich werde in aller Ruhe vorgehen, okay? Mit dem Laser werde ich den Kofferraum mit der Leiche untersuchen. Dann holen wir sie heraus. Danach nehmen wir ein Fixiermittel und gehen noch mal mit dem Laser drüber. Hinterher kümmern wir uns um den Rest.«
»Es ist dein Job. Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
»Du musst mir mit dem Leuchtstab helfen, wenn ich fotografiere. Roland musste zu einem anderen Tatort.«
Bosch nickte und schaute zu, wie Donovan einen orangefarbenen Filter auf seine Nikon-Kamera schraubte. Er zog sich den Riemen der Kamera über den Kopf und schaltete den Laser an. Das Gerät hatte die Ausmaße eines Videorekorders und hatte ein Kabel, an dem ein dreißig Zentimeter langer Stab mit Griff hing. Das Ende des Stabs strahlte einen intensiven orangefarbenen Lichtstrahl aus.
Donovan öffnete einen Spind, nahm ein paar orange getönter Schutzbrillen heraus, und verteilte sie an Bosch und die anderen. Die letzte Brille setzte er sich selbst auf. Bosch gab er außerdem ein Paar Latexhandschuhe.
»Ich untersuch mal schnell die Außenseite des Kofferraums und öffne ihn dann«, sagte Donovan.
Donovan wollte gerade die Deckenbeleuchtung ausschalten, als das Telefon in Boschs Tasche summte. Er wartete, während Bosch sich meldete. Es war Carbone.
»Bosch, wir passen.«
Einen Moment lang sagten weder Bosch noch Carbone etwas. Donovan drückte auf den Lichtschalter, und der Raum war schlagartig dunkel.
»Das heißt, ihr habt nichts über ihn in den Akten«, sagte Bosch schließlich in der Dunkelheit.
»Ich hab mich umgehört und ein paar Anrufe gemacht. Niemand scheint den Typ zu kennen. Niemand untersucht ihn … Sauber, so viel wir wissen … Man hat ihn in den Kofferraum seines Wagens gesteckt und zweimal abgeknallt – so war es doch? – Bosch, bist du noch da?«
»Ich bin noch hier. Ja, zwei Schüsse im Kofferraum.«
»Musiktruhe.«
»Was?«
»Mafia-Ausdruck aus Chicago. Wenn sie so ein armes Schwein umlegen, sagen sie: ›Ach, Tony? Mach dir keine Sorgen um Tony. Der steckt jetzt in der Musiktruhe. Den wirst du nicht mehr sehen.‹ Das Problem ist, es passt nicht zusammen, Bosch. Wir kennen den Typ nicht. Leute, mit denen ich gesprochen habe, glauben, dass jemand beabsichtigt hat, dass es nach Mafia aussieht. Verstehst du, was ich meine?«
Bosch beobachtete, wie der Laserstrahl die schwarze Dunkelheit durchbohrte und das Ende des Kofferraums mit gleißendem Licht bombardierte. Die Schutzbrille filterte das Orange heraus, sodass das Licht intensiv weiß strahlte. Bosch stand drei Meter vom Rolls entfernt, aber er konnte leuchtende Muster auf der Kofferraumklappe und der Stoßstange erkennen. Sie erinnerten ihn jedes Mal an die Naturfilme, in denen Unterwasserkameras in den dunklen Tiefen des Ozeans ihre Scheinwerfer auf versunkene Schiffe oder Flugzeuge richteten. Eine unheimliche Atmosphäre.
»Was ist, Carbone«, sagte er, »du hast noch nicht mal Lust herzukommen und dir’s anzusehen?«
»Im Moment nicht. Aber ruf mich an, falls du etwas entdeckst, was meine Einschätzung widerlegt. Morgen werde ich weitere Erkundigungen einziehen. Ich hab deine Nummer.«
Insgeheim freute sich Bosch, dass OK ihm nicht den Fall abnehmen würde. Aber er wunderte sich, so abgewimmelt zu werden. Die Schnelligkeit mit der Carbone die Sache abgetan hatte, war ungewöhnlich.
