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Harry Bosch steckt in Schwierigkeiten. Er hat sich an seinem Vorgesetzten vergriffen und ist bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert. Die ihm auferlegte Psychotherapie hält er für Schwachsinn und wehrt sich zunächst dagegen. Doch dann muss er sich eingestehen, dass ihn schon lange etwas quält: der dreißig Jahre zurückliegende Mord an der Prostituierten Marjorie Lowe – seiner Mutter. Es wird Zeit, dass Bosch sich mit dieser traumatischen Erfahrung auseinandersetzt, endlich den Mörder seiner Mutter findet und ihn seiner gerechten Strafe zuführt. Und so lernen wir den brillanten Detective Harry Bosch in seinem vierten Fall von seiner privatesten Seite kennen.
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Seitenzahl: 567
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Michael Connelly
Der letzte Coyote
Der vierte Fall für Harry Bosch
Aus dem amerikanischen Englisch von Norbert Puszkar
Kampa
»Worüber möchten Sie zuerst sprechen?«
»Worüber ich sprechen möchte?«
»Ja. Wollen Sie mit dem Vorfall anfangen?«
»Mit dem Vorfall? Nun, natürlich hab ich mir so meine Gedanken darüber gemacht.«
Sie wartete, aber er sprach nicht weiter. Noch bevor er in Chinatown angekommen war, hatte er einen Entschluss gefasst. Er würde sie zwingen, ihm jedes Wort einzeln aus der Nase zu ziehen.
»Könnten Sie mir sagen, was Sie denken, Detective Bosch?«, fragte sie endlich. »Das ist der Zweck der …«
»Ich denke, dass das Ganze eine Scheißfarce ist – reines Theater. Aber das scheint ja der Zweck der Übung zu sein. Mehr hab ich nicht zu sagen.«
»Halt, warten Sie. Was meinen Sie mit Theater?«
»Ich gebe zu, dass ich den Typ gestoßen habe. Wahrscheinlich habe ich ihm auch eine verpasst. Was genau passiert ist, weiß ich nicht mehr. Aber ich streite nichts ab. Also gut, man kann mich suspendieren, versetzen oder es vor den Disziplinarausschuss bringen – was weiß ich. Aber dieses Verfahren ist eine Scheißfarce. Die Zwangsbeurlaubung ist eine Scheißfarce. Warum muss ich dreimal die Woche hierherkommen, als ob ich ein … Sie kennen mich nicht einmal! Warum muss ich mit Ihnen reden? Warum müssen Sie Ihre Zustimmung geben?«
»Nun, Sie haben gerade selbst die formale Begründung dafür gegeben. Die Polizeibehörde hat sich gegen Disziplinarmaßnahmen und für Therapie entschieden. Sie sind wegen Stress zwangsbeurlaubt worden, was bedeutet …«
»Ich weiß, was es bedeutet. Und deshalb ist es reines Theater. Jemand entscheidet arbiträr, dass ich total gestresst bin. Und das gibt meinen Vorgesetzten das Recht, mich für unbefristete Zeit zu suspendieren – oder wenigstens so lange, bis ich für Sie brav Männchen mache.«
»An dieser Entscheidung ist nichts arbiträr. Sie gründet sich auf Ihr Verhalten, welches meiner Ansicht nach klar zeigt …«
»Was passiert ist, hatte nichts mit Stress zu tun. Es hatte mit … ach egal. Wie gesagt, wir spielen hier Theater. Also warum kommen wir nicht ohne weitere Umschweife auf den springenden Punkt? Was muss ich tun, um wieder arbeiten zu können?«
Er konnte sehen, wie Zorn in ihren Augen aufleuchtete. Seine totale Ablehnung ihres Berufs und ihrer Fähigkeiten traf sie in ihrem Stolz. Sogleich jedoch verlosch ihr Zorn wieder. Sie hatte ständig mit Polizisten zu tun und war vermutlich dergleichen gewohnt.
»Können Sie nicht einsehen, dass es um Ihr Wohl geht? Ich gehe davon aus, dass die Polizeiführung Sie eindeutig als wertvolle Kraft ansieht. Andernfalls wären Sie nicht hier. Man hätte ein Disziplinarverfahren einleiten und Sie zum Abschuss freigeben können. Stattdessen tut man alles Mögliche, um Ihre Karriere zu retten sowie deren Funktionswert für die Polizei zu erhalten.«
»Wertvolle Kraft? Ich bin Polizist und keine Wertanlage. Wenn ich draußen auf der Straße bin, denkt niemand an meinen Funktionswert. Was soll das überhaupt bedeuten? Muss ich mir so ein hochgestochenes Zeug hier anhören?«
Sie räusperte sich und begann dann in energischem Ton:
»Sie haben ein Problem, Detective Bosch. Und es beschränkt sich nicht allein auf den Vorfall, der zu Ihrer Beurlaubung führte. Darum geht es in diesen Sitzungen. Kapieren Sie das? Es handelt sich nicht um einen einmaligen Vorfall. Sie hatten schon vorher Probleme. Was ich zu tun versuche, was ich zu tun habe, bevor ich meine Zustimmung gebe, dass Sie Ihren Dienst in irgendeiner Funktion wieder aufnehmen können, ist, Sie zur Selbsterkenntnis zu führen. Was tun Sie? Was macht das Wesen Ihrer Persönlichkeit aus? Warum passieren Ihnen solche Sachen? Ich möchte, dass diese Sitzungen ein offener Dialog sind, bei dem ich ein paar Fragen stelle und Sie Ihre Meinung frei äußern. Aber mit einem Ziel. Und zwar nicht, mich und meinen Beruf oder die Polizeiführung anzugreifen, sondern über Sie zu sprechen. Hier drinnen geht es um Sie, um niemand sonst.«
Harry Bosch sah sie nur schweigend an. Er sehnte sich nach einer Zigarette, aber er würde sie nie fragen, ob er rauchen könne. Ihr gegenüber würde er nie zugeben, dass er rauchte. Wenn er es täte, würde sie eventuell anfangen, über Oralfixierung oder Nikotinkrücken zu reden. Stattdessen atmete er tief ein und betrachtete die Frau auf der anderen Seite des Schreibtisches. Carmen Hinojos war eine kleine Frau mit einem freundlichen Gesicht und freundlichem Auftreten. Bosch wusste, dass sie keine üble Person war. Von anderen, die man hierhergeschickt hatte, hatte er sogar Gutes über sie gehört. Sie tat nur ihre Arbeit hier, und seine Wut richtete sich nicht direkt gegen sie. Ihm war klar, dass sie wahrscheinlich intelligent genug war, auch das zu wissen.
»Hören Sie, es tut mir leid«, sagte sie. »Ich hätte nicht mit so einer allgemeinen Frage beginnen sollen. Ich weiß, dass es für Sie ein emotionales Thema ist. Versuchen wir, noch einmal von vorne anzufangen. Übrigens können Sie rauchen, wenn Sie wollen.«
»Steht das auch in der Akte?«
»Nein, das steht nicht dort. Das ist auch nicht nötig. Man kann es Ihrer Hand ansehen – wie Sie sie zum Mund führen. Versuchen Sie aufzuhören?«
»Nein. Aber wir befinden uns hier in städtischen Räumlichkeiten. Sie kennen die Vorschriften.«
Es war eine lahme Entschuldigung. Er übertrat diese Verordnung tagtäglich in der Hollywood Devision.
»Diese Vorschrift gilt hier nicht. Ich möchte nicht, dass Sie das hier als Teil des Parker Centers oder der Stadtverwaltung ansehen. Das ist der Hauptgrund, warum diese Büros außerhalb liegen. Hier gibt es solche Vorschriften nicht.«
»Ganz egal, wo wir sind. Sie arbeiten trotzdem für die Polizei.«
»Versuchen Sie zu vergessen, dass Sie sich hier bei einer Polizeistelle befinden. Wenn Sie hier sind, versuchen Sie sich vorzustellen, dass Sie einen Freund besuchen. Um zu reden. Sie können hier alles sagen.«
Er wusste jedoch, dass er sie nicht als Freund betrachten könnte. Nie. Es stand zu viel auf dem Spiel. Gleichwohl nickte er, um ihr eine Freude zu machen.
»Das sieht nicht sehr überzeugend aus.«
Er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, dass er nicht mehr tun könne. Und das war die Wahrheit.
»Übrigens, wenn Sie wollen, kann ich Sie hypnotisieren, um Sie von Ihrer Nikotinsucht zu heilen.«
»Wenn ich aufhören wollte, könnte ich es auch. Man ist entweder Raucher oder nicht. Ich bin’s.«
»Nun, manchmal ist Rauchen das offensichtlichste Symptom einer selbstzerstörerischen Persönlichkeit.«
»Wie bitte? Bin ich beurlaubt, weil ich rauche? Geht es darum?«
»Ich glaube, Sie wissen, worum es geht.«
Er erinnerte sich an seine Entscheidung, so wenig wie möglich zu reden, und sagte nichts mehr.