»Gibt es noch irgendwelche Details, Bosch?«
»Wir fangen gerade erst an. Aber sag mal, hast du schon mal von einem Killer gehört, der die Schuhe des Opfers mitnimmt? Er hat auch der Leiche die Fesseln abgenommen.«
»Nimmt Schuhe mit … bindet ihn los. Hm, nicht aus dem Stegreif. Keine bestimmte Person. Aber wie ich schon sagte, ich werde mich morgen umhören und es in unsere Datenbank eingeben. Sonst noch nette Einzelheiten?«
Bosch gefiel es nicht, wie das Gespräch verlief. Carbone schien interessierter zu sein, als er zugab. Er behauptete Aliso hätte nichts mit der Mafia zu tun, wollte aber trotzdem Details wissen. Um zu helfen, oder steckte mehr dahinter?
»Das ist so ziemlich alles, was wir im Moment haben«, sagte Bosch. Ohne Gegenleistung würde er nichts mehr herauslassen. »Wie ich schon sagte, wir fangen gerade erst an.«
»Okay, gib mir den Vormittag. Ich werde mich umhören und dich anrufen, falls ich auf etwas stoße. Okay?«
»Klar.«
»Bis später. Allerdings glaub ich, dein Typ hat die Frau von jemandem gevögelt. Viele Morde sehen aus wie Profiarbeit, sind’s aber nicht. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, ich versteh. Bis später.«
Bosch ging zum Heck des Rolls. Aus der Nähe erkannte er, dass die geschweiften Muster, die er im Laserlicht gesehen hatte, wahrscheinlich Wischspuren waren. Anscheinend war das ganze Auto mit einem Tuch sauber gewischt worden.
Aber als Donovan den Leuchtstab über die Stoßstange bewegte, machte der Laserstrahl den Teilabdruck eines Schuhs sichtbar.
»Hat jemand …«
»Nein«, sagte Bosch. »Niemand hat seinen Fuß darauf gesetzt.«
»Okay, dann richte mal den Stab auf den Abdruck.«
Bosch hielt den Stab. Donovan beugte sich vor und machte sicherheitshalber mehrere Aufnahmen mit wechselnder Belichtung, um wenigstens ein gutes Foto zu haben. Es war die vordere Fußhälfte. Am Fußballen befand sich ein kreisförmiges Muster, von dem Linien ausstrahlten. Durch den Spann verliefen Querlinien. Danach endete der Abdruck an der Kante der Stoßstange.
»Tennisschuh«, sagte Donovan. »Vielleicht ein Arbeitsschuh.«
Nachdem er ihn fotografiert hatte, bewegte er den Stab wieder um den Kofferraum. Außer Wischspuren war nichts zu sehen.
»Okay«, sagte Donovan. »Öffne ihn.«
Mit einer Taschenlampe fand Bosch zur Fahrertür und beugte sich hinein, um den Hebel zu betätigen. Im nächsten Moment war der Schuppen von Totengeruch erfüllt.
Es schien Bosch, dass die Leiche ihre Lage durch den Transport nicht verändert hatte. Unter dem grellen Laserstrahl sah das Opfer wie die Schreckensfigur einer Geisterbahn aus. Das Gesicht hatte das Aussehen eines Totenkopfes, das Blut schien schwärzer, und die Schädelsplitter an den Wunden leuchteten im Kontrast hell auf.
Auf der Kleidung glühten einzelne Haare und kurze Fasern. Mit einer Pinzette sammelte Bosch die potenziellen Beweisstücke ein und deponierte sie in einer Plastikröhre, wie man sie zur Aufbewahrung von silbernen Halbdollarstücken verwendete. Es war nicht viel vorhanden, und er musste sorgfältig vorgehen. Ihm war klar, dass man solches Material bei jedem finden konnte. Es flog überall herum.
Als er fertig war, sagte er zu Donovan: »Ich habe seine Jacke am Gesäß nach oben geschlagen, um nach der Brieftasche zu sehen.«
»Okay, zieh sie wieder runter.«
Nachdem Bosch es getan hatte, sah man auf Alisos Hüfte einen weiteren Fußabdruck. Er stimmte mit dem Abdruck auf der Stoßstange überein, war jedoch vollständiger. Am Hacken befand sich ebenfalls ein sonnenförmiges Muster. Unten am Spann schien ein Markenname zu stehen, der jedoch nicht lesbar war.
Bosch wusste, es war eine wichtige Entdeckung, egal ob sie den Schuh identifizieren würden oder nicht. Es bedeutete, dass der Killer einen Fehler gemacht hatte. Mindestens einen. Und damit verband sich die Hoffnung, dass es weitere Fehler gäbe, die sie schließlich zum Mörder führen würden.
»Nimm den Stab.«
Bosch hielt ihn und Donovan machte weitere Aufnahmen.