»Also, fahren wir fort«, sagte sie. »Sie sind … Augenblick mal … Dienstag eine Woche beurlaubt?«
»Richtig.«
»Was haben Sie seitdem mit Ihrer Zeit angefangen?«
»Hauptsächlich habe ich FEMA-Formulare ausgefüllt.«
»FEMA?«
»Staatliche Katastrophenhilfe. Mein Haus steht auf der Abrissliste.«
»Das Erdbeben war doch vor drei Monaten. Warum haben Sie so lange gewartet?«
»Ich hatte zu tun. Ich habe gearbeitet.«
»Ich verstehe. Waren Sie versichert?«
»Sagen Sie nicht ›Ich verstehe‹. Sie sind überhaupt nicht in der Lage, Dinge so zu sehen wie ich. Die Antwort lautet Nein, ich war nicht versichert. Wie die meisten Leute habe ich die Realität verdrängt. Würde man es in Ihren Fachkreisen so nennen? Ich wette, Sie waren versichert.«
»Ja. Wie schwer wurde Ihr Haus beschädigt?«
»Kommt drauf an, wen Sie fragen. Die Bauaufsicht behauptet, es sei Totalschaden und ich dürfte nicht einmal hinein. Meiner Ansicht nach ist es okay. Ein paar Sachen müssen gemacht werden. Im Baumarkt kennen sie mich schon mit Namen. Für einige Arbeiten habe ich Handwerker angestellt. Bald ist alles fertig, und dann werde ich gegen den Abrissentscheid Einspruch einlegen. Ich habe einen Rechtsanwalt.«
»Sie leben immer noch da?«
Er nickte.
»Das ist nun wirklich Verdrängung, Detective Bosch. Meiner Ansicht nach sollten Sie das nicht tun.«
»Meiner Ansicht nach fällt es nicht in Ihren Verantwortungsbereich, was ich außerhalb meiner Arbeitszeit tue.«
Sie hob ihre Arme, als wolle sie sich nicht einmischen.
»Wenn ich es auch nicht gutheißen kann, so erfüllt es doch einen Zweck. Ich finde es gut, dass Sie eine Beschäftigung haben. Obwohl mir Sport, ein Hobby oder Reisepläne lieber wären. Ich glaube, es ist wichtig, dass Sie etwas tun, damit Sie nicht an den Vorfall denken.«
Bosch schnitt eine Grimasse.
»Was ist?«
»Ich weiß nicht. Alle nennen es den Vorfall. Irgendwie erinnert mich das daran, wie die Leute vom Vietnamkonflikt sprachen statt vom Krieg.«
»Wie würden Sie dann bezeichnen, was passiert ist?«
»Ich weiß nicht. Aber Vorfall … hört sich so … ich weiß nicht … antiseptisch an. Hören Sie zu, Doktor. Spulen wir noch mal zurück. Ich habe keine Lust zu verreisen, okay? Mein Job ist es, Morde aufzuklären. Das ist meine Arbeit. Und die möchte ich gern wieder aufnehmen. Schließlich könnte ich da Gutes tun.«
»Wenn die Polizeibehörde Sie lässt.«
»Wenn Sie mich lassen. Sie wissen, dass es von Ihnen abhängt.«
»Vielleicht. Merken Sie, dass Sie von Ihrer Arbeit sprechen, als wäre es eine Mission?«
»So ungefähr. Wie die Suche nach dem Heiligen Gral.«
Sein Ton war sarkastisch. Die Sitzung wurde allmählich unerträglich, und es war erst die erste.
»Stimmt das? Glauben Sie, Sie seien dazu berufen, Morde aufzuklären und schlechte Menschen hinter Gitter zu bringen?«
Er zuckte wieder mit den Schultern, um auszudrücken, dass er es nicht wisse. Er stand auf und ging zum Fenster und schaute auf die Hill Street hinunter. Auf den Bürgersteigen wimmelte es von Menschen. In der Menge von asiatischen Gesichtern entdeckte er ein paar weiße Frauen, die wie Rosinen im Reis hervorstachen. Sie gingen an einer chinesischen Metzgerei vorbei, in deren Fenster geräucherte Enten an den Hälsen aufgehakt waren.
Weiter oben auf der Straße sah er die Überführung des Hollywood Freeways, die dunklen Fenster des alten Sheriff-Gefängnisses und dahinter das Gebäude des Kriminalgerichts. Links davon konnte er den Turm des Rathauses sehen. Schwarze Plastikplanen hingen vor den obersten Etagen. Es sah aus wie eine Trauerbinde. Er wusste jedoch, dass die Planen verhindern sollten, dass während der Reparaturen an den Erdbebenschäden Schutt herunterfiel. Er schaute am Rathaus vorbei und konnte das Glashaus ausmachen: Parker Center, das Polizeipräsidium.
»Sagen Sie mir, was Ihre Mission ist«, sagte Hinojos mit ruhiger Stimme hinter ihm. »Ich möchte es gern in Ihren eigenen Worten hören.«
Er setzte sich wieder und suchte nach einer Möglichkeit, es zu erklären. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Ich kann nicht.«
»Ich möchte, dass Sie darüber nachdenken. Über Ihre Mission. Worin besteht sie eigentlich? Denken Sie darüber nach.«
»Was ist Ihre Mission, Doktor?«
»Das ist hier nicht von Interesse.«
»Das finde ich aber doch.«
»Hören Sie zu, Detective. Das ist die einzige persönliche Frage, die ich beantworten werde. In diesen Gesprächen geht es nicht um mich. Es geht um Sie. Meine Mission besteht darin, den Männern und Frauen bei der Polizei zu helfen. So sehe ich es. Auf diese Rolle konzentriere ich mich. Und indem ich das tue, helfe ich der Gesellschaft, den Menschen in dieser Stadt. Je besser die Polizisten in dieser Stadt sind, desto besser geht es uns allen. Desto sicherer sind wir. Okay?«
»Hört sich gut an. Wenn ich über meine Mission nachdenke, soll ich es dann auch in ein paar Sätzen zusammenfassen und einstudieren, bis es sich so anhört, als läse ich aus einem Lexikon vor?«
»Mr. … eh, Detective Bosch. Wenn Sie sich über alles lustig machen und sich ständig querstellen, kommen wir nicht weiter. Und das heißt, dass Sie in naher Zukunft nicht wieder arbeiten werden. Wollen Sie das?«
Er hob die Arme, wie um sich zu ergeben. Sie sah auf ihren gelben Block. Jetzt, da sie ihre Augen von ihm abgewandt hatte, konnte er sie betrachten. Carmen Hinojos hatte winzige Hände, die vor ihr auf dem Schreibtisch ruhten. An beiden Händen keine Ringe. In der rechten Hand hielt sie einen teuer aussehenden Kugelschreiber. Bosch hatte immer geglaubt, dass so etwas von Leuten benutzt wurde, die allzu sehr auf ihr Image achteten. Aber vielleicht irrte er sich bei ihr. Ihr dunkelbraunes Haar war hinten zusammengebunden, und sie trug eine Brille mit einem dünnen Schildpattgestell. Sie hätte als Kind eine Zahnklammer tragen sollen. Sie sah von ihrem Block auf, und ihre Blicke trafen sich.
»Mir wurde gesagt, dieser Vor… diese Auseinandersetzung fiel in die Zeit, in der eine Zweierbeziehung gelöst wurde.«
»Wer hat das gesagt?«
»Das steht in den Unterlagen zu Ihrer Person, die ich bekommen habe. Die Quellen sind nicht relevant.«
»Sie sind sehr wohl relevant, weil sie schlecht sind. Es hatte nichts mit dem zu tun, was passiert ist. Es ist schon fast drei Monate her, dass sie gelöst wurde.«
»Der Trennungsschmerz kann viel länger dauern. Mir ist bewusst, wie persönlich das ist und dass es eventuell schwierig für Sie ist. Aber ich glaube, wir sollten darüber reden. Und zwar, weil es mir hilft, Ihre Gefühlslage zum Zeitpunkt der Körperverletzung einzuschätzen. Ist das ein Problem für Sie?«
Bosch bedeutete mit der Hand, dass sie fortfahren sollte.
»Wie lang dauerte diese Beziehung?«
»Ungefähr ein Jahr.«
»Ehe?«
»Nein.«
»Kam das Thema zur Sprache?«
»Nein, eigentlich nicht. Nicht explizit.«
»Haben Sie zusammengelebt?«
»Manchmal. Wir haben aber beide unsere Häuser behalten.«
»Ist die Trennung endgültig?«
»Ich glaube.«
Indem er es zum ersten Mal aussprach, gestand Bosch sich ein, dass Sylvia Moore für immer aus seinem Leben verschwunden war.
»War die Trennung in gegenseitigem Einverständnis?«
Er räusperte sich. Er wollte nicht darüber sprechen, aber er wollte es auch hinter sich bringen.
»Ich schätze, man könnte es gegenseitiges Einverständnis nennen. Allerdings hatte ich keine Ahnung, bis sie die Koffer packte. Drei Monate vorher haben wir uns noch aneinander festgehalten, während das Haus auf dem Fundament hin und her geschüttelt wurde. Man könnte sagen, sie hat sich aus dem Staub gemacht, bevor die Nachbeben endeten.«
»Sie sind immer noch nicht vorbei.«
»Das war nur so eine Redensart.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Ihre Beziehung wegen des Erdbebens in die Brüche ging?«
»Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich sage nur, dass es damals passiert ist. Gleich danach. Sie ist Lehrerin oben im Valley, und ihre Schule wurde zerstört. Die Schüler wurden auf andere Schulen verteilt, und der Bezirk brauchte weniger Lehrkräfte. Man bot den Lehrern an, sich für ein Semester beurlauben zu lassen. Sie nahm die Gelegenheit wahr und fuhr weg.«
»Hatte sie Angst vor einem anderen Erdbeben oder vor Ihnen?«
Sie sah ihn absichtlich direkt an.
»Warum sollte sie vor mir Angst haben?«
Er war sich bewusst, dass er verunsichert klang.
»Ich weiß nicht. Ich stelle nur Fragen. Haben Sie ihr einen Grund gegeben, Angst zu haben?«
Bosch zögerte. Es war eine Frage, die ihm beim Nachdenken über die Trennung im Grunde nie gekommen war.
»Wenn Sie es im physischen Sinn meinen, nein. Sie hatte keine Angst, und ich gab ihr keinerlei Grund dazu.«
Hinojos nickte und machte sich eine Notiz auf dem Block. Es gefiel ihm nicht, dass sie es notierte.
»Hören Sie, es hat nichts damit zu tun, was letzte Woche auf dem Revier passiert ist.«
»Warum hat sie Sie verlassen? Was war der wirkliche Grund?«
Er schaute weg. Er war wütend. So würde es ablaufen. Sie fragte, was sie wollte, und stieß nach, wo es eine Lücke in seinem Panzer gab.
»Ich weiß nicht.«
»Das ist keine akzeptable Antwort. Ich glaube, Sie wissen oder vermuten, warum sie wegging. Es kann nicht anders sein.«
»Sie hat herausgefunden, wer ich war.«
»Sie hat herausgefunden, wer Sie waren. Was bedeutet das?«
»Das müssen Sie sie fragen. Sie hat es gesagt. Aber sie ist in Venedig. In Italien.«
»Was glauben Sie denn, was sie damit meinte?«
»Es kommt nicht darauf an, was ich glaube. Sie ist diejenige, die es gesagt hat und die gegangen ist.«
»Wehren Sie sich nicht so gegen mich, Detective Bosch. Ich wünsche mir nichts lieber, als dass Sie wieder Ihre Arbeit machen können. Wie ich sagte, das ist meine Mission: Sie wieder an Ihren Arbeitsplatz zu schicken, falls das möglich ist. Aber Sie machen es mir schwer, sehr schwer.«
»Vielleicht ist es das, was sie herausfand. Vielleicht bin ich so.«
»Ich bezweifle, dass es so einfach ist.«
»Manchmal glaube ich das aber.«
Sie sah auf ihre Uhr und beugte sich nach vorne. Die Frustration über die Sitzung stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»Okay, Detective. Ich verstehe, wie unbehaglich Sie sich fühlen. Machen wir weiter. Aber ich fürchte, wir werden auf dieses Thema zurückkommen müssen. Ich möchte, dass Sie darüber nachdenken. Versuchen Sie, Ihre Gefühle zu verbalisieren.«
Sie wartete darauf, dass er etwas sagte. Er sagte jedoch nichts.
»Versuchen wir, darüber zu reden, was sich letzte Woche ereignet hat. Meines Wissens ging es um den Fall eines Prostituiertenmordes.«
»Ja.«
»War er brutal?«
»Das ist bloß ein Wort. Es bedeutet für jeden etwas anderes.«
»Stimmt. Aber gemäß Ihrem Verständnis: War es ein brutaler Mord?«
»Ja, er war brutal. Meiner Ansicht nach sind es die meisten. Jemand stirbt. Das ist brutal. Für das Opfer.«
»Und Sie haben den Verdächtigen verhaftet?«
»Ja, mein Partner und ich. Das heißt nein. Er kam freiwillig aufs Revier, um Fragen zu beantworten.«
»Hat Sie dieser Fall mehr betroffen als – sagen wir – andere Fälle in der Vergangenheit?«
»Vielleicht, ich weiß nicht.«
»Warum?«
»Meinen Sie, warum mich das Schicksal einer Nutte berührte? Es hat mich nicht berührt. Nicht mehr als das irgendeines anderen Opfers. Bei Mord habe ich jedoch eine Regel, was die Fälle angeht, die ich bekomme.«
»Wie lautet Ihre Regel?«
»Jeder zählt, oder niemand zählt.«
»Erklären Sie mir das.«
»Wie ich gesagt habe. Jeder zählt, oder niemand zählt. Das ist alles. Es bedeutet, dass ich mich voll ins Zeug lege, ob es eine Prostituierte ist oder die Frau des Bürgermeisters. Das ist meine Regel.«
»Ich verstehe. Lassen Sie uns jetzt über diesen spezifischen Fall sprechen. Ich würde gern von Ihnen hören, was nach der Verhaftung passiert ist und welche Gründe Sie wohl für Ihr gewalttätiges Handeln in der Hollywood Devision hatten.«
»Wird dies auf Band aufgenommen?«
»Nein, Detective, was Sie mir sagen ist vertraulich. Am Ende der Sitzungen werde ich nur eine Empfehlung für Assistant Chief Irving schreiben. Die Details unserer Gespräche wird nie jemand erfahren. Meine Empfehlungen sind gewöhnlich nicht einmal eine halbe Seite lang und enthalten keinerlei Einzelheiten.«
»Mit der halben Seite üben Sie viel Macht aus.«
Sie erwiderte nichts. Bosch überlegte einen Moment, während er sie ansah. Er glaubte, dass er ihr vertrauen könne, aber sein Instinkt und seine Erfahrung sagten ihm, dass er niemandem trauen sollte. Sie schien sein Dilemma zu kennen und wartete ab.
»Sie möchten meine Version hören?«
»Ja, das möchte ich.«
»Okay, ich werde Ihnen erzählen, was passiert ist.«
Bosch rauchte auf dem Nachhauseweg. Allerdings hätte er noch lieber einen Drink gehabt, um seine Nerven zu betäuben. Er sah auf die Uhr und entschied, dass es zu früh war, um bei einer Bar Zwischenstation zu machen. Also begnügte er sich mit einer weiteren Zigarette und fuhr heim. Nachdem er sich durch die Kurven des Woodrow Wilson Drives nach oben gewunden hatte, parkte er einen halben Block von seinem Haus am Straßenrand und ging zurück. Leise Klaviermusik kam aus einem der Nachbarhäuser – irgendetwas Klassisches –, aber er konnte nicht feststellen, aus welchem. Er kannte seine Nachbarn nicht besonders gut und wusste nicht, in welcher Familie es einen Klavierspieler gab. Er schlüpfte unter dem gelben Plastikband vor seinem Grundstück hindurch und trat durch die Seitentür vom überdachten Parkplatz aus ein.
Er hatte es sich angewöhnt, weiter unten auf der Straße zu parken, damit man nicht merkte, dass er in seinem eigenen Haus wohnte. Das Haus war nach dem Erdbeben für unbewohnbar erklärt und später von der Bauaufsicht auf die Abrissliste gesetzt worden. Bosch hatte jedoch beide Verfügungen ignoriert und die Plombe am Stromkasten geknackt. Inzwischen lebte er seit drei Monaten wieder hier.
Es war ein kleines, mit Redwood verkleidetes Haus, das auf Stahlpfeilern stand. Sie waren in das Grundgestein getrieben, das sich während des Mesozoikums und Känozoikums gebildet und aufgefaltet hatte, als sich die Santa Monica Mountains aus der Wüste erhoben. Die Stahlpfeiler hatten dem Erdbeben in ihren Verankerungen standgehalten, das darüberliegende Haus hatte sich jedoch verschoben und sich teilweise von den Pfeilern und den Erdbebenbolzen losgerissen. Es war gerutscht. Ganze fünf Zentimeter. Aber das reichte aus. Die Distanz war minimal, der Schaden jedoch groß. Die Holzrahmenkonstruktion des Hauses hatte sich verzogen, und Fenster und Türen waren nicht mehr rechteckig. Das Glas war zersprungen, und die Vordertür ließ sich nicht mehr öffnen, festgeklemmt in einem Rahmen, der sich mit dem gesamten Haus nach Norden geneigt hatte. Um die Tür aufzubrechen, hätte Bosch wahrscheinlich einen Polizeipanzer mit Rammbock ausleihen müssen. Also hatte er nur die Seitentür mit der Brechstange geöffnet. Diese Tür diente jetzt als Haupteingang zu seinem Heim.
Bosch hatte einem Unternehmen fünftausend Dollar gezahlt, damit sie das Haus anhoben und die fünf Zentimeter wieder zurückschoben. Danach war es mit Bolzen wieder an den Stahlpfeilern verankert worden. Je nachdem wie er Zeit fand, hatte Bosch begonnen, neue Fenster- und Türrahmen selbst einzusetzen. Die Glasarbeiten hatte er als Erstes in Angriff genommen. Danach hatte er die Innentüren neu gerahmt und eingehängt. Für die Arbeiten konsultierte er Bücher, und gewisse Reparaturen musste er drei- oder viermal machen, bis das Resultat einigermaßen passabel war. Aber die Arbeit machte ihm Spaß und hatte einen therapeutischen Effekt. Wenn er mit seinen Händen arbeitete, spannte er von seinem Job aus. Die Vordertür ließ er so, wie sie war, ein Denkmal der Naturgewalten. Es machte ihm nichts aus, die Seitentür zu benutzen.
Trotz aller Mühen erreichte er jedoch nicht, dass das Haus von der Abrissliste der städtischen Bauaufsicht gestrichen wurde. In den Augen des Inspectors, der für diesen Bereich in den Hills zuständig war, war es trotz Boschs Reparaturen weiterhin abbruchreif. Und damit begann das Versteckspielen. Bosch betrat und verließ das Haus so unauffällig wie ein Spion eine ausländische Botschaft. Er nagelte schwarze Plastikplanen von innen an die Fenster, damit kein verräterisches Licht nach draußen drang. Und er hielt immer nach Inspector Gowdy Ausschau. Gowdy war seine Nemesis.
Mittlerweile hatte sich Bosch einen Anwalt genommen, um gegen den Abrissbescheid Einspruch einzulegen.
Die Tür vom überdachten Abstellplatz für seinen Wagen führte direkt in die Küche, wo Bosch den Kühlschrank öffnete und eine Dose Coca-Cola herausnahm. Dann stand er vor dem alten Kasten, ließ sich von dessen Atem kühlen und untersuchte seinen Inhalt nach Dingen, die sich für ein Abendessen verwenden ließen. Obwohl er genau wusste, was sich in den Fächern und Schubladen befand, inspizierte er trotzdem alles. Als hoffte er auf den Überraschungsfund eines vergessenen Steaks oder einer Hühnerbrust. Er stand oft so vor dem Kühlschrank. Es war das Ritual eines Mannes, der allein lebte. Auch das war ihm bewusst.