»Die Fotos sind für die Dokumentation. Aber wir werden die Jacke ausziehen, bevor die Leiche abtransportiert wird«, sagte Donovan.
Danach leuchtete er mit dem Stab auf die Innenseite der Kofferraumklappe. Unter dem Laserlicht leuchteten viele Fingerabdrücke auf – meistens vom Daumen – wo eine Hand die Klappe beim Ein- oder Ausladen aufhalten würde. Viele der Abdrücke überschnitten sich – ein Zeichen, dass sie alt waren. Bosch ahnte sofort, dass sie wahrscheinlich vom Opfer stammten.
»Ich fotografier sie, aber erwarte nicht viel«, sagte Donovan.
»Ist klar.«
Als er fertig war, legte Donovan den Stab und die Kamera auf das Lasergerät und sagte: »Was ist, holen wir die Leiche raus, legen sie hierhin und leuchten sie schnell ab, bevor sie verschwindet?«
Ohne auf eine Antwort zu warten, schaltete er wieder die Leuchtröhren an, und alle bedeckten die Augen mit ihren Händen, weil das grelle Licht sie blendete. Ein paar Momente später gingen Matthews und die Leichenschlepper zum Kofferraum und legten die Leiche auf eine schwarze Plastikhülle, die sie auf einer fahrbaren Bahre ausgebreitet hatten.
»Keine Leichenstarre«, sagte Matthews.
»Ja«, sagte Bosch. »Was schätzt du?«
»Zweiundvierzig bis achtundvierzig. Aber lass mich mal ein paar Tests machen und sehen, was Sache ist.«
Zunächst schaltete Donovan jedoch die Beleuchtung wieder aus und ging mit dem Laserstrahl über den Körper – mit dem Kopf beginnend. Die getrockneten Tränen in den Augenwinkeln glühten im Licht weiß auf. Auf dem Gesicht lagen ein paar Haare und Fasern, und Bosch sammelte sie pflichtgemäß ein. Auf dem rechten Wangenknochen war eine Hautabschürfung, die nicht sichtbar gewesen war, als der Körper auf der rechten Seite im Kofferraum gelegen hatte.
»Das kann von einem Schlag stammen oder davon, dass er in den Kofferraum gestoßen wurde«, sagte Donovan.
Als der Strahl über die Brust ging, schrie Donovan aufgeregt auf: »Sieh mal, was wir hier haben.«
Was im Laserlicht aufglühte, waren ein kompletter Handabdruck auf der rechten Schulter der Lederjacke und zwei verwischte Daumenabdrücke an den Revers. Donovan beugte sich näher herab, um zu schauen.
»Das Leder ist spezialbehandelt, es absorbiert nicht die Säuren der Fingerabdrücke. Das ist ein Glücksfall, Harry. Wenn der Typ etwas anderes tragen würde, hätten wir nichts. Die Hand ist vorzüglich. Die Daumenabdrücke sind nicht so gut … Mit Fixiermittel können wir sie deutlicher hervorheben. Harry, schlag eins der Revers um.«
Bosch griff nach dem linken Revers und wendete es vorsichtig. Auf der Rückseite befanden sich vier Fingerabdrücke. Er schlug das rechte Revers um und entdeckte vier weitere. Anscheinend hatte jemand Tony Aliso am Jackenaufschlag gepackt.
Donovan pfiff.
»Sieht aus, als wären es zwei verschiedene Leute. Sieh dir die Daumen an den Revers an und dann die Hand auf der Schulter. Ich würde sagen, die Hand ist kleiner, Harry. Vielleicht von einer Frau. Ich bin mir nicht sicher. Aber die Hände, die den Typ am Revers packten, sind groß.«
Donovan nahm eine Schere aus einem nahen Werkzeugkasten und schnitt dann die Jacke sorgfältig vom Körper. Bosch hielt sie, während Donovan sie mit dem Leuchtstab untersuchte. Außer dem Schuhabdruck und den Fingerabdrücken war nichts Neues zu sehen. Bosch hängte die Jacke sorgfältig über einen Stuhl an der Werkbank und kehrte dann zur Leiche zurück. Donovan ging mit dem Laser noch über die Beine.