Auf der hinteren Veranda trank Bosch die Cola und aß ein Sandwich, das aus fünf Tage altem Brot und plastikverpacktem Aufschnitt bestand. Er wünschte, er hätte noch ein paar Kartoffelchips. Nach einem einzigen Sandwich würde er zweifellos später wieder Hunger bekommen.
Er trat ans Geländer und sah auf den Hollywood Freeway hinab, über den sich an diesem Montagabend die Autos Stoßstange an Stoßstange schoben. Er selbst war noch vor dem stärksten Berufsverkehr aus Downtown herausgekommen. In Zukunft würde er darauf achten müssen, die Sitzungen bei der Polizeipsychologin nicht zu überziehen. Sie waren für montags, mittwochs und freitags 15:30 Uhr angesetzt. Er fragte sich, ob Carmen Hinojos je eine Sitzung hatte länger laufen lassen. Oder beschränkte sich ihre Mission auf die Vierzigstundenwoche?
Von da, wo er stand, konnte er fast alle Fahrbahnen in nördlicher Richtung verfolgen. Wie sie durch den Cahuenga Pass ins San Fernando Valley drangen. Er dachte darüber nach, was er während der Sitzung gesagt hatte, und versuchte zu entscheiden, ob sie gut oder schlecht verlaufen war. Aber seine Gedanken schweiften ab, und er begann die Stelle zu beobachten, wo der Freeway auf dem Pass in Sicht kam. Geistesabwesend wählte er jeweils zwei Autos aus, die ungefähr gleichzeitig über den Pass kamen, und beobachtete sie auf dem meilenlang sichtbaren Abschnitt des Freeways. Er setzte auf einen der Wagen und verfolgte das Rennen, von dem die Fahrer nichts ahnten, bis zum Ziel, dem Lankershim Boulevard.
Nach ein paar Minuten wurde ihm bewusst, was er tat. Er drehte sich abrupt um, weg vom Freeway.
»Jesus«, stieß er hervor.
Es war ihm nun klar, dass handwerkliche Beschäftigung allein während seiner Suspendierung nicht reichen würde. Er ging hinein und holte sich eine Flasche Henry’s aus dem Kühlschrank. Als er das Bier geöffnet hatte, klingelte das Telefon. Sein Partner Jerry Edgar war am Apparat, und der Anruf war eine willkommene Ablenkung von der Stille.
»Na, Harry, wie läuft’s in Chinatown?«
Weil jeder Polizist insgeheim fürchtete, eines Tages unter dem Druck seines Jobs zusammenzubrechen und Patient der polizeilichen Abteilung für Verhaltenstherapie zu werden, wurde der offizielle Name selten ausgesprochen. Therapiesitzungen wurden daher meistens als »Gang nach Chinatown« bezeichnet, weil sich die Abteilung dort in der Hill Street befand, mehrere Straßen vom Parker Center entfernt. Falls von einem Cop bekannt wurde, dass er dorthin ging, hieß es, er hatte den »Hill Street Blues«. Das sechsstöckige Bankgebäude, in dem die VTh untergebracht war, war auch unter der Bezeichnung »Einundfünfzig-Fünfzig« bekannt. Dabei handelte es sich nicht um die Adresse, sondern um den Polizeifunkcode für Geisteskranke. Der Berufsjargon war Teil eines Schutzpanzers. Man machte sich über die Sache lustig und verdrängte so die eigenen Ängste leichter.
»Chinatown war großartig«, sagte Bosch sarkastisch. »Du solltest es mal selbst versuchen. Mich hat es dazu gebracht, hier zu sitzen und die Autos auf dem Freeway zu zählen.«
»Wenigstens läufst du nicht wild in der Gegend herum.«
»Stimmt. Was gibt’s Neues?«
»Pounds hat es nun doch getan.«
»Was getan?«
»Mich mit einem Neuen verkuppelt.«
Bosch schwieg für einen Moment. Die Nachricht schien etwas Endgültiges zu bedeuten. Der Gedanke, dass er eventuell nie an seinen Arbeitsplatz zurückkehren würde, machte sich in seinem Bewusstsein breit.
»Tatsächlich?«
»Ich habe heute Morgen einen neuen Fall bekommen. Also hat er mir einen seiner Arschkriecher verpasst. Burns.«
»Burns? Von Autodiebstahl? Er hat noch nie einen Mord untersucht! Hat er wenigstens schon mal irgendein anderes Gewaltverbrechen bearbeitet?«
Bei der Polizei gab es zwei Laufbahnen für Detectives: Eigentumsdelikte oder Gewaltverbrechen. In der zweiten spezialisierte man sich auf Mord, Vergewaltigung, Körperverletzung oder Raub. Kollegen, die diese Fälle bearbeiteten, erregten meistens mehr Aufmerksamkeit, und sie betrachteten die mit der anderen Laufbahn als Bürohengste. Da es so viele Eigentumsdelikte gab, verbrachten diese ihre Zeit überwiegend damit, Berichte zu schreiben und ab und zu eine Verhaftung vorzunehmen. Ermittlungen im eigentlichen Sinne führten sie nicht durch. Sie hatten keine Zeit dafür.
»Nein, Papiertiger von Geburt an«, sagte Edgar. »Aber Pounds ist das egal. Er will nur jemanden am Mordtisch haben, der ihm keine Widerworte gibt. Und Burns ist genau sein Typ. Er hat sich wahrscheinlich um den Job beworben, sowie deine Suspendierung bekannt wurde.«
»Arschloch. Aber ich kehr an den Mordtisch zurück, und er kann sich dann wieder zu seinen gestohlenen Autos verpissen.«
Edgar ließ sich mit seiner Antwort Zeit, als ob Bosch etwas gesagt hätte, was für ihn keinen Sinn ergab.
»Glaubst du das wirklich, Harry? Pounds wird es nicht zulassen, dass du zurückkommst. Nicht nach dem, was du getan hast. Als er mir erklärte, dass Burns mein neuer Partner ist, habe ich ihm gesagt: ›Nichts für ungut, aber ich warte lieber, bis Harry Bosch wiederkommt.‹ Darauf hat er erwidert, dass ich dann bis zu meiner Pensionierung warten könnte.«
»Das hat er gesagt? Er ist ein noch größeres Arschloch als Burns. Ich hab aber immer noch Freunde bei der Polizei.«
»Du hast immer noch was gut bei Irving, nicht wahr?«
»Das kann ich jetzt vielleicht herausfinden.«
Er ging nicht weiter darauf ein, er wollte das Thema wechseln. Edgar war sein Partner, allerdings hatten sie nie den Punkt erreicht, dass sie einander alles sagten. Bosch spielte den Mentor, und er vertraute Edgar sein Leben an. Dieser Bund galt jedoch nur auf der Straße. Innerhalb des Polizeiapparats lag die Sache anders. Bosch hatte nie jemandem vertraut, sich nie auf jemanden verlassen – und er würde nicht gerade jetzt damit anfangen.
»Also, was ist das für ein Fall?«, fragte er, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.
»Ach ja, davon wollte ich erzählen. Total abartig. Ein ganz verrückter Tod, und was danach passierte ist ebenso verrückt. Der Anruf kam von einem Haus in der Sierra Bonita Avenue. Ungefähr fünf Uhr morgens. Der Anrufer berichtet, dass er ein Geräusch wie von einem gedämpften Schuss gehört hat. Er holt seine Jagdflinte aus dem Schrank und geht nach draußen, um nachzusehen. Die Junkies sind in letzter Zeit in der Gegend auf Beutezug gegangen. Vier Einbrüche allein in seinem Block. Er war also vorbereitet. Nun, er geht mit dem Gewehr die Auffahrt runter – die Garage ist hinten – und sieht ein Paar Beine, die aus der offenen Tür seines Wagens hängen, der vor der Garage geparkt war.«
»Er erschießt ihn?«
»Nein, das ist das Verrückte. Er geht mit dem Gewehr zum Auto, aber der Typ ist schon tot. Mit einem Schraubenzieher in die Brust gestochen.«
Bosch kapierte es nicht. Er kannte nicht alle Details. Aber er sagte nichts.
»Der Airbag hat ihn getötet, Harry.«
»Was soll das heißen, der Airbag hat ihn getötet?«
»Der Airbag. Der gottverdammte Junkie wollte den Airbag aus dem Steuer stehlen, und irgendwie explodierte das Ding. Es blies sich auf – wie vorgesehen – und trieb ihm den Schraubenzieher ins Herz. Ich habe so was noch nie gesehen. Er muss den Schraubenzieher umgedreht gehalten haben, oder er hat mit dem Griff auf die Steuersäule gehämmert. Das haben wir noch nicht geklärt. Wir haben mit einem Typ von Chrysler gesprochen. Wenn man die Abdeckung entfernt, wie es dieser Junkie getan hat, dann kann das Ding schon wegen statischer Elektrizität losgehen. Unser Toter trug einen Pullover. Vielleicht war das die Ursache. Burns meint, es sei das erste Mal, dass ein geladener Pullover jemanden getötet hat.«
Während Edgar über den Witz seines neuen Partners lachte, dachte Bosch über den Vorfall nach. Er erinnerte sich an ein polizeiliches Rundschreiben, das letztes Jahr zum Thema Airbag-Diebstahl herausgekommen war. Sie waren zu einem begehrten Artikel auf dem Schwarzmarkt geworden. Diebe bekamen bis zu dreihundert Dollar von skrupellosen Reparaturwerkstätten, die sie dann für neunhundert Dollar einbauten. Wenn sie sie vom Hersteller bezogen, war ihr Profit nur halb so hoch.
»Also ist es damit ein Unfall?«, fragte Bosch.
»Ja, Tod durch Unfall. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Beide Türen des Wagens waren offen.«
»Der Tote hatte einen Komplizen.«
»Genau. Und wenn man ihn findet, kann man Anklage erheben. Nach dem Gesetz, das Tötung beim Begehen schwerer Straftaten betrifft. Also hat die Spurensicherung alle Abdrücke im Auto mit dem Lasergerät sichergestellt. Ich hab sie dann zur Abteilung für Fingerabdrücke gebracht und einen der Techniker überredet, sie zu scannen und in den AFIS-Computer einzugeben. Und voilà!«
»Du hast den Partner?«
»Volltreffer. AFIS hat eine ziemliche Reichweite. Zum Netz gehört das Identifizierungszentrum des U.S. Militärs in St. Louis. Dort haben wir unseren Typ gefunden. Er war vor zehn Jahren in der Armee. Mit dem Namen haben wir dann beim Kfz-Amt die Adresse bekommen. Wir haben ihn heute festgenommen. Auf dem Weg zum Revier hat er ein Geständnis abgelegt. Er wird für eine Weile aus dem Verkehr sein.«
»Anscheinend hattest du einen guten Tag.«
»Es geht noch weiter. Du kennst den wirklich verrückten Teil noch nicht.«
»Ich höre.«
»Ich hab doch eben erzählt, dass wir mit dem Laser alle Fingerabdrücke im Auto sichergestellt haben.«
»Ja.«
»Also, wir haben noch einen Treffer. Diesmal im Verbrechensindex. Ein Fall in Mississippi. Mann, ich wünschte, alle Tage wären so.«
»Was war der zweite Treffer?«, fragte Bosch. Er verlor allmählich die Geduld mit Edgars Fortsetzungsstil.
»Abdrücke, die vor sieben Jahren vom Südstaatenzentrum für Verbrechensbekämpfung ins System eingespeichert wurden. Das umfasst fünf Staaten, in denen wahrscheinlich noch nicht einmal halb so viel Menschen leben wie in L.A. Egal … einer der Abdrücke, die wir eingegeben haben, stimmt mit dem eines Doppelmörders aus Biloxi überein. Die Zeitungen haben ihn den Feiertagsschlächter genannt, weil er zwei Frauen am vierten Juli sechsundsiebzig getötet hat.«
»Der Besitzer des Wagens? Der Typ mit dem Gewehr?«
»Du hast’s erfasst. Seine Fingerabdrücke waren auf dem Hackbeil, das in dem Schädel eines der Mädchen steckte. Er war ein bisschen erstaunt, als wir heute Nachmittag zurückkamen. Wir sagten zu ihm: ›Wir haben den Komplizen von dem Typ geschnappt, der in deinem Auto abgekratzt ist. – Ach übrigens, Mr. Motherfucker, wir nehmen dich jetzt in Haft wegen eines Doppelmords.‹ Er war total platt, Harry. Du hättest dabei sein sollen.«
Edgar lachte laut ins Telefon, und Bosch merkte, wie sehr er seinen Job nach nur einer Woche Zwangsbeurlaubung vermisste.
»Hat er gestanden?«
»Nein, er hat den Mund gehalten. Man muss schon clever sein, wenn man als Doppelmörder zwanzig Jahre ungeschoren bleibt. Das ist echt eine Leistung.«
»Stimmt. Was hat er die ganze Zeit getan?«
»Unauffällig gelebt. Er besitzt einen Eisenwarenladen am Santa Monica Boulevard. Verheiratet, zwei Kinder, ein Hund. Komplette Resozialisation. Aber jetzt geht es zurück nach Biloxi. Hoffentlich mag er die Südstaatenküche, er wird so bald nicht zurückkommen.«
Edgar lachte wieder. Bosch sagte nichts. Die Geschichte deprimierte ihn. Sie erinnerte ihn an den Beruf, den er nicht mehr ausübte. Sie erinnerte ihn auch an Hinojos’ Bitte, seine Mission zu definieren.
»Morgen kommen ein paar Leute von der Mississippi-Staatspolizei«, sagte Edgar. »Ich habe eben mit ihnen gesprochen. Die Jungs haben sich echt gefreut.«
Bosch sagte eine Weile nichts.
»Harry, bist du noch da?«
»Ja, ich hab nur an etwas gedacht … Das hört sich an wie ein Wahnsinnstag in den Annalen der Verbrechensbekämpfung. Wie hat unser wackerer Führer reagiert?«
»Pounds? O Gott, er hat eine Mordserektion vor Stolz. Weißt du, was er jetzt tut? Er versucht, die Sache so zu deichseln, dass ihm alle drei Aufklärungen angerechnet werden, indem er die Biloxi-Morde in unserer Statistik aufführt.«
Das überraschte Bosch nicht. Es war eine weitverbreitete Praxis in der Polizei, jeden möglichen gelösten Fall für die Aufklärungsrate anzurechnen. Im Airbag-Fall handelte es sich eigentlich nicht um Mord. Es war ein Unfall. Aber weil sich der Tod bei der Ausübung eines Verbrechens ereignet hatte, konnte dem Komplizen der Tod seines Partners nach kalifornischem Recht zur Last gelegt werden. Da der Komplize wegen Mordes verhaftet worden war, wusste Bosch, dass Pounds vorhatte, die Zahl der geklärten Morde um einen zu erhöhen. In der Spalte der geschehenen Morde würde er allerdings nicht das Gleiche tun, weil der Airbag-Tod ein Unfall war. Dieser kleine statische Zweisatz würde der allgemeinen Mordaufklärungsrate der Hollywood Devision Auftrieb geben. In den letzten Jahren drohte sie immerhin ständig unter fünfzig Prozent zu sinken.
Aber die geringfügige Verbesserung durch den Buchführungstrick reichte Pound wohl nicht, und er plante offensichtlich dreist, die zwei Biloxi-Morde ebenfalls in der Aufklärungsstatistik aufzuführen. Schließlich konnte man ja argumentieren, dass seine Mordeinheit zwei weitere Fälle geklärt hatte. Indem er also drei gelöste Fälle hinzurechnete, verbesserte er sowohl die allgemeine Aufklärungsrate immens – als auch sein Image als Commander einer Ermittlungsabteilung. Bosch ahnte, dass Pounds über sich und seine Tagesleistung entzückt war.
»Er sagte, unsere Rate würde um sechs Punkte steigen«, fuhr Edgar fort. »Der Mann ist rundum zufrieden, Harry. Und mein neuer Partner ist glücklich, dass er seinen Boss befriedigen konnte.«
»Ich will nichts mehr hören.«
»Das dachte ich mir. Also, was machst du, um dich zu beschäftigen – außer Autos auf dem Freeway zu zählen? Du musst dich zu Tode langweilen, Harry.«
»Eigentlich nicht«, log Bosch. »Letzte Woche habe ich die Veranda repariert. Diese Woche werde ich …«
»Harry, glaub mir, du verschwendest Zeit und Geld. Das Bauamt wird dich in dem Haus entdecken und mit einem Tritt hinausbefördern. Dann reißen sie es ein und schicken dir die Rechnung. Dein Haus und deine Veranda werden am Ende vom Sperrmüll abgeholt.«
»Ich habe mir einen Anwalt genommen.«
»Und was kann er tun?«
»Weiß ich nicht. Ich lege gegen den Abrissbescheid Einspruch ein. Er macht Grundstücksrecht und sagt, er kann es richten.«
»Hoffentlich. Trotzdem meine ich, du solltest es abreißen und von vorne anfangen.«
»Ich habe noch nicht im Lotto gewonnen.«
»Es gibt Katastrophenhilfe von der Bundesregierung. Du könntest ein Darlehen beantragen und …«
»Ich habe einen Antrag gestellt, Jerry. Aber mir gefällt mein Haus, wie es ist.«
»Okay, Harry. Ich hoffe, dein Anwalt kann was ausrichten. Also, ich muss jetzt los. Burns will ein Bier im Short Stop trinken. Er wartet dort.«
Das letzte Mal, als Bosch im Short Stop war – einer Kaschemme für Polizisten in der Nähe der Polizeischule und des Dodger Stadions – hingen noch die Aufkleber Ich unterstütze Chief Gates an der Wand. Für die meisten Cops war Gates Schnee vom vergangenen Jahr, aber im Short Stop tranken die Oldtimer und erinnerten sich an eine Polizei, wie sie nicht mehr existierte.
»Viel Spaß, Jerry.«
»Mach’s gut, Mann.«
Bosch lehnte sich gegen einen Unterschrank und trank sein Bier. Er kam zu dem Schluss, dass Edgar ihm durch die Blume mitgeteilt hatte, dass er sich für die andere Seite entschieden hatte und Bosch seinem Schicksal überließ. Das war okay. Edgar war sich selbst am nächsten. Er musste in einer gefährlichen Welt überleben. Bosch konnte ihm das nicht übel nehmen.
Bosch betrachtete sich im Glas der Backofentür. Sein Spiegelbild war dunkel, er konnte jedoch seine Augen und seine Kinnlade erkennen. Er war vierundvierzig und sah in mancher Hinsicht älter aus. Sein lockiges braunes Haar war noch voll, aber wie sein Schnurrbart ergraute es allmählich. Seine schwarzbraunen Augen wirkten müde und stumpf. Seine Haut hatte den käsigen Teint eines Nachtwächters. Noch war er nur schlank, aber manchmal hingen ihm die Kleider am Leib, als hätte er sie von der Heilsarmee bekommen oder gerade eine schwere Krankheit durchgemacht.