»Was noch?«, sagte Donovan. Außer vielleicht der Leiche war niemand angesprochen. »Was ist, erzähl uns deine Story.«
Auf der Hose befanden sich Fasern und ein paar alte Flecken. Nichts was ihre Aufmerksamkeit erregen würde, bis sie zu den Aufschlägen kamen. Bosch krempelte den Umschlag am rechten Bein um. In der Falte hatten sich viele Flusen und Staub gesammelt – und fünf kleine Partikel Goldglitzerstaub, die im Laserstrahl aufleuchteten. Mit der Pinzette beförderte sie Bosch sorgfältig in ein separates Röhrchen. Vom linken Aufschlag entfernte er zwei ähnliche Stückchen.
»Was ist das?«, fragte er.
»Bin ich überfragt. Glitzerstaub oder so was.«
Donovan fuhr mit dem Stab über die nackten Füße. Sie waren sauber, was darauf hinzuweisen schien, dass dem Opfer die Schuhe ausgezogen worden waren, nachdem man ihn in den Kofferraum des Rolls gezwängt hatte.
»Okay, das wär’s«, sagte Donovan.
Das Licht ging an, und Matthews machte sich an die Arbeit mit der Leiche. Er bewegte Glieder in den Gelenken, öffnete das Hemd, um den Grad der Leichenblässe zu überprüfen, öffnete die Augen und bewegte den Kopf seitwärts. Donovan ging auf und ab, darauf wartend, dass der MTA seine Arbeit beenden würde und er mit seiner Lasershow fortfahren könnte. Er kam zu Bosch herüber.
»Harry, willst du meine wissenschaftlich intuitive Fachidiotenmeinung hören.«
»Intuitive Fachidiotenmeinung?«, sagte Bosch amüsiert. »Schieß los.«
»Ich glaube, jemand überwältigt unseren Freund hier, fesselt ihn, schmeißt ihn in den Kofferraum und fährt zu der Forststraße. Der Typ lebt immer noch, okay? Der Killer steigt aus, öffnet den Kofferraum, stellt den Fuß auf die Stoßstange und ist bereit. Aber er kann nicht weit genug hineinreichen, um den Lauf auf den Schädel zu setzen, verstehst du? Das war ihm wichtig. Gute Arbeit zu leisten. Also tritt er unserem Freund mit seinem großen Fuß auf die Hüfte, lehnt sich weiter hinein und – bumm, bumm – bläst ihm die Lichter aus. Was hältst du davon?«
Bosch nickte.
»Ich glaube, du bist auf der richtigen Spur.«
Er hatte eine ähnliche Theorie entwickelt, hatte aber schon weiter gedacht und war auf ein Problem gestoßen.
»Wie ist er dann zurückgekommen?«
»Wohin zurück?«
»Wenn Tony die ganze Zeit im Kofferraum war, hat der Killer den Rolls gefahren. Wenn er also den Rolls gefahren hat, wie ist er dann zurück an den Ort, wo er Tony überwältigt hat?«
»Es gibt die andere Person«, sagte Donovan. »Wir haben zwei verschiedene Abdrücke auf der Jacke. Jemand hätte dem Rolls folgen können. Die Frau, die dem Opfer die Hand auf die Schulter gelegt hat.«
Bosch nickte. Er hatte sich das schon durch den Kopf gehen lassen, aber etwas gefiel ihm nicht an Donovans Version. Er war sich nur nicht sicher, was.
»Okay, Bosch«, unterbrach Matthews sie. »Willst du’s jetzt hören oder auf den Bericht warten?«
»Jetzt«, sagte Bosch.
»Gut, hör zu. Keine Veränderungen oder Unterschiede bei der Leichenblässe. Der Körper wurde nicht mehr bewegt, nachdem das Herz aufhörte zu schlagen.« Er schaute auf sein Klemmbrett. »Was noch? Leichenstarre – zu neunzig Prozent gelöst. Hornhauttrübung … und die Haut ist nicht mehr so straff. Wenn man das alles zusammennimmt, kommt man auf achtundvierzig Stunden. Vielleicht ein paar Stunden weniger. Falls du ein paar Markierungspunkte findest, ruf uns an. Eventuell können wir es genauer bestimmen.«
»Wird gemacht«, sagte Bosch.
Mit Markierungspunkten meinte Matthews Informationen über den letzten Tag des Opfers. Was und wann er das letzte Mal gegessen hatte. Der Medical Examiner könnte den Todeszeitpunkt besser bestimmen, indem er die Nahrungsverdauung im Magen untersuchen würde.
»Er gehört dir«, sagte Bosch zu Matthews. »Wann werdet ihr ihn aufschneiden?«
»Du kommst am Ende eines langen Wochenendes.