Er riss sich von seinem Spiegelbild los und holte sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Draußen auf der Veranda sah er, dass der Himmel schon in den Pastelltönen der Dämmerung schimmerte. Bald würde es dunkel sein, aber der Freeway unten war wie ein Fluss glitzernder Lichter, dessen Strömung keinen Moment nachließ.
Er sah auf den abendlichen Pendlerverkehr hinab, und es kam ihm wie ein Ameisenhaufen vor, auf dem sich die Arbeiter in Kolonnen bewegten. Irgendjemand oder irgendeine Macht würde bald abermals daherkommen und in den Hügel treten. Dann würden die Freeways und die Häuser einstürzen. Und die Ameisen würden wieder alles aufbauen und hintereinander hermarschieren.
Irgendetwas störte ihn, er war sich jedoch nicht sicher, was es war. Alles Mögliche ging ihm durch den Kopf. Er begann, Edgars Geschichte vor dem Hintergrund seines Gesprächs mit Hinojos zu betrachten. Irgendwo gab es eine Verbindung, eine Brücke, er konnte sie jedoch nicht entdecken.
Er trank sein Bier aus und entschied, dass zwei genug seien. Dann setzte er sich auf einen der Liegestühle und legte die Beine hoch. Er wollte Körper und Geist ausruhen. Die Wolken am Himmel wurden jetzt von der untergehenden Sonne orange gefärbt. Sie glühten wie flüssige Lava, die sich langsam über den Himmel wälzte.
Kurz bevor er einnickte, tauchte ein Gedanke aus der Lavaflut auf. Jeder zählt, oder niemand zählt. Und dann, mit dem letzten klaren Gedanken vor dem Schlaf, wurde ihm klar, was der rote Faden war, der sich durch seine Überlegungen gezogen hatte. Und er wusste, was seine Mission war.
Ohne geduscht zu haben, zog sich Bosch am Morgen an. Er wollte sofort mit der Arbeit am Haus beginnen und die Gedanken von gestern durch Schweiß und Konzentration vertreiben.
Es war jedoch nicht so einfach. Als er seine farbbefleckten Jeans anzog, erblickte er sich im zersprungenen Spiegel über der Kommode und sah, dass er sein weißes T-Shirt verkehrt herum anhatte. Auf seiner Brust stand das Motto des Morddezernats.
Unser Tag beginnt, wenn Ihr Tag endet.
Es sollte auf dem Rücken stehen. Er zog das Hemd aus, drehte es um und zog es wieder an. Jetzt sah er im Spiegel, was er sehen sollte. Die Abbildung einer Polizeidienstmarke auf der linken Brust und darunter klein gedruckt: LAPD Mord.
Er setzte eine Kanne Kaffee auf, nahm sich einen Becher und ging auf die Veranda. Dann schleppte er seinen Werkzeugkasten nach draußen sowie die neue Schlafzimmertür, die er im Baumarkt gekauft hatte. Als er endlich bereit war und den Becher mit dampfendem schwarzem Kaffee gefüllt hatte, setzte er sich auf das Fußteil des Liegestuhls und stellte die Tür auf einer Kante vor sich hin.
Die ursprüngliche Tür war während des Erdbebens an den Angeln zersplittert. Vor ein paar Tagen hatte er versucht, die neue Tür einzuhängen, aber sie war für den Türpfosten zu breit gewesen. Er schätzte, er musste ungefähr drei Millimeter von der Schlossseite abschleifen, damit sie passte. Mit dem Hobel machte er sich an die Arbeit, schob das Werkzeug langsam auf der Kante hin und her. Die Holzspäne fielen in papierdünnen Locken auf den Boden. Manchmal hielt er inne, strich mit der Hand über die bearbeitete Fläche und überprüfte seine Arbeit. Es gefiel ihm, dass er den Fortschritt sehen konnte. Es gab wenige Aufgaben in seinem Leben, bei denen das möglich war.
Trotzdem konnte er seine Konzentration nicht lange aufrechterhalten. Immer wieder wurde sie von dem störenden Gedanken unterbrochen, der ihn gestern Abend verfolgt hatte. Jeder zählt, oder niemand zählt. Er hatte es zu Hinojos gesagt. Es sei sein Credo, hatte er behauptet. Glaubte er wirklich daran? Was bedeutete es für ihn? War es bloß ein Motto wie der Spruch auf seinem T-Shirt, oder lebte er danach? Diese Fragen vermischten sich mit der Erinnerung an sein Gespräch mit Edgar und mit einem tief verborgenen Gedanken, von dem er wusste, dass er schon immer da gewesen war.
Er nahm den Hobel von der Türkante und fuhr mit der Hand wieder über das glatte Holz. Es würde jetzt wahrscheinlich passen. Er trug die Tür hinein. Über einer Abdeckplane im Wohnzimmer schmirgelte er die Türkante mit einem Stück feinem Sandpapier ab, bis sie perfekt glatt war.
Die Tür senkrecht auf einem Holzklotz balancierend ließ er sie in die Angeln gleiten und setzte dann die Stifte ein. Mit dem Hammer klopfte er sie mühelos ganz hinein. Er hatte die Angeln und Stifte vorher geölt, und die Tür öffnete und schloss sich fast lautlos. Noch wichtiger war, dass sie mit dem Türpfosten abschloss. Er machte sie mehrere Male auf und zu und betrachtete sie, zufrieden mit seiner Leistung.
Das Glücksgefühl des Erfolgs war kurzlebig. Da er jetzt mit seiner Arbeit fertig war, war er geistig nicht mehr abgelenkt. Beim Zusammenfegen der Hobelspäne auf der Veranda kehrten die lästigen Gedanken zurück.
Hinojos hatte ihm geraten, sich zu beschäftigen. Jetzt wusste er, was er tun würde. Er hatte erkannt, dass es eine Aufgabe gab, die er tun musste – egal, wie viel Projekte ihm sonst noch einfielen, um Zeit totzuschlagen. Er lehnte den Besen an die Wand und ging hinein, um sich fertig zu machen.
Das Archiv der Polizei von Los Angeles sowie die Zentrale ihrer Flugstaffel, bekannt unter dem Spitznamen Piper Tech, befand sich in der Ramirez Street in Downtown, nicht weit vom Parker Center. Bekleidet mit Anzug und Schlips stoppte Bosch kurz vor elf seinen Wagen vor dem Tor. Er hielt seinen Polizeiausweis aus dem Fenster und wurde durchgewinkt. Man hatte seinen Ausweis, seine goldene Dienstmarke und seine Waffe einkassiert, als er in der vorherigen Woche suspendiert worden war. Später hatte man ihm jedoch seinen Ausweis wiedergegeben, damit er für die Stresstherapie bei Carmen Hinojos Zutritt zu den VTh-Räumen hatte.
Nachdem er geparkt hatte, ging er an dem beige gestrichenen Lagerhaus vorbei, in dem die städtische Geschichte der Gewalt archiviert wurde. Das Gebäude mit einer Grundfläche von tausend Quadratmetern enthielt die Akten sämtlicher Fälle, aufgeklärte und unaufgeklärte. Hier landeten sie, wenn sich niemand mehr für sie interessierte.
Am Eingangsschalter lud eine Büroangestellte Akten auf einen Wagen, damit sie wieder zu den endlosen Regalen zurückgebracht und vergessen werden konnten. Bosch merkte an der Art und Weise, wie sie ihn musterte, dass selten jemand persönlich hierherkam. Es wurde alles über Telefon und Botendienst abgewickelt.
»Wenn Sie nach den Sitzungsprotokollen des Stadtrats suchen, das ist gegenüber, Gebäude A, das mit den braunen Verzierungen.«
Bosch hielt seinen Ausweis hoch.
»Nein, ich will eine Akte ansehen.«
Er griff in seine Jackentasche, während sie zum Schalter kam und sich über seinen Ausweis beugte. Sie war schwarz und klein, mit grauen Haaren und einer Brille. An ihrer Bluse war ein Namensschild befestigt: Geneva Beaupre.
»Hollywood«, sagte sie. »Warum haben Sie es sich nicht per Boten kommen lassen? Diese Fälle haben doch keine Eile.«
»Ich war in Downtown, im Parker Center … Ich wollte die Akte so schnell wie möglich sehen.«
»Nun, haben Sie eine Nummer?«
Aus seiner Tasche holte er einen Zettel mit der Nummer 61–743. Sie beugte sich nach vorne, um zu lesen, dann schnellte ihr Kopf wieder hoch.
»Neunzehnhunderteinundsechzig? Sie wollen eine Akte von … Ich weiß nicht einmal, wo die sind.«
»Die Akte ist hier. Ich habe sie schon einmal eingesehen. Damals hat wohl jemand anders hier gearbeitet. Aber sie war hier.«
»Nun gut, ich werde nachsehen. Wollen Sie warten?«
»Ja, ich warte.«
Das schien sie zu enttäuschen, aber Bosch schenkte ihr das freundlichste Lächeln, das er aufsetzen konnte. Sie nahm den Zettel und verschwand zwischen den Regalen. Bosch ging ein paar Minuten in dem kleinen Warteraum vor dem Schalter auf und ab und trat dann nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Er war nervös, ohne genau zu wissen, warum. Er ging weiter auf und ab.
»Harry Bosch.«
Er drehte sich um und erblickte einen Mann, der sich von einem Helikopterhangar näherte. Er kannte ihn, wusste aber im Moment nicht, wo er ihn hinstecken sollte. Dann fiel es ihm ein: Captain Dan Washington, ehemals Chef des Streifendienstes in Hollywood und jetzt Commander der Flugabteilung. Sie schüttelten sich herzlich die Hände, und Bosch hoffte sogleich, dass Washington nichts von seiner Zwangsbeurlaubung wusste.
»Wie geht’s in Hollywood?«
»Alles beim Alten, Captain.«
»Wissen Sie, mir fehlt die alte Gegend.«
»Ihnen entgeht nicht viel. Wie läuft’s hier?«
»Kann mich nicht beschweren. Die Position ist ganz gut, ich bin jedoch mehr Flughafendirektor als Polizist. Aber nicht schlecht, wenn man sich zurückziehen muss.«
Bosch erinnerte sich, dass Washington mit der Polizeiführung aneinandergeraten war und sich dann hatte versetzen lassen, um zu überleben. Bei der Polizei gab es Dutzende solcher Jobs, wo man im Hintergrund abwarten konnte, bis man wieder bessere Karten hatte.
»Was machen Sie hier?«
Er hatte die Frage befürchtet. Falls Washington wusste, dass er suspendiert war, würde das Eingeständnis, dass er eine alte Akte einsehen wollte, bedeuten, dass er die Bestimmungen seiner Zwangsbeurlaubung verletzte. Andererseits bewies Washingtons Posten in der Flugabteilung, dass er selbst manchmal aus der Reihe tanzte. Bosch beschloss, es zu riskieren.
»Ich seh mir hier eine alte Akte an. Ich hatte gerade etwas Zeit und dachte, ich überprüf mal ein paar Punkte.«
Washington zog die Augen zusammen, und Bosch wusste, dass er wusste.
»Ja … also, ich muss jetzt los. Verlieren Sie nicht den Mut. Und lassen Sie sich nicht von den Paragraphenreitern unterkriegen.«
Er zwinkerte Bosch zu und ging weiter.
»Werd mich bemühen, Captain. Sie auch nicht.«
Bosch war sich ziemlich sicher, dass Washington niemandem von dem Zusammentreffen erzählen würde. Er trat auf seine Zigarette und ging wieder hinein an den Schalter – insgeheim auf sich fluchend, dass er nach draußen gegangen war und sich gezeigt hatte. Fünf Minuten später hörte er ein quietschendes Geräusch aus einem der Regalgänge, und im nächsten Moment erschien Geneva Beaupre, einen Wagen mit einem blauen Ringbuch vor sich schiebend.
Es war das Mordbuch. Es war mindestens fünf Zentimeter dick, staubig und wurde von einem Gummiband zusammengehalten, in dem eine grüne alte Leihkarte steckte.
»Gefunden.«
In ihrer Stimme klang Triumph mit. Es war vermutlich die Krönung ihres Arbeitstages, schätzte Bosch.
»Großartig.«
Sie ließ das schwere Ringbuch auf den Schalter fallen.
»Marjorie Lowe. Mord, 1961. Nun …« Sie zog die Karte aus dem Gummiband und sah sie an. »Ja, Sie waren der Letzte, der es ausgeliehen hat. Ah, das war vor fünf Jahren. Damals waren Sie bei Raub-Mord …«
»Stimmt. Und jetzt bin ich in Hollywood. Muss ich die Karte unterschreiben?«
Sie legte sie vor ihm hin.
»Ja. Schreiben Sie bitte Ihre Dienstnummer daneben.«
Er tat schnell, wie ihm geheißen, und merkte, dass sie ihn beim Schreiben musterte.
»Linkshänder.«
»Ja.«
Er schob ihr die Karte auf dem Schalter zurück.
»Danke, Geneva.«
Er sah sie an und wollte noch etwas sagen, entschied aber, dass es ein Fehler sein könnte. Sie erwiderte seinen Blick, und ein großmütterliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Ich weiß nicht, was Sie tun, Detective Bosch, aber ich wünsche Ihnen viel Glück. Ich kann mir denken, dass es wichtig ist, da Sie nach fünf Jahren wieder darauf zurückkommen.«
»Es ist noch viel länger her, Geneva. Viel länger.«
Bosch räumte alte Post sowie seine Handwerksbücher vom Esstisch und legte das Ringbuch und sein Notizheft darauf. Dann ging er zur Stereoanlage und schob Clifford Brown with Strings in den CD-Spieler. Schließlich holte er sich aus der Küche einen Aschenbecher und setzte sich vor das blaue Mordbuch. Er betrachtete es lange, ohne sich zu rühren. Beim letzten Mal hatte er sich die Akte kaum ernsthaft angesehen, während er die vielen Seiten überflog. Damals war er noch nicht bereit gewesen und hatte sie zum Archiv zurückgebracht.
Dieses Mal wollte er sich sicher sein, dass er der Sache gewachsen war, bevor er das Ringbuch aufschlug. Also saß er lange Zeit da und studierte den rissigen Plastikeinband, als suche er nach einem Zeichen, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. Eine Erinnerung stieg in ihm auf. Ein Junge von elf Jahren, der sich an die Stahlleiter am Rande eines Schwimmbeckens klammerte, nach Atem ringend und weinend, seine Tränen getarnt durch das Wasser, das aus seinem nassen Haar tropfte. Der Junge hatte Angst gehabt. Er fühlte sich allein auf der Welt. Das Schwimmbecken war ihm wie ein Ozean erschienen, den er überqueren musste.
»Willow Weep for Me« erklang. Brownies Trompete skizzierte behutsam die traurige Melodie. Bosch griff nach dem Gummiband, das er vor fünf Jahren um das Ringbuch gezogen hatte – es riss unter seiner Berührung. Er zögerte nur noch einen kurzen Moment, bevor er das Mordbuch aufschlug und den Staub wegpustete.
Der Ringhefter enthielt die Akten zu dem am 28. Oktober 1961 geschehenen Mord an Marjorie Phillips Lowe, seiner Mutter.
Nach all den Jahren waren die Seiten vergilbt und steif. Beim ersten Durchlesen stellte er fest, wie wenig sich in fast fünfunddreißig Jahren geändert hatte. Viele der Ermittlungsformulare im Ringbuch wurden immer noch verwendet. Der »Vorläufige Bericht« und die »Chronologie der laufenden Ermittlungen« waren die gleichen wie heute – bis auf einige Formulierungsänderungen, die durch Gerichtsentscheide und »politische Korrektheit« notwendig geworden waren. Das Kästchen »Neger« war in »Schwarze« und später »Afroamerikaner« umgeändert worden. Im vorläufigen Ermittlungsgutachten waren »Gewalttätige Auseinandersetzungen im Haushalt« und »Vorurteile/Rassismus« noch nicht als mögliche Motive aufgeführt, und Vernehmungsprotokolle enthielten nicht das Kästchen, dass der Verhörte über seine Rechte belehrt worden war.
Abgesehen von diesen Unterschieden waren es die gleichen Formulare, und Bosch kam zu dem Schluss, dass sich bei der Untersuchung von Morden nicht viel geändert hatte. Natürlich hatte es große wissenschaftliche Fortschritte in den letzten fünfunddreißig Jahren gegeben, aber er war der Ansicht, dass sich manche Dinge nie ändern würden: die Lauferei, die Kunst des Zuhörens und Verhörens sowie die Erfahrung, wann man seinen Instinkten und Gefühlen trauen sollte.
Der Fall war zwei Detectives vom Hollywood Mordtisch übergeben worden. Claude Eno und Jake McKittrick. Ihre Berichte waren in chronologischer Folge abgeheftet. In den ersten »vorläufigen Berichten« wurde das Opfer bereits mit Namen erwähnt – Indiz dafür, dass sie sofort identifiziert worden war. Die ersten Seiten berichteten, dass das Opfer in einer Hintergasse, parallel zum Hollywood Boulevard, zwischen Vista und Gower Street gefunden worden war. Rock und Unterwäsche waren vom Täter zerrissen worden. Man nahm an, dass sie vergewaltigt und erwürgt worden war. Die Leiche war in einen offenen Müllcontainer geworfen worden, der neben der Hintertür eines Hollywood-Souvenirladens namens Startime Gifts & Gags stand. Ein Polizist, der am Boulevard Streife ging und zu Schichtbeginn gewöhnlich die Hintergässchen überprüfte, hatte sie morgens um 7:35 Uhr entdeckt. Man fand keine Handtasche bei der Leiche, aber sie wurde schnell identifiziert, da sie dem Streifenpolizisten bekannt war. Der Grund dafür war in einem späteren Bericht zu lesen.
Das Opfer wurde mehrmals wegen unbefugten Herumlungerns in Hollywood verhaftet (siehe VH55–002, 55–913, 59–056, 60–815 und 60–1121). Detectives Gilchrist und Stano vom Sittendezernat beschrieben das Opfer als Prostituierte, die von Zeit zu Zeit in Hollywood auf den Strich ging und mehrmals verwarnt worden war. Das Opfer wohnte in einem der Einzimmerapartments des El Rios, zwei Blocks nördlich vom Tatort. Es wird vermutet, dass es z.Z. für einen Callgirl-Ring arbeitete. MP1906 war in der Lage, das Opfer zu identifizieren, da er die Person in den letzten Jahren des Öfteren in der Gegend gesehen hatte.
Bosch schaute auf die Dienstnummer des Meldung erstattenden Polizisten. Der Streifenpolizist 1906 war inzwischen einer der mächtigsten Personen im Polizeiapparat, Assistant Chief Irvin S. Irving. Irving hatte Bosch einmal anvertraut, dass er Marjorie Lowe gekannt hatte und dass er derjenige gewesen war, der ihre Leiche gefunden hatte. Bosch steckte sich eine Zigarette an und las weiter. Die Berichte waren schlampig und nur der Form halber geschrieben worden. Sie steckten voller Flüchtigkeitsfehler. Beim Lesen merkte Bosch, dass Eno und McKittrick nicht viel Zeit in den Fall investiert hatten. Prostituiertenmord fiel unter Berufsrisiko. Es gab Wichtigeres. Auf dem »Todesfallbericht« entdeckte er einen Kasten, in dem der nächste Familienangehörige aufgeführt wurde.
Hieronymus Bosch (Harry), Sohn, Alter 11, McClaren Kinderheim. Benachrichtigung erfolgte am 28.10., 15:00 Uhr. Erziehungsberechtigter: Sozialamt seit Juli ’60 (EuM – siehe Verhaftungsprotokolle des Opfers 60–815 und 60–1121). Vater unbekannt. Sohn bleibt in der Obhut des Kinderheims, bis ein Platz bei Pflegeeltern gefunden wird.
Bosch konnte leicht alle Abkürzungen entschlüsseln und übersetzen. EuM bedeutete »Erziehungsunfähige Mutter«. Selbst nach so vielen Jahren schmerzte ihn die grausige Ironie. Man hatte den Jungen einer angeblich untauglichen Mutter weggenommen und einer Institution ausgeliefert, die gleichermaßen unfähig war. Am deutlichsten erinnerte er sich an den Lärm im Heim. Es war immer laut, wie in einem Gefängnis.
Bosch erinnerte sich, dass es McKittrick gewesen war, der es ihm gesagt hatte, während der Schwimmstunde. Das Hallenbad schäumte: Hundert Jungen schwammen, planschten und schrien. Nachdem man ihn aus dem Wasser geholt hatte, hatte Harry sich ein ausgebleichtes und verwaschenes Handtuch um die Schultern gelegt, das sich wie Pappe anfühlte. McKittrick sagte ihm, was passiert war, und er ging zurück ins Schwimmbecken, um seine Schreie unter den Wellen zu ersticken.
Die ergänzenden Berichte zu den vorherigen Verhaftungen des Opfers blätterte er schnell durch, bis er zu dem Autopsiebericht kam. Er übersprang das meiste – die Details waren nicht so wichtig – und hielt sich an die Zusammenfassung, die eine Reihe Überraschungen enthielt. Die Todeszeit war auf sieben bis neun Stunden vor der Entdeckung der Leiche festgesetzt worden. Um Mitternacht. Überraschend war die offizielle Todesursache: Kopfverletzung durch einen stumpfen Gegenstand. Der Bericht beschrieb eine tiefe Kontusion ohne Platzwunde über dem rechten Ohr, die eine tödliche Gehirnblutung verursacht hatte. Laut Bericht hatte der Mörder vermutlich geglaubt, dass er das Opfer erwürgte, nachdem er es anscheinend bewusstlos geschlagen hatte. Aber der Gerichtsmediziner war zu dem Schluss gekommen, dass Marjorie Lowe bereits tot war, als der Mörder ihr den eigenen Gürtel um den Hals legte und zuzog. Im Bericht stand außerdem, dass man Sperma in der Vagina gefunden, aber sonst keine der mit Vergewaltigung verbundenen Verletzungen festgestellt hatte.
Als Bosch die Zusammenfassung noch einmal mit professionellen Augen las, erkannte er, dass das Ergebnis der Autopsie mehr Fragen aufgeworfen als geklärt hatte. Das Aussehen der Leiche hatte darauf schließen lassen, dass Marjorie Lowe Opfer eines Sexualverbrechens gewesen sei. Das schien auf eine Zufallsbegegnung hinzudeuten – zufällig wie die Paarungen in ihrem Beruf –, die zu ihrem Tod führte. Aber der Umstand, dass sie erst nach dem Tod erwürgt wurde und dass man keine überzeugenden Indizien für eine Vergewaltigung entdeckt hatte, eröffnete noch eine andere Möglichkeit. Einige Faktoren schienen darauf hinzudeuten, dass sie von jemandem ermordet worden war, der seine Täterschaft und sein Motiv als Sexualverbrechen getarnt hatte.
Bosch konnte sich nur einen Grund für solch eine Irreführung denken. Der Mörder kannte das Opfer. Beim Weiterblättern fragte er sich, ob McKittrick und Eno zu dem gleichen Schluss gekommen waren.
Als Nächstes kam ein großer brauner Umschlag, auf dem vermerkt war, dass er Fotos vom Tatort und der Autopsie enthielt. Bosch zögerte lange und legte ihn dann beiseite. Wie beim letzten Mal, als er das Mordbuch aus dem Archiv geholt hatte, fühlte er sich nicht in der Lage, sie anzusehen.
Ein weiterer Umschlag kam zum Vorschein, an den eine Inventarliste der Beweisstücke geheftet war. Sie war nicht umfangreich.
Fingerabdrücke, sichergestellt auf Ledergürtel mit silbernen Muscheln,
Laborbericht, Nr. 11146.11.61.
Tatwaffe: schwarzer Ledergürtel mit Muscheln (Eigentum des Opfers).
Kleidung und Eigentum des Opfers. Hinterlegt in Schließfach 73B, Asservatenkammer, Polizeipräsidium.
1 Bluse, weiß – Blutflecken
1 Rock, schwarz – entlang der Naht zerrissen
1 Paar Schuhe, schwarz, hohe Absätze
1 Paar Nylonstrümpfe, schwarz, zerrissen
1 Damenschlüpfer, zerrissen
1 Paar Ohrringe, Goldimitation
1 Armreif, Goldimitation
1 Halskette mit Kreuz, Gold
Das war alles. Bosch studierte die Liste lange, bevor er die Einzelheiten in sein Notizbuch eintrug. Irgendetwas stimmte nicht, aber er konnte nicht sagen, was. Noch nicht. Er nahm zu viel Information auf und musste warten, bis sich alles setzte. Dann würden die Unstimmigkeiten sichtbar werden.
Er zerbrach sich nicht weiter den Kopf und öffnete den Umschlag mit den Beweisstücken, indem er ein brüchig gewordenes rotes Klebeband aufriss. Zum Vorschein kam eine gelbe Karte, auf die zwei komplette Fingerabdrücke, Daumen und Zeigefinger, und mehrere Teilabdrücke geklebt waren, nachdem man sie vom Gürtel mit schwarzem Pulver abgezogen hatte. Dann eine rosa Inventarkarte für die Kleider des Opfers, die in einem Fach der Asservatenkammer aufbewahrt wurden. Die Kleider waren nie entfernt worden, da der Fall nie zur Anklage gekommen war. Bosch legte beide Karten zur Seite und fragte sich, was mit den Kleidern passiert war. Parker Center war Mitte der sechziger Jahre entstanden, und die Polizei war aus dem alten Präsidium ausgezogen. Es stand schon lange nicht mehr, zerstört von der Abrissbirne. Was passierte mit den Beweisstücken ungelöster Fälle?
Die nächsten Seiten der Akte brachten Zusammenfassungen von Vernehmungen während der ersten Tage der Ermittlungen. Die meisten Personen kannten das Opfer oberflächlich oder wussten etwas, die Tat betreffend – Bewohner der El-Rio-Apartments oder Berufskolleginnen. Ein Bericht zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er betraf die Vernehmung einer Frau namens Meredith Roman – drei Tage nach dem Mord. Laut Bericht war sie Prostituierte und hatte zeitweilig mit dem Opfer die Wohnung geteilt. Zur Zeit des Mords lebte sie im El Rio, eine Etage höher als das Opfer. Der Bericht war von Eno getippt worden, der seinem Partner haushoch überlegen war, was die Produktion von Rechtschreibfehlern anging.
Meredith Roman (9.10.30) wurde am heutigen Tag des längeren in ihrem Apartment im El Rio vernommen, wo sie einen Stock über dem Opfer wohnte. Miss Roman konnte nur wenig brauchbare Information mitteilen über die Aktivitäten von Marjorie Lowe in der letzten Woche ihres Lebens.
Miss Roman gab zu, dass sie in Begleitung des Opfers der Prostitution in zahlreichen Fellen während der letzten acht Jahre nachging, ohne aber je verhaftet worden zu sein. (Später bestätigt) Sie erklärte dem unterzeichnenden Detective, dass ihre Engaschments von einem Mann Namens Johnny Fox (2.2.33) vereinbahrt wurden, wohnhaft 1110 Ivar Avenue in Hollywood. Fox, Alter 28, wurde bisher nicht verhaftet, war aber laut Sittendezernat tatverdächtig in Fellen von Zuhelterei, schwerer Körperverletzung und Heroinhandel.
Miss Roman erklärt, dass sie das Opfer zum lezten Mal bei einer Party am 21.10. im ersten Stock des Roosevelt Hotels gesehen hat. Miss Roman nahm selbst nicht an der Party teil, sprach aber dort kurz mit dem Opfer.
Miss Roman erklärt, dass sie die Absicht hat, sich von der Prostitution zurückzuziehen und Los Angeles zu verlassen. Sie erklärte, dass sie dem Detective ihre zukünftige Adresse und Telefonnummer geben wird, damit man sie erreichen kann falls nötig. Ihr Verhalten bei der Vernehmung war kooperativ.
Bosch sah sofort die Berichte nach der Vernehmung von Johnny Fox durch. Es gab keinen. Er schlug das Ringbuch vorne bei der Ermittlungschronologie auf und suchte nach einem Hinweis, ob sie überhaupt mit Fox gesprochen hatten. Die Chronologie war ein Logbuch mit einzeiligen Einträgen und Verweisen zu Berichten. Auf der zweiten Seite fand er einen einzelnen Vermerk.
3.11., 8:00–20:00: Fox Apt. observiert. Nicht aufgetaucht.
Sonst wurde Fox nicht weiter erwähnt. Aber beim Durchlesen fiel ihm noch ein Eintrag auf.
5.11., 9:40: A. Conklin rief an, um eine Besprechung zu vereinbahren.
Der Name war ihm bekannt. Arno Conklin war in den sechziger Jahren der Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles gewesen. Seines Wissens hatte Conklin 1